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Full text of "Aristoxenus von Tarent. Melik und Rhythmik des classischen Hellenenthums"

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Aristoxenus 


von  Tarent 


Aristoxenus 


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ARISTOXENüS  VON  TARENT 

•  • « 

MELIK  UND  RHYTHMIK 


DES 

CLASSISCHEN  HELLENENTHUMS. 


ÜBERSETZT  UND  ERLÄUTERT 

DURCH 

R.  WESTPHAL 

EHREX.Imh.TOR  DER  GRIECHISCHEN  BRACHE  UND  LITTERATUR  AN  DER  UNIVERSITÄT  MOSKAU. 


Dtr  Druck  dr*  grUchißchtn  Ttxttt  ».hliettt  »ich  sofort  ihm  dtr  U-Ur^tzung 

und  Erlduttrung  an. 


LEIPZIG, 

VERLAG    VON   AMBR.  ABEL. 

1883. 


51585 


\ 


Druck  tod  Metzger  &  Wittig  in  Leipzig. 
Papier  von  Berth.  Siegismund,  Leipzig  u.  Berlin. 


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DEM  ANDENKEN 


DES  UNVERGESSLICHEN  VATERS 

UND 

DER  TEEUEN  MUTTER, 

DER  SICH  DER  ABEND  DES  LEBENS  VERGOLDE, 

WIDMET 

■ 

DIESE  GEWISSENHAFT  LIEBLINGSARBEIT 
SEINES  GANZEN  LEBENS 


DER  DANKBARE  SOHN 


Vorwort. 


Dreissig  Jahre  lang  (nach  Herodots  Rechnung  fast  ein  Menschen- 
alter) bin  ich  dem  Aristoxenus  kaum  auf  Wochen  untreu  geworden. 
Meine  schönsten  Stunden  habe  ich  im  Verkehre  mit  ihm  verlebt. 
Liess  ich  mich  inzwischen  auch  zu  Catullischen  nugae  und  gar  gram- 
matischen ineptiae  fortreissen,  so  habe  ich  meinen  Versuch  der  Un- 
treue als  Heautontimorumenos  ein  Decennium  lang  durch  freiwilliges 
Exil,  durch  Selbsfverbannung  von  dem  liebsten  was  man  hat,  dem 
Heimathlande  gebüsst.  Doch  der  ferne  Osten  nahm  mich  gastlich 
auf,  viel  freundlicher  als  ich  es  verdiente:  er  gab  mir  erwünschte 
Gelegenheit  den  Aristoxenus-Studien  eine  möglichst  weite  Ausdeh- 
nung zu  geben,  die  mir  unter  den  Sorgen  daheim  versagt  war.  Es 
war  mir  dort  verstattet,  den  Rhythmus  Bach's  und  unserer  übrigen 
grossen  Meister  eingehend  zu  studiren,  und  an  ihm  die  nöthige  Paral- 
lele für  die  rhythmische  Doctrin  des  Aristoxenus  zu  gewinnen.  Es 
ist  mir  jetzt,  als  ob  mir  Versöhnung  zu  Theil  geworden:  als  ob 
wenigstens  die  Manen  des  alten  Tarentiners  nicht  mehr  zürnten;  als 
ob  sie,  die  wie  früher  die  seines  Landmanns  Archytas  lange  auf 
Erden  keine  Ruhe  finden  konnten,  zum  endlichen  Frieden  gelangt 
seien.  Denn  fern  im  Auslande  liessen  sie  mich  nicht  blos  das  in 
vollem  Maasse  finden,  was  ich  früher  bei  Aristoxenus  vergebens  suchte, 
sondern  als  überreichen  Lohn  für  meine  Treue  noch  etwas  Anderes, 
was  weder  ich  noch  irgend  ein  anderer  bei  ihm  erwartet  hätte.  Was 
mich  vor  dreissig  Jahren  zu  ihm  hintrieb,  war  das  Prognostikon, 
welches  der  divinatorische  Geist  des  grossen  Meisters  G.  Hermann 
der  Philologie  von  der  Wiederherstellung  des  Aristoxenus  gestellt 
hatte.  „Si  ea  quae  Aristoxenus  peritissimus  simul  et  diligantissimus 
scriptor  litteris  mandaverat  alicubi  reperirentur,  non  est  dubium 
lucem  universae  rationi  poeseos  accensum  iri  clarissimam."  Zu  meiner 


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VI 


Vorwort  zu  Aristoxeniuj 


grossen  Ueberraschung  fand  ich  bei  Aristoxenus  noch  ein  Anderes, 
was  weit  über  die  Grenzen  jenes  Prognostikon  hinausgeht,  wovon 
auch  Boeckh  und  alle  wir  später  lebenden  noch  nicht  das  mindeste 
ahnten.  Denn  nicht  bloss  die  rhythmischen  Formen  der  alten 
griechischen  Künstler,  Pindars  und  der  Dramatiker,  werden  wie  ich 
fern  von  Deutschland  erkannt,  zu  einer  unerwarteten  Klarheit  durch 
Aristoxenus  erschlossen,  mit  dem  die  Berichte  Hephaestions  und  der 
alten  Metriker  nun  nicht  mehr  in  Discrepanz  stehen,  sondern  auch 
der  Rhythmus  der  musischen  Kunst  christlich-moderner  Welt  wird 
durch  Aristoxenus  zum  klaren  Bewusstsein  gebracht.  Vor  allem  und 
zuerst  des  gewaltigen  Bach,  welcher  das  Alpha  und  Omega  der 
musischen  Kunst  auch  in  der  Rhythmik  ist  und  sein  wird.  Ja, 
Einer  ist  der  Rhythmus  der  alten  und  der  modernen  Meister!  Er 
ist  eine  der  immanenten  Ideen  der  Kunst  für  alle  Völker  und  alle 
Zeiten.  Bach,  dem  gottgeliebten,  war  mit  der  Kunst  des  Melos  zu- 
gleich auch  die  des  Rhythmus  als  freundliches  Wiegengeschenk 
durch  die  Musen  dargebracht.  Doch  nur  vom  Melos  erhielt  er  ein 
klares  Bewusstsein;  der  rhythmischen  Gesetze,  so  streng  er  sie  in- 
stinctiv  auch  einhielt,  ist  er  sich  schwerlich  bewusst  geworden.  Auch 
von  ihm  wird  gelten,  was  der  berühmte  Neider  des  Leipziger  Thomas- 
Cantors,  der  Hamburger  Matheson  in  seinen  „vollkommenen  Capcll- 
meister"  von  den  Musikern  der  damaligen  Zeit  sagt:  „Die  Krafft  des 
Rhythmi  ist  in  der  melodischen  Setzkunst  ungemein  gross  und  ver- 
dient allerdings  einer  besseren  Untersuchung,  als  sie  bisher  gewür- 
digt worden.  Die  Componisten  haben  in  diesem  Stücke  sowohl  als 
in  vielen  anderen  nicht  weniger  wichtigen  Dingen  der  melodischen 
Wissenschaft  mit  ihrer  ganzen  Uebung  noch  nichts  mehr  erhalten 
als  einen  verwirrten  oder  undeutlichen  Begriff,  scientiain  confusam, 
keine  Kunstform  und  sowie  der  Pöbel  rhetorische  Redensarten  braucht 
ohne  sie  als  solche  zu  kennen." 

Bei  Bachs  Nachfolgern  war  der  edle  Götterfunken  des  Rhyth- 
mus, wenn  auch  weniger  reich  sich  entfaltend,  doch  im  Ganzen 
ebenso  mächtig  wie  bei  Bach :  bei  Mozart ,  Beethoven  und  allen 
den  späteren  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Aber  auch  bei  ihnen  un- 
bewusst  Und  bei  allen  Musiktheoretikern  und  Dirigenten  ist  es 
heute  noch  genau  ebenso,  wie  es  der  Verfasser  des  vollkommenen 
Capellmeisters  von  denen  seiner  Zeit  sagt. 


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Rhythmik:  practische  Bedeutung. 


VII 


Die  Hand  aufs  Herz,  ihr  grossen  und  ihr  kleinen  Componisten, 
ihr  Dichter  mit  eingeschlossen,  wisst  ihr,  dass  eure  Muse,  einerlei 
ob  bei  homophoner,  ob  bei  polyphoner  Musik,  euch  in  keinen  anderen 
Kola  componiren  und  dichten  lässt,  als  genau  in  jenen,  welche  vor 
mehr  als  2000  Jahren  der  treffliche  Tarentiner  auf  Grund  der  mu- 
sischen Kunstwerke  des  klassischen  Hellenenthums  und  deren  Aus- 
führung  verzeichnet  hat?  Wisst  ihr,  dass  ihr  auch  eure  Perioden 
und  Strophen  nicht  anders  als  die  Griechen  zu  bilden  vermögt? 
Dass  auch  die  Versfusse,  in  denen  sich  eure  Vocal-  und  Instrumen- 
talmusik bewegt,  dem  immanenten  Geiste  der  Kunst  gemäss  keine 
andere  sind  und  sein  können,  als  die  in  der  musischen  Kunst 
der  alten  Hellenen,  der  3-zeitige,  4-zeitige,  6-zeitige  Versfuss?  Und 
dass  auch  eure  Kola  nach  derselben  Notwendigkeit  stets  ein  Mul- 
tiplum  dieser  Zahlen  sind,  vollständig  oder  katalektisch?  Kennt  ihr 
Theoretiker  diese  arithmetischen  Geheimnisse,  diese  Zahlenmysterien 
des  Bhythmus,  die  um  in  Platonischer  Anschauung  zu  reden,  der 
Demiurg  als  Vater  in  Ewigkeit  —  und  für  die  Ewigkeit  —  erzeugt, 
und  die  das  Ekmageion  des  Melos  als  Mutter  empfangen  und  ge- 
boren hat?  Es  ist  nicht  schimpflich,  sich  der  arithmetischen  Ge- 
setze des  Rhythmus  nicht  bewusst  zu  sein,  denn  nur  der  griechische 
Theoretiker  aus  Tarent  hat  diese  Geheimnisse  erkannt,  und  in  wissen- 
schaftlicher Beobachtungsgabe  mr  Sachen  der  Kunst  steht  nun  ein- 
mal das  klassische  Hellenenthum  allen  übrigen  Völkern  der  Cultur 
und  Kunst  voran.  Aber  noch  viel  weniger  ist  es  schimpflich  (es 
nicht  zu  thun,  das  wäre  schimpflich),  diese  klaren  rhythmischen 
Sätze  aus  dem  Berichte  des  alten  Tarentiners  sich  anzueignen. 

Nicht  bloss  theoretisch,  sondern  auch  practisch  könnten  sie 
für  unsere  Musik  von  Bedeutung  werden,  wenn  auch  die  Dirigenten 
und  Virtuosen  sie  sich  anzueignen  die  Mühe  geben  wollten.  Wir 
würden  dann  unsere  Musik  rhythmisch  hören,  was  jetzt  höchstens 
für  die  Vocalmusik,  für  die  Instrumentalmusik  so  gut  wie  gar  nicht 
der  Fall  ist.  In  der  Vocalmusik  werden  die  Ausfuhrenden  fort- 
während durch  die  Textesworte  auf  die  Grenzen  der  Kola  und  Pe- 
rioden aufmerksam  gemacht  und  können  nicht  umhin,  diese  Grenzen 
zu  Gehör  zu  bringen.  Hier  nimmt  man  niemals  Anstoss  über  die 
Taktstriche  hinaus  zu  gehen,  bis  man  zum  wirklichen  Ende  des 
rhythmischen  Abschnittes  kommt,  welches  fast  niemals  mit  dem 


d  by  ÜDogleü 


VIII 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


Taktstriche  zusammenfällt,  der  seinerseits  seinem  Wesen  nach  nichts 
anderes  als  die  stärksten  Accente  markiren  soll: 

Keine  |  Ruh  bei  Tkg  und  |  Nacht- 
Bache  v6n  gcs&lzneu  |  Zähren  • 
In  I  diesen  heiigen  |  H&llen. 

Aber  wie  soll  man  in  der  Instrumentalmusik  die  Grenzen  der 
Kola  und  Perioden  ersehen?  Der  Taktstrich  ist  liier  gerade  so  wie  in 
der  Vocalmusik  gebraucht  fast  niemals  Kolon-Grenze.  Die  älteren 
Componisten  merken  niemals  jene  Grenzen  durch  Legato-Zeichen 
an,  und  die  Herausgeber,  auch  Hans  von  Bülow,  haben  sie  in 
vielen  Fällen  falsch  gesetzt.  Man  lernt  sie  bloss  aus  dem  Studium 
des  Aristoxenus  mit  Sicherheit  bestimmen.  Und  so  muss  man  da- 
rauf gefasst  sein,  dass  man  in  den  meisten  Fällen  nur  das  Melos 
des  Componisten  zu  hören  bekommt  Wie  viel  man  so  von  der 
Musik  verhört,  welche  Schönheiten  ungehört  bleiben,  wussten  die 
Alten.  So  sagt  Aristides  Quintiiianus  (offenbar  nach  Aristoxenus, 
aus  dem  er,  wenn  nicht  unmittelbar,  doch  mittelbar  geschöpft): 
„Den  Rhythmus  nannten  die  Alten  das  männliche,  das  Melos  das 
weibliche  Princip  der  Musik.  Das  Melos  ohne  Rhythmus  ist  ohne 
Energie  und  Form ;  es  verhält  sich  zum  Rhythmus  wie  die  ungeformte 
Materie  zum  formenden  Geiste.  Der  Rhythmus  ist  das  die  Materie 
der  Tonalität  gestaltende,  er  bringt  die  Masse  in  geordnete  Bewe- 
gung; er  ist  das  Thätige  und  Handelnde  gegenüber  dem  zu  behan- 
delnden Gegenstande  der  Töne  und  Accorde  des  Melos."  Und  an 
an  einer  anderen  Stelle:  „Ohne  den  Rhythmus  bringen  die  Töne 
bei  der  glatten  Unterschiedslosigkeit  in  nachdruckslose  Unkenntlich- 
keit und  führen  die  Seele  in  die  unbestimmte  Irre.  Dagegen  kommt 
durch  die  Gliederung  des  Rhythmus  die  Materie  zu  ihrer  klaren 
Geltung,  die  Seele  zu  geordneter  Bewegung." 

Wir  sind  gewöhnt»  von  unserer  Musik,  zumal  der  Instrumental- 
musik, nur  das  Melos  zu  hören,  müssen  uns  begnügen,  an  dem  blos- 
sen Melos  unseren  Kunstgenuss  zu  haben.  Das  ist  immerhin  auch 
schon  ein  Kunstgenuss,  zumal  wenn  der  Musiker  von  Fach  Gelegen- 
heit hat,  an  vortrefflicher  thematischer  Arbeit  und  Stimmführung 
seine  besondere  Freude  zu  haben.  Aber  die  Hellenen  hätten  sich 
mit  dem  Genu&se  an  dem  blossen  Melos,  auch  wenn  sie  in  ihrer 
harmonischen  Kunst  und  Stimmführung  auf  derselben  Höhe  wie 


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Rhythmik:  practische  Bedeutung. 


IX 


unsere  Musik  gestanden  hätten,  nicht  begnügt.  Sie  hätten  das  eine 
Freude  an  dem  sinnlichen  Stoffe  genannt;  sie  verlangten  ausser  dem 
sinnlichen  Melos  auch  noch  den  ordnenden  Geist  des  Rhythmus.  Es  sei 
mir  erlaubt,  das  Ideal  eines  rhythmischen  Vortrages  unserer  Musik,  wie 
ich  es  mir  auf  Grundlage  der  Meister  der  antiken  Rhythmopoiie 
und  des  Theoretikers  Aristoxenus  nach  und  nach  herausgebildet  habe, 
in  dem  folgenden  kürzlich  zu  skizziren. 

Die  erste  Bedingung,  ohne  die  alles  andere  eitel  sein  wird,  ist 
sorgfältige  Berücksichtigung  der  Caesur,  mit  genauer  Erwägung ,  ob 
sie  an  der  betreffenden  Stelle  des  Musikstückes  männlich  oder  weib- 
lich ist,  denn  je  nach  diesem  Unterschiede  der  Caesuren  ist  die 
Wirkung  des  Musikstückes  eine  andere.  Ich  habe  dies  in  meiner 
Theorie  des  musikalischen  Rhythmus  seit  Bach  mehrfach  auseinander 
gesetzt.  In  der  Yocalmusik  sind  die  Caesuren  durch  den  gewöhnlich 
mit  Reim  versehenen  Ausgang  des  Verses  angezeigt.  Nur  selten 
hat  sie  auch  Binnencaesuren,  wie  im  Chorale: 

Ach  wie  flüchtig,  —  ach  wie  nichtig,  | 
sind  des  Menschen  Sachen!  | 

Der  protestantische  Choralgesang,  auch  bei  Bach,  verlangt,  dass 
vor  einer  Caesur  eine  Fermate  eingehalten  wird.  Die  neueste  Zeit 
ist  diesem  Verlangen  entgegen  und  will,  dass  eine  jede  Note  genau 
so  lang  gesungen  wird  wie  sie  geschrieben  ist.  Man  nennt  das  den 
rhythmischen  Choral.  In  der  That  ist  die  ältere  Weise  des  Fer- 
maten-Chorales insofern  unrhythmisch,  als  durch  das  Verlängern 
der  Fermaten-Note  die  zu  einer  Periode  gehörenden  Kola  ausein- 
ander gerissen  und  die  Musik  auseinander  gerenkt  wird.  Aber 
in  dem  Verlängern  der  Note  über  ihren  geschriebenen  Werth  liin- 
aus,  bedingt  durch  die  Caesur,  liegt  eine  natürliche  in  dem  Rhyth- 
mus selber  gegebene  Eigentümlichkeit,  die  mau  sich  unter  keinen 
Umständen  entgehen  lassen  darf.  An  Stelle  des  Fermaten-Chorales 
den  fälschlich  sogenannten  rhythmischen  Chorales  setzen  heisst  das 
Kind  mit  dem  Bade  ausschütten.  Schwerlich  wird  man  das  in  dem 
Chorale  der  Bach'schen  Cantaten  und  Passionen  zu  thun  wagen,  da 
Bach  selber  hier  die  Fermatenzeichen  gesetzt  hat.  Auf  dem  häss- 
lichen  und  entschieden  uiirhythmischen  Zerreissen  der  periodischen 
Einheit  der  Kola  durch  die  maasslose  Verlängerung  des  Schlusses 
(die  Geschmacklosigkeit  mancher  Organisten  erlaubt  sich  in  diesen 


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X 


Vorwort  zu  Aristoxcuus 


Fermaten  sogar  noch  ein  kleines  Zwischenspiel!)  würde  Bach  sicher- 
lich nicht  bestanden  haben.  Aber  gegen  eine  Verlängerung,  wie  sie 
Aristoxenus  in  den  Caesuren  verlangt  der  hier  den  Chronos  alogos 
annimmt,  hätte  auch  Bach  nichts  einzuwenden  gehabt.  Nach  Aristo- 
xenus würde  nämlich  die  Fermaten- Verlängerung  bei  den  im  dipo- 
dischen  G: -Takte  geschriebenen  Chorälen  auf  ein  einziges  Jfc  zu  re- 
duciren  sein:  immer  genug,  um  den  Rhythmus  so  weit  zum  Einhalt 
zu  bringen,  dass  man  hier  ein  Ende  merkt,  aber  nicht  gross  genug, 
um  z.  B.  den  4-zeitigen  Versfuss  zu  einem  5-zeitigen  zu  machen 
und  hierdurch  eine  wirkliche  Störung  des  Rhythmus  zu  bewirken. 
Es  hängt  nur  von  dem  guten  Willen  des  den  Gemeindechor  dirigi- 
renden  Organisten  ab,  den  Singenden  die  ungemessene  Fermaten- 
Verlängerung  abzugewöhnen  und  die  maassvolle  aristoxenische  Ver- 
längerung, welche  nur  halben  Clironos  protos  beträgt,  an  deren 
Stelle  zu  setzen.  Dann  wird  dem  richtigen  rhythmischen  Gefühle 
der  Chtfralgesang  der  protestantischen  Kirche  nicht  mehr  verleidet 
sein.  Wir  protestiren  gegen  Einfuhrung  des  sog.  rhythmischen 
Chorales,  denn  die  irrationale  Verlängerung  am  Ende  des  Kolons 
liegt  in  dem  Wesen  des  Rhythmus  begründet;  sie  ist  so  begründet, 
wie  der  Reim  rhythmisch  begründet  ist,  den  unsere  moderne  Poesie 
an  dem  Ende  des  Kolons  nöthig  hat  und  der  auf  demselben  Grunde 
rhythmischer  Klarheit  wie  die  irrationale  Verlängerung  der  Alten 
beruht.  Nur  soll  durch  die  Fermaten- Verlängerung  die  Einheit  der 
rhythmischen  Periode  nicht  zerhackt  und  auseinander  gerenkt  wer- 
den ;  die  Verlängerung  soll  keine  ungemessene,  sondern  eine  maass- 
haltige,  sie  soll  griechisch,  soll  aristoxenisch  sein. 

Während  beim  Vortrage  der  Vocalmusik  der  Worttext,  nament- 
lich die  reimenden  Versschlüsse  ein  sicheres  Merkzeichen  für  die 
Gliederung  in  Kola  und  Perioden  sind,  fehlt  es  in  der  Instrumental- 
musik an  einem  äusseren  Kriterium  gänzlich.  Denn  die  Legato- 
Zeichen,  welche  manche  Compouisten  zu  setzen  pflegten,  sind  in 
vielen  Fällen  zweideutig.  Deshalb  hat  auch  Lussy  für  die  Bezeich- 
nung der  Kola  in  der  Notenschrift  andere  Phrasiningszeichen  vor- 
geschlagen, ähnlich  denjenigen,  welche  durch  dieNotirung  der  Minne- 
lieder in  der  Jenaer  Handschrift  überliefert  sind  und  analog  auch 
in  populären  Liedersammlungen  für  die  Stellen  des  Athemholens 
angewandt  werden.  In  der  rhythmischen  Ausgabe  Bach'scher  Fugen 


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Rhythmik:  practische  Bedeutung. 


XI 


habe  ich  dieselben  Zeichen  (nur  in  einer  dem  Auge  etwas  mehr 
sichtbaren  Form)  für  die  Kolagrenzen  angewandt  und  durch  Ver- 
doppelung des  Zeichens  gleichzeitig  die  Periodengrenzen  angezeigt. 
Diese  rhythmischen  Zeichen  haben  in  der  That  für  die  Instrumental- 
musik dieselbe  Bedeutung  wie  dort  in  der  Vocalmusik.  Wie  am  Ende 
eines  Verses  das  Legato  aufgehoben  und  frischer  Athem  geholt  wird, 
so  soll  auch  in  der  Instrumentalmusik  innerhalb  des  Kolons  so  viel 
wie  möglich  ein  Legato-Vortrag  bestehen,  der  nur  am  Ende  des- 
selben oder,  wo  eine  Binnen-Caesur  stattfindet,  auch  am  Ende  der 
Dipodie  aufgehoben  wird.  Ein  Staccato-Vortrag,  innerhalb  des 
Kolons  ist  meist  so  unpassend  wie  nur  immer  möglich;  es  is  die 
„Unsitte  des  Fingertanzes",  die  Beethoven  vom  Claviere,  das  „mit 
der  Hand*eins  sein"  müsse,  fern  gehalten  wissen  will. 

Aber  in  der  Grenzscheide  der  Kola,  wo  auch  der  Gesang  neuen 
Athem  schöpfen  muss,  ist  das  anologe  Aufheben  von  Hand  und 
Fingern  nothwendig.  Wo  nur  in  der  einen  Stimme  ein  Kolon- 
Ende  eintritt,  die  andere  Stimme  aber  den  Ton  auszuhalten  hat, 
wird  auch  für  diese  der  sonst  durch  das  Legato-Aufheben  zu  be- 
wirkende Eindruck  durch  Anwendung  der  Aristoxenischen  Irra- 
tionalität erreicht  und  dürfte  namentlich  in  solchen  Fällen  mit 
Nutzen  ftlr  das  Kolon-Ende  verwendet  werden.  Doch  hängt  das 
durchaus  von  dem  Charakter  des  Musikstückes,  nicht  bloss  von  dem 
schnelleren  oder  langsameren  Tempo  ab,  wie  denn  auch  bei  den 
Griechen  die  sicherlich  nicht  schnellen  trochaeischen  Chorlieder  des 
Aeschylus  die  Irrationalität  von  sich  fem  halten.  Sorgsames  Ein- 
halten der  Kola-Grenzen,  sei  es  auf  welche  Weise  es  wolle,  gibt 
der  Instrumentalmusik  den  Charakter  reliefmässiger  Klarheit;  es 
überträgt  auf  die  musische  Kunst  etwas  von  dem  Wesen  der  Plastik, 
in  welcher  die  Griechen  auf  einer  für  alle  Zeiten  unerreichbaren 
Kunsthöhe  stehen.  Dies  ist  es,  was  der  Vortrag  unserer  Musik  vor 
Allem  aus  der  griechischen  Kunst  sich  zu  eigen  machen  soll.  Das 
Melos  soll  durch  scharfes  Rhythmisiren  durchsichtig  und  klar  wer- 
den, soll  die  unrhythmische  verschwommene  Sentimentalität,  soll  die 
Gedankenlosigkeit,  die  man  als  Glätte  bezeichnet  und  in  welcher 
sich  die  Nervösen  und  die  musikalischen  Mässigkeitsvereinler  wohl 
fühlen,  gegen  die  Energie  des  scharfen  Rhythmus  aufgeben.  Unsere 
Musik  hat  alle  Bedingungen  des  griechischen  Rhythmus  in  sich,  da 


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XII 


Vorwort  zu  Aristoieuu» 


ihn  die  Componisten  wenn  auch  unhewusst  in  sich  hatten;  man 
bringe  ihn  auch  nach  Aristoxeuus  zum  hörbaren  Ausdrucke!  Bach's 
und  Beethoven's  Musik  wird  dadurch  in  gleicher  Weise  gewinnen. 

Zumal  wenn  wir  auch  dies  noch  von  den  Griechen  lernen,  wie 
die  Kola  unserer  Componisten  zur  höheren  rhythmischen  Einheit  der 
Periode  zusammengesetzt  sind,  wenn  wir  hiernach  für  die  Protasis- 
Kola  der  Perioden  einen  Crescendo-Vortrag,  für  die  Apodosis-Kola 
den  Diminuendo- Vortrag  zur  Ausführung  bringen.  Haben  wir  das 
von  den  Griechen  gelernt,  so  wird  zumal  unter  scharfer  Hervor- 
hebung der  männlichen  Caesuren  die  Beethoven'sehe  Musik  noch 

• 

in  einer  ganz  andern  Weise  als  bisher  „Feuer  aus  dem  Geiste 
schlagen";  auch  Bach  wird  dann  nicht  mehr  von  Lobeanern  und 
anderen  Mässigkeitsvereinlern  langweilig  und  altmodisch  gescholten 
werden;  jedes  Publikum,  dessen  Genussfähigkeit  über  den  Walzer 
und  den  Parademarsch  hinausgeht,  wird  auch  den  Bach'schen  Fugen, 
wenn  sie  rhythmisch  vorgeführt  werden,  mit  Entzücken  lauschen. 

Und  das  würde  die  practische  Bedeutuug  des  Aristoxeuus  für 
unsere  Musik  sein!  Denn  ohne  Aristoxenus  Rhythmik  würden  wir 
überhaupt  von  Kola  und  Perioden  —  ich  will  nicht  sagen  nichts 
wissen,  aber  jedenfalls  nicht  mehr,  als  was  der  alte  Sulzer  am 
Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  davon  wusste.  Und  das  war  herz- 
lieh wenig,  wenn  es  auch  immer  noch  viel  mehr  und  besser  war, 
als  was  Marx  und  Lobe  nach  Reicha's  Vorgange  aus  den  rhyth- 
mischen Gliedern  und  Perioden  gemacht  haben.  Ohne  Aristoxenus 
fehlte  uns  überhaupt  die  Fähigkeit,  uns  die  Rhythmopoiie  der 
griechischen  Künstler  zur  Kenntmss  zu  bringen. 

» 

Die  Aristoxenische  Rhythmik  ist  uns  nun  freilich  nicht  in  einem 
solchen  Zustande  überliefert,  dass  wir  sie  einfach  vorzunehmen 
brauchten,  um  die  darin  enthaltenen  Schätze  hervorzuholen.  Nein, 
es  sind  eigentlich  nur  wenige  Blätter,  die  uns  in  den  Handschriften 
aus  dem  so  bedeutenden  Werke  überkommen  sind.  Aber  es  liegt 
in  der  bewunderungswürdigen  Klarheit  des  grossen  Denkers,  die 
auch  seine  phrasenlose  Darstellung  beherrscht,  dass  wir  eigentlich 
viel  mehr  von  ihm  haben  als  die  Handschriften  uns  von  seinem 
Werke  überliefern.  Um  bei  ihm  auch  zwischen  den  Zeilen  zu  lesen, 
dazu  gehört  nichts  als  unbedingte .  die  Zeit  nicht  schonende  Hin- 


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Rhythmik:  Bearbeitung. 


XIII 


gebung  an  ihn  und  als  Vertrautheit  mit  der  Rhythmik  unserer 
Componisten,  vor  allen  Bach's.  Die  Aristoxenische  und  die  Bach- 
sohe Rhythmik  stehen  in  einem  geradezu  wunderbaren  Verhältnisse. 
Baeh's  Rhythmik  ist  ohne  die  Aristoxenische  nicht  zu  verstehen,  aber 
auch  umgekehrt  konnte  die  Aristoxenische  ohne  Bach  nur  in  ihren 
elementarsten  Lehrsätzen  verstanden  werden.  Alles,  was  über  diese 
Rudimente  hinausgeht,  Hess  sich  nur  aus  Bach  erklären,  indem  die 
Bach 'sehe  Musik  die  practischen  Parallelen  für  die  rhythmische  Doctrin 
des  Aristoxenus  an  die  Hand  gibt.  Bach's  wohlt  Clav,  ist  gleichsam  die 
Beispielsammlung  zu  Aristoxenus.  Was  der  grosse  Denker  Aristoxe- 
nus auf  Grundlage  der  Rhythmopoiie  der  griechische  Kunst  eruirt, 
das  wird  von  dem  grossen  Künstler  Bach,  ohne  von  den  Alten  etwas 
zu  wissen,  zufolge  seiner  Congenialität  mit  den  klassischen  Künst- 
lern des  Griechenthums,  noch  einmal  geschaffen,  indem  sich  in  dem 
Kreislaufe  der  Geschichte  die  künstlerische  Schönheitsidee  des  griechi- 
schen Geistes  in  dem  christlich-modernen  Geiste  wiederholt.  Bei 
keinem  der  modernen  Rhythmopoiie  ist  das  in  solchem  Grade,  wie 
bei  Bach  der  Fall.  Seinem  Melos  kommt  daher  auch  die  Theorie 
der  antiken  Rhythmik  praktisch  am  meisten  zu  Gute. 

Es  fehlen  nur  wenige  Jahre  an  einem  vollen  Jahrhundert,  dass 
die  Fragmente  der  Aristoxenischen  Rhythmik  den  Händen  der  Ge- 
lehrten zugänglich  sind.  Das  geschah  durch  den  Bibliothekar 
der  Marcus-Bibliothek  zu  Venedig  Jacob  Morelli,  der  das  merkwür- 
dige Denkmal  des  griechischen  Alterthums  in  einer  Handschrift  jener 
Bibliothek  auffand,  mit  einer  anderen  im  Vatican  aufbewahrten 
Handschrift  vergleichen  Hess  und  zugleich  mit  einem  Theile  des  in 
Byzantinischer  Zeit  aus  dem  vollständigen  Werke  gemachten  Aus- 
zuges, den  rhythmischen  Prolambanomena  des  Michael  Psellus,  welche 
ebenfalls  auf  der  Marcus- BibHothek  in  einer  Handschrift  vorhanden 
waren,  durch  den  Druck  veröffentlichte: 

Aristidis  oratio  adversus  Leptinem,  Libanii  declamatio  pro  Socrate, 
Aristoxeni  rhythmicorum  elementorum  fragmenta,  ex  bibliotheca 
divi  Marci  nunc  primum  edidit  Jacobus  Morelli  Venetiis  1785. 
Dem  Aristoxenischen  Texte  hatte  Morelli  einige  kritische  und 
erklärende  Noten  und,  wie  gesagt,  die  Parallelstellen  aus  dem  Excerpt 
des  Psellus  hinzugefügt  Nimmt  man  noch  die  Aufgabe  der  vollständigen 
Prolambanomena  des  Psellus  hinzu,  so  hat  man  alles,  was  unmittelbar 


XIV 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


von  der  Rhythmik  des  Aristoxenus  auf  uns  gekommen  ist.  Schon  1647 
war  Joh.  Bapt.  Doni  mit  dem  vaticanischen  Codex  des  Aristoxenischen 
Rhythmus  bekannt  geworden,  der  damals  wie  Doni  angibt,  noch  drei 
freilich  lückenhafte  Bücher  enthielt.  Morelli  fand  in  ihm  nicht  mehr 
als  nur  noch  ein  einziges  Buch  vor  (opera  musica  1,  p.  136.  190);  das 
Fragment  des  venetianischen  Codex  war  noch  um  einige  Seiten  kürzer. 

Fügen  wir  nun  noch  die  Psellianischen  „Prolambanomena  in  die 
Wissenschaft  der  Rhythmik4'  hinzu,  so  ist  das  mit  Morelli's  Texte 
alles,  was  uns  aus  der  Aristoxenischen  Rhythmik  unmittelbar  über- 
kommen ist  Den  Psellus  vollständig  veröffentlicht  zu  haben  ist 
das  Verdienst  C.  Julius  Caesar 's  Rhein.  Mus.  1842  p.  620.  Es 
war  das  dieselbe  Abschrift  aus  einem  Müuchener  Codex,  die  sich 
früher  G.  Hermann  hatte  anfertigen  lassen,  die  dieser  aber  bis  da- 
hin zurückgehalten,  weil  er  der  Schrift  des  Psellus  keinen  Werth 
zur  Bereicherung  unserer  Kenntnisse  der  antiken  Rhythmik  beilegen 
konnte,  eine  Ansicht,  in  der  sich  der  grosse  Philologe  glücklicher 
Weise  geirrt  hat. 

Boeckh  war  der  erste,  welcher  die  hohe  Wichtigkeit  dessen, 
was  uns  von  Aristoxenus  Rhythmik  tiberkommen  ist,  erkannt  und 
mit  der  sachlichen  Verwerthung  des  Ueberkominenen  in  energischer 
Weise  begonnen  hat.  Das  geschah  in  seiner  unsterblichen  Bearbei- 
tung des  Pindar  (1811  — 1821),  die  für  die  Rhythmik  und  Musik  und 
überhaupt  für  den  alten  musischen  Vortrag  der  Pindarischen  Ge- 
dichte die  Tradition  der  griechischen  Musiker,  in  erster  Linie  die 
des  Aristoxenus  hervorzog  und  zum  ersten  Male  diese  todten  Buch- 
staben zum  Leben  zurückführte.  Durch  ihn  ist  der  Name  des 
Aristoxenus  auf  alle  Zeiten  ein  für  die  Philologie  äusserst  bedeu- 
tungsvoller geworden.  G.  Hermann,  der  wissenschaftliche  Begründer 
der  griechischen  Metrik,  hatte  die  alten  Musiker  zunächst  zur  Seite 
gelassen;  durch  Boeckh  wurde  auch  er  veranlasst,  der  rhjrthinischen 
Ueberlieferung  des  Aristoxenus  als  Kritiker  und  Exeget  seine  Thätig- 
keit  zuzuwenden. 

Doch  blieben  es  immer  nur  einzelne  Stellen,  die  von  Boeckh 
und  von  Hermann  aus  Aristoxenus  herbeigezogen  waren ;  umfassend 
und  allseitig  waren  die  rhythmischen  Fragmente  desselben  noch 
nicht  behandelt,  so  dass  Hermann  seine  metrischen  Arbeiten  mit 
dem  Geständnisse  schliessen  zu  müssen  glaubte:  metricam  artem 


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Rhythmik:  Bearbeitung. 


XV 


nondum  satis  explanatam  esse,  rhythmicam  vero  totam  in  tenebris 
iacere.  Eine  Bearbeitung  der  gesammten  Aristoxenischen  Rhythmik, 
so  viel  damals  davon  vorlag,  ist  das  grosse  Verdienst  H.  Feussners. 
Von  ihm  erschien  1840  als  Programm  des  Gymnasiums  zu  Hanau: 
„Aristoxenus  Grundzüge  der  Rhythmik,  ein  Bruchstück  in  be- 
richtigter Urschrift  mit  deutscher  Uebersetzung  und  Erläuterungen, 
sowie  mit  der  Torrede  und  den  Anmerkungen  Morellis  neu  her- 
ausgegeben." 

Was  dieser  Arbeit  bleibenden  Werth  gibt,  ist  die  äusserst 
glückliche  Herstellung  des  viellach  verderbten  Aristoxenischen  Textes, 
die  liier  vielfach  eine  abschliessende  ist  imd  nur  selten  eine  Nach- 
lese übrig  gelassen  hat.  Weniger  war  das  sachliche  Verständniss 
durch  dieselbe  gefordert,  dein  auch  die  Uebersetzung  nur  wenig  zur 
Hülfe  kam.  Erst  durch  diese  Ausgabe  konnte  die  Aristoxenische 
Rhythmik,  die  iu  dem  Morellischen  Abdruck  nur  wenig  verbreitet 
war,  einem  grösseren  Kreise  zugänglich  werden  und  die  Arbeiten, 
welche  weiterhin  auf  diesem  Gebiete  erschienen  sind,  sind  insofern 
mittelbar  durch  Feussner  hervorgerufen. 

Nach  Boeckh  und  Feussner  ist  Friedrich  Bell  ermann  zu 
nennen,  der  zwar  nicht  der  Aristoxenischen, Rhythmik  unmittelbar  seine 
Sorgfalt  zuwandte,  aber  durch  die  zuerst  von  ihm  herausgegebene: 

Anonymi  scriptio  de  musica  Berol.  1841, 
oder  vielmehr,  wie  auch  Vincent  erkannte,  die  zwei  Schriften  zweier 
verschiedener  Anonymi,  von  denen  die  eine  auch  sehr  wichtige 
Notizen  über  antike  Rhythmik  enthielt  und  mittelbar  für  Aristoxe- 
nus von  grosser  Bedeutung  wurde.  Ebenso  auch  Bellermann's  Schrift: 

die  Hymnen  des  Dionysius  und  Mesomedes,  Text  und  Melodien 

nach  den  Handschriften  und  den  alten  Ausgaben  bearbeitet 

Berl.  1840. 

Es  war  im  Anfange  des  Jahres  1850,  als  ich  zum  ersten  Male 
durch  August  Rossbach  die  Feussner'sche  Ausgabe  der  Aristoxe- 
nischen Rhythmik  in  die  Hand  bekam.  Diese  wenigen  Blätter  also 
waren  alles,  was  von  jenem  Werke  vorhanden  war,  das  wenn  es 
ganz  erhalten  wäre  nach  G.  Hermann's  des  Metrikers  eigener 
Ansicht  dieser  Doctrin  eine  durchaus  andere  Grundlage  geben 
würde!  So  sagte  mir  Rossbach,  der  sich  eingehend  mit  der  metri- 
schen Theorie  Hermann's  beschäftigt  hatte,  aber  diese  Aristoxeni- 


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XVI 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


sehen  Fragmente  selber  erst  unlängst  kennen  gelernt,  als  er  an 
dasselbe  Gymnasium  Kurhessens,  dem  der  verdiente  Herausgeber 
der  Aristoxenischen  Rhythmik  augehörte,  auf  kurze  Zeit  als  junger 
Lehrer  beordert  war.  Ich  darf  hier  wohl  jener  Tage  im  Januar 
und  des  darauffolgenden  Zusammenlebens  in  Tübingen  gedenken» 
wo  Rossbach  unbefriedigt  von  den  bisherigen  metrischen  Kategorien 
fort  und  fort  auf  jene  so  schwer  verständlichen  Fragmente  zurück- 
kam und  endlich  auch  mich  nach  einigem  Widerstreben  zu  jenen 
Studien  fortriss,  denen  ich  nie  wieder  untreu  werden  sollte:  stets  in 
dem  sicheren  Vertrauen,  dass  die  Siegel,  die  das  Verständniss  ver- 
schlossen, durch  hingebende  Arbeit  zu  lösen  und  allein  von  hier 
aus  sichere  Fundamente  für  die  Metrik  zu  gewinnen  seien.  Weil 
ich  mich  späterhin  der  Fortsetzung  dieser  Arbeiten  allein  unterzog, 
ist  unser  beiderseitiger  Antheil  daran  vielfach  in  unrichtiger  und 
ungerechter  Weise  zu  Ungunsten  des  einen  von  uns  beurtheilt  wor- 
den ;  aber  Rossbach  ist  nicht  bloss  der  einzige  Urheber  der  Arbeit, 
sondern  es  sind  auch  fast  alle  allgemeinen  Gesichtspunkte,  alle  för- 
dernden und  Frucht  bringenden  Apercus,  ohne  welche  solche  Studien 
nicht  resultatreich  und  lebendig  werden  können,  von  Rossbach  aus- 
gegangen. Was  im  Einzelnen  geleistet,  wird,  bis  Rossbach  bei  der 
zweiten  Auflage  der  Metrik  die  Arbeit  mir  allein  überliess,  sicher- 
lich gleiehmässig  unter  uns  beide  zu  vertheilen  sein,  ohne  dass  wir 
damals,  wo  wir  lediglich  die  wissenschaftliche  Aufgabe  im  Auge 
hatten,  irgend  wie  zwischen  Mein  und  Dein  gesondert  hätten,*)  ein 
jeder  dachte  mit  Catull  und  Cinna:  „utrum  illius  an  mei  quid  ad  me?" 

Von  der  Aristoxenischen  Rhythmik  erschien  kurz  vor  dem  ersten 
Abschlüsse  unserer  Studien  eine  Ausgabe  mit  Erläuterungen  von 
Bartels  1854  (als  Bonner  Promotionsschrift),  an  Resultaten  wenig 
ergiebig.  Unsere»  erste  Bearbeitung  der  griechischen  Rhythmik  (als 
erster  Theil  einer  Metrik  der  griechischen  Lyriker  und  Dramatiker 


*)  Der  Xame  Synkope  wurde  von  mir  vorgeschlagen,  die  Sache  selber 
aber  (insbesondere  mit  Bezug  auf  die  Spondeen)  ist  von  Rossbach  gefunden 
obwohl  er  dies  mehrfach  als  meine  Entdeckung  bezeichnet  hat.  Von  ihm  ging 
auch  der  Gedanke  aus,  die  Metra  nicht  wie  Hephaestion  nach  einzelnen  Versen, 
sondern  nach  Strophengattungen  und  metrischen  Stylarten  zu  behandeln,  und 
auch  die  Sonderung  der  letzteren  von  einander  wie  z.  B.  die  Logaoeden  des 
Pindarischen  und  Simonideischen  Styles  geht  vielfach  auf  Rossbach  zurück. 


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Rhythmik:  Rosshach-Westphal,  Weil. 


XVII 


im  Zusammenhange  mit  den  musischen  Künsten  1854)  hatte  haupt- 
sächlich den  Mangel,  dass  sie  zwischen  der  Lehre  des  Aristoxenus 
und  der  eklektischen  Tradition  der  Späteren  (insonderheit  des  Aris- 
tides)  nicht  zu  sondern  verstand,  indem  sie  die  erste  auch  in  solchen 
Punkten  aus  der  letzteren  zu  interpretiren  versuchte,  wo  diese  nur 
im  Wortlaute  des  Terminus  technicus,  aber  nicht  in  dessen  Be- 
deutung mit  der  ersteren  übereinkam.  Eine  nicht  unbedeutende  Zahl 
Aristoxenischer  Kategorien  blieb  deswegen  unverstanden  und  für  die 
griechische  Metrik  unbenutzt.  Doch  enthielt  die  Arbeit  bereits  die  Her- 
stellung der  Taktscala,  Von  schädlichem  Einflüsse  für  nachfolgende  Be- 
arbeiter war  unsere  irrige  Ansicht  über  eurhythmische  Kesponsion,  in- 
sofern diese  in  einem  sehabloncnmässigen  Parallclismus  der  zu  einem 
rhythmischen  Ganzen  vereinten  Kola  bestehen  sollte.  Weder  in  der 
rhythmischen  Uebcrlieferung  der  Alten  noch  auch  in  der  Praxis  der 
modernen  Musik  kommt  auch  nur  etwas  annähernd  Analoges  vor, 
und  es  ist  für  Emst  und  Solidität  der  Wissenschaft  ein  betrübendes 
Zeichen,  dass  nachdem  wir  unseren  Irrthum  längst  als  jugendliche 
Ucbereilung  zurückgenommen,  in  diesen  billigen  Kinderspielartikeln 
(„billig,  aber  schlecht!")  sogenannter  antiker  Eurhythmie  fortwährend 
von  J.  H.  Schmidt  so  umfangreiche  Geschäfte  gemacht  werden. 
Was  in  jener  unserer  griechischen  Rhythmik  gutes  war,  bestaud 
lediglich  in  dem  mehrfach  erfolgreichen  Versuche,  das  was  die  Alten 
Positives  über  Rhythmik  hinterlassen  haben,  im  Zusammenhange 
wieder  herzustellen,  ein  Versuch,  der  zu  unserer  Freude  willkommen 
geheissen  wurde,  von  keinem  in  anerkennenderer  und  zugleich  be- 
lehrenderer Weise  als  von  H.  Weil  (X.  Jahrb.  für  Phil,  und  Paed. 
1855),  der  zu  dem  Guten,  was  in  dem  Buche  enthalten  war, 
selber  noch  das  Beste  hinzufügte.  Weil's  treffliche  Erörterung  über 
die  Semeia  der  rhythmischen  Kola  war  es  hauptsächlich,  die  mich 
veranlasste  meiner  Ausgabe  der  Fragmente  der  griechischen  Rhyth- 
miker (1860)  eine  Reihe  von  Erläuterungen  hinzuzufügen,  mit  denen 
dieselbe  ein  berichtigendes  Supplement  zu  unserer  ersten  Bearbei- 
tung der  griechischen  Rhythmik  sein  sollte.  Im  Jahre  18(53  erschien 
der  die  Harmonik  umfassende  Theil  unserer  Metrik.  Ich  erwähne 
sie  des  Vorwortes  wegen,  in  welchem  ich  einige  mir  früher  unver- 
ständlich gebliebenen  Punkte  der  Aristoxenischen  Rhythmik  zum 
ersten  Male  darlegen  konnte.  Der  zweiten  Auflage  der  griechischen 

Ariatoxenus.  Rhythmik.  b 


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XVIII 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


Harmonik  und  Rhythmik  vom  Jahre  18G7— 18G8  gelang  es  ebenfalls, 
einige  auf  die  Aristoxenische  Rhythmik  bezügliche  Punkte  zu  be- 
richtigen; zugleich  gab  sie  als  Anhang  einen  wiederholten  und  ver- 
mehrten Abdruck  der  alten  rhythmischen  Fragmente  aus  der  Schrill 
des  Jahres  1800.  Das  Alles  wurde  ebenso  in  meinem  Systeme  der 
antiken  Rhythmik  18G7  dargestellt. 

Der  Text  der  Aristoxenischen  Rhythmik  erhielt  eine  erwünschte 
Revision  durch  die  von  Marquardt  undStudomund  wieder  verglichenen 
Codices  der  Marcianischen  und  der  Vaticanischen  Bibliothek,  denen 
Studemund  auch  noch  die  Lesarten  des  Cod.  Urbinas  hinzulegte 
(vgl.  unten  die  Marquardt'sche  Ausgabe  der  harmonischen  Fragmente 
des  Aristoxenus). 

Doch  sollte  es  in  den  folgenden  Jahren  nicht  an  einem  Ver- 
suche fehlen,  die  rhythmische  Autorität  des  Aristoxenus,  an  welcher 
Hermann  und  Booekh  unbedingt  fest  gehalten  hatten,  ganz  und  gar 
zu  annulliren.  Dieser  Versuch  ging  von  K.  Lehrs  und  Bernhard 
Brill  aus.  Zuerst  begnügte  sich  Lohrs,  die  Ueberlieferung  des  Aristo- 
xenus unbeachtet  zu  lassen.  Sein  Grundsatz  war,  das  rhythmische 
Gefühl  der  Alten  sei  ganz  genau  dasselbe  wie  das  der  Modernen, 
es  bedürfe  keiner  Forschung  in  den  rhythmischen  Schriften  der  Alten, 
um  daraus  zu  ersehen,  welche  rhythmische  Formen  die  alten  Dichter 
ihrer  Metropooie  zu  Grunde  gelegt;  die  Rhythmik  der  Alten  ergebe 
sich  unmittelbar  aus  dem  rhythmischen  Gefühle  der  Modernen.  Das 
war  auch  der  Grundsatz  von  H.  Voss  und  A.  Apel  gewesen.  Lehrs 
bekannte  sich  zu  den  Silbenmessungen  des  ersteren,  nach  welchem 
der  jambische  Trimeter  der  Alten  folgendermassen  durch  moderne 
Noten  auszudrücken  sei: 

/  | .'.  ti  J  |  J.  .N  J  |  J.  ?  J 

So  waren  die  Jamben,  welche  auch  die  alten  Metriker  für  ttooe? 
Tolstoi  erklärten,  unter  Lehrs  Zustimmung  in  ttoos;  TSTpocnjaoi  um- 
gewandelt. Dann  machte  A.  Meissner  den  Versuch,  auch  die  7rata>vsc 
der  Alten  aus  Trsviaar^oi  7ro6s;  in  -«•Tjiofayjjiot  umzuwandeln,  da  der 
modernen  Rhythmik  jene  Takte  zuwider  seien.  Lehrs  nahm  auch 
Meissner  unter  seine  besondere  Protektion,  indem  er  dessen  Päonen- 
Aufsatz  im  Philologus  mit  einem  von  ihm  geschriebenen  Vorworte 
einleitete.  Dass  auch  Aristoxenus,  nach  Hermanns  und  Boeckhs  Ansicht 


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Rhythmik:  Lehrs  und  Drill. 


XIX 


die  grösste  Autorität  in  rhythmischen  Dingen  der  Alten,  sowohl  die 
TroOi«;  TptCTjpoi  wie  auch  die  r*v-aoY([jLOt  ausdrücklich  anerkannte,  den 
Mctrikem  also  durchaus  beistimmte,  das  kümmerte  Lehre  nicht. 
„Ich  hielt  es  für  möglich,  sagte  er,  dass  Aristoxenus  selbst  in  der 
Auffassung  geirrt,  dass  er  den  richtigen  Ausdruck  für  das,  was  er 
hörte,  nicht  fand.  Ich  hielt  es  ferner  für  möglich,  dass  bei  den 
unvollkommenen  Ueberresten  wir  aus  einem  Theilc  schliessen,  wäh- 
rend uns  die  Ergänzung  fehlt:  dass  wir  um  so  mehr  trotz  der  aus- 
serordentlichen Verdienste  von  Rossbach  und  Westphal  um  das 
Yerständniss  der  Rhythmiker  manches  noch  falsch  auslegen." 

Da  wurde  im  Siegesjahre  1870  zu  Lehrs  grosser  Freude  und 
Beruhigung  der  Welt  der  Nachweis  geliefert,  dass  Aristoxenus  ge- 
nau wie  Lehrs  sowohl  die  Iamben*wie  die  Päonen  als  gerade  Takte 
messe,  ja  noch  mehr,  dass  nach  Aristoxenus  auch  den  Jonici  ein 
gerades  Taktmass  zu  geben  sei.  Das  geschah  durch  Lehrs  Schüler 
Bernhard  Brill  in  der  Streitschrift:  „Aristoxenus  rhythmische  und 
metrische  Messungen  im  Gegensatze  gegen  neuere  Auslegungen, 
namentlich  Westphal's,  und  zur  Rechtfertigung  der  von  Lehrs  be- 
folgten Messungen.  Mit  einem  Vorworte  von  K.  Lehrs."  Lehrs 
glaubte  nun  durch  diese  ohne  seine  „unmittelbare  Aufforderung  ent- 
standene Arbeit  im  Alter  von  dem,  was  man  in  der  Jugend  er- 
sehnt, die  Fülle  zu  haben";  er  freute  sich  „diesen  Auseinander- 
setzungen BrhTs  zufolge,  welche  er  wenigstens  nicht  beweisend  zu 
finden  ausser  Stande  sei,  den  Aristoxenus  nachweislich  auf  seiner 
Seite  zu  finden."  Nach  der  vorliegenden  Interpretation  des  Aristo- 
xenus gebe  es  kein  iambisches,  kein  paeonisches,  kein  ionisches 
Rhythmengeschlecht  bei  den  Griechen,  sondern  nichts  als  nur  gerade, 
nur  daktylische  Takte,  denn  Iamben,  Päonen,  Jonici  seien  nichts  als 
nur  besondere  metrische  Schemata  des  geraden  4-zeitigen  Versfusses. 

Brill  sagt  von  seiner  Arbeit:  es  sei  aus  den  alten  Ueberliefe- 
rungen  und  namentlich  aus  den  Fragmenten  des  ältesten  Rhyth- 
mikers Aristoxenus,  auf  denen  hauptsächlich  die  Metrik  Rossbach's 
und  Westphal's  beruht,  nachzuweisen,  dass  das  rhythmische  Gefühl 
der  Alten  mit  dem  modernen  vollständig  übereinstimme,  und  dass 
an  Stellen,  wo  dies  nicht  der  Fall  sei,  ein  offenbarer  Irrthum  der 
Rhythmiker  vorliege.  Von  der  Hoffnung  diese  Aufgabe  zu  lösen 
beseelt  und  durch  seine  musikalischen  Kenntnisse  unterstützt,  habe 


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XX 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


er  sich  selbst  an  die  Fragmente  gemacht,  dieselben  einer  genaueren 
Prüfung  als  wir  unterzogen  und  gefunden,  dass  sie  im  Wesentlichen 
mit  dem  heutigen  Gefühl  übereinstimmen. 

Von  der  Unterstützung  „durch  seine  musikalischen  Kenntnisse4* 
durfte  eigentlich  Brill  ebenso  wenig  reden,  wie  wir  davon  geredet 
haben.  Stellen  wie  S.  81:  „wie  ja  auch  hei  uns  dem  Bass  haupt- 
sächlich die  Function  obliegt,  durch  Markiren  des  schweren  Takt- 
theiles  die  Einheit  im  Gegensatz  zu  den  anderen  Takten  hervor- 
treten zu  lassen",  sind  keine  Empfehlung  für  die  musikalischen 
Kenntnisse  Brill's.  Hektor  Berlioz  nennt,  was  Brill  dort  ausspricht, 
einen  „Gedanken,  der  mancherlei  lärmende  Gemeinheiten  und  jene 
lächerlichen  Ausschreitungen  erzeugt,  unter  welchen  die  dramatische 
Musik  früher  oder  später  erliegen  wird." 

Das  Ziel,  um  dessentwillen  Brill  die  Arbeit  unternahm,  die  rhyth- 
mischen Fragmente  einer  genaueren  Prüfung  als  ich  zusammen  mit 
Kossbach  es  gethan  habe  zu  unterziehen,  war  der  Nachweis  des  von 
Lehrs  aufgestellten  Axioms:  es  stimme  die  antike  Rhythmik  im 
wesentlichen  mit  dem  rhythmischen  Gefühle  der  Modernen  überein. 
Wunderliche  Täuschung,  welcher  Brill  und  Lehrs  sich  hingaben! 
Das  allerwesentlichste  in  der  Rhythmik  sind  die  Rhythmengesehlechter, 
oder  wie  die  Modernen  sagen,  die  Taktarten.  Wir  Modernen  haben 
deren  zwei,  das  des  geraden  und  des  ungeraden  Versfusses.  Die 
gesammte  Rhythmopoeie  in  der  modernen  Musik  besteht  darin,  dass 
in  den  Kompositionen  beide  Rhythmengeschlechter  mit  einander  ab- 
wechseln. Hätte  Herr  Brill,  als  er  den  Aristoxenus  einer  genaueren 
Prüfung  unterzog,  in  Wahrheit  gefunden,  dass  dessen  Rhythmik  mit 
der  modernen  übereinstimme,  so  müsste  er  nothwendig  bei  ihm  auch 
die  beiden  modernen  Rhythmengeschlechter  wiedergefunden  haben. 
Aber  eben  dies  hat  er  bei  Aristoxenus,  wie  er  sagt,  nicht  gefunden, 
sondern  im  Gegentheil  die  Beschränkung  der  antiken  Rhythmopoeie 
auf  ein  einziges  Rhythmengeschlecht,  das  gerade.  Sie  ist  also  viel 
ärmer  als  die  moderne  Rhythmopoeie:  die  moderne  stimmt  mit  der 
antiken  nicht  überein.  Das  ist  das  Resultat  von  Krill's  Arbeit  um 
dessentwillen  Lehrs  ihn  und  sich  selber  beglückwünscht. 

Freilich  kommt  uns  dies  Resultat  —  uns  d.  h.  allen  anderen 
ausser  Lehrs  —  höchst  unerwartet.    Denn  wir  andern  seit  Boeckh 


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Rhythmik:  Lehre  und  Brill. 


XXI 


und  schon  früher  waren  gewohnt,  uns  die  Rhythmik  der  Griechen 
als  reich  zu  denken,  viel  reicher  als  die  unsere.  Dass  sie  sich  auf 
nur  ein  einziges  Rhythmengeschlecht  beschranke,  abweichend  von 
unserer  modernen  Rhythmopoeie,  welche  fast  in  jeder  einigermassen 
umfangreichen  Compositiou  neben  dem  geraden  Rhythmengeschleehte 
auch  noch  eines  der  beiden  ungeraden  -  denn  es  sind  ihrer  zwei 
—  bedarf:  das  sind  Ergebnisse,  denen  zufolge  die  antike  Rhythmik 
ganz  und  gar  nicht  im  Wesentlichen  mit  der  modernen  überein- 
stimmen würde. 

Das  entspricht  gewiss  nicht  dem  von  Lohrs  aufgestellten  Axiome, 
dass  das  rhythmische  Gefühl  aller  cultivirten  Völker  im  Wesent- 
lichen eins  sei.  Auch  wir  haben  diesen  Satz,  den  wir  für  vollkom- 
men richtig  halten,  wiederholt  ausgesprochen,  aber  wir  sind  in  Be- 
treff der  wesentlichen  Uebereinstimmung  nicht  so  leicht  wie  Lehre 
und  Brill  zufrieden  zu  stellen.  Wir  verlangen  in  allererster  Instanz 
Uebereinstimmung  in  den  Hauptgattungen  der  gesummten  Rhythmik, 
in  den  beiden  hauptsächlichen  Rhythmcngeschlechtern.  Und  zu 
dieser  Ausnahme  sind  wir  ebenso  wie  unser  Vorgänger  Boeckh  durch 
die  ausdrücklichen  Erklärungen  desselben  Aristoxenus  und  der  näm- 
lichen übrigen  Quellen  geführt  worden,  welche  Brill  zu  Gunsten  des 
Herrn  Lehre  und* dessen  von  seiner  Jugend  an  gehegten  Lieblings- 
idee interpretirt.  Wir  könnten  auelytagen,  zu  Ungunsten  des  Herrn 
Lehrs,  sofern  dieser  auch  den  Satz  aufstellt,  dass  dsis  rhythmische 
Gefühl  aller  Culturvölker  eins  sei.  Ks  kommt  dem  Herrn  Lehre 
aber  weniger  auf  diesen  allgemeinen,  uns  sogar  bis  ins  Kleine  und 
Einzelne  richtig  erscheinenden  Satz  an,  als  vielmehr  auf  jene  seine 
erste,  diesem  allgemeinen  Satze  so  sehr  widerstreitende  Behauptung, 
dass  die  antiken  lYochaccn  und  Jamben  nicht  3-zeitige,  sondern 
4-zeitige  Versfüsse  seien. 

Wie  nun  Herr  Brill  es  anfängt,  sich  den  Beifall  des  Herin 
Lehrs  zu  gewinnen,  oder  was  dasselbe  ist,  den  Rhythmus  jedes  anderen 
als  des  4-zeitigen  Verefusses  aus  der  Aristoxenischcn  Rhythmik  hin- 
aus zu  escamotiren,  das  ist  ein  Kunststück  ohno  Gleichen,  „keine 
Hexerei,  sondern  pure  —  nicht  Geschwindigkeit",  wie  Ritsehl  zu 
sagen  pflegte,  sondern  Blindheit. 

Wenn  wir  von  3-,  4-zeitigen  u.  s.  w.  Versfüssen  oder  monopo- 
dischen  Takten  reden,  so  sind  das  rhythmische  Zahlenangaben,  die 


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XXII  Vorwort  zu  Aristoxenus 


zuerst  bei  Aristoxenus  vorkommen.  Wir  Modernen  reden  von  3/s-, 
"/«■>  12/8"^,a^^eu  un(l  verstehen  darunter  genau  dasselbe  wie  Aristo- 
xenus, wenn  er  von  3-zeitigen,  b'-zeitigen,  12-zeitigen  Takten  spricht. 
Aristoxenus  ist  derjenige,  der  unsere  heute  gebräuchliche  Takt- 
nomenclatur  wenigstens  für  den  trochaeischen  Rhythmus  als  der 
erste  anwendet.  Aristoxenus  nennt  die  durch  den  Zähler  jener 
Brüche  angezeigten  rhythmischen  Maasseinlieiten  „Chronoi  protoi". 
Wir  anderen  glaubten  bisher  mitBncckh,  dass  diese  nach  ^povoi  <rpȟ>Toi 
angegebenen  Zahlen  der  Aristoxenischen  Rhythmik  sich  auf  das 
rhythmische  Grösscnmaass  der  n-ooe;  d.  i.  der  Versfüsse  oder  der 
aus  Versfüssen  bestehenden  grösseren  rhythmischen  Abschnitte  be- 
ziehen. So  stellt  es  Aristoxenus  selber  dar.  Nun  erfahren  wir  durch 
Herrn  Lehrs  und  die  „genaueren  Prüfungen"  des  durch  seine  musi- 
kalischen Kenntnisse  unterstützten  Herrn  Brill,  dass  Aristoxenus 
zwar  geglaubt  haben  mag,  mit  jenen  seinen  Zahlen  genaue  rhyth- 
mische Grössenwcrthe  anzugeben,  dass  er  sich  darin  aber  gründlich 
geirrt,  —  dass  er  dabei  „im  halbdunkcln  Dämmerlichte  der  Kindheit" 
umhergetappt  habe.  Wir  Modernen,  so  denken  die  beiden  Herren» 
haben  freilich  ganz  bestimmte  rhythmische  Wcrthe  im  Sinne,  wenn 
wir  3,  4,  5,  6  Achtel  oder  Seclizehntel  sagen.  Das  ist  aber  bei 
Aristoxenus,  wenn  er  von  3,  4,  5,  6  ^oovot  7rpu/roi  spricht.,  nicht  der 
Fall  Wir  sind  klug  und  weise  in  der  Rhythmik,  so  meinen  sie. 
aber  Aristoxenus  ist  darin  noch  ein  Kind!  Wir  können  rhythmisch 
zählen,  Aristoxenus  noch  nicht!  Alle  Achtung  vor  Aristoxenus  gutem 
rhythmischen  Willen,  aber  am  Können  habe  es  ihm  nur  allzusehr 
gefehlt.  Selbst  mit  der  Kunst  zu  zählen  soll  es  bei  ihm  nach  Herrn 
Lehrs  noch  eine  sehr  bedenkliche  Sache  gewesen  sein.  „Als  ich 
einst",  erzählt  derselbe,  „aus  Boeckh's  Munde  hörte:  Aristoxenus 
wird  doch  haben  bis  fünf  zählen  können,  wusste  ich  allerdings  besser 
was  sich  ziemte,  als  dass  ich  dem  sicheren  Meister  die  Antwort 
ausgesprochen  hätte,  die  ich  dachte :  Das  ist  so  sicher  nicht"  Lehrs 
motivirt  diese  wunderliche  Vorstellung  folgendermassen :  „Dass  die 
Menschen  Kunst  mit  instinetiver  Sicherheit  treiben,  zur  Vollendung 
treiben,  während  die  Theorie  spät  und  langsam  und  schwerfällig 
ihre  Versuche  zum  Bewusstsein  macht  d.  h.  selbst  grosse  Namen, 
die  immerhin  für  ihre  Zeit  schon  einen  Fortschritt  bezeichneten, 
fiir  uns  in  der  Kindheit  betroffen  werden,  das  lehrt  die  Geschichte 


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Rhythmik:  Lehrs  und  Brill.  XXIII 

fort  und  fort'1  Mit  einem  Worte,  ein  solch  kindlicher  Versuch  soll 
auch  die  Rhythmik  des  Aristoxenus  sein.  Aristoxeuus  spricht  zwar 
von  rhythmischen  Maasseinheiteu ,  wenn  er  ^povot  irpwTot  sagt,  aber 
er  meint  danüt  nicht  wirkliche  rhythmische  Maassc,  sondern  Sylben. 
Sein  dreizeitiger  Takt  ist  nicht  wirklich  ein  dreizeitiger  wie  unser 
3/8-Takt,  sondern  Aristoxeuus  versteht  darunter  einen  dreisylbigen 
Versfuss,  der  möglicher  Weise  auch  ein  W'l'akt  sein  kann.  So  muss 
es  sich  Aristoxenus  gefallen  lassen,  dass  er  trotz  seines  „grossen 
Namens4',  trotzdem  ihm  ohne  Theophrast  gar  die  Diadochie  des 
Aristoteles  am  Lykeion  zugefallen  wäre,  „für  uns  auf  der  Kindheit 
betroffen  wird(!)",  dass  Leute  auf  vorgerückterer  Bildungsstufe,  wie 
Lehrs,  sich  freundlich  dessen  kindischer  Fehler  annehmen  und  dessen 
„dreizeitigen"  Takt  nach  ihrer  besseren  rhythmischen  Einsicht  in 
einen  „dreisylbigen"  Takt  emendiren.  Aristoxeuus  habe  nicht 
richtig  zälüen  können.  Die  Zahl  drei  sei  zwar  richtig  als  un be- 
nannte Zahl:  das  falsche  Zählen  bestehe  darin,  dass  Aristoxenus  die 
Zahl  drei  falsch  benannt  habe.  Nicht  drei  kleinste  rhythmische 
Zeiteinheiten,  sondern  drei  Sylben  hätte  er  sagen  müssen. 

Es  ist,  als  ob  Aristoxeuus  im  Voraus  geahnt  habe,  dass  man 
dereinst  seine  Rhythmik  so  verunglimpfen  werde,  indem  man  sie  für 
ein  kindisches  Werk  erkläre,  wie  dies  nun  durch  Lehrs  und  Brill 
geschehen  ist.  Gerade  für  diese  beiden  lädier  scheint  er  geschrieben 
zu  haben,  was  Pscllus  in  dem  ersten  Fragmente  aus  der  Aristoxe- 
nischen  Rhythmik  mittheilt.  Leider  hat  Herr  Brill,  als  er  sich  in 
der  Hoffnung  Lehrs  vierzeitige  Messung  zu  retten,  „selber  an  die 
Fragmente  machte  und  eiuer  „genaueren  Prüfung"  als  wir  unter- 
zog, gerade  dies  erste,  für  die  griech.  Metrik  so  ergiebige  Frag- 
ment unbeachtet  gelassen.  Es  ist  Psellus,  welcher  aus  Aristoxenus 
excerpirend  berichtet : 

„Zuerst  ist  zu  merken,  dass  ein  jedes  Maass  zum  Gemessenen 
in  irgend  einem  Verhältnisse  steht  und  hiernach  genannt  wird. 
Auch  die  Sylbe,  wenn  sie  etwas  derartiges  ist,  welches  den  Rhyth- 
mus messen  kann,  möchte  sich  so  zum  Rhythmus  verhalten,  wie 
das  Maass  zum  Gemessenen. 

„Das  ist  ein  Satz,  den  freilich  die  älteren  Rhythmiker  ausge- 
sprochen. Aber  Aristoxenus  sagt:  Die  Sylbe  ist  kein  Maass  des 
Rhythmus.  Denn  ein  jedes  Maass  ist  bezüglich  seiner  Quantität  an 


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XXIV 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


und  für  sich  bestimmt  und  steht  zum  Gemessenen  in  einem  be- 
stimmten Verhältnisse.  Aber  wie  da«  Maass  im  Verhältnis*,  zum  Ge- 
messenen, in  dieser  Weise  ist  die  Sylbe  mit  nichten  etwas  Be- 
stimmtes. Sie  nimmt  keineswegs  das  eine  mal  dieselbe  Zeit  ein  wie 
das  andere  mal.  Das  Maass  muss  bezüglich  der  Quantität  constant 
sein  sofern  es  Maass  ist,  auch  das  Zeitmaass  bezüglich  der  Zeit.  Die 
Sylbe  ist,  um  als  Zeitmaass  benutzt  werden  zu  können,  bezügüch  der 
Zeitdauer  nicht  constant  u.  s.  w." 

So  redet  ein  bewährter  Aristoteliker,  aber  kein  „Kind",  in  seiner 
Wissenschaft;  ein  Mann,  der  in  derselben  zahlreiche  Vorgänger  hat, 
denen  er  hier  bezüglich  des  von  ihnen  aufgestellten  Satzes:  die 
Sylbe  sei  rhythmisches  Maass,  auf  das  entschiedenste  entgegentritt. 
Man  hat  diesen  Satz  ausgesprochen,  als  allerdings  noch,  wie  Lehrs 
sagt,  die  Wissenschaft  der  Rhythmik  in  ihrer  Kindheit  war,  aber 
nicht  Aristoxcnus  ist  es,  der  ihn  wie  Lehrs  und  Brill  wollen,  aus- 
gesprochen, sondern  Aristoxenus  ist  ihm  mit  der  logischen  Schärfe 
des  Aristotclikers  entgegengetreten,  wenn  er  dem  entgegnet: 

„Die  Sylbe  erhält  durch  den  Rhythmus  des  Mclos  bald  diesen, 
bald  jenen  Zeitwerth  und  kann  aus  diesem  G runde  kein  rhyth- 
misches Maass  sein.  Vielmehr  bedürfen  wir,  um  ein  solches  zu 
haben,  eines  von  der  variabelen  Sylbengrösse  unabhängigen 
Maassstabes." 

Aristoxenus  ist  es,  der  deshalb  den  Begriff  des  xpovoc  ^f>u>To; 
als  kleinste  rhythmische  Zeiteinheit  in  die  Diseiplin  der  Rhythmik 
aufnehmen  musste,  wenn  diese  anders  eine  Wissenschaft  von  festem 
Fundamente  sein  sollte.  So  wohlbedacht  verfahrt  der  ächte  Aristo- 
teliker, aber  kein  „Kind".  Und  nun  behaupten  Lehrs  und  Brill, 
Aristoxenus  habe  sich  unter  dem  erst  von  ihm  in  die  Wissenschaft 
der  Rhythmik  eingeführten  abstraften  Begriffe  des  x?"'vo*  ^p1"70* 
die  Sylbe  gedacht! 

In  einem  besonderen  Aufsatze  über  den  yjwvo;  itpwTo;  (bei 
Porphyrius  ist  ein  Theil  davon  erhalten)  wendet  sich  Aristoxenus 
erbittert  gegen  Leute,  die  ihn  so  falsch  wie  Lehrs  und  Brill  ver- 
stehen würden: 

„Man  muss  sich  in  Acht  nehmen  vor  der  Irrung  und  der  durch 
sie  hervorgebrachten  Verwirrung,  denn  leicht  kann  einer,  welcher 


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Rhythmik:  Lehrs  und  Brill. 


XXV 


durch  musikalische  Kenntnisse  nicht  unterstützt  wird  und  solcher 
Theorien,  welche  wir  durlegen,  unkundig,  in  der  Soplustik  dagegen 
hinreichend  bewandert  ist,  wie  es  irgendwo  bei  Ibykus  heisst: 

„mit  rasendem  Zorncsinundc 
mir  Hader  entgegenbringen", 

indem  er  (der  musikunkundige  Sophist)  sagt,  es  sei  ungereimt,  wenn 
einer  die  Rhythmik  eine  Wissenschaft  nenne  und  sie  gleichwohl 
aus  unbestimmten,  imaginären  Elementen  (den  ypovoi  ttohjtoi)  be- 
stehen lasse,  denn  das  Unbestimmte  sei  das  Gegentheil  aller  Wissen- 
schaft. Ich  denke,  es  wird  jetzt  klar  sein,  dass  wir  des  Unbestimm- 
ten nicht  Tür  unsere  rhythmische  Wissenschaft  bedürfen.  Denn 
wir  setzen  nicht  Takte  aus  unbestimmten  Zeitgrössen  zusammen, 
sondern  vielmehr  aus  begrenzten,  begrenzt  dureh  Grösse  und  An- 
zahl und  durch  Maass  und  Ordnung  in  ihrem  Verhältnisse  zu  ein- 
ander. Und  wenn  wir  keine  derartigen  Takte  annehmen,  so  statuiren 
wir  auch  keinen  derartigen  Rhythmus,  da  alle  Rhythmen  aus  Takten 
zusammengesetzt  sind.4'  Es  wird  dann  weiter  ausgeführt,  dass  wenn 
die  xpovoi  -p«ü-oi  in  ihrer  Zeitdauer  auch  variabel  sind,  sie  doch 
jedesmal  durch  das  Tempo  zur  constanten  Zcitgrösse  werden  und 
mit  ihnen  auch  die  aus  ihnen  zusammengesetzten  rhythmischen 
Grössen,  die  dreizeitige,  vierzeitige  u.  s.  w. 

So  iudignirt  ist  Aristoxenus  über  diejenigen  seiner  Zeitgenos- 
sen, die  ihm  unterstellten,  als  ob  er  mit  unbestimmten  Grössen 
rechne. 

Wer  von  den  Zeitgenossen  ihn  so  missverstanden  hat,  um  ihm 
dergleichen  kindliche,  unaristotelische  Voraussetzungen  zu  unter- 
stellen, ihm,  der  in  seiner  Disciplin  die  grosse  That  vollbracht,  das 
rhythmische  Maass  von  den  Sylbeu  der  Poesie  und  der  Vocalmusik 
unabhängig  zu  machen  und  auf  den  zuerst  von  ihm  aufgestellten 
Xpovo;  7r(xI>To;  zurückzuführen,  das  wissen  wir  nicht. 

Mehr  als  2000  Jahre  nach  Aristoxenus  Tode  hat  Brill  wieder- 
um dieselben  Unterstellungen  an  der  Aristoxenischen  Rhythmik  ver- 
sucht, und  Lehrs  erklärt,  die  Auseinandersetzungen  des  Herrn  Brill 
nicht  beweisend  zu  finden  ausser  Stande  zu  sein.  Mögen  die  beiden 
Herren  zusehen,  wie  sie  sich  mit  den  nicht  allzu  schmeichelhaften 
Worten,  welche  Aristoxenus  gegen  solche  Gegner  aus  Ibykus  an- 


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XXVI  Vorwort  zu  Aristoxenus 

wendet,  abfinden  wollen.*)  Den  Satz  der  beiden  Herren  Lehrs  und 
Brill,  dass  das  rhythmische  Gefühl  aller  cultivirten  Völker  im  wesent- 
lichen eins  sei,  diesen  Satz  acceptire  ich  im  allerweitesten  Umfange. 
Er  ist  bei  mir  nicht  Axiom,  sondern  ein  aus  der  genauen  Ver- 
gleichung  eben  der  Aristoxenischen  Rhythmik  nüt  der  llhythmopoeie 
Bach's,  Händers,  Glucks,  Haydn's,  Mozart's,  Beethoven's  folgendes 
Ergebnis».  Ohne  Aristoxenus  würde  ich  meinerseits  nicht  auf  die 
Immanenz  der  rhythmischen  Gesetze  bei  den  musischen  Küustlern 
der  Griechen  und  der  modernen  Welt  haben  kommen  können. 

Wir  stimmen  auch  darin  mit  Lehrs,  dass  wie  dieser  sagt,  die 
Menschen  mit  instinctiver  Sicherheit  die  Kunst  treiben,  zur  Vollen- 
dung treiben,  während  die  Theorie  spät  und  langsam  und  schwer- 
fällig ihre  Versuche  zum  Bewusstsein  macht,  sind  aber  so  weit  ent- 
fernt, mit  Lehrs  die  Aristoxenische  Rhythmik  „diesem  auf  der  Kind- 
heit betroffenen"  Standpunkte  zuzuweisen,  dass  wir  sie  vielmehr  für 
eine  der  allervollendetsten  Disciplinen  erklären,  welche  der  wissen- 
schaftliche Geist  der  Griechen  geschaffen  hat,  viel  vollendeter  als 
die  Poetik  und  Rhetorik  des  Aristoteles,  viel  vollendeter  auch  als 
die  Euklidische  Geometrie.  So  lange  die  Rhythmik  des  Aristoxenus 
noch  unbekannt  oder  wenigstens  für  die  moderne  musikalische 
Rhythmopoeie  noch  nicht  verwerthet  war,  so  lange  konnte  man  von 
dem  Rhythmus  unserer  christlich-modernen  Musik  sagen,  dass  er 
als  Kunst  nüt  instinctiver  Sicherheit  zur  Vollendung  gefuhrt  war, 
während  die  moderne  Theorie  des  musikalischen  Rhythmus  langsam 
und  schwerfällig  nachhinke.  Auch  hier  mussten  eben  durch  das 
Griechenthum  der  modernen  Kunst  die  rhythmischen  Gesetze,  welche 
den  Künstlern  immanent  sind,  zum  Bewusstsein  gebracht  werden. 
Und  das  Griechenthum,  sofern  es  sich  als  Theorie  ausgesprochen, 
concentrirt  sich  hier  auf  den  einzigen  Namen  Aristoxenus.  Wie 


*)  Anmerkung.  Herr  Brill  beklagt  eich,  dass  ineine  in  den  Elementen 
des  musikalischen  Rhythmus  1871  gegebene  Zurückweisung  seiner  Ansichten 
über  Aristoxenus  unzureichend  sei.  Ich  gebe  ihm  Recht.  Dort  hatte  ich  den 
Schluss  jener  Zurückweisung  während  des  Druckes  unterdrückt,  als  mir  die 
vortrefflieho  Polemik  gegen  Brill  in  Wilhelm  Brambachs  rhythmischen  und 
metrischen  Untersuchungen  1871  zu  Gesicht  kam.  Ich  dachte,  daran  würde 
Brill  genug  haben.  Da  er  nicht  zufrieden  gestellt  ist,  lasse  ich  die  ihm  in  der 
allgemeinen  Theorie  des  musikalischen  Rhythmus  versprochene  auf  Aristoxenus 
näher  eingehende  Polemik  hier  abdrucken. 


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Rhythmik:  der  jüngere  Bellermann. 


XXVII 


sehr  hat  diesem  Namen  Aristoxenus  die  Philologie  es  abzubitten, 
dass  einer  ihrer  Vertreter  dem  Meister  Boeckh  gegenüber  zwar 
nicht  laut  gesagt,  aber  wie  er  gesteht,  stillschweigend  gedacht  hat, 
„es  sei  nicht  so  sieher,  dass  Aristoxenus  habe  bis  fünf  zählen  können." 

Den  Herren  Lehrs  und  Brill  gegenüber  halte  ich  es  mit  Herrn 
H.  Bei ler mann  (Deutsche  Literaturzeitung  1881  Nr.  18:  Anzeige 
meiner  allgemeinen  Theorie  des  musikalischen  Rhythmus  seit  J.  S. 
Bach),  wenn  er  sagt:  „Kein  Verständiger  wird  es  bestreiten,  dass 
die  von  Aristoxenus  über  den  Rhythmus  aufgestellten  Gesetze  in 
der  Natur  des  Rhythmus  selber  begründet  sind  und  hierdurch  fiir 
ewige  Zeit  ihre  Geltung  behalten  werden."  Durch  mein  Buch,  heisst 
es  dort,  werde  man  zunächst  in  klarer  und  verständiger  Weise  über 
die  Elemente  der  Rhythmik,  über  ihre  Termini  technici,  wie  Fuss, 
Vers,  System,  Kolon,  Strophe  unterrichtet.  Was  in  dieser  Beziehung 
von  mir  gesagt  werde,  fahrt  er  fort,  könne  man  allen  Musikstudie- 
renden  aufs  Wärmste  empfehlen.  Ebenso  vortrefflich  sei  femer, 
was  ich  über  die  historische  Veranlassung  der  heutigen  Termino- 
logie-Verwirrung in  der  Rhythmik  sage,  und  dass  ich  um  richtige 
Begriffe  und  Benennungen  wieder  herzustellen  zu  den  alten  griechi- 
schen Rhythmikern  zurückgreife. 

Aus  diesen  Worten  des  Berliner  Musikprofessors  ersehe  ich  zu 
meiner  Freude,  dass  die  Musiktheoretiker  seit  einem  Decennium  in 
den  rhythmischen  Anschauungen  und  Auffassungen  fortgesclirittcn  sind. 
Denn  als  ich  1871  in  den  Elementen  des  musikalischen  Rhythmus  zum 
ersten  Male  die  Lehren  der  alten  Theoretiker  nutzanwendend  den  an- 
tiken Terminus  „Periode"  an  Stelle  des  jetzt  in  den  Musik-Conservatorien 
durch  Lobe  und  Marx  allgemein  üblich  gewordenen  wieder  in  Auf- 
nahme zu  bringen  suchte,  da  trug  mir  dies  von  Seiten  eines  Leip- 
ziger Musiktheoretikers  (in  der  Kalint'schen  Musikzeitschrift)  die 
Rüge  ein:  Ich  sei  nicht  hinlänglich  musikalisch,  um  herauszuhören, 
was  Satz,  was  Periode  sei  und  „es  wird  Musikkundigen  unglaublich 
scheinen,  dass  Westphal  schon  zwei  Takte  (hört!)  als  eine  Periode 
bezeichnet"  Und  der  Amtsnachfolger  desselben  Professor  Marx, 
welcher  die  von  den  Alten  abweichende  Bedeutung  des  Terminus 

■ 

Periode  nach  A.  Reicha's  Vorgange  zuerst  in  Aufnahme  gebracht 
hat,  Herr  H.  Bellermaun,  trägt  kein  Bedenken  die  von  mir  aus  den 


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XXVIII 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


Alten  wiederhervorgeholte  „Periode"  „allen  Musikstudierenden  aufs 
Wärmste  zu  empfehlen." 

Ich  dürfte  schon  mit  diesem  einen  Erfolge  meiner  von  H.  Beller- 
mann  angezeigten  Arbeit  zufrieden  sein  können.  Doch  hoffe  ich 
auch  noch  eines  anderen  Erfolges  mich  zu  erfreuen,  den  mir  Herr 
Bellermann  einstweilen  noch  bestreitet  *)  ebenso  hartnäckig  bestreitet, 
wie  vor  zehn  Jahren  der  Leipziger  Musiker  in  der  Kahnt'schen  Zeit- 
schrift meine  angeblich  aus  musikalischer  Unwissenheit  geflossenen 
Neuerungen  in  der  rhythmischen  Terminologie. 

*)  Bedenklich  sc  heim-,  es  ihm,  sagt  Bellcrmann,  dass  ich  die  Aristoxeni- 
schen  Gesetze  auch  auf  die  polyphone  Musik  anwende  und  namentlich  in  den 
Baeh'schcn  Instrumental-Fugen  den  uubewussteu  Anschluss  an  dieselben  ent- 
decke, —  dass  ich  behaupte,  keine  andere  Musik  stehe  in  rhythmischer  Be- 
ziehung der  musischen  Kunst  der  Griechen  so  nahe,  wie  die  Fugen  des  wohl- 
temperirten  Claviers.  „Klarheit  ist  die  Hauptsache".  Diese  zeige  der  Verf. 
auf  dem  von  ihm  beherrschten  Gebiete  in  bewunderungswürdiger  Weise;  „so- 
bald er  aber  ein  fremderes  zu  beschreiten  versucht  (dies  sei  die  Polyphonik 
und  Bach),  nimmt  er  zu  Phrasen  und  allerlei  Vergleichen  seine  Zuflucht."  Ich 
dachte,  dii*s  ich  Phrasen  zu  machen  ebenso  wenig  wie  Aristoxenus  im  Stande 
sei.  Auch  II.  Bellermauu  scheint  sie  in  meinem  Buche  zu  vermissen,  indem 
er,  wo  es  ihm  nöthig  scheint,  eine  Phrase  hinein  corrigirt  und  mich  z.  B.  fol- 
gendes sagen  laust:  „Die  alten  Fugenregeln  über  dux,  comes,  thema  werden 
zwar  fortdauernd  ihre  Gültigkeit  behalten,  aber  sie  sind  zunächst  nur  der 
äussern  Erscheinung  entnommen.  Auch  nach  den  todten  Kegeln  des  alten 
Fux'schen  Gradus  ad  paraassuin  kann  man  Instniineutalfugeu  componiren. 
Aber  Bach'sche  werden  das  nicht.  Bach  hat  die  todten  und  starren  Fugen- 
regeln beseitigt,  indem  er  sie  in  Beziehung  zu  den  Abschnitten  der  protestan- 
tischen Choralstrophe  setzte.  Das  verstehe,  wer  kann!"  Ja,  muss  ich  mit 
H.  Bellerinann  ausrufen,  ja,  das  verstehe  ich  nicht,  das  ist  wirklich  eine  sinn- 
lose Phrase.  Der  Leser  der  deutschen  Litcraturzeitung  wird  denken,  dass  ieh 
die  sinnlose  Phrase  begangen;  aber  wenn  er  mein  Buch  liest,  wird  er 
sehen,  dass  sie  den  Referenten  zum  Urheber  hat,  denn  in  meinem  Buche 
S.  XXXII  steht  ganz  richtig  gedruckt:  „Bach  hat  die  todten  und  starren  Fugen 
begeistigt."  So  hatte  ich  richtig  geschrieben.  H.  Bellennann  hat  aber  nicht 
richtig  gelesen;  und  hat  deshalb  das,  was  ich  in  dem  Buche  über  das  Ver- 
hältniss  der  Bach'schen  Fuge  zum  deutsehen  Minne-  und  Kirchenliede  sage, 
lieber  ganz  ungelesen  gelassen.  Denn  nachweislich  weiss  er  nur  aus  Vorwort 
und  Einleitung,  dass  ich  in  dein  Buche  darüber  spreche.  Aber  nicht,  was? 
„Unzweifelhaft  (schreibt  Bellermann)  hat  es  volle  Berechtigung,  wenn  der  Verf. 
in  deutschen  Strophen  des  Minneliedes  und  denen  des  Kirchenliedes  eine  Ueber- 
einstimmuug  mit  den  Aristoxcuischen  Grundsätzen  erkemit."    Dass  mich  der 


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■ 


Rhythmik:  der  jüngere  Bellcrman.  XXIX 

Noch  erfreulicher  musste  mir  die  unbedingte  Anerkennung  sein, 
welche  der  Aristoxenischen  Rhythmik  von  einer  Stadt  aus  zu  Theil 
wird,  welche  bisher  in  der  Person  des  Herrn  Lohrs  und  des  Herrn  Brill 
eine  Oberaus  grosse  Geringschätzung  dagegen  ausgesprochen.  In 
dem  meine  allgemeine  Theorie  des  Rhythmus  besprechenden  Auf- 
zatze  „alte  und  neue  Rhythmik  von  Dr.  Felix  Vogt"  heisst  es:  „die 
antike  Rhythmik  hat  gerade  die  Gunst  erfahren,  die  der  unserigen 
bis  dahin  gemangelt  hat:  sie  ist  der  Gegenstand  einer  durch 
Consoquenz  und  feine  Durchbildung  bewunderungswür- 
digen Theorie  geworden  .  .  .  In  seinem  epochemachenden 
Werke  über  griechische  Metrik  hat  Westphal  aus  den  spärlichen 
Trümmern  von  Aristoxenus  rhythmischen  Elementen  das  Lehrgebäude 
des  grossen  Forschers  in  seinen  Grundzügon  zu  reconstruiren  ge- 
wusst,  und  in  diesem  neuen  Werke  sucht  er  jetzt  das  dort  Gefun- 
dene für  unsere  Musik  nutzbar  zu  machen."  .  .  „Als  wesentliche 
Neuerung  in  der  Taktlehre  bringt  Westphal  den  Begriff  Chronos 
protos."   Dass  der  Königsberger  Musikforscher  dem  Aristoxenischen 

Referent  dergleichen,  was  durchaus  nicht  meine  Ansicht  iat,  behaupten  lüsst 
und  noch  dazu  als  etwas  Richtiges  hervorhebt  und  belobigt,  das  gehört  genau 
iu  dieselbe  Kategorie  des  Referirens,  wie  wenn  er  mein  „begeistigt"  be- 
seitigt. Hätte  Bellcmiann  sich  nicht  mit  dem  begnügt,  was  die  Vorrede  über 
Bach'schc  Fugen  und  Minnelied  vorläufig  andeutet,  hätte  er  die  genaue  Dar- 
stellung dieses  Gegenstandes  in  dein  Buche  selber  nicht  ungelesen  bei  Seite 
liegen  lassen,  so  würde  er  seinem  Leser  gerade  das  Gegen theil  referirt  haben, 
dass  nämlich  für  die  Gruppirung  der  Miunclieds-,  Kirchen-  und  Fugen-Strophe 
die  Analogie  der  Aristoxenischen  Doctrin  aufhört,  dass  hier  der  individuellen 
deutschen  Kunst  nicht  mehr  die  griechische  respondirend  zur  Seite  steht.  Auch 
ist  tlas  Buch  so  weit  entfernt,  die  Durchführung  des  Themas  bei  den  rhyth- 
mischen Fugen- Analysen  unberücksichtigt  zu  lassen,  wie  ihm  II.  Bellermann 
vorwirft,  dass  ich  vielmehr  diesen  Gegenstand  von  S.  225  — 29H  in  aller  Aus- 
führlichkeit, welche  der  mir  verstattete  Umfang  des  Buches  zuliess,  behandelt 
habe.  H.  Bellermann  belehrt  mich,  die  Form  der  Fuge  beruht  auf  der  Durch- 
führung des  Themas  in  den  einzelnen  Stimmen  derselben:  „dem  Verf.  scheint 
dieses  Thema  aber  ohne  wesentliche  Bedeutung  zu  sein;  denn  bei  seineu  rhyth- 
miseheu  Eintheilungen  nimmt  er  auf  dasselbe  gar  keine  Rücksicht  und  in  seiner 
Ansgal>e  Bach'schcr  Fugen,  Moskau  1H7S,  sagt  er  sogar,  dass  es  in  vielen 
Fällen  falsch  sein  würde,  das  Thema  beim  Vortrage  hervortreten  zu  lassen/' 
Bellermann  würde  für  diese  Behauptung  (auch  L.  Köhler  spricht  nie  in  seiuer 
Fugen-Ausgabe  aus)  ausser  der  Moskauer  Fugenausgabe  auch  das  Buch,  welches 
er  hier  recensirt,  anführen  können. 


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XXX 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


Chronos  protos  auch  für  die  moderne  Musik  Geltung  vindicirt,  muss 
das  nicht  als  ein  voller  Ersatz  für  die  Unbilden  gelten,  welche  Ari- 
stoxenus' Rhythmik  und  insbesondere  dessen  Satz  vom  Chronos 
protos  durch  die  Königsberger  Philologen  erfahren  hat,  welche 
den  Aristoxenischen  Chrono»  protos  zu  einem  kindischen  Gedanken, 
über  den  sich  Aristoxenus  selbst  nicht  klar  geworden  sei,  herab  zu 
würdigen  suchten.  Ja,  der  misskreditirte  Hegriff  des  Chronos  protos 
wird  noch  zu  grossen  Ehren  kommen:  er  wird  der  Grundstein  wer- 
den, auf  welchen  das  bei  den  Neueren  so  verwahrloste  Gebäude  der 
Rhythmik  mit  dem  alten  griechischen  Denker  aus  der  Schule  des  Ari- 
stoteles von  neuem  aufgebaut  werden  muss,  wenn  in  der  Theorie 
unserer  Musik  die  Rhythmik  den  anderen  Zweigen:  der  Harmonik, 
der  musikalischen  Formlehre,  der  Instrumentationslehre  u.  s.  w., 
würdig  zur  Seite  treten  soll.  Aristoxenus  wird  für  die  moderne 
Musik  eine  noch  grössere  Bedeutung  als  für  die  antike  Philologie, 
als  für  die  Theorie  der  griechischen  Yersitikation  erhalten. 

Als  die  höchste  Anerkennung,  welche  der  Aristoxenischen  Rhyth- 
mik von  dem  Königsberger  Musikforscher  gezollt  wird,  muss  ich 
es  ansehen,  dass  er  die  eine  oder  die  andere  meiner  Auflassungen 
modellier  Musik  aus  Aristoxenus  widerlegt:  „Mit  der  Lehre  des 
Aristoxenus  steht  die  Vorpause,  steht  der  Vortakt  in  Widerspruch.41 
Daran  knüpft  Herr  Dr.  Felix  Vogt  eine  Polemik  gegen  die  mir 
eigene  Auffassung,  welche  sichtlich  darauf  ausgeht,  mir  wehe  zu 
thun.  Trotzdem  hat  mir  diese  Erörterung  um  Aristoxenus's  Willen 
wohl  gethan;  sie  ist  der  erste  Anfang  der  Zeit,  welche  gelernt  haben 
wird,  die  rhythmischen  Formen  moderner  Musik  nach  Maassgabe 
Aristoxenischer  Doctrin  zu  bestimmen.  Dem  Königsberger  Musik- 
forscher aber  entgegne  ich  bezüglich  des  hier  angeregten  Punktes 
zweierlei. 

Erstens:  Eine  vollständige  Besitzergreifung  der  Aristoxenischen 
Tradition  wird  schwerlich  eher  als  mit  der  Veröffentlichung  der 
gegenwärtigen  Ausgabe  und  Bearbeitung  möglich  sein,  und  Herr 
Vogt  möchte  wohl  mit  seiner  Aussage  nicht  Recht  haben:  „In 
seinem  Epoche  machenden  Werke  über  griechische  Metrik  hat 
Westphal  aus  den  spärlichen  Trümmern  von  Aristoxenus  rhythmi- 
schen Elementen  das  Lehrgebäude  des  grossen  Forschers  in  seinen 
Grundztigen  zu  reconstruiren  gewusst."    So  freundlich  und  liebens- 


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Rhythmik:  der  jüngere  Bellermann.  XXXI 


würdig  das  auch  gesagt  ist:  ich  muss  entschieden  dies  Lob  ablehnen. 
Vielmehr  kannte  ich  zur  Zeit  der  Abfassung  der  griechischen  Metrik 
die  Tradition  des  Aristoxenus  selbst  für  den  Zweck  der  griechischen 
Metra  nur  höchst  unvollkommen.  Es  hat  noch  einer  langen  Arbeit 
bedurft,  bis  ich  im  Stande  war,  mit  einer  Gesammtausgabc  des 
Aristotelikers  auch  über  dessen  gesammte  rhythmische  Tradition 
vollständig  zu  gebieten  und  die  scheinbare  Diskrepanz  derselben  mit 
den  Metrikern,  welche  man  allgemein  seit  Gottfried  Herrmann  und 
Boeckh  voraussetzte,  in  ihrer  gänzlichen  Grundlosigkeit  zu  erkennen. 
Um  so  eher  wird  mir  der  Königsberger  Musikforscher  erlauben, 
wenn  ich  hier  freilich  ohne  Nachweis  auspreche,  dass  die  von  mir 
statuirte  Vorpause  und  Vortakt  mit  der  Lehre  des  Aristoxenus 
nicht  in  Widerspruch  steht  Die  vorliegende  Aristoxenus- Ausgabe 
nebst  der  sich  unmittelbar  an  dieselbe  anschliessenden  im  gleichen 
Verlage  erscheinenden  „Taktlehre  der  Instrumental-  und  Vokal- 
Musik  von  R.  Westphal  und  Hertha  Sokolowska"  wird  ja  meinem 
Recensenten  baldigst  zur  Hand  sein,  und  alsdann  steht  es  ihm  frei, 
sein  Uilheil  über  die  Beziehungen,  in  welche  ich  Aristoxenus  zu 
unserer  modernen  Musik  setze,  nochmals  auszusprechen. 

Zweitens:  Das  Material  der  modernen  Musik  ist  ein  unend- 
liches und  nach  der  Seite  der  Formlehre  vielfach  durchgemustert, 
so  dass  es  wohl  scheinen  könnte,  es  sei  z.  B.  für  die  Fugen-Com- 
position  eine  jede  Erscheinung  vollständig  gebucht  worden.  Aber 
ein  Jeder  wird  zugeben,  dass  es  an  einer  Durchmusterung  des 
Materiales  vom  Standpunkte  des  Rhythmus  aus  bis  jetzt 
durchaus  gefehlt  hat.  Es  könnte  doch  wohl  nicht  ganz  unmöglich 
sein,  dass,  wenn  eine  solche  Arbeit  mit  der  nöthigen  Hingabe 
unternommen  wird,  unterstützt  durch  die  Hilfsmittel  und  die  bisher 
ganz  neuen  Gesichtspunkte,  welche  die  Theorie  des  Rhythmus  durch 
Aristoxenus  erhält,  dass  dann  doch  noch  der  eine  oder  der  andere 
Punkt  für  die  Theorie  der  rhythmischen  Composition  unserer  Meister 
sich  den  bisherigen  Theoretikern  entzogen  zu  haben  scheinen  könnte. 

Und  so  kann  ich  nicht  umhin,  hier  meine  Freude  auszusprechen, 
dass  mein  Ruch  über  „»He  Theorie  des  musikalischen  Rhythmus  seit 
Bach"  wenigstens  Einen  Leser  gefunden  hat  (den  Verfasser  des  Auf- 
satzes „Eine  neue  Theorie  der  musikalischen  Rhythmik"  im  Musi- 
kalischeu Wochenblatte  1881.  No.  35.  36.  37),  welcher  sich  nicht 


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XXX Ii  Vorwort  zu  Aristoxcnus 

nur  der  mitunter  nicht  gar  so  leichten  Mühe  unterzogen  hat.  das 
ganze  Buch  (nicht  bloss  Anfang  und  Ende,  sondern  auch  die  be- 
schwerlichere Mitte)  mit  sorgfältiger  Prüfung  der  darin  analysirten 
Beispiele  durchzulesen  und  dem  Leser  des  Musikalischen  Wochen- 
blattes eine  eingehende  Darstellung  des  Inhaltes  zu  geben,  sondern 
mit  einer  für  einen  recensirenden  Kritiker  fast  beispiellosen  liebens- 
würdigen Nachsicht  hinzufügt:  „dass  kritische  Zweifel  den  West- 
pharschen  Lehrsätzen  gegenüber  nur  mit  grosser  Vorsicht  zuzulassen 
sind.  Manchen  Dingen,  die  beim  ersten  Anblick  so  überraschend 
und  sonderbar  erscheinen,  dass  man  glauben  möchte,  sie  ohne  Wei- 
teres verwerfen  zu  müssen,  ist  bei  näherer  Prüfung  dennoch  nicht 
beizukommen ,  denn  es  ist  nicht  die  Art  des  Verfassers,  Behaup- 
tungen leichthin  in  hypothetischer  Manier  aufzustellen;  was  er 
lehrt,  das  begründet  er  sorgfältig,  ja  mit  einer  fast  peinlichen  Ge- 
wissenhaftigkeit, und  stösst  man  doch  einmal  auf  Sätze,  deren  Ent- 
wickelung  zunächst  noch  Zweifel  bestehen  lässt,  so  findet  sich  beim 
Weitcrlescn,  dass  der  Verfasser  das  etwa  schuldig  gebliebene  über 
kurz  oder  lang  nachträgt.  Volle  Ausfuhrung  des  Details  ist  aber 
hinsichtlich  gewisser  Einzelheiten  von  diesem  ersten  Theile  des 
Werkes  noch  gar  nicht  zu  verlangen,  und  es  ist  nur  billig,  das 
Urthcil  über  solche  bis  zum  Erscheinen  des  in  Aussicht  gestellten 
zweiten,  speciellen  Theiles  zurückzuhalten.  Das,  worauf  es  zunächst 
ankommt,  ist,  dass  die  allgemeinen  Grundsätze  des  Werkes  sobald 
als  möglich  in  weitere  Kreise  dringen ,  dort  bekannt  und  gewürdigt 
werden,  und  da  lässt  sich  dem  Leser  nicht  dringend  genug  em- 
pfehlen,  über  dasjenige,  was  ihm  im  Buche  hinsichtlich  der  Form 
und  der  Ausführung  individuell  etwa  weniger  behagen  mag,  im 
Interesse  der  Sache  hinwegzusehen,  um  sich  mit  dem  Kern  des- 
selben vertraut  zu  machen." 

Wenn  ich  die  verehrte  Verlagshandlung  zu  bestimmen  gesucht 
habe,  der  Ausgabe  des  Aristoxenus  ein  Büchlein  anzuschliessen. 
welches  die  Ergebnisse  der  Aristoxenischen  Taktlehre  für  moderne 
Musik  in  populärer,  Musikern  und  Laien  verständlichen  Weise,  unter 
Femhaltung  alles  dessen,  was  der  Pseudonyme  Reccnsent  des  musi- 
kalischen Wochenblattes  an  der  „Theorie  des  Musikalischen  Rhyth- 
mus seit  Bach"  ausstellt,  so  möge  dieser  darin  den  Dank  für  seine 
ermuthigende  Beurtheiluug  im  Musikalischen  Wochenblatte  erblicken. 


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Rhythmik. 


XXXIII 


Ich  weiss  jetzt,  dass  ein  einziger  intelligenter  Leser  den  mangelnden 
Zuspruch  des  grossen  Publikums  wenigstens  für  den  Verfasser  auf- 
zuwiegen im  Stande  ist. 


Von  den  453  Büchern,  welche  der  fleissige  Tarentiucr  nacli 
Suidas  Berichte  geschrieben  hat,  sind  uns  in  den  handschriftlichen 
Sammlungen  der  griechischen  Musiker  ausser  den  rhythmischen 
Stoicheia  noch  drei  Bücher  über  das  Melos  überkommen.  Sie  nennen 
sich  die  drei  Bücher  der  harmonischen  Stoicheia,  und  dieser  Titel 
bezeichnet  gewissermassen  ganz  richtig  ihren  Inhalt. 

Was  Aristoxenus  über  das  Melos  geschrieben,  kann  für  uns 
Moderne  nicht  das  grosse  sachliche  Interesse  haben,  wie  seine  Dar- 
stellung der  Rhythmik.  Die  Aufgabe  der  letzteren  ist  es,  dass  sie 
für  die  moderne  Welt  etwa  dieselbe  Bedeutung  gewinne,  wie  sie 
schon  fast  vor  mehr  als  einem  Jahrhundert  die  Poetik  des  Lehrers 
Aristoteles  für  unsere  Dramaturgie  eingenommen  hat,  indem  man 
in  ihr  den  Kanon  für  die  moderne  Tragödie  erblickte.  Die  Aristo- 
xenische  Rhythmik  aber  wird  für  die  rhythmischen  Formen  unserer 
Musik  in  einem  noch  viel  höheren  Grade  als  Kanon  gelten,  nicht 
bloss  bezüglich  der  rhythmischen  Theorie,  sondern  auch  wie  wir  zu 
Anfang  dieses  Vorwortes  kürzlich  dargelegt  haben,  für  die  Praxis 
des  rhythmischen  Vortrages,  —  gar  nicht  zu  gedenken  der  praktischen 
Bedeutung,  welche  die  Aristoxenische  Rhythmik  für  die  Philologie 
bezüglich  der  Norm  antiker  Versilication  hat. 

Diese  Bedeutung  können  die  Aristoxenischen  Schriften  über  das 
31elos  auch  nicht  im  entferntesten  haben.  Denn  was  soll  die  Theorie 
der  modernen  Melik  mit  derjenigen  des  griechischen  Alterthums 
machen?  Der  modernen  Melik,  die  seit  Bach,  Mozart  und  Beethoven 
in  demjenigen,  was  wir  heutzutage  Harmonik  nennen,  und  in  der 
Instrumentation  (—  nach  allem  zu  urtheilen  was  wir  von  der  antiken 
Melik  wissen  — )  wohl  unendlich  höher  als  diese  steht?  Nicht  ein- 
mal zum  theoretischen  Verständnisse  überlieferter  musikalischer 
Compositionen  der  Griechen  würde  sich  die  melischc  Litteratur  des 
Aristoxenus  praktisch  verwenden  lassen,  denn  was  die  Musik-Com- 
positionen  der  antiken  Welt  betrifft,  so  hat  darüber  bekanntlich  der 

ArUtuiann«,  Melik  o.  Rhythmik.  c 


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XXXIV  Vorwort  zu  Aristoxenus 


böse  Unstern  gewaltet,  dass  fast  alles,  was  die  Alten  von  ihrer 
Musik  in  Noten  fixirt  hatten,  zu  Grunde  gegangen  ist. 

Aber  obwohl  den  Aristoxenischen  Schriften  über  das  Melos  eine 
praktisch-reformatorische  Bedeutung  für  die  moderne  Kunst  ganz  und 
gar  abgeht,  ja  obwohl  sie  bei  dem  fast  gänzlichen  Mangel  überliefer- 
ter musikalischer  Compositionen  nicht  einmal  im  Stande  sind ,  uns  ein 
anscliauliches  und  fassliches  Bild  von  der  betreffenden  Kunst  der 
Griechen  zu  verschaffen,  so  haben  sie  doch  nichts  desto  weniger 
eine  gewissermaassen  kulturhistorische  Bedeutung;  denn  auch  sie 
geben  lebendiges  Zeugniss  von  der  Ueberlegenheit  des  griechischen 
Geistes.  Bedenken  wir,  dass  wir  die  frühesten  Versuche  des 
wissenschaftlichen  Denkens,  den  spröden  Stoff  des  Melos  nach  fass- 
lich  hervortretenden  Kategorien  zu  behandeln,  vor  uns  haben.  Zwar 
hatte  mau  sich  auch  schon  ausserhalb  der  Schule  des  Aristoteles 
mit  der  Auffindung  solcher  Kategorien  abgemüht:  es  sind  zum  Theil 
bekannte,  ja  berühmte  Namen,  welche  Aristoxenus  selber  als  seine 
Vorgänger  in  diesen  Bestrebungen  bezeichnet  und  deren  Anschau- 
ungen er  eine  besondere  Schrift,  welche  eine  Würdigung  derselben 
enthielt,  gewidmet  hatte.  Diese  „So&ai  ap|iovixa>v"  des  Aristoxenus 
hegen  uns  nicht  mehr  vor:  aus  gelegentlichen  Anführungen  derselben 
ergiebt  sich  deutlich  genug,  dass  es  erst  der  Schule  des  Aristoteles 
vorbehalten  war,  den  Denker  heranzubilden,  welcher  diejenigen  Punkte, 
welche  wir  heutzutage  als  Fundamentsätze  der  „allgemeinen  Musik- 
wissenschaft" oder  als  der  „allgemeinen  Einleitung  in  die  Musik"  an- 
zusehen gewohnt  sind,  in  einer  so  klaren  Weise  erfasste  und  aus- 
einander setzte,  welche  (man  darf  es  ohne  Scheu  sagen)  bis  heute 
bei  den  Musikforschem  ohne  gleichen  geblieben  ist.  Ein  Musiker, 
der  selber  als  Schriftsteller  über  Musiktheorie  nicht  unbekannt  und 
mit  der  ganzen  dahin  einschlagenden  Litteratur  wohl  vertraut  ist, 
brach,  als  er  auf  meiue  Veranlassung  zum  ersten  Male  die  melischen 
Schriften  des  Aristoxenus  zu  studiren  angefangen,  in  die  bewundern- 
den Worte  aus:  „Nein!  so  verstehen  wir  nicht  zu  schreiben!",  und 
denselben  Eindruck  werden  sie  auf  jeden  machen,  sofern  er  bei 
diesen  wunderbaren  Entwicklungen  des  Aristoxenus  in  Anrechnung 
bringt,  einmal,  dass  derselbe  ohne  alle  die  Hilfsmittel  war,  mit 
welchen  die  moderne  Physik  (Akustik)  den  Forscher  über  solche 
Gegenstände  unterstützt,  und  sodann,  dass  es  nicht  die  Scalen  der 


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harmonischen  Schriften. 


XXXV 


heutigen  Musik,  sondern  die  eiiharmonischen ,  chromatischen  und 
diatonischen  Scalen  der  Alten  sind,  die  —  von  den  unserigen  so 
sehr  bedeutend  verschieden  —  das  Material  für  die  Aristoxenische 
Forschung  bilden.  Es  fehlt  hier  fast  an  allen  Analogieen,  welche 
bei  der  Rhythmik  des  Aristoxenus  und  bei  der  Poetik  seines  Lehrers 
Aristoteles  zwischen  der  antiken  und  modernen  Kunst  sich  darbieten. 
Hätte  dem  Aristoxenus  eine  Melik,  analog  der  modernen,  als  Ma- 
terial des  Forschens  vorgelegen,  so  würden  wir  freilich  vieles  von 
dem,  was  dem  Aristoxenus  in  seiner  Musikwelt  die  Hauptsache 
sein  musste,  gar  nicht  bei  ihm  finden.  Aber  alles  was  wir  bei  ihm 
finden,  und  mag  es  noch  so  fremd  und  unfassbar  erscheinen,  wir 
dürfen  fest  überzeugt  sein,  dass  er,  der  Aristoteliker,  von  wirklichen 
Tliatsachen  der  alten  Kunst  spricht  Wir  können  os  nicht  gelten 
lassen,  dass  diese  oder  jene  cliromatische  und  diatonische  Chroa, 
dass  die  Enhnrmonik,  für  die  er  die  genau  zu  ermittelnden  Zahlen- 
ausdrücke giebt,  auf  lediglich  idealen  Berechnungen  der  Phantasie 
beruhen  solle,  wie  zum  Tlieil  auch  noch  der  hochverdiente  Forscher 
Friedrich  Bellermann  will.  Nein,  Allem,  was  Aristoxenus  als  That- 
sachen  bespricht,  liegt  auch  eine  reale  Wahrheit  der  helle- 
nischen Kunstpraxis  zu  Grunde.  Was  wir  von  der  einst  so  zahl- 
reichen Aristoxeiuschen  Litteratur  noch  besitzen,  ist  ausreichend 
genug,  um  uns  erkennen  zu  lassen,  dass  bei  ihm  (in  völliger  Ueber- 
einstimmung  des  Aristoteles)  die  Phantasie  gerade  die  am  schwäch- 
sten entwickelte  Seite  der  geistigen  Beanlagung  war.  Ausgebildet 
ist  zwar  bei  ihm  der  Sinn  für  Kunst  und  Kunst genuss,  aber  nicht 
die  poetische  Begabung.  Wenn  er  sich  als  Musiker,  soweit  dies 
Fach  es  erfordert,  gelegentlich  aucli  in  eigenen  Compositionen  ver- 
suchen musste,  so  möchten  wir  doch  bezweifeln,  dass  er  gerade 
zu  den  ausgezeichnetsten  Coniponistcn  des  Alterthums  gehört  hat 
Aristoxenus  als  Schriftsteller  ist  trocken;  er  kann  nicht  anders  als 
durch  den  Stoff,  dessen  er  völlig  Herr  ist,  interessiren;  zu  einer 
witzigen  oder  poetischen  Phrase  hat  er  seinen  Styl  niemals  empor- 
zuheben versucht.  Ihm  genügt  die  unbeugsame  Schärfe  und  Klar- 
heit der  nüchternsten  Prosa. 

Noch  nach  einer  andern  Seite  hin  sind  die  Aristoxenischen 
Schriften  über  Melos  von  einer  kulturhistorischen  Wichtigkeit  Sie 
fuhren  uns  nämlich  in  das  akademische  Leben  und  Wesen  des  klas- 


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XXXVI 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


sischen  Hellenenthums.  Dass  Plato  und  Aristoteles  in  akademischer 
Thätigkeit  gelebt,  wissen  wir  zwar,  aber  von  dem  Individuellen 
dieser  ihrer  akademischen  Wirksamkeit  erfahren  wir  wenig  genug; 
die  eigenartigsten  Züge  eben  aus  den  Mittheilunge »  des  Aristoxenus. 
Bei  der  Leetüre  von  Aristoxenus  melischen  Schriften  verweilen  wir 
geradezu  in  dem  akademischen  Kreise  von  Athens  Docenten-  und 
Studententhume.  Denn  Aristoxenus  schreibt  seine  Schriften  über 
das  Melos  zunächst  als  Docent,  es  sind  antike  Collegienhefte  zum 
Zwecke  des  akademischen  Vortrages  medergesehrieben  oder  auch  wohl 
nach  dem  Abhalten  der  Vorlesungen  ausgearbeitet.  Im  Allgemeinen 
—  so  sehen  wir  —  hat  er  von  seinen  Zuhörern  eine  sehr  gute 
Meinung;  er  traut  ihnen  zu,  dass  sie  seinen  Deductionen  zu  folgen 
wohl  im  Stande  sind,  dass  sie  auch  wohl  wissen,  man  dürfe  im  ersten 
Anfange  einer  Disciplin  noch  keine  vollständigen  und  umfassenden 
Definitionen  erwarten.  Wir  sehen  aber  auch,  wie  Aristoxenus  dann 
weiterhin  den  Zuhörern  ihn  selber  in  seinein  Vortrage  zu  interpel- 
liren  verstattet  und  ihre  Fragen  „warum  so  und  nicht  anders?" 
mit  sorgsamem  und  liebevollem  Eingehen  beantwortet.  Von  Inter- 
esse ist  auch  dies,  dass  wir  uns  aus  der  Art  wie  Aristoxenus  von 
den  Zuhörern  durch  Fragen  interpellirt  wird,  überzeugen  müssen, 
dass  seine  Zuhörer  vollständig  im  Staude  sind,  den  ja  oft  nicht  allzu 
leichten  Auseinandersetzungen  des  Docenten  genau  zu  folgen,  ja, 
dass  sie  die  aus  der  historischen  Entstehung  der  griechischen  Scala 
sich  ergebenden  Inconvenienzen,  von  denen  auch  wir  Moderne  wenig 
befriedigt  sind,  wohl  herausfühlen  und  anders  wünschen.  Kurz  und 
gut,  Aristoxenus  hat  in  seinem  Auditorium  eine  aufmerksame,  in- 
telligente, aber  ueuerungssüchtige  Zuhörerschaft,  —  Jung- Athen  ist 
zu  Alexanders  Zeit  fast  noch  unverändert  dasselbe  wie  zu  den  Zeiten 
des  Peloponnesichen  Krieges  geblieben  — ,  Aristoxenus  aber  repräsen- 
tirt  den  hypergenialen  Zuhörern  gegenüber  das  conservative  Element ; 
wo  er  mit  der  Logik  nicht  recht  auszureichen  glaubt,  da  nimmt  er 
das  Ethos  zu  Hilfe. 

Die  rücksichtsvolle  Sorge  um  seine  Zuhörer  treibt  ihn  zu  einer 
fast  beispiellosen  Energie?.  Denn  etwas  anderes  als  Rücksicht  auf 
die  Zuhörer  kann  es  kaum  gewesen  sein,  was  ihn  veranlasst  hat, 
dieselben  Vorlesungen  nach  der  ersten  Ausarbeitung  noch  zweimal 
umzuarbeiten:  das  eine  Mal  unter  genauer  Festhaltung  der  früher 


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harmonischen  Schriften. 


XXXVII 


gemachten  Disposition,  aber  mit  gänzlicher  Umgestaltung  des  Aus- 
drucks (wir  nennen  diese  beiden  Ausarbeitungen  desselben  Gegen- 
standes bei  derselben  Disposition  „die  erste  und  die  zweite  Aristo- 
xenische  Harmonik").  Sodann  besitzen  wir  noch  eine  dritte  Dar- 
stellung der  Harmonik,  von  der  uns  freilich  nur  das  Prooimion  er- 
halten ist  („die  dritte  Harmonik  des  Aristoxenus").  Nur  das  Prooi- 
mion ist  auf  uns  gekommen,  aber  genug,  um  uns  den  abweichenden 
Charakter  dieser  dritten  Vorlesung  erkennen  zu  lassen.  Während  Ari- 
stoxenus in  der  ersten  und  zweiten  Harmonik  den  Gegenstand  in 
achtzehn  Abschnitten  behandelt  hat,  soll  die  dritte  Harmonik  den 
gesammten  Gegenstand  und  dazu  noch  die  Rhythmopoeie  in  sieben 
Abschnitten  vortragen.  Das  sind  dieselben  sieben  Abschnitte,  in 
welchen  die  meisten  Musikschriftsteller  der  Kaiserzeit,  nachweislich 
(sei  es  mittelbar,  sei  es  unmittelbar)  aus  Aristoxenus  schöpfend,  die 
Discipliu  der  Harmonik  darstellen.  Es  ist  mehr  als  wahrscheinlich, 
dass  die  erste  (und  selbstverständlich  auch  die  zweite)  Harmonik 
ein  einzelner  Theil  von  einem  Cyklus  der  Wissenschaft  über  das 
Melos  war,  d.  h.  der  Musik  nach  ihrer  tonalen  Seite,  die  rhythmische 
Seite  der  Musik  und  alles  was  nicht  Melos  ist  ausschliessend.  Dieser 
Cyklus  hatte  mit  Vorlesungen  „über  die  Auffassungen  der  Harmo- 
niker" begonnen,  in  welchen  was  von  Aristoxenus'  Vorgängern  in 
der  melischen  Discipliu  gelehrt  und  überliefert  war,  kritisch  be- 
sprochen wurde.  Dann  folgte  als  zweiter  Theil  des  Cyklus:  die  Vor- 
lesungen über  Harmonik.  Die  übrigen  Theile,  scheint  es,  waren  die 
Melopoeie  und  die  Instmmenten-Lehre ,  vielleicht  auch  noch  die 
Theorie  der  menschlichen  Stimme.  Denn  diese  Discipiinen,  aber  nicht 
etwa  Rhythmik  und  Orchestik,  muss  Aristoxenus  im  Auge  gehabt 
haben,  wenn  er  im  Prooimion  der  ersten  Harmonik  von  den  Theilen 
der  Wissenschaft  vom  Melos  spricht,  welche  die  Sache  eines  schon 
weiter  Fortgeschrittenen  seien,  und  über  die  er  in  geeigneten  Zeiten 
sprechen  werde  „welche  und  wie  viele  es  sind  und  worin  ein  jeder 
besteht" 

Von  der  dritten  Harmonik  gewährt  nichts  den  Anschein,  als 
ob  sie  blosser  Theil  eines  Vorlesungs-Cyklus  ist.  Denn  dass  sie 
als  Abschnitt  der  Harmonik  auch  noch  die  Melopoeie  zu  behandeln 
verspricht,  das  scheint  dafür  zu  sprechen,  dass  sie  ein  ganz  in  sich 
abgeschlossenes  Werk  (bezüglich  Vorlesung)  des  Aristoxenus  ist. 


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XXXVIII  Vorwort  zu  Aristoxenus 

Für  die  pädagogische  Manier  des  Aristoxenus  ist  es  uicht  ohne 
allgemeines  Interesse,  dass  sowohl  die  erste,  wie  auch  die  zweite 
Harmonik  in  zwei  Haupttheile  zerfällt,  von  denen  er  den  ersten  als 
„Eingangs- Anschnitt"  (ta  ev  apyjj),  den  zweiten  als  „Stoicheia"  be- 
zeichnet.   So  ziemlich  ein  jeder  Punkt  der  Harmonik  wird  zuerst 
in  den  Eingangs -Abschnitten,  dann  weiterhin  in  den  Stoicheia  be- 
handelt Im  ersten  Haupttheile  trägt  Aristoxenus  den  Zuhörern  vor, 
was  der  Augenschein  über  den  betreffenden  Punkt  der  Harmonik 
ergebe,  z.  B.  über  den  Unterschied  des  Singens  und  Sprechens, 
über  Tonhöhe,  Tontiefe,  Aufsteigen,  Absteigen,  Tonstufe,  Intervall 
u.  s.  w.    Es  leidet  keinen  Zweifel,  dass  Aristoxenus  es  ist,  welcher 
zum  ersten  Male  unter  den  Griechen  diese  Punkte  zum  Gegenstand 
des  Denkens  gemacht,  wenigstens  so  durch  sein  Denken  zurecht  ge- 
legt hat,  wie  bis  zum  gegenwärtigen  Augenblicke  die  Musiktheorie  diese 
Kategorien  handhabt.   Der  erste  Haupttheil  kann  Alles  nur  im  Um- 
risse geben:  nicht  einmal  die  Definitionen  können  hier  vollständig 
und  umfassend  sein,  wie  Aristoxenus  den  Zuhörern  gleichsam  um 
Entschuldigung  und  Nachsicht  bittend  ausdrücklich  erklärt.  Im 
zweiten  Haupttheile,  den  Stoicheia,  befasst  sich  Aristoxenus  nicht 
mehr  mit  dem  was  der  Augenschein  angiebt:  er  stellt  sich  auf  den 
Standpunkt,  wo  ein  jeder  der  vorgetragenen  Sätze  nach  Aristote- 
lischer Art  unumstösslichen  Beweis  verlangt.    Die  Methode  der 
Beweisführung  ist  hier  bei  Aristoxenus  die  mathematische,  und 
/.war  (was  uns  für  das  klassische  Hellenenthum  nicht  befremden 
kann)  die  Mathematik  nicht  in  der  Form  der  arithmetischen,  son- 
dern der,  geometrischen  Deduktion.    Denn  es  ist  dem  wissenschaft- 
lichen Geiste  des  Griechenthums  cigenthümlich,  dass  in  der  Periode 
der  produktiven  Kunstblüthc  das  wissenschaftlich  mathematische 
Denken  der  Geometrie  vorwiegende  Beachtung  zuwendet,  dass  die 
Arithmetik  dagegen  erst  in  der  nachklassischen,  ja  der  römischen 
Periode  von  den  Mathematikern  mit  Vorliebe  in  Angriff  genommen 
wird.    (Umgekehrt  tritt  bei  dem  alten  Kulturvolke  der  verwandten 
Inder  auf  mathematischem  Gebiete  zuerst  die  Arithmetik  in  den 
Vordergrund).    Auch  in  der  Harmonik,  deren  Ausgangspunkt  die 
Tonhöhe  und  die  Ton  tiefe  bildet  und  die  es  insofern  mit  Raum- 
grössen  zu  thun  hatte,  musste  sich,  als  sie  durch  Aristoxenus  zu 
einer  logisch-mathematischen  Disciplin  wurde,  die  geometrische  Be- 


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harmonischeu  Schriften. 


XXXIX 


handlung  von  selber  ergeben.  Und  das  blieb  sie  bis  weit  über 
Aristoxenii8  hinaus ;  denn  auch  Claudius  Ptolemäus  unter  Marc-Aurel, 
in  der  Arithmetik  schon  weit  fortgeschritten,  bleibt  dennoch  in  der 
Harmonik,  obwohl  er  hier  ein  Gegner  der  Aristoxeni sehen  Aulfas- 
sungen war,  in  seiner  harmonischen  Beweisführung  im  Ganzen  bei  der 
geometrischen  Methode  des  Aristoxenus.  Für  den  Standpunkt  der 
Geometrie  in  der  Periode  Alexanders  des  Macedoniers  ist  die  Har- 
monik des  Aristoxenus  in  soweit  von  Interesse,  dass  wir  aus  ihr  ersehen, 
wie  die  Geometrie  des  doch  erst  später  lebenden  Euklides  mit  ihrer 
eigentümlichen  Methode  der  Axioniata,  Problemata  und  Definitionen 
bereits  dem  Aristoxenus  präsent  gewesen  sein  muss.  Denn  diese 
ganzen  Euklidischen  Deduktions-Formen  finden  sich  auch  schon  in 
der  Harmonik  des  Aristoxenus  angewandt  In  der  That  belehrt  uns 
der  von  Proklos  zur  Euklidischen  Geometrie  zusammengestellte 
Commentar  von  Vorgängern  des  Euklid  und  ihren  besonderen  Auf- 
fassungen und  Darstellungsweisen,  so  dass  Euklides  Geometrie  nicht 
viel  mehr  als  eine  compendiöse  Zusammenfassung  älterer  geome- 
trischer Werke  aus  der  Zeit  Piatos  ist.  Aristoxenus,  der  seine 
früheste  Bildung  bei  den  Pythagoräern  seines  grossgriechischen  Hei- 
mathslandes  empfangen  hatte,  muss  wohl  in  der  geometrischen 
Wissenschaft  gross  gezogen  sein  und  kaum  anders  gekonnt  haben, 
als  deren  Methode  auf  die  von  ihm  begründete  üiseiplin  der  Har- 
monik anzuwenden.  Daher  denn  auch  der  Name  „Stoicheia",  wel- 
chen er  von  der  geometrischen  Wissenschaft  auf  diesen  zweiten 
Haupt-Theil  seiner  Harmonik  übertragen  zu  haben  scheint.  Die 
dritte  (in  sieben  Abschnitten  ausgeführte)  Harmonik  des  Aristoxenus, 
in  welcher  (wie  wir  aus  dem  erhaltenen  Prooimion  ersehen)  die  nur 
die  Umrisse  angebenden  Eingangs-Abschnitte  der  ersten  und  zweiten 
Harmonik  fehlen,  wird  von  Anfang  an  wohl  nur  harmonische  „Stoi- 
cheia"  enthalten  haben.  Aristoxenus  hat  diese  Vorlesung  wohl  zu 
einer  späteren  Zeit  seiner  Docententhätigkeit  gehalten,  wo  er  bei 
seinen  Zuhörern  voraussetzen  durfte,  dass  sie  der  Eingangs- Abschnitte 
nicht  mehr  bedurften.  Offenbar  ist  diese  dritte  Harmonik  später 
als  die  erste  und  zweite  geschrieben  oder,  wie  wir  eben  so  richtig 
sagen  können,  als  Vorlesung  gehalten. 

Ueber  das  Zeitverhältniss  der  drei  harmonischen  Schriften  oder 
Vorlesungen  zu  den  rhythmischen  lässt  sich  nichts  bestimmen.  Zwar 


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XL 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


wird  auch  die  Harmonik  in  dem  rhythmischen  Werke  und  speciell 
„die  diastematischen  Stoicheia"  citirt.  Aber  Aristoxenus  kann  damit 
ebensowohl  auf  eine  mündliche,  wie  auf  eine  herausgegebene  Vor- 
lesung liinweisen.  Die  Citate  Aristotelischer  Schriften  in  Aristote- 
lischen Werken,  die  manchmal  selir  befremden,  möchten  wohl  auf 
dieselbe  Weise  zu  erklären  sein,  daas  Aristoteles  nicht  auf  Bücher, 
sondern  auf  Vorlesungen  sich  bezieht  Kommt  doch  auch  bei  dem 
Lehrer  Aristoteles  dieselbe  Erscheinung  von  Doppelgängern  unter  den 
Schriften  wie  bei  dem  Schüler  Aristoxenus  vor,  bei  welchem  letzteren 
dieser  Entstehungsprozess  der  Schriften  viel  klarer  als  bei  Aristo- 
teles zu  übersehen  ist 

Nach  diesen  Bemerkungen  über  die  Entstehung  der  harmonischen 
Schriften  des  Aristoxenus,  in  denen  ich  einen  Theil  der  Ergebnisse 
dieses  Buches  antieipire,  erlaube  ich  mir  noch  ein  allgemeines  Ein- 
gehen auf  den  Inhalt  derselben. 

Schon  im  Voraus  könnten  wir  aus  den  über  Harmonik  geschrie- 
benen Büchern  der  übrigen  griechischen  Musiker  wissen,  dass  wir 
in  den  drei  harmonischen  Büchern  des  Aristoxenus  nicht  eine 
Harmonielehre  im  Sinne  der  Modernen,  sondern  vielmehr  dasjenige 
finden  werden,  was  wir  eine  Einleitung  in  den  tonischen  Theil  der 
Musik  (Aristoxenus  selber  sagt  „den  melischen  Theil")  nennen  würden. 
Es  handelt  sicli  in  den  drei  Büchern  des  Aristoxenus  hauptsächlich 
um  die  Ton-Scalen  der  in  der  klassischen  Griechenzeit  gebräuch- 
lichen enharmonischen,  chromatischen  und  diatonischen  Musik.  Von 
der  Art  und  Weise,  wie  das  griechische  Melos  die  Melodiestimmen 
durch  andere  divergirende  Stimmen  der  Instrumente  harmonisirte, 
sagen  die  griechischen  Theoretiker  in  den  uns  vorliegenden  Berichten 
so  gut  wie  nichts.  Man  würde  die  ganze  griechische  Musik  für 
eine  unisone  halten  müssen  (wie  man  ja  fast  durchgängig  des  Glau- 
bens ist),  wenn  nicht  eine  der  Quellen,  aus  denen  Plutarch  seinen 
Dialog  über  die  Musik  zusammenstellt  (es  ist  wiederum  auch  hier 
Aristoxenus,  doch  in  einem  anderen  Werke  als  der  Harmonik)  eine 
Nachricht  bei  Gelegenheit  des  archaischen  Styles  des  Terpander 
überlieferte,  die  entschieden  von  den  gleichzeitigen  divergirenden 
Stimmen  des  Gesanges  und  der  Begleitung  redet.  Trotzdem  würde 
uns  das  Stillschweigen,  welches  die  griechischen  Musiker  in  ihren 
theoretischen  Schriften  über  diesen  Punkt  bewahren,  in  Verlegenheit 


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Harmonik.   Keine  Harmonielehre! 


XLI 


setzen,  wenn  sich  nicht  in  der  Musik  eines  anderen  Volkes  eine 
Parallele  darböte.  Dies  ist  der  Chorgesang  des  nissischen  Land- 
volkes. Russische  National- Melodien,  welche  diesem  Kreise  ent- 
stammen, waren  uns  ja  schon  früher  bekannt;  von  der  eigenthüm- 
lichen  Harmonisirung  des  russischen  Bauerngesanges  haben  wir 
erst  durch  Melgunows  Ausgabe  einegenaue  Kenntniss  erhalten.  Die 
mehrfachen  Versuche,  jene  Melodien  nach  den  Kunstgesetzen  des 
Abendlandes  zu  harmonisiren,  dürfen  als  verfehlt  bezeichnet  werden, 
namentlich  da  die  Mollmelodien  durchgängig  des  Leittones  entbehren 
und  zu  spröde  sind,  auch  in  der  Begleitung  dem  Leittone  Anwen- 
dung zu  verstatten.  Aber  das  russische  Landvolk  selber  singt  seine 
Melodien  in  polyphonem  Chorgesange  in  einer  (müssen  wir  sagen) 
thematischen  Durcharbeitung.  Den  abendländischen  Harmonieregeln 
sind  diese  national-russischen  Chorgesänge  oft  sehr  entgegen,  wir 
finden  manches  hart  darin,  wenn  sich  auch  die  abendländische 
Wissenschaft  der  Akustik  wohl  damit  befreunden  kann.  Die  russi- 
schen Gesetze  der  Harmonisirung  liegen  in  der  viele  Jahrhunderte 
langen  Tradition  des  Landvolkes.  Wie  seine  Textworte  beruht  auch 
sein  Melos:  Melodie  und  Harmonie,  lediglich  auf  der  mündlichen 
Ueberlieferung,  ohne  dass  für  die  Harmonie  die  Gesetze  jemals 
von  Fachmusikem  ausgesprochen  wären.  Ebenso  müssen  wir  auch 
von  der  musischen  Kunst  der  Hellenen  annehmen,  dass  wie  hier 
in  früherer  Zeit  Text  und  Melodie  auf  der  Tradition  beruhte  (die 
letztere  bis  mindestens  in  die  Zeit  der  attischen  Kunstblüthe) ,  so 
auch  die  Gesetze  des  Harmonisirens  nur  der  mündlichen  Ueber- 
lieferung angehörten,  obwohl  zu  vermuthen  ist,  dass  für  einzelne 
Gesänge  die  begleitende  Instrumentation  früher  als  selbst  die  Ge- 
sangnoten aufgezeichnet  worden,  denn  die  griechischen  Instrumen- 
talnoten sind  entschieden  eine  geraume  Zeit  früher  als  die  Gesang- 
noten aufgekommen. 

Also  eine  Harmonik  im  Sinne  der  Modernen  will  Aristoxenus 
in  den  drei  Werken  über  harmonische  Wissenschaft  nicht  liefern.  Das 
sagt  er  selber  mehr  als  einmal.  Es  wäre  kaum  nöthig,  lüerauf 
nachdrücklich  hinzuweisen,  wenn  nicht  der  neueste  Herausgeber 
des  Aristoxenischen  Originales  in  den  Büchern  der  Harmonik  eine 
Harmonielehre  suchen  zu  müssen  geglaubt  hätte,  und  da  er  sie 
nicht  findet,  gegen  das  von  den  Handschriften  überlieferte  mit  Un- 


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XLU 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


mutli  erfüllt  wird,  in  welchem  er  so  weit  geht,  dass  er  das  handschrift- 
lich Ueberlieferte  lieber  für  eine  Byzantinische  Excerptensammlung 
ansieht,  als  fiir  ein  Werk  dessen,  den  die  Handschriften  den  Verfasser 
nennen,  dass  er  es  in  der  vorliegenden  Fassung  ausser  den 
Einleitungs-Capiteln  dem  Aristoxenus  gänzlich  abspricht 
Dem  gegenüber  muss  ich  meine  früher  ausgesprochene  An- 
sicht aufrecht  erhalten,  dass  die  drei  Harmoniken  des  Aristoxenus 
dasselbe  Anrecht  auf  Authenticität  wie  die  rhythmischen  Stoicheia 
haben,  dass  sie  im  Ganzen  nicht  mehr  Interpolationen  (auf  dem 
Wege  erklärender  Marginalglossen)  und  auch  nicht  mehr  Verkür- 
zungen als  die  rhythmischen  Stoicheia  erfahren  haben.  Ein  zu- 
sammenhängendes Werk  bilden  sie  freilich  nicht,  sondern  sind 
die  Trümmer  von  nicht  zwei,  wie  ich  früher  meinte,  sondern  von 
drei  verschiedenen  Werken. 

Den  früheren  Herausgebern  und  Bearbeitern  war  dieses  eigen- 
thüinliche  Verhältniss  noch  nicht  bekannt.  Sie  glaubten  den  Ueber- 
schriften  ihrer  Codices  folgend  eine  fortlaufende  Darstellung  Eines 
Aristoxenischen  Werkes  in  drei  Büchern  vor  sich  zu  haben. 

Zuerst  war  es  Antonius  Gogavinus,  welcher  diese  Partie  des 
Aristoxenus  zugleich  mit  der  Harmonik  des  Ptolemaeus  ohne  Hin- 
zufugung  des  griechischen  Textes  in  einer  nach  seinem  Codex  von 
ihm  selber  angefertigten  Uebersetzuug  herausgab: 

Aristoxeni  musici  antiquissirai  harmonicum  elementorum  libri  III, 
CL  Ptolemaei  harmonicorum  lib.  III,  Aristoteles  de  objecto  auditus 
fragmentum  ex  Porphyrii  eomnientariis.  Omnia  nunc  primum  la- 
tine  conscripta  et  edita  ab  Ant.  Gogavino  Graviensi.  Venetiis  apud 
Vincentium  Valgrisium  1562. 

Der  erste,  welcher  das  griechische  Original  herausgab,  war  Jo- 
hann Meursius,  der  dasselbe  aus  einer  Leidener  Handschrift  Scali- 
gers  zusammen  mit  Alypius  und  Nikomachus,  in  den  Noten  einzelne 
Verbesserungsvorschläge  hinzufugend,  abdrucken  liess. 

Es  folgt  die  Ausgabe  Meiboms: 

Antiquae  musicae  auetores  septem  graece  et  latine  Marcus  Mei- 
boniius  restituit  ac  notis  explieavit  vol.  I.  IT.  Amstellodami  apud 
Ludovicum  Elcevirum  1652. 

Aristoxenus  bildet  den  ersten  der  7  Musiker.  Den  Text  des- 
selben hat  er  aus  demselben  cod.  Scaligers  wie  Meursius  abdrucken 


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Harmonik:  Ausgabe  des  Gogavinus,  Meursius,  Meibom,  Mahne.  XLITI 

lassen  mit  einer  wörtlichen  Uebersetzung.  Für  seine  auf  Original 
und  Uebersetzung  folgenden  kritischen  und  erklärenden  Noten  hatte 
Meibom  noch  die  Collationen  dreier  Oxforder  Codices  benutzt.  Ich  er- 
laube mir  aus  einem  handschriftlichen  Berichte,  den  Herr  Ruelle,  gegen- 
wärtig Vorsteher  der  S.  Gcnofeva-Bibliothek  zu  Paris,  über  die  franzö- 
sischen Codices  mir  zu  senden  die  .grosse  Freundlichkeit  hatte,  zugleich 
folgendes  über  das  in  Meiboms  Handschriften  Enthaltene  auszuziehen: 

I.  Scaligerianus  cod.  Le  manuscrit,  sur  lequel  J.  Meursius 
im  prima  les  Elements  harmoniques  en  1616  pour  la  premiere  fois, 
fut  6dit6  une  seconde  et  litteralement  traduit  en  latin  par  Meibom 
en  1652.    II  est  assez  peu  correct,  mais  les  lacunes  y  sont  rares. 

IL  Seldenianus  cod.  Celui-ci,  que  Meibom  devait  a  Seiden 
d'Oxford,  est  le  plus  pur  et  le  plus  intact  de  ceux  qu'il  a  consultes. 

HI.  Baroccianus  cod.  Si  l'on  juge  par  les  annotations  de 
Meibom,  ce  texte  est  meilleur  que  celui  de  Scaliger,  mais  il  ne  laisse 
pas  d'avoir  des  lec,ons  inadmissibles  et  des  longues  lacunes. 

IV.  Bodleianus  cod.  Cette  copie,  deposee  a  la  Bibliotheque 
Bodleienne  d'Oxford,  ainsi  que  la  precSdente,  semble  avoir  ete  prise 
sur  celle-si.  Les  lecons  de  ces  deux  manuscrits  sont  presque  toujours 
les  memes.  Meibom  dans  cette  circonstance  les  resigne  sous  la 
denomination  commune  de  „Oxonienses." 

Dem  Fleisse  der  holländischen  Philologie  sollte  auch  noch  eine 
dritte  Arbeit  über  Aristoxenus  zu  verdanken  sein,  nämlich  die 
von  W.  Leonhard  Mahne  unternommene  Sammlung  der  aus  den 
übrigen  zahlreichen  Werken  des  Aristoxenus  erhaltenen  Fragmente: 

Diatribe  de  Aristoxeno  philosopho  peripatetico  auetore  Guilelmo 

Leonardo  Malme  Amstel.  1743,  wieder  abgedruckt  von  G.  H. 

Schaeler  als  tomusprimus  eines  thesaurus  criticus  novus  Lips.  1802. 

Was  die  sorgsame  Fragmentensammlung  Malraes  vergessen  hat, 
hat  Carolus  Dübner  in  den  Fragmenta  historicorum  Graecorum 
tom.  II  hinzugefugt.  Ein  auch  bei  diesem  nicht  gebuchtes  Fragment 
des  Aristoxenus  theilt  Osann  im  Anecdotum  Graecum  mit,  der 
zugleich  zuerst  darauf  hingewiesen,  dass  Aristoxenus  eine  Quelle  fiir 
Plutarchs  dialogus  de  musica  sei. 

Mit  der  Verwerthung  des  in  der  Aristoxenischen  Harmonik  ent- 
haltenen Materiales  machte  wiederum  A.  Boeckh  einen  sehr  ener- 
gischen Anfang  in  seinen  Metra  Pindari,  indem  es  ihm  gelang  das 


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XLIV 


Vorwort  zu  Aristoxeuu« 


Verhältniss  der  Aristoxenischen  t<5voi  (Transpositionsscalen)  zu  den 
gleichnamigen  7  Octavengattungen  zu  erkennen. 

In  gleicher  Weise  machte  sich  um  die  Aristoxeni9che  Harmo- 
nik Friedrich  Bellermann  verdient,  der  in  rascher  Folge  ausser 
den  beiden  oben  angeführten  wichtigen  Schriften  auch  noch  die 
wichtige  dritte 

Tonleitern  und  Musiknoten  der  Griechen  1845 
veröffentlichte,  welche  den  Nachweis  führte,  dass  die  tiefste  Note 
des  griechischen  Notenalphabetes  der  Schreibung  nach  unserem  V 
entspricht,  obwohl  (wie  Bellermann  ebenfalls  gefunden)  die  griechischen 
Noten  ihrer  wirklichen  Stimmung  nach  eine  kleine  Terz  tiefer  stehen 
als  die  heutige. 

Auch  direct  auf  die  Aristoxenische  Harmonik  ist  Bellerraann, 
eingegangen  in  der  Ausgabe  seines  Anonymus  de  musica.  Beller- 
mann weist  nach  dass  mehrere  §§  derselben  direct  aus  Aristoxenus 
Harmonik  entlehnt  sind.  Dies  gibt  ihm  Gelegenheit  die  betreffenden 
Aristoxenischen  Stellen  kritisch  unter  Herbeiziehung  von  zwei  Codices 
der  Leipziger  Stadtbibliothek  zu  behandeln:  Cod.  LI  aus  dem  14. 
oder  15.  Jahrhundert,  Nicomachus,  Aristoxenus  und  Alypius  ent- 
haltend, cod.  L.  2  viel  jünger,  in  dem  sich  fast  alle  von  Meibom 
herausgegebene  Musiker  (mit  Ausnahme  des  Bacchius)  und  ausser- 
dem noch  Manuel  Bryennius  befinden. 

Bald  nachdem  ich  angefangen  die  Rhythmik  des  Aristoxenus 
zum  Hauptgesichtspunkte  meiner  Studien  zu  machen,  wandte  ich 
auch  der  Harmonik  desselben  eine  gleiche  Thätigkeit  zu.  Gleich 
mit  meiner  Uebersiedelung  von  Tübingen  nach  Breslau  legte  ich 
mir  für  meine  Zwecke  eine  eigene  Ausgabe  des  Textes  an,  an  der 
ich  fort  und  fort  arbeitete,  bis  sich  die  in  dem  gegenwärtigen  Buche 
vorliegende  Gestaltung  des  Textes  daraus  ergeben  hat.  Der  nach 
Jahren  begonnene  Druck  der  damaligen  Fassung  des  Textes  wurde 
nicht  zu  Ende  geführt,  und  nur  wenige  Freunde  und  Bekannte  wie 
A.  Rossbach,  M.  Schmidt  und  C.  Bursian  haben  einige  Bogen  davon 
zu  Gesichte  bekommen.  Ich  hatte  damals  erkannt,  dass  das  erste 
der  drei  Bücher  der  Rest  einer  selbständigen  Aristoxenischen 
Schrift  war,  welche  im  Alterthume  auch  den  Titel  apyai  apjiovtxott 
führe;  das  zweite  und  dritte  Buch  hielt  ich  für  Theile  der  aroi/sta 
apjxovixa.    Ebenso  gelang  es  mir  damals  von  einer  anderen  werth- 


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Harmonik:  Bellermann,  ßergk,  Marquard. 


XLV 


voUen  Iitteruturschicht  des  Aristoxenus,  den  Dialogen,  einem  Gegen- 
stücke  der  Aristotelischen  Dialoge,  in  dem  Plutarchischen  Dialoge 
über  Musik  eine  bedeutende  Zahl  von  Fragmenten  zu  entdecken, 
welche  alle  aus  den  Aristoxenischen  aou,u.txTa  aou,:roTixa  wörtlich 
entlehnt  seien.  Erst  1862  gelangte  ich  dazu,  dies  Verhältniss  der 
Aristoxenischen  Werke  im  dritten  Bande  unserer  griechischen  Me- 
trik, welcher  die  Harmonik  enthielt,  zu  veröffentlichen;  dort  wurde 
auch  auf  den  sachlichen  Inhalt  der  Aristoxenischen  Harmoniken 
sorgfältig*)  eingegangen. 

Inzwischen  hatte  auch  Theodor  Berg k  die  Entdeckung  ge- 
macht, dass  das  erste  Buch  der  Aristoxenischen  Harmonik  von  den 
orot/eia  apfxovixot  abzutrennen  und  mit  den  von  den  Alten  erwähnten 
ap/at  apjxovixal  identisch  sei.  (Ersch.  und  Gruber's  Encyelopaedic). 

Etwas  Aehnliches  behauptete  Paul  Marquard  in  seiner  Bon- 
ner Doctor-Dissertation. 

Im  Jahre  1869  erschien  die  Ausgabe  des  Aristoxenus  von 
Paul  Marquard,  die  durch  Herbeischaffung  neuen  handschriftlichen 
Materiales  unbestreitbar  die  grössten  Verdienste  sich  erworben  hat. 
Im  Vereine  mit  Wilhelm  Ktudeinund  hat  er  auch  auf  dem  Wege  der 
Conjectural-Kritik  den  Aristoxenischen  Text  an  vielen  Stelleu  ent- 
schieden verbessert.  Aber  in  der  sachlichen  Verwerthung  des  Textes, 
9  welche  doch  die  Hauptsache  bei  seiner  Aristoxenus -Ausgabe  sein 
soll,  scheint  Marquard  in  einer  mir  schwer  begreiflichen  Weise  weit 
hinter  den  Anforderungen,  die  seit  den  Arbeiten  der  50er  Jahre 
an  eine  solche  Aufgabe  gestellt  werden  müssten,  zurückzubleiben. 

Auch  andere  würde  Marquard  von  einem  eindringlichen  Studium 
dieses  kostbaren  Restes  alter  Litteratur  über  Musik  fern  halten, 
wenn  es  ihm  gelungen  sein  sollte,  dieselben  für  seine  überall  in  der 
Ausgabe  durchgeführte  Ansicht  zu  gewinnen,  dass  die  „harmonischen 
Fragmente"  nicht  von  Aristoxenus  herrühren,  sondern  ein  zufällig 
zusammengestelltes,  zusammenhangloses  Excerpten-Conglomerat  un- 
verständiger Compilatoren  aus  Byzantinischer  Zeit  sind,  die  zum 
Theil  nicht  einmal  unmittelbar  aus  einem  Aristoxenischen  Werke 
geschöpft  haben  und  sich  deshalb  häufig  mit  der  wirklichen  Doctrin 


*)  Mit  Ausnahme  der  Citate  aus  Aristoxenus,  da  ich  statt  der  Seiten  der 
Meibom 'scheu  die  der  von  mir  angelegten  Ausgabe  uofirt  hatte.  Marq.  S.  XXXV. 


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XLVI 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


- 

des  Aristoxenus  in  grossem  Widerspruche  befinden.  Am  unbegreif- 
lichsten ist  mir,  dass  einem  Herausgeber  und  Uebersetzcr  der 
Aristoxenischen  Harmouik,  der  doch  das  Ganze  nicht  bloss  im  Ein- 
zelnen, sondern  auch  im  Zusammenhange  durchliest,  entgehen  konnte, 
dass  im  Schlüsse  des  zweiten  und  im  ganzen  Verlaufe  des  dritten 
Buches  die  Lehre  von  der  Continuität  der  Intervalle  in  28  Proble- 
mata  nach  der  Methode  der  Euklideischen  Geometrie  in  Axiomata 
und  Problemata  ausgeführt  ist,  von  denen  das  frühere  Axiom  oder 
Problem  immer  dem  folgenden  als  Grundlage  dient  Namentlich 
hier  ist  Alles  in  einer  unerbittlichen  Logik  des  Zusammenhanges 
dargestellt,  und  Alles,  was  etwa  stört,  jeder  Ausfall,  jeder  nieht 
Aristoxenische  Zusatz  eines  Späteren  mit  absoluter  Sicherheit  zu 
entdecken.  Denn  in  Sachen  der  Mathematik  ist  mit  Einfüllen  und 
hyperkritischen  Kunststücken  nicht  Scherz  zu  treiben,  wie  das  etwa 
auf  anderen  Gebieten  angehen  möchte.  Auch  dies  ist  schwer  zu 
begreifen,  wie  es  Marquard  bei  seiner  Auffassung  der  Harmonischen 
Fragmente  als  eines  Byzantinischen  Machwerkes  überhaupt  für  nöthig 
gehalten  hat,  den  Lesarten  der  von  ihm  und  Studemund  verglichenen 
Handschriften  eine  so  lobenswerthe  Sorgfalt  zuzuwenden.  Es  müsste 
denn  sein,  dass  die  Harmonik,  die  er  ja  doch  nicht  sachlich  zu  ver- 
werthen  verstand,  ihm  nur  das  schätzbare  Material  für  jugendlichen 
Conjecturir-Enthusiasmus  war,  wie  er  sich  denn  z.  B.  im  kritischen 
Commentar  S.  126  bei  einer  von  Bellermann  aus  dem  Anonymus 
hervorgeholten  richtigen  Lesart  fast  zu  beklagen  scheint,  dass  sie  erst 
aus  dem  Anonymus  hätte  hervorgeholt  werden  müssen,  „als  Besse- 
rung der  Conjecturalkritik  wäre  sie  eine  der  glänzendsten  ge- 
wesen." Auch  die  ganze  Verdächtigerei  der  Aristoxenischen  Au- 
thenticität  sind  bei  Marquard  wohl  nur  fieberhafte  Versuche  auf 
dem  Gebiete  der  höheren  Hyperkritik.  Mehrfach  hätte  er  auf 
dem  Gebiet  der  niederen  Kritik  durch  Anwendung  einfacher  Haus- 
mittel curiren  können,  wo  er  lieber  zu  dem  überaus  drastischen 
Mittel  seine  Zuflucht  nimmt,  fast  den  ganzen  Aristoxenus  für  eine 
Fälschung  auszugeben/ 

Aber  mag  das  nun  auch  schwer  zu  begreifen  sein,  durch  über- 
aus gewissenhafte  Herbeiziehung  und  Verwendung  des 
handschriftlichen  Materiales  steht  die  Textausgabe  Mar- 
quard« weit  über  der  Meibom'schen,  und  bildet  die  unab- 


« 


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Harmonik:  Paul  Marquard. 


XLVII 


weisbare  Grundlage  jeder  folgenden,  obwohl  wir  wiederholen  müssen, 
dass  er  mit  diesen  Mitteln  viel  mehr  noch  hätte  erreichen  können. 

Die  Handschrift,  welcher  Marquard  mit  Recht  die  höchste  Be-  • 
deutung  beilegt,  ist: 

der  cod.  Marcianus  in  Venedig  (No.  III  classis  VI  manu 
8criptorum  Graecorum),  enthaltend  Pseudo-Euklides,  Euklids  xaiaioix-rj 
xavovo;,  Aristoxeni  harmon.,  Alypius,  Aristoxeni  rhythmic.  Unter 
dem  zweiten  Werke  die  Unterschrift:  EuxXeiSou  xavovo;  xaiaTo^. 
ZtotJtjxo;  otaipÖoa  iv  K(ov3TavTivou7toXst  sutu/ä;,  „mit  gleichmässiger 
deutlicher  Schrift  auf  starkem  Pergament.  Gross  Quart.  Im  12ten 
Jahrhundert  geschrieben.  Die  ersten  8  Blätter  haben  auf  jeder 
Seite  28,  die  folgenden  20  Zeilen.  Auf  Linien,  die  mit  dem  Griffel 
eingegraben,  in  ihrer  Entfernung  durch  Punkte  am  Rande  regulirt  sind." 

Was  auf  diesem  Räume  von  Zosimus  im  12ten  Jahrhundert  ge- 
sehrieben, bezeiclinet  Marquard  als  Ma.  Es  sind  aber  auch  noch 
die  breiten  Ränder  von  einer  zweiten  Hand,  die  nicht  älter  als  das 
vierzehnte  Jahrhundert  ist,  angefüllt  mit  einem  Auszuge  aus  Aristid. 
lib.  I,  Anonymus  de  music.  (Bellerm.),  Nicomachus  und  Bacchius. 

In  der  die  Harmonik  des  Aristoxenus  enthaltenden  Partie  hat  eine 
andere  Hand  als  die  des  Zosimus  „jedenfalls  älter  als  das  vierzehnte 
Jahrhundert,  den  Text  von  einem  anderen  Exemplare  oder,  was 
ebenso  gut  möglich  ist,  nach  dem  Originale  des  Zosimus  durch- 
corrigirt",  von  Marquard  als  Mb  bezeichnet. 

Ausserdem  hat  eine  „dritte  Hand,  jedenfalls  nicht  älter  als 
das  vierzehnte  Jahrhundert,  vielmehr  wohl  in  das  fünfzehnte  Jahr- 
hundert gehörig",  den  Text  corrigirt  (von  Marquard  als  Mc  bezeich- 
net). Mb  ist  geschrieben,  ehe  der  Text  der  Musiker  am  Rande 
hinzugefügt  worden  war,  Mc  dagegen  erst,  nachdem  man  diese  Aus- 
füllung vorgenommen  hatte. 

Herr  Marquard  hat  die  Handschrift  des  Zosimus  selber  ver- 
glichen, indem  sie  ihm  auf  einige  Monate  durch  Vermittlung  des 
Preussischen  Ministeriums  von  der  königl.  Italienischen  Regierung 
nach  Berlin  gesandt  wurde. 

Eine  zweite  der  italienischen  Handschriften  hat  W.  Studemund 
für  Herrn  Marquard  verglichen.  Dies  ist  die  Handschrift  des  Vati- 
cans  Nr.  191,  eine  Bombycinhandschrift  aus  dem  dreizehnten  Jahr- 


XLVIII 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


hundert,  die  von  den  griechischen  Musikern  den  Gaudentius,  Pseudo- 
Kuklid,  Euklids  xaraTouTj,  Aristoxenus  Harmonik,  Alypius,  Aristoxenus 
t  Rhythmik,  und  den  Ptolemaeus  enthält  Auch  hier  ist  der  Text  des 
ursprünglichen  Librarius  (Marquard  nennt  ihn  Va)  von  einer  zweiten 
(Vb  nach  Marquard)  und  einer  dritten  Hand  (Vc),  welche  zuweilen 
den  Inhalt  am  Rande  angegeben  hat,  corrigirt  worden. 

Marquard  weist  nach,  dass  Va  eine  unmittelbare  Abschrift  aus 
Ma  und  Mb  ist,  d.  h.  dass  der  Vaticanus  aus  dem  Codex  des  Zosi- 
mus  zu  einer  Zeit  abgeschrieben,  wo  dieser  zwar  die  Zusätze  Mb, 
aber  noch  nicht  die  Zusätze  der  dritten  Hand  Mc  erhalten  hatte. 
Wo  also  im  Codex  des  Zosimus  die  dritte  Hand  (Mc)  eine  Lesart 
von  Ma  oder  Mb  ausradirt  und  durch  Aenderung  unlesbar  gemacht 
hat,  da  lässt  sich  aus  Va  die  ältere  Lesart  des  Marcianus  erkennen. 
Ein  anderer  Nutzen  ist  aus  Va  für  den  Aristoxenus-Text  nicht  zu 
gewinnen. 

Von  Mc  nimmt  Marquard  an,  „die  Correcturen  dieser  Hand 
sind  aus  einer  späteren  bereits  interpolirten  Handschritt  genommen, 
theils  richtig,  theils  ganz  verkelul  und  jedenfalls  nicht  immer  von 
gleicher  Autorität  wie  die  Lesarten  von  Ma  und  Mb."  Hierin  hat 
sich  Marquard,  wir  dürfen  sagen,  zum  Glück  für  die  Restitution 
des  Aristo  xenus-Textes  geirrt.  Vielmehr  geht  Mc  auf  einen  Aristo - 
xcnus-Codex  zurück,  der  mit  Ma  und  Mb  jedenfalls  in  gleicher 
Linie  des  Wertlies  und  Alters  steht.  Es  gab  ausser  der  Handschrift 
des  Zosimus  noch  andere  aus  derselben  oder  früheren  Zeit,  und  es 
ist  deshalb  von  so  hoher  Bedeutung,  dass  der  Corrector  aus  der 
Zeit  des  14.  oder  15.  Jahrhunderts,  welchen  Marquard  Mc  nennt, 
eine  der  besten  dieser  älteren  Handschriften  gewählt  hat,  um  da- 
raus die  Lesarten  in  den  Codex  des  Zosimus  einzutragen.  Der  durch 
Ruelle  entdeckte  Strassburger  Codex,  der  jetzt  freilich  auch  durch 
den  Brand  Strassburgs  im  August  1870  vertilgt  ist,  lässt  im  Allge- 
meinen keinen  Zweifel  darüber,  dass  ausser  der  Handschrift  des 
Zosimus  auch  noch  andere  aus  derselben  oder  noch  früherer  Zeit 
vorhanden  gewesen  sein  mussten.  Auch  ohne  von  Ruelles  Strass- 
burger Codex  etwas  zu  wissen,  hätte  es  Marquard  nicht  entgehen 
können,  dass  die  Zusätze  des  Mc  in  dem  Codex  des  Zosimus  viel- 
leicht das  beste  sind,  wenn  er  bei  seiner  falschen  Meinung  von  dem 
Byzantinischen   Ursprünge   der  darin   überlieferten  harmonischen 


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Harmonik:  Paul  Marquard. 


IL 


Fragmente  nicht  eine  gewisse  Missachtung,  wenigstens  Gleichgültig- 
keit gegen  diese  ächten  Aristoxenischen  Bruchstücke  gehabt  hätte, 
bei  der  es  sich  kaum  der  Mühe  lohne,  auf  die  richtige  Textes-Re- 
stitution  eine  sonderliche  Mühe  zu  verwenden.  Es  genügte  ihm, 
die  Fassung  jener  „Byzantinischen  Arbeit"  nach  dem  ältesten  Codex, 
der  ihm  vorlag,  dem  des  Zosimus,  mit  aller  Sorgfalt  wieder  herzu- 
stellen. ,31  c  ist  wohl  im  15.  Jahrhundert  geschrieben:  Das  Original 
hatte  viele  Lücken  nicht,  welche  wir  im  Codex  des  Zosimus  und  im 
Vaticanus  finden,  überhaupt  manche  offenbare  Verbesserungen,  allein 
auch  willkürliche  Correcturen." 

Dieselben  Lesarten,  welche  Mc  zu  denen  des  Zosimus  hinzufügt, 
finden  sich  auch  (wie  Marquard  ebenfalls  nachweist)  in  einem  Floren- 
tiner Codex  Riccardianus,  von  Marquard  mit  R  bezeichnet.  Die 
Collation  dieser  Handschrift  verdankt  Marquard  dem  Herrn  Dr.  van 
Herwerden,  welcher  ihm  „dieselbe  während  Marquardt  Aufenthalt  in 
Holland  1863  zu  beliebiger  Benutzung  überliess.  Sie  scheint  aus 
dem  16.  Jahrhundert  zu  sein;  eine  nähere  Beschreibung  hatte  Herr 
v.  Herwerden  nicht  beigefügt  und  erinnerte  sich  derselben  auf  mund- 
liches Befragen  derselben  nicht  mehr  genau.  Was  uns  das  wichtigste 
ist,  geht  aus  der  Collation  selbst  hervor.  Der  Codex  hat  manches 
Richtige,  doch  darf  dies  bei  der  Willkür  und  zugleich  unglaub- 
lichen Lüderlichkeit,  mit  welcher  er  angefertigt  ist" 
(doch  wohl  kein  Grund!)  „stets  nur  als  gelungene  Conjectur  ange- 
sehen werden  und  hat  auf  Autorität  als  Ueberlieferung  gar  keinen 
Anspruch." 

Fin  anderer  Codex  dieser  Classe  ist  der  „im  Jahre  1865  von 
W.  Studemund  entdeckte  Barberinus,  in  der  sonst  schwer  zugäng- 
lichen Bibliotheca  Barberina  mit  Nr.  270  bezeichnet",  dessen  Colla- 
tion dieser  nicht  minder  wie  die  des  Vaticanus  dem  Herrn  Marquard 
zur  Benutzung  mittheilte.  „Sie  ist  von  einer  sehr  schönen  und 
sorgfältigen  Hand  geschrieben,  in  klein  Folio  und  gehört  ohne 
Zweifel  in  die  erste  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts.  Für  das  erste 
Buch  der  Aristoxenischen  Harmonik  geht  dieser  Barberinus  (B)  mit 
R  und  Mc.  Von  dem  zweiten  Buche  an  dagegen  stimmt  der  Codex 
mit  Vb  überein.  Für  diese  Partie  des  Aristoxenus  [ —  wir  bezeich- 
nen sie  mit  33  — ]  ist  die  Zahl  der  Stellen,  in  welchem  33  von  Va 
oder  Vb  abweicht,  sehr  gering  im  Verhältniss  zu  der  durchgehenden 

Arlttoxenoi,  Mellk  o.  Rhythmik.  d 


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L 


Vorwort  au  Aristoxenus 


Uebereinstiminung;  die  meisten  derselben  sind  durch  Flüchtigkeit 
des  Schreibers  entstanden,  an  einigen  hat  er  aber  wohl  willkürlich 
geändert,  wenn  nicht  gar  noch  ein  anderes  Exemplar  zu  Käthe  ge- 
zogen. Dass  er  dies  später  gethan  hat,  beweisen  die  Randbemerk- 
ungen, welche  sämmtlich  von  derselben  Hand  wie  der  Text  durch 
alle  Partien  des  Barberinus  (B  und  SB)  durchgehen." 

"Wir  bezeichnen  die  Lesarten  am  Rande  des  Barberinus  durch  b. 
Dieselben  sind,  wie  Marquard  nachweist,  einem  Codex  entnommen, 
welcher  mit  dem  einem  Meibom's  aus  derselben  Quelle  stammte, 
dem  Cod.  S  (Seldenianus).  Marquard  sagt:  „Ueber  den  Seldenianus 
kann  nur  mit  äusserster  Vorsicht  geurtheilt  werden.  In  der  Zeit, 
in  welcher  er  für  Meibom  collationirt  wurde,  wurde  einmal  noch 
nicht  mit  der  nöthigen  Genauigkeit  verfahren,  ferner  aber  hat  Mei- 
bom die  Handschrift  selbst  nicht  gesehen,  seine  Anführungen  sind 
bisweilen  nicht  klar,  und  dass  ihm  in  der  Benutzung  des  hand- 
schriftlichen Materials  doch  manche  Versehen  untergelaufen  sind, 
hat  die  nochmalige  Vergleichung  des  Scaligeranus  [durch  Marquard 
in  Leyden]  bewiesen.  ...  Es  würde  immerhin  sehr  dankenswerth 
sein,  »wenn  Jemand,  der  die  Gelegenheit  dazu  hat,  welche  mir  leider 
gänzlich  fehlte,  eine  ganz  genaue  Coilation  von  der  Handschrift 
Seidens  anfertigte,  welche  mit  dessen  übrigen  Büchern  in  die  Oxforder 
Bibliothek  als  bibliotheca  Seldeniana  gekommen  ist.  Er  ist  ge- 
zeichnet mit  Nr.  20  [olim  3363],  chartaceus,  in  folio,  aus  dem  An- 
fange des  16.  Jahrhunderts." 

Ein  vierter  mit  Mc,  R,  B  stimmender  Codex  ist  ein  von  Marquard 
verglichener  Marcianus  chart.  foL  aus  dem  15.  Jahrhundert,  den  er 
in  seinem  Apparate  nicht  aufgeführt  hat,  denn  was  er  selbstständiges 
habe,  sei  ohne  alle  Bedeutung.  Wir  bezeichnen  ihn  durch  m.  Aus 
ihm  seien  die  beiden  von  Bellermann  benutzten  Leipziger  höchst- 
wahrscheinlich direct  oder  indirect  geflossen.*)  Der  in  Leyden  be- 
findliche Codex  Scaligeranus,  welchen  Meursius  und  Meibom  haben 
abdrucken  lassen,  sei  ein  junger  Papier -Codex  aus  dem  16.  Jahr- 


*)  Der  ältere  der  beiden  Leipziger  codd.,  welchen  Marquard  :ius  dem  von 
ihm  ins  15.  Jahrhundert  gesetzten  cod.  M.  entstehen  lässt,  wird  freilich  von 
Bellermann  dem  vierzehnten  oder  fünfzehnten  Jahrhundert  zugewiesen,  siehe 
oben  S.  XLIV. 


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Harmonik:  Paul  Marquard.  LI 

■ 

hundert,  ohne  alle  Bedeutung.  Ebenso  wenig  Werth  theilt  Marquard 
dem  Cod.  Baroccianus  und  Bodleianus  der  Oxforder  Bibliothek  zu, 
deren  Collation  Meibom  benutzt  hat. 

In  solchen  Dingen  wird  Marquard  wohl  recht  geurtheilt  haben. 
Seiner  Auffassung  des  Mc  und  allem,  was  damit  zusammenhängt, 
kann  ich  nicht  Recht  geben,  ebenso  wenig  wie  wenn  er  über  den 
Aristoxenischen  Ursprung  der  Harmonik  die  Acht  ausspricht:  „So 
Terfährt  kein  vernünftiger  Schriftsteller,  kaum  einmal  ein  deutscher 
Romantiker,  viel  weniger  ein  Schüler  des  Aristoteles.  Will  man 
aber  darin  eine  Entschuldigung  finden,  dass  dies  eine  der  früheren 
Schriften  des  Aristoxenus  sei,  so  kann  man  gewisse  Dinge  vielleicht 
auf  Grund  dessen  entschuldigen ,  nimmermehr  aber  darf  man  an- 
nehmen, dass  Aristoxenus  statt  gerade  im  Anfange  seiner  schrift- 
stellerischen Thätigkeit  sich  rechte  Mühe  zu  geben,  seinen  Ruf  durch 
solche  Lüderlichkeit  habe  begründen  wollen." 

Ohne  solche  Vorurtheile  gegen  den  von  ihm  herauszugebenden 
Text  des  Aristoxenus  hiitte  dem  Herrn  Marquard  das  Verhältniss 
der  Handschriften,  deren  Collation  er  eine  so  grosse  Sorgfalt  ge- 
gewidmet hat,  nicht  entgehen  können,  namentlich  nicht,  dass  der 
Codex  des  Zosimus,  obwohl  er  der  älteste  ist,  doch  erst  in  vielen 
Stücken  durch  die  aus  einer  jetzt  verlorenen  Handschrift  genommenen 
Zusätze  des  Mc  seinen  grossen  Werth  erhalten  hat  und  dass  wenn 
Marquard  darin  Recht  hat,  diiss  mit  M  c  ein  jüngerer  Codex  m  der 
Marcianischen  Bibliothek  aus  dem  15.  Jahrhundert  durchweg  tiber- 
einstimmt, dass  dann  sogar  dieser  jüngere  Codex  m  (Marquard  hat, 
was  er  selbstständiges  hat,  im  Apparate  besonders  zu  erwähnen  für 
überflüssig  gehalten,  da  dies  olme  alle  Bedeutung  sei)  vielfach 
bessere  Lesarten  als  der  alte  Codex  des  Zosimus  aus  dem  12.  Jahr- 
hundert enthalten  muss.  Zosimus  hat,  als  er  damals  zu  Constan- 
tinopel  die  Harmonik  des  Aristoxenus  zu  reproduciren  unternahm, 
einen  Codex  zum  Abschreiben  gewählt,  welcher  mit  nichten  einer 
der  besten,  sondern  ein  sehr  verdorbener  war.  Geben  wir  hierfür 
an  dieser  Stelle  ein  schlagendes  Beispiel,  welches  zugleich  auf  die 
Nachtheile  der  Marquard'schcn  Auffassung,  dass  unser  Aristoxenus- 
Text  ein  Byzantinisches  Machwerk  sei,  ein  deutüches  Licht  wirft. 
„Glaubt  man",  sagt  Marquard  im  Vorworte  p.  Vm,  „unmittelbare 

Aristoxenische  Excerpte  oder  gar  mit  Westphal  unversehrte  Schriften 

d* 


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lii 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


des  Aristoxenus  vor  sich  zu  haben,  so  kann  man  mit  ganz  anderer 
Schärfe  vorgehen,  man  kann  sich  dann  eine  bestimmte  Vorstellung 
von  der  Diction  des  Schriftstellers  machen,  man  kann  dann  gemäss 
derselben  eine  wirkliche  Purification  vornehmen.  Von  dem  Allen 
musste  ich  von  meinem  Standpunkte  absehen."  Weil  Marquard 
so  gut  wie  Alles  für  Byzantinisch  hält,  sieht  er  nicht,  wo  der  Text 
des  Aristoxenus  durch  einen  Zusatz  entstellt  ist,  der  wirklich  Byzan- 
tinischen Ursprungs,  d.  i.  als  Randbemerkung  eines  Byzantinischen 
Abschreibers  in  den  Text  des  Aristoxenus  hineingekommen  ist  So 
hat  sich  im  ersten  Buche  §  50  das  Byzantinische  Scholion:  „Ttva 
8at  rafctv  ^Xeiovwv  oooaiv  ooy}(op8ttt>v  vGTjte'ov;  'Ev  ^  taa  ra  ts  xivou- 
jieva  sloi  xal  ta  TjpsfAouvra  Iv  tat;  xaiv  ^evtuv  8ta<popat?"  in  den  Text 
eingedrängt,  nachdem  einige  Zeilen  des  Aristoxenus  an  dieser  Stelle 
ausgefallen.  Die  Form  etat  verräth  den  Byzantiner.  Marquard  re- 
stituirt  aus  dem  Byzantinischen  Scholion:  Mtav  Se  uva  ta£tv  -Xstdvtov 
ooo«t»v  votjtsov,  wodurch  dann  das  im  folgenden  beibehaltene  zhi 
natürlich  auf  Rechnung  des  vermeintlichen  Byzantinischen  „Excerpten- 
machers"  kommt.  Hätte  Marquard  das  richtig  würdigen  können, 
so  hätte  auch  er  hier  ein  Byzantinisches  Rand-Scholion  gesellen  und 
dann  in  der  Lesart  des  Cod.  Mc 

T*'va  8al  xafctv  -Xetovu>v  ooatuv  :  ^opSuiv  votjtsov; 
die  bessere  Ueberlieferung  erkannt 
Der  Cod.  R  liest  ebenfalls  richtig: 

x(va  8tj  xdfciv  .  .  . 
Der  Cod. B,  nach  einem  offenbar  vorgelesenen  Manuscripte  schreibt: 

xtva  8s  xafctv. 
Zosimus  aber  hat  geschrieben : 

xtva  rcpäfctv. 

Mc  hat  dies  „xtva  ?:pa."  wegradirt  und  das  richtige  darüber  ge- 
schrieben. Vaticanus,  der  seine  Abschrift  von  dem  Cod.  des 
Zosimus  genommen,  ehe  dieser  die  Verbesserungen  durch  Mc 
erfuhr,  hat  natürlich,  was  Zosimus  geschrieben:  er  liest  uva 
izpäfctv.  Aus  dem  Codex,  welcher  dem  Zosimus  zur  Abschrift 
vorlag,  oder  vielmehr  aus  einer  gemeinsamen  Quelle,  copirt  der 
Cod.  S,  und  aus  einem  ähnlichen  nimmt  der  Barberinus  seine 
Marginalzu8ätze.  Beide,  S  und  marg.  B,  haben  das  so  schlechte 
Tiva  7rpa£iv  mit  dem  Cod.  des  Zosimus  und  dem  Vaticanus  gemein, 


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Harmonik:  Paul  Marquard. 


LUX 


ohne  dass  dies  Zosimus  verschuldet  hat,  denn  diesmal  ist  das  Origi- 
nal des  Zosimus  die  Ursache.  Der  Fehler  ist  älter  als  Zosimus.  Von 
den  Pariser  Handschriften  haben  nach  der  sicheren  Mittheilung 
des  Herrn  Bibliothekars  Ch.  E.  Ruelle  Par.  a.  b.  cL  f.  g.  die 
richtige  Lesart  Tcr';tv;  auch  die  griechische  Handschrift,  aus  welcher 
Gogavinus  übersetzte,  hatte  richtig  Tiva  ta;tv  -asio'vcov  ousujv  voyjtsov, 
•was  er  durch  „atque  ordo  ejus  quidam  ob  varietatera  intelligitur" 
wiedergiebt.  Der  Cod.  des  Scaliger  hat  ebenfalls  das  richtige  toi;'.v, 
nicht  diese  Verkehrtheit  des  Zo.  Der  werthlose  junge  Papiercodex 
aus  dem  16.  Jahrhundert,  wie  ilin  Marquard  nennt,  ist  an  dieser 
Stelle  werthvoller  als  der  Codex  Zo.  des  12.  Jahrhunderts.  Dagegen 
findet  sich  der  aus  dem  Original  des  Ma  stammende,  nicht  etwa 
von  dem  Librarius  Zosimus  verschuldete  Fehler  ~oa;iv  im  Par  c  und  e, 
nach  Meiboms  Angabe  auch  am  Rande  der  Oxonienses.  Der  eigent- 
liche Context  der  Oxonienses  würde  also  von  dem  hässlichen  r>p&Ziv 
frei  sein,  er  würde  an  dieser  Stelle  besser  und  älter  als  der  alte 
Text  des  Zosimus,  als  der  Vaticanus  und  der  Seldenianus  sein.  Von 
den  beiden  Lipsienses  hat  der  ältere  Lips.  I.  Ti'va  ßs  ra&iv,  am 
Rande  Tiva  rpafctv;  der  Lips.  2  T(va  irpafciv;  auch  der  ältere  Lips. 
(aus  sc.  14  oder  15)  ist  hier  besser  als  Zosimus.  Für  Marq.  ist  es 
wahrscheinlich,  dass  Lips.  L  aus  m  stammt,  für  mich  nicht. 


Richtige  alte  Lesart: 


Ti'va  oal  -afciv 


Mc 

m         T(va  öat  tcrfciv 
R         r£va  8^  ta;iv 
Lips.  I.  Ti'va  os  ta;iv 
B  Tiva  8i  -a;tv 

Gog.  ordo  quidam 

Par.a 
Par.b 
Par.d 
Pari 
Par.g 
Oxoniens 


nva  t«;iv 


Schreibfelüer: 

Zosim.  (Ma) 
marg.  Barberin. 
Seid 
Par.c 
Par.e 

marg.  Oxon. 


Ttva  irpd;tv. 


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LIV 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


Marquard  discutirt  über  diese  Stelle  S.  130.  131: 
„Im  älteren  Marcianus  (Z)  hat,  wie  der  Vaticanus  beweist,  ur- 
sprünglich ttva  rpafciv  gestanden,  und  so  hat  auch  der  Seldenianus 
und  die  Ränder  des  Barberinus  und  jüngeren  Marcianus  (m),  eine 
Leseart,  welche  ganz  unverständlich  ist.  Daher  hat  Mc  corrigirt: 
Tt'va  8al  xafctv,  wie  es  scheint  nach  eigener  Eingebung,  da  sich 
das  8at  sonst  nur  in  dem  abhängigen  jüngeren  m  findet. 

Auch  diese  Leseart  ist  nicht  zu  brauchen,  da  eine  verwunderte 
Leseart  hier  gar  nicht  am  Platze  ist.  Ueberhaupt  ist  ein  Fragesatz 
nicht  zulässig,  da  erstlich  der  folgende  Accusativ  unbegreiflich  wäre 
[der  alte  Uebersetzer  Gogavinus  begreift  die  Construction,  da 
er  übersetzt:  atque  ordo  quo  quidam  ob  varietatem  intelligitur, 
er  construirt  richtig  vo^-sov  mit  dem  Accusativ  tä^w], 
feiner  aber  der  folgende  Relativsatz,  der  den  vorhergehenden  Be- 
griff ja  ganz  genau  bestimmt, 

sv  ^  loa  xa  ts  xivoujisva  sbi  xal  ta  TjpsjAOuvra  ev  taf;  tuiv  ysvwv 
öiacpopat;. 

die  Frage  unmöglich  macht.  Also  auch  des  Riccard.  Leseart 
Tt'va  ötj  zafciv  kann  nicht  richtig  sein. 

Dem  geforderten  Sinne  am  nächsten  kommt  die  des  Barberinus 
ttva  6s  ta;tv  „irgend  eine  Ordnung  aber",  nur  dass  der  Gegensatz 
zu  nXeiovoiv  und  die  »Schreibweise  (siehe  unten  u.  22)  der  vorlie- 
genden Excerpte  gebieten  die  Wendung  durch  Hinzusetzung  von  ut'av 
zu  vervollständigen:  jii'av  8s  nva  tafciv,  wie  ohne  weiteres  zu  schrei- 
ben ist.  Der  Ausfall  des  Wortes  jxi'av  oder  fuav  5s  und  die  Ver- 
drehung des  Folgenden  kann  an  einer  offenbar  schon  sehr  früh  ver- 
derbten Stelle  nicht  auffallen.  Auch  die  Lesart  des  Barberi- 
nus ist  schwerlich  als  wirkliche  Ueberlieferung  sondern 
nur  als  weniger  mislungener  Verbesserungsversuch  an- 
zusehen." 

Diese  Polemiken  gegen  die  Lesart  des  Mc,  Ric.  und  Barb.  ge- 
hören genau  in  die  Kategorie  derjenigen,  welche  Marquard  S.  XXVI 
gegen  den  Cod.  Ric.  geführt  hat :  „der  Codex  hat  manches  Richtige, 
doch  darf  dies  bei  der  Willkür  und  zugleich  unglaublichen  Lü- 
derlichkeit,  mit  welcher  er  angefertigt  ist,  stets  nur  als  gelungene 
Conjectur  angesehen  werden  und  hat  auf  Auctorität  als  Ueberliefe- 
rung gar  keinen  Anspruch." 


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Harmonik:  Paul  Marquafd. 


LV 


In  dieselbe  Kategorie  wie  „die  unglaubliche  Lüderlichkeit  der 
Anfertigung",  welche  dafür  angeführt  wird,  dass  die  Lesart  des  Cod. 
nicht  auf  Ueberlieferung,  sondern  auf  interpolirter  Conjectur  beruhe, 
—  in  dieselbe  Kategorie  des  Beweises  gehört,  was  Marquard  weiter 
S.  131  sagt: 

„Mc,  sowie  B  und  R  lesen: 

Ti'va  oat  'ta£tv  rXeioviov  ouauiv  yopouiv  voTjriov;  £v  tj  tsa  ta  te 
xtvoujicva  etat  xcu  ^psfiouvia  ev  tat;  tuiv  ysvhjv  oia'f  opal;,  YtTV£TOtl 

0  £*V  TüJTOtOUTÜ)  OIOV   TO   azl    JAS37J;   6<p*    XiZOLTT^  .  £V  TOOT<|>  yOtp  000 

jiev  ol  zspii/ovTs;  9^07701  axfvijroi  sbtv  h  rat;  rtuv  ysvwv  ota- 
tpopal;,  000  S'ol  Trepie/ousvot  xivouvrai. 

„Hinter  den  Worten  uXetovcov  ooawv  fügt  Mc  yopouiv  hinzu, 
der  Barberinus  mit  zwei  Punkten,  welche  am  Rande  wiederholt  sind, 
der  Riccardianus  mit  einem  Kreuz  davor.  Auch  ohne  solche 
Zeichen  wird  man  nicht  zweifeln,  dass  dieses  Wort  nur 
einer  Conjectur  und  zwar  keiner  glücklichen  zu  danken 
ist"  Was  haben  die  Zeichen  f  oder  :  vor  dem  Worte  einer  Hand- 
schrift damit  zu  thun,  ob  dieses  eine  überlieferte  Lesart  oder  eine 
Conjectur  sei?  Gerade  so  viel  wie  die  grössere  oder  geringere  Schön- 
heit und  Regelmassigkeit  der  Buchstaben,  wie  die  Accuratesse  oder 
„Lüderlichkeit",  mit  der  die  Handschrift  geschrieben  ist.  In  den 
heutigen  Drucken  eines  Autors  kann  wohl  durch  solche  Zeichen. auf 
eine  Lesart  als  Conjectur  des  Herausgebers  u.  s.  w.  aufmerksam 
gemacht  werden.  Bei  den  Alten  sind  derartige  Kreuze  und  Doppel- 
puncte  höchstens  eine  Verweisung  auf  den  Rand,  wo  dasselbe  Wort 
mit  demselben  Zeichen  wiederholt  wird  (wie  es  in  unserem  Falle 
wirklich  geschehen  ist),  und  bedeuten  etwa,  dass  dieses  eine  varia 
lectio  eines  anderen  Codex  ist. 

Herr  Marquard  meint,  dass  die  Conjectur,  welcher  das  Wort 
Xopocuv  zu  danken,  keine  glückliche  sei.  Darin  hat  M.  Recht:  yopouiv 
gibt  keinen  Sinn.  Nun  denke  er  sich  aber,  dass  yopotov  nur  die 
Trümmer  einer  Lesart  seien,  dass  „f  xophun"  entstanden  sei  aus 
„aoYyopotoiv",  dann  müsste  auch  er  sagen,  dass  dies  Wort,  wenn  es 
eine  Conjectur  sei,  eine  sehr  glückliche  Conjektur  sei!  Er  sagt: 
„Der  Leser  hat  die  Stelle,  vielleicht  in  Folge  der  vorhergehenden 
Corruptelen,  nicht  verstanden;  nach  dem  oben  Gesagten  ist  es  klar, 


LVI 


*  Vorwort  zu  Aristoxenus 


dass  es  hier  darauf  ankommt,  eine  der  Ordnungen,  in  welchen  die 
beweglichen  und  feststehenden  Klänge  der  Zahl  nach  gleich  sind, 
auszuwählen;  ein  Zusatz  aber  irXstovtov  oooäv  yopüart"  „da  es  meh- 
rere Seiten  gibt"  wäre  so  überflüssig  als  möglich,  da  es  sich  ganz 
von  selbst  versteht  und  keine  besondere  Rücksicht  erfordern  kann. 
Solche  Verbesserungsversuche  machen  eben,  dass  diese  Quelle 
(McJ  R,  B)  an  Autorität  der  anderen  des  Marcianus  (Ma)  doch  nicht 
gleich  steht." 

Die  Eindringlichkeit,  mit  der  Herr  Marquard  wiederholt  auf 
den  Leser  einredet,  er  solle  doch  nicht  glauben,  dass  Mc,  R,  B 
irgend  welche  Autorität  der  Ueberlieferung  haben;  seine  energischen 
Hinweisungen  auf  die  Sorglosigkeit  und  Lüderlichkeit,  mit  der  die 
Buchstabe  der  Handschrift  geschrieben ;  auf  die  liinzugefügten  Kreuze 
und  Doppelpunkte  der  Handsclirift;  auf  die  Schwierigkeit  (!)  einer 
Construction  von  vorjteov  mit  dem  Accusativ  (!),  —  dies  Alles  macht 
den  Eindruck,  als  ob  Herr  Marquard  sich  selber  Muth  und  Trost 
einsprechen  will  in  seinem  Vorhaben,  die  anderen  Codices  ausser 
dem  des  Zosimus  zu  miscreditiren ;  „dass  jene  Quellen  an  Autorität 
der  des  Zosimus  doch  nicht  gleich  stehen."  Nur  in  diesem  Sinne 
kann  ich  das  „doch"  verstehen.  Es  ist  ein  letztes  Ringen  in  dem 
Kampfe,  ein  letzter  stossseufzender  Schluss  in  seiner  Rede  pro  sua 
domo,  für  seinen  Codex  Ma,  für  den  von  ihm  mit  so  vieler  Mühe 
und-  Sorgfalt  verglichenen  Codex  des  Zosimus:  er  soll  und  muss 
die  einzige  Autorität  sein!  Die  anderen  stehen  ihm  an  Autorität 
nicht  gleich!  So  redet  nur  ein  Mann,  der  seinen  vollen  Glauben 
an  die  Richtigkeit  der  von  ihm  aufgestellten  Behauptung  schon  auf- 
gegeben hat,  bei  dem  die  Aufrechthaltung  der  Behauptung  mehr 
Sache  des  Geinüthes  und  des  Herzens,  als  der  ganzen  verstandes- 
mässigen  Ueberzeugung  ist. 

Weshalb  auch  nicht  endlich  einmal  die  so  nahe  liegende  Wahr- 
heit sichtlich  auf  sich  einwirken  lassen?  Ist  es  denn  etwa  nicht  wahr, 
dass  der  Codex  des  Zosimus  an  dieser  Stelle  die  nichtswürdige  Les- 
art „rcpafciv"  hat?  Mit  ihm  der  Vaticanus,  und  wer  sonst  aus  dem 
Cod.  Zosimus  abgeschrieben  oder  entlehnt  hat?  Freilich  auch  der 
Seldenianus,  der  aber  wie  Herr  Marquard  versichert,  „von  entschei- 
dender Wichtigkeit  für  den  Text  selber  zum  Glück  nicht  ist" 
Woher  Zosimus  zu  der  unvernünftigen  Lesart  kommt,  darüber  sagt 


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Harmonik:  Paul  Marquard. 


LVII 


Marquard  nichts.  Das  allein  vernünftige  „ta;iv"  soll  nach  Marquardt 
fernerer  Versicherung  eine  Correctur  des  Mc  nach  eigener  Ein- 
gebung sein.  Mit  Mc  stimmen  fast  alle  anderen  Codices,  die 
nichts  mit  dem  Zosimus  zu  thun  haben,  überein.  Woher  haben 
diese  die  richtige  Lesart  ta^iv,  die  doch  eine  Correctur  des  Mc  nach 
eigener  Eingebung  sein  soll?  Es  wäre  dem  Herrn  Marquard 
unmöglich  geworden,  den  Nachweis  zu  führen,  dass  die  angeblich 
einzige  uns  direct  aus  dem  Alterthume  überkommene  nicht  inter- 
polirte  Handschrift  nur  die  Lesart  -pci;iv,  nicht  aber  raSiv  gekannt  habe. 

Während  Marquard  die  Lesart  ra;iv  als  eine  glückliche  Conjectur 
des  Mc  gegenüber  der  unverständigen  Ueberliefung  des  Zosimus  be- 
zeichnen muss,  wird  dagegen  das  im  weiteren  Verlaufe  der  Stelle 
von  demselben  Mc,  auch  von  R  und  B  dargebotene  ^opouiv  oder 
yopöiv  eine  nicht  glückliche  Conjectur  genannt  und  zurückgewiesen. 
Das  einfache  /opouiv  will  freilich  keinen  Sinn  geben,  aber  man  lese 
dies  Wort  „wf/opoiÜN" ,  so  haben  wir  dasselbe  Wort,  welches 
Aristoxenus  in  dem  auf  „Ti'va  6a!  t<x$iv  ....  5uo  o  01  7rspts)M>}j,Evot 
xivoGvrai"  folgenden  Satze  gebraucht: 

Toüto  fiiv  oov  outu>  xsi'of)«)  .  Tuw  ok  3uy/opZiwv  TtXetovov  t 
ououjv  tujv  ttjv  efpTjjiiv^v  tafciv  rou  6ia  tsasaptov  xars^ooaajv 
xal  ovou-aaiv  lötoi;  sxaarr;;  auTujv  ^piau-evT;;,  .  .  . 

Wir  nehmen  an,  dass  dies  Wort  aof/opoiiav  aucü  m  dem  vorner" 
gehenden  Satze  des  Mc  zu  lesen  ist: 

Ttva  oai  ta;tv  irXsiova>v  ouatov  ai>7}(opÖi<Lv  vo^teov; 
Welche  Reihenfolge  (der  Saiten)  liat  man  sich,  da  es  mehrere  Saiten- 
complexe  giebt,  zu  denken? 

Das  „-Xsiovwv  ououiv"  aller  Handschriften  ist  durch  das  hinzu- 
gefugte „aof/opotur/"  so  völlig  befriedigend  ergänzt,  dass  man  es 
als  Conjectur  nicht  nur  nicht  „keine  glückliche",  sondern  eine  der 
^glücklichsten  Conjecturen  nennen  müsste,  wie  bei  jener  Lesart,  von 
welcher  Marquard  bedauert,  dass  sie  erst  von  Bellerniann  aus  dem 
Anno}TOUs  hat  hervorgeholt  werden  müssen  und  nicht  auf  dem  Wege 
der  Conjectur  entstanden  ist,  „sie  wäre  eine  des  glänzendsten  ge- 
wesen." Nein,  auch  auY/°P^l*"v  ^  keine  Conjectur,  sondern  aus  der 
Lesart  des  Mc  und  seiner  Genossen  R  und  B  hervorgeholt.  Ich 


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LVIII 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


denke  nicht  mit  Marquard  „Schade!",  sondern  sage:  alle  Achtung 
diesen  würdigen  Repräsentanten  der  Ueberlieferung  des  Aristoxe- 
nischen  Textes,  die  nicht  nur  das  vernünftige  tafciv  haben,  wo  Zosi- 
mus  das  hassliche  rcpaciv  hat,  sondern  auch  die  alte  im  folgenden  Satze 
durch  Aristoxenus  selber  bestätigte  Lesart  ao^xopStuw  aus  ihrer 
Schreibung  yopwv  oder  ^opÖuiv  deutlich  erkennen  lassen,  von  welcher 
Zosimus  auch  nicht  einen  einzigen  Buchstaben  bringt 

Marquard  hat  nun  noch  zwei  Einwände  gemacht,  dass  der  Frage- 
satz „Ttvot  oat  xa*iv  .  .  .  votjtsov",  nicht  zulässig  sei.  Den  ersten 
Einwand,  dass  der  Accusativ  ta;iv  unbegreiflich  sei,  hätte  er  selber 
sich  aus  dem  frühesten  Uebersetzer  Gogavinus,  worauf  ich  schon 
in  dem  obigen  hinwies,  entkräften  lassen  können.  Den  zweiten  Ein- 
wand, dass  der  auf  „Tfva  öcu  -d;tv  .  .  .  vor^iov;"  folgende  Relativ- 
satz: ,/Ev  ^  iaa  ra  xe  xtvouaeva  etat .  .  der  den  vorhergehenden 
Begriff  ja  ganz  genau  bestimme,  eine  verwunderte  Frage  unmög- 
lich mache,  sich  selber  zu  entkräften,  hätte  Marquard  den  Plural 
etat  hinter  den  neutralen  Nominativen  Xza  ta  re  xtvoojisva  genauer 
ansehen  müssen.  Aristoxenus  hätte  nothwendig  toa  tot  -e  xtvou- 
u-eva  h-i  sagen  müssen.  Marquard  hat  sich  aus  seinen  Bescliäftig- 
ungen  mit  den  Handschriften  zu  viel  Takt  angeeignet,  um  eine  Ver- 
änderung von  stet  in  £tti  vorzunehmen.  Er  lässt  *bi  unangetastet 
ebenso  wie  er  auch  X.  387  mit  Recht  die  befremdlichen  Praeterita 
^ootv  u.  s.  w.  nicht  in  die  von  ihm  erwarteten  Formen  geändert  wissen 
will.  „Glaubt  man  unmittelbare  Excerpte  aus  Aristoxenus  oder  gar 
mit  Westphal  unversehrte  Schriften  des  Aristoxenus  vor  sich  zu 
haben,  so  kann  man  mit  ganz  anderer  Schärfe  vorgehen  .  .  .,  man 
kann  dann  eine  wirkliche  Purification  vornehmen.  Von  allem  dem 
musste  ich  bei  meinem  Standpunkte  absehen  (S.  VDI).U  Marquard 
glaubt  in  der  ganzen  Harmonik  nichts  als  Byzantinische  Excerpte 
vor  sich  zu  haben.  Da  ist  es  ihm  einerlei,  ob  Ion  oder  etat  ge- 
schrieben ist.  Wir  halten  diesen  Standpunkt  des  Herausgebers 
Marquard  für  eine  sehr  verwerfliche  Täuschung.  Er  bindet  sich  da- 
durch für  solche  Fragen  wie  h-i  oder  eiai  selber  die  Hände.  In 
unserer  Stelle  „Ttvot  8ai  xa£iv  -Xetovujv  ouaöjv  (auY^opöuGv  vor^eov..." 
musste  ihm  schon  das  unaristoxemsche  purificationswürebge  „stetv" 
zeigen,  dass  hier  ein  Scholion  in  den  Aristoxenischen  Text  vom 
Rande  gedrungen  ist  und  die  Stelle  aus  dem  Aristoxenischen  Texte 


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Harmonik:  Paul  Marquard. 


LIX 


auszuscheiden  sei.  Die  auf  „T7)v  7tpoa>jY0Ptav  UTr°  rtuv  iraXaioiw  ea^e*" 
folgenden  Worte  des  Aristoxenus  waren  in  der  Handschrift  verloren 
gegangen.  Dies  war  es,  woran  ein  Librarius  Anstoss  nahm  und 
daher  jene  verwunderte  Frage  „Tiva  8al  7a;iv  7:Xetova>v  ooatöv  [aoy]- 
'/QpZiw  vo>jTeov;"  an  den  Rand  schrieb.  Er  beantwortet  sie  ganz 
richtig,  ganz  im  Sinne  des  Aristoxenus,  da  er  dem  folgenden 
Satze:  „Tooto  [xsv  vov  outo>  xsi'aÖco  .  rcüv  5s  ouf/opStiv  -Xeiovtov  t 
ouocüv  .  .     die  richtige  Antwort  auf  seine  Frage  entnehmen  konnte. 

Das  Nähere  wird  aus  meiner  Ausgabe  selber  hervorgehen.  Der 
geneigte  Leser  wird  diese  zu  lange  Intercalation  in  Sachen  Marquardt 
und  der  Handschriften  entschuldigen,  denn  es  galt  an  einem  ecla- 
tanten  Beispiele  das  Verfahren  desselben  zu  erläutern.  Die  Be- 
handlung dieser  Stelle  in  meiner  Ausgabe  selber  wird  nun  um  so 
kürzer  sein  können. 

Bei  meiner  langjährigen  Beschäftigung  mit  Aristoxenus  wird  es 
nicht  als  unbesorgtes  Unternehmen  erscheinen,  wenn  ich  den  Ver- 
dächtigungen, welche  der  grösste  Theil  des  uns  von  Aristoxenus 
Ueberkommenen  durch  den  neuesten  Herausgeber  erfahren  hat,  in 
einer  eigenen  Ausgabe  entgegentrete,  die  den  Text  in  einer  dem 
wirklichen  Urheber  angemessenen  und  würdigen  Form  vorführt  und- 
sowohl  in  den  sachlichen  Erläuterungen  wie  auch  in  einer  richtigen 
und  lesbaren  Uebersetzung  den  Nachweis,  liefert,  dass  wir  hier  durch- 
aus zusammenhängende  Bruchstücke  aus  mehreren  Werken  des  alten 
Tarentiners  vor  uns  haben,  die  niemals  das  Gepräge  der  Gedanken- 
schärfe und  der  logischen  Consequenz,  noch  der  individuellen  Manier 
des  berühmten  Theoretikers  aus  der  Schule  des  Aristoteles  verbergen 
können.  Sollten  diese  Bruchstücke  aus  der  Aristoxenischen  Literatur 
über  das  Melos  auch  nicht  dieselbe  hohe  Bedeutung  wie  das  über 
Rhythmus  für  uns  haben  —  nicht  eine  practische  Bedeutung  für 
unsere  Philologie  und  musikalische  Rhythmik  — ,  so  sind  sie  doch 
jedenfalls  ein  glänzendes  Werk  des  klassischen  Griechenthums,  in 
welchem  diese  Rudimente  der  Wissenschaft  vom  Melos  in  einer  viel 
klareren  Weise  dargelegt  werden,  als  dies  von  den  modernen  Musik- 
theoretikern geschehen  ist  und  ohne  Aristoxenus  geschehen  kann, 
daneben  aber  auch  über  viele  Punkte  der  althellenischen  Musik 
nicht  bloss  Melos,  sondern  auch  Rhythmus)  Aufschlüsse  vorkommen, 
welche  wir  anderwärts  nicht  erhalten. 


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Vorwort  zu  Aristoxenus 


AVenn  Marquard  dies  ganz  und  gar  verkannt  hat,  so  beruht 
das  zum  allergrössten  Theile  in  den  Schwierigkeiten,  welche  ein* 
jedes  dem  Gebiete  der  Musiktheorie  angehörendes  Werk  des  Aristo- 
xenus für  die  Interpretation  darbietet  Es  sind  dieselben  Schwierig- 
keiten, die  sich  auch  in  der  Rhythmik  und  in  den  bei  Plutarch  er- 
haltenen  Fragmenten  der  Synimikta  sympotika  dem  Leser  entgegen- 
stellen, aber  durch  eindringliche  Forschung  bewältigen  lassen.  In 
weit  geringerem  Grade  sind  Marquardts  wunderliche  Missverständ- 
nisse durch  die  Beschaffenheit  des  uns  überkommenen  Textes  ver- 
anlasst, der  für  die  Harmonik  ungleich  vollständiger  als  für  die 
Rhythmik  vorliegt.  Wie  bei  fast  allen  Werken  der  alten  Literatur 
konnte  auch  bei  Aristoxenus  die  Textesüberlieferung  nicht  von  drei- 
fachen Versehen  der  Abschreiber  frei  bleiben.  Erstens:  Auslas- 
sungen von  Wörtern,  von  Sätzen  und  selbst  von  grösseren  Partien 
des  Originales;  zweitens  Umstellungen,  die  wie  jene  auf  Ueber- 
sehen  von  Seiten  der  Abschreiber  beruhen;  drittens:  Einschaltungen 
solcher  Stellen,  die  dem  Original  ursprünglich  fremd,  aber  als  Rand- 
bemerkungen aus  der  Hand  erklärender  Abschreiber  oder  der  alten 
Leser  in  den  Text  hineingekommen  sind.  Auch  die  Aristoxenische 
Harmonik  hat  durch  diese  dreifachen  Versehen  manchen  Schaden 
erlitten.  Aber  der  Schaden  ist  an  keiner  Stelle  so  tief,  dass  er 
sich  nicht  wenigstens  genau  erkennen  und  in  den  meisten  Fällen 
auch  heilen  Hesse,  obgleich  kein  Verständiger  den  Anspruch  machen 
wird,  überall  die  genaue  Fassung  des  Originales  wieder  herzustellen. 
Oft  wird  es  genügen  (in  der  Harmonik  wie  in  der  Rhythmik) ,  wenn 
auch  nur  die  erklärende  Uebersetzung  den  ursprünglichen  richtigen 
Sinn  angiebt  LTnd  wenn  gerade  in  den  harmonischen  Bruchstücken 
des  Aristoxenus  die  Restitution  eines  verhältnissmässig  schlecht  über- 
lieferten Textes  mehr  als  bei  anderen  Denkmälern  des  Alterthunis 
ermöglicht  und  auch  leichter  ist,  so  beruht  dies  sowohl  in  dem  rein 
sachlichen  Inhalte,  als  auch  besonders  in  der  eigentümlichen  Er- 
scheinung, dass  in  jenen  Fragmenten  die  Anfänge  mehrerer  Aristoxe- 
nischer  Werke  vorliegen,  die  zu  verschiedener  Zeit  über  ein  und  den- 
selben Gegenstand  in  ein  und  derselben  Reihenfolge  der  einzelnen 
Abschnitte  niedergeschrieben  sind.  Dieselbe  Erscheinung  begegnet 
uns  auch  mehrfach  in  den  Schriften  von  Aristoxenus  Lehrer  Aristo- 
teles.   Bei  Aristoxenus  erklären  sie  sich  leichter  als  bei  Aristo- 


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Harmonik:  Ch.  E.  Ruclle. 


LXI 


teles.  Es  sind  diese  Doppelgänger  verschiedene  verbesserte  Ausgaben 
desselben  Werkes  oder  dieselben  Vorlesungen  über  ein  und  den- 
selben Gegenstand,  welche  zu  verschiedenen  Zeiten  (in  verschiedenen 
Semestern)  gehalten  und  niedergeschrieben  sind.  Somit  sind  uns 
für  die  Restitution  und  das  Verständniss  des  einen  der  bezüglichen 
Werke  die  Parallelstellen  des  anderen  zur  Hand. 


Wie  erquicklich  ist  der  Marquard'schen  deutschen  Aristoxenus- 
Uebersetzung  gegenüber,  welche  weder  Deutschen  noch  Anderen  das 
Verständniss  des  griechischen  Textes  erschliesst,  die  französische 
Uebersetzung  Ruelle's: 

Elements  harmoniques  d'Aristoxene  traduits  en  francais  pour 
la  premiere  fois  d'apres  un  texte  revu  sur  les  sept  manuscripts 
de  la  bibliotheque  nationale  et  sur  celui  de  Strasbourg  par  Ch. 
Em.  Ruelle,  redacteur  au  ministere  de  l'instruction  publique 
(gegenwärtig  Vorstand  der  Pariser  Bibliothek  der  h.  Genoveva). 
Ouvrage  couronne  par  1' Association  pour  l'encouragement  des 
Stüdes  grecques  en  France.    Paris  1871. 
Möge  Herr  Professor  Gavril  Athanasiewic  Iwanow  zu  Moskau  mir 
an  dieser  Stelle  gestatten,  ihm  noch  einmal  für  seine  Freundlichkeit 
meinen  aufrichtigen  Dank  auszusprechen,  dass  er  mich  mit  der  Ar- 
beit Ruelle's,  die  so  wichtig  für  mich  werden  sollte,  bekannt  ge- 
macht hat.   Der  französische  Forscher  hatte  die  grosse  Liberalität, 
dem  deutschen  Mitforscher  auf  dessen  Bitten  seine  Auszüge  der  von 
ihm  benutzten  Handschriften  zur  Disposition  zu  stellen,  als  er  gerade 
selber  damit  beschäftigt  war,  seine  Textes- Ausgabe  der  Aristoxeni- 
schen  Harmonik  erscheinen  zu  lassen.   Das  ist  echte  Wissenschaft- 
lichkeit von  ihrer  liebenswürdigsten  Seite,  die  sich  nicht  durch  die 
nationalen  Schranken  beengen  lässt. 

Die  mir  handschriftlich  mitgetheilten  Notizen  des  Herrn  Ruelle 
über  die  von  ihm  verglichenen  Codices  sind  folgende: 

Sept  manuscrits  conserves  ä  la  Bibliotheque  nationale  de  Paris: 

Par  a  2379  [anterieurement  635  et  2157;  in  fo.,  ecrit  sur  parche- 
min,  dore  sur  tranche,  recouvert  en  bois,  261  fol.  index  (en  grec. 


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LX11 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


et  en  latin):  Diophante  d'Alexandrie;  Arithmetique,  6livres  dont 
les  2  premiers,  illustres  de  scholies  et  commentaires.  —  Le 
meme  auteur  sur  les  nombres  polygonaux  un  livre  (en  grec  ßijU. 
ooo)  fo.  1 39.  (l'un  et  l'autre  edit^s  par  Bamet  mais  sans  scholies). 
—  Aristoxene  Elements  harmoniques  trois  livres  fo.  155.  — 
Hipparque,  comment  sur  les  ph&iom.  d'Aratus  et  d'Eudoxe 
3  liv.  fo.  193.  edites  par  Setau.] 

Ce  manuscrit  est  generalement  semblable  ä  celui  de  Seiden; 
il  a  les  meines  fautes;  mais  comme  il  omet  des  mots  et  des 
phrases  entieres  qui  subsistent  dans  ce  dernier  et  qui  l'inverse 
arrive  aussi,  Ton  peut  elablir  qu'ils  ont  une  commune  origine 
mais  qu'ils  ne  sont  pas  transcrits  Tun  sur  l'autre. 
Par  b  2449  [Ant6rieurement  2740,  in  4°,  ecrit  sur  papier;  recou- 
vert  en  simple  parchemin,  75  fos.  sur  le  premier  „Codex  char- 
tac."  16  saec,  scriptus  quo  continentur  Aristoxeni  elementoruni 
harmonicorum  libri  tres.] 

Ce  parait  etre  le  texte  le  plus  moderne  de  tous,  il  se  rencontre 
le  plus  frequemment  avec  Scaliger.  H  ne  porte  jamais,  que  nous 
sachions,  de  lecon  que  ce  dernier  omette  et  d'autre  part  omet  quel- 
ques unes  de  ses  lecon. 

■  En  outre  on  y  remarque  un  certain  nombre  d'omissioms  qui 
lui  sont  communes  avec  lo  no.  2457  et  quelques  autres  qui  ne  sont 
pas  dans  ce  manuscrit;  enfin  plusieurs  mots  que  celui-ci  porte  en 
marge  sont  entrSs  ^lans  son  texte. 

II  contient  ä  la  marge  quelques  annotations  tres  courtes,  qui 
fournissent  des  lecons  nouvelles,  admissibles  pour  la  plupart. 

D'un  autre  cöt6  Ton  trouvera  dans  sa  pagination  un  grand  de- 
sordre,  auquel  nous  avons  cm  rem6dier  par  la  note  qui  suit:  ,,Ut 
recte  disponantus  diversae  bujus  codicis  partes,  quisquis  legerit 
ita  devolvere  debebit,  ut  lecto  folio  23°  legat  40um,  lecto  45°  legat 
25Uffl,  lecto  35°  legat  54nm,  lecto  42°  legat  56 um,  lecto  63°  legat  63nm 
ad  finem  usque." 

Par  c  2456  [Anteneurement  435,  461,  2179;  in  fo.,  ecrit  sur 
parchemin  recouvert  enbois;  de  483  feuillets;  index,  en  grec  et  latin: 
fol.  1  Aristide  Quintilien,  fol.  63  Manuel  Bryenne,  fol.  181  Plutarque 
dialogue  sur  la  musique,  fol.  197  Euclide  introduction,  fol.  205  Euc- 


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Harmonik:  Ch.  E.  Ruelle.  LXIII 

lide  xaTeTOji^  xavovo;,  fol.210  Aritoxene Elements  harmoiüques,  fol.  240 
Alypius,  fol.  258  Gaudence,  foL  271  Nicomaque,  fol.  286  Cl.  Pto- 
lemee,  foL  354  Porphyre  commentaire,  fol.  477  Bacchius.] 

Nous  nous  sommes  convaincu  par  le  collationnement,  que  cette 
copie  ni  a  6te  faite  ni  d'apres.  Scaliger  ni  d'apres  auciin  des  autres, 
mais  d'apres  la  meme  source  que  les  Oxoniens.  Elle  porte  quel- 
quc  mot8  omis  dans  les  manuscrits  Seal,  S,  Bar,  Bod,  A  et  B,  et  omet 
ü  8on  tous  tel  mot  que  ces  textes  präsentent. 

Par  d  2457  [Ant6rieurement  (codex  Telleriano-Remensis)  48; 
(req.)  2179  in  fol.;  ecrit  sur  papier  fort,  776  pages  index  en  latin: 
Aristides  Quintilien,  Manuel  Bryenne,  Plutarque  sur  la  musique, 
Euclide  introduetion,  Euclide  division  du  canon,  que  Zosime  corrigea 
et  commenta  avec  talent  Constantinople,  Aristoxene,  Alypius,  Gau- 
denoe,  Nicomaque,  Ptolemee,  Porphyre.  Sfribebat  sua  manu  Ange- 
lus Vergetius  cretensis  a  a  Christi  partu  1537,  absolvit  mense  Apelleo 
1.  Decembre  die  17a]. 

Ce  msc.  comme  le  pröcedent  a  du  etre  exäcute*  d'apres  l'origi- 
nal  des  Oxoniens;  il  se  recontre  souvent  aussi  avec  le  texte  de 
Seiden.  Peut-etre  a-t-il  6t6  consulte  par  l'auteur  des  annotations 
que  porte  Par  b  et  meme  par  celui  qui  le  fit  ecrire  ce  dernier  texte. 

L'examen  de  ces  divers  textes  nous  conduit  ä  6tablir  qu'il  sont 
unc  double  origine.  L'une  a  produit  Par  a,  c,  d,  Seid,  Bar,  Bod, 
ainsi  que  le  texte  de  Gogavinus;  l'autre  Scalig  et  Par  b. 

Ferner  folgende  Bemerkungen  niedergeschrieben  seit  1855. 

Par  e  2460  [Antörieurement  Cod.  Telleriano-Romensis  47,  Re- 
gius  2179.  In  fol.  202  feuilles.  Cod.  chartac.  XVI  sec.  scriptus,  quo 
continentur  Alypius,  Gaudentius,  Anonymus*)  de  musica  ineditus 
„'  PuÖfxo«  aov^onrjxav",  Bachii  senioris  introduetio,  Euclidis  introduetio 
harmon.,  Euclidis  Sectio  canonis,  Theonis,  'Ex  tu>v  tou  riaTrroo  irepl 
^pdo^ytov,  Aristoxeni,  Nicomachi,  Aristides,  Manuelis  Bryennii]. 

Ce  ms.  präsente  de  nombreuses  analogies  avec  Seal,  et  Par.  b, 
cependant  il  n'y  a  pas  entre  eux  et  lui,  nous  en  avons  acquis  la 
preuve,  les  rapports  d'une  copie  ä  son  original    On  y  trouve  un 


*)  Später  hinzugefügt:  Edid.  Bellermaitn  Berolini  1871.  Gallice  vertit  novo- 
que  modo  diapoauit  A.  T.  H.  Vincent  (notices  et  extr.  des  racs.  XVI,  2«  partie). 


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LXIV 


Vorwort  zu  Aristoxenus 


nombre  infini  de  fautes,  qui  serablent  provenir  d'une  dictee  mal 
entendue. 

Par  f  160  Supplement  [Anterieureinent  no.  1098  du  fonds  de 
Sorbonne.  Petit  in  4°  de  80  feuilles  ecrit,  ms.  du  XVI  siecle;  bonne 
6criture,  non  signe\  1  icre  page  avec  titres  en  lettres  d'or  et  en 
arabesques.   Contenu:  Aristoxene,  incipit  et  decinit  ut  in  editis]. 

Ce  ms.  appartient  a  la  meme  famille  que  les  mss.  de  Venise 
cl.  VI  no.  3  et  les  msc.  de  Paris  b,  c,  d,  e  c'est  ä  dire  ä  la  seconde 
famille,  la  premiere  6tant  composSe  jusqu'a  ce  jour  de  msc.  de  Rome 
(Vatic.  et  Barberin),  de  Florence,  de  Venice  (no.  8),  d'Oxford  (Seiden) 
puis  comme  deriv6s  les  cod.  Bodleiunus"  et  Baroccianus,  enfin  des 
msc.  a,  c,  g  de  Paris. 

lieber  den  Strassburger  Codex  veröffentlichen  die  Comp- 
tes  rendus  de  l'Acadömie  des  Inscriptions  et  Belles-Lcttres  2 e  serie 
1.  VII  1871  folgende  Mtttheilung:  „Notice  et  variantes  d'un  manu- 
scrit  grec  relatif  ä  la  musique  qui  a  pen  pendant  le  bombarde- 
ment  de  Strasbourg  par  M.  Ch.  Ruelle."    Hier  heisst  es: 

La  bibliotheque  du  seminaire  protestant  de  Strasbourg,  incen- 
diee  par  les  arm6es  allemandes  pendant  la  nuit  du  24.  aoüt  1870, 
poss§dait  une  precieuse  collection  de  manuscrits  grecs,  notamment 
de  manuscrits  relatifs  ä  la  musique.  L'ann^e  derniöre,  au  momeut 
de  publier  sa  traduction  des  Elements  harmoniques  d'Aristoxener 
M.  Ruelle  eut  communication  d'un  de  ces  monuments,  not6  III  31, 
contenant  une  copie  de  ces  Elements,  l'introduction  musicale  d'AIy- 
pius  et  le  Commentaire  de  Porphyre  sur  les  Harmoniques  de  Pto- 
16m6e.  L'auteur  ne  croit  plus  devoir  accorder  une  grande  impor- 
tance  aux  variantes  que  pouvaient  renfermer  ces  copies  de  Por- 
phyres  et  d'Alypius,  dont  les  textes  ne  laissent  d'ailleurs  que  peu  ä 
desirer  dans  les  editions.  Quant  a  la  collation  du  texte  d' Aristoxene, 
eile  n'a  pas,  il  est  vrai,  fourni  des  fragments  in6dits,  mais,  par  Tim- 
portance  et  la  multitude  des  variantes,  eile  place  le  manuscrit  dont 
nous  deplorons  la  perte  au-dessus  de  tous  exemplaires  consultes 
jusqu'  ici  des  Elements  harmoniques;  or  ils  sont  aujouid'hui  au 
nombre  de  vingt 

Le  ms.  de  Strasbourg,  not6  dans  la  nomenclature  dressee  par 
M.  Ruelle,  lui  a  paru  de  nature  k  reveler  une  famille  qui  n'aurait 
eu  encore  aucun  reprösentant,  meme  apres  le  travail  fait  r^cemment 


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Harmonik:  Ch.  E.  Ruelle. 


LXV 


en  Allemagne  par  M.  Marquard  sur  les  copies  de  Venise,  de  Rome 
et  de  Florence. 

Le  tableau  des  lec,ons  fournies  exclusivement  par  le  manuserit 
de  Strasbourg  präsente  les  resultats  suivants.  On  y  trouve  380 
variantes  par  rapport  ä  Tödition  grecque -latine  de  Meibom,  dont 
51  omissions;  44  de  ces  omissions  et  250  lecons  de  diverses  sortes 
sont  propres  ä  ce  manuscrit.  Plus  de  100  lecons  nouvelles,  notam- 
ment  39  restitutions  formant  ensemble  54  mots,  sont  proposees  eomrae 
devant  prendre  place  dans  une  Edition  perfectiounee  des  Elements 
harmoiüques.  Le  rapport  des  lecons  dejä  coimues  ä  Celles  qui  ne 
figurent  que  dans  ce  manuscrit  est  de  1  :  5,5,  celui  des  omissions' 
communes  avec  d'autres  inanuscrits  aux  omissions  speeialement  notöes 
dans  celui-ei  est  presque  de  1  :  6,5.  Cette  proportion  concourt  avec 
les  restitutions  ä  faire  ressortir  l'originalite  du  manuscrit  en  question. 
Les  transpo8itious  s'y  rencontrent  une  quarantaine  de  Ibis,  et  c'est  le 
plus  souvent  pour  offrir  une  meilleure  construction  grammatieale. 

Apres  avoir  etubli  l'originalite  du  manuscrit  de  Strasbourg  sur 
rette  consideration  que  les  variantes  nouvelles  et  les  restitutions 
de  mots  y  sont  nombreuses,  M.  Kuelie  arrive  sans  peine  a  demon- 
tier qu'il  n'a  pas  de  dcnves  connus.  En  effet,  aucun  des  lnanu- 
scrits  dejä  exanrines  ne  peut  etre  une  reproduction  du  ms.  H, 
comme  le  prouvent  surabondamment  diverses  omissions  plus  ou 
moins  etendues,  relevees  dans  cet  exemplaire  ä  Texclusion  de  tout 
autre.*) 

La  filiation  direete  ainsi  ecart^e,  il  reste  ä  examiner  les  points  de 
comparaison  et  en  quelque  sorte  la  parent6  collaterale  existants  entre 
le  ms.  de  Strasbourg  et  les  exemplaires  etudies  anterieurement. 
L'auteur  a  not£,  dans  ce  manuscrit.  le  norubre  des  lecons  et  celui 
des  omissions  qui  lui  sont  respectivement  communes  avec  cbaeun  des 
autres;  et,  de  son  double  relevey  il  tire  cctte  deduetion  que  les 
manuscrits  M  (Saint-Marc.  XIl*  sieclc),  B-r  (Barberin),  V  (Vatican), 
R  (Riceardiani  ä  Florence)  et  S  (Seiden  ä  Oxford),  qui  sont  les  meil- 


*)  Depuis  cette  cominunication  M.  Kuelle  cbarge  dune  mission  cu  Egpagnc, 
a  exarnin»*  los  quatres  manuscrits  d'Aristoxene  conservta  a  la  bibliothequc  de 
l'Kscurial  et  celui  de  la  bibliotheque  nationale  de  Madrid.    II  a  reconnu  que 
rien,  dans  ces  cinq  copies,  ne  diminue  foriginabt^  du  manuscrit  de  Strasbourg. 
Aristuxenm,  llelik  u.  Rhythmik.  e 


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LXVI 


Vorwort  zu  Aristoxenus. 


leurs,  contiennent  en  meine  temps  le  plus  de  variantes  et  d'oinis- 
sions  communes  avec  le  ms.  H.  Les  manuscrits  Par.  c,  g  (Biblio- 
theque  nationale,  aneien  fonds  no.  2460  et  Supplement  no.  449)  se 
placent  £galement  im  premiere  ligno  par  la  frequente  conimunaut£ 
des  variantes,  tandis  que  par  eelles  des  omissions  ils  n'occuperaient 
que  les  derniers  rangs;  mais  il  n'y  a  rien  a  eonelure  de  ce  dernier 
fait,  sinon  que  les  manuscrits  Par.  e,  P.  que  g,  pour  le  dire  en  pas- 
sant  ont  ele  oublitfs  comine  tous  les  exeniplaires  francais  d'Aristoxene 
par  la  philologie  allemande,  sont,  en  beaucoup  d'endroits,  plus  com- 
plets  que  les  autres  manuscrits. 

M.  Ruelle,  en  terminant,  annonee  l'intention  de  mettre  ä  profit 
les  rC'sultats  dont  le  detail  est  exposc  dans  le  tablcau  des  variantes, 
et  de  donner  une  nouvelle  edition  des  Elements  harmoniques  d'Aris- 
toxene, texte  qui  n'est  pas  (comme  on  pourrait  le  eroire),  d£nue  de 
tout  earactere  littcraire  et  qui  sera  redevable  d'une  serieuse  ame- 
lioration  au  manuscrit  de  Strasbourg. 

Diverses  observations  sont  adressees  a  l'auteur  de  cette  com- 
munication  et  discutees  contradictoirement  avec  lui,  principalement 
par  M.  le  viee-pr6sident. 

Werth  und  Bedeutung  des  Strassburger  Codex  erbellt  aus  §  45 
der  ersten  Harmonik,  wo  die  drei  Arten  des  musikalischen  Melos 
genannt  werden.  Meibom  und  Marquard  lesen  diese  Stelle  auf 
Grund  der  ihnen  zu  Gebote  stehenden  Handschriften 

llpu>Tov  |i£v  oov  xotl  zpsaßorarov  aurcov  Ostsov  to  oiarovov  .  . 

OSOTSpOV   ÖS  TO  /  pCDJxaTIXC  V, 

-ptrov  ös  xat  ävw:a;ov  to  evapp/mov,  TsXsoTaup  y*£>  «oto» 
xoi  jxoXt;  iisia  -oXX*>G  7ro'voo  auvsfti'Cerat  r,  1131)7,31;." 

Marquards  Uebersetzung  lautet:  „Für  die  erste  nun  und  älteste 
ist  die  diatonische  anzusetzen  ....  als  zweite  die  chromatische,  als 
dritte  und  höchste  aber  die  enharmonische,  denn  zuletzt  und  mit 
grosser  Anstrengung  und  Mühe  gewöhnt  sich  an  sie  die  sinnliche 
Wahrnehmung."  —  „Krste  und  älteste"  —  „zweite"  —  „dritte  und 
höchste"  — :  an  diesen  Attributen  nimmt  Marquard  ebenso  wenig 
wie  Meibom  Anstoss,  und  doch  ist  „dritte  und  höchste"  nicht  wohl 
zu  verstehen.  In  welchem  Sinne  wird  das  Enharmonion  „das 
höchste"  der  Tongeschlochter  genannt?    Der  von  Aristoxenus  hin- 


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Harmonik:  Ch.  E.  Ruelle. 


LXVI1 


zugesetzte  Grund,  „denn  zuletzt  und  mit  grossser  Anstrengung  und 
Mühe  gewöhnt  mau  sich  daran,"  erklart  den  Ausdruck  „das  höchste" 
nicht. 

Es  ist  mir  unvergesslich,  wie  lange  ich  mich  vergebens  abmühte, 
die  richtige  Lesart  zu  conjiciren.  Als  ich  durch  die  übergrosse  Freund- 
lichkeit des  Herrn  Ruelle  mit  den  Lesarten  des  Strassburger  Codex 
bekannt  gemacht  war,  da  war  ein  Conjiciren  unnöthig,  denn  dort 
war  überliefert: 

npwTOV  jxsv  oüv  xai  TCpeopütaxov  .  . 
Ssurepov  8s  to  ypiofiaTixov, 

Tprrov  Ii  xai  vewTfltov  to  dvapfioviov,  reXsurauo  yap  otot««  .  .  . 

Es  kann  freilich  kein  Zweifel  sein,  dass  diese  Lesart  der  Strass- 
burger Handschrift  die  richtige  ist  Alle  übrigen  fiiessen  aus  einem 
Codex,  dessen  Librarius  das  überlieferte 

xou  vsturarov 
in  ,   ,  , 

xat  avcotarov 

verschrieben  hatte.  Ohne  den  Strassburger  Codex  würde  dieser 
Schreibfehler  den  Text  des  Aristoxenus  fort  und  fort  entstellen. 
Herr  Ruelle  hat  sich  zwar  in  seiner  Uebersetzung  an  dieser  Stelle 
noch  nach  dein  Meibom'schen  Texte  gerichtet,  seine  mir  schriftlich 
mitgetheilten  Bemerkungen  enthalten  bereits  die  Notiz,  dass  hier  die 
Lesart  des  Strassburger  Codex  die  einzig  richtige  ist  Zunächst  kann 
ich  nicht  umhin,  die  alten  richtigen  Lesarten  der  Strassburger  Hand- 
schriften mir  in  ähnlicher  Weise  zu  denken,  wie  die  an  den  Rand 
des  alten  Marcianus  zu  den  Lesarten  des  Zosimus  durch  die  dritte 
Hand  (Mc.)  hinzugefügten.  Ich  erwarte  die  weiteren  Mittheilungen 
des  Herrn  Ruelle,  der  mir  durch  Herrn  Ambr.  Abel  zugesagt  hat, 
mich  vor  dem  Erscheinen  des  griechischen  Textes  mit  allen  weiteren 
Notizen  über  die  Beschaffenheit  der  verbrannten  Handschrift,  soviel 
er  deren  aufgezeichnet  oder  in  der  Erinnerung  behalten  hat, 
gütigst  zu  versehen.  Von  diesen  muss  ich  es  abhängig  machen, 
in  wie  weit  ich  dem  Codex  A  eine  älinliche  Entstehung  wie  Mc,  R,  B 
anweisen  soll. 

Von  den  Gelehrten  Deutsclüands  hat  sich  am  meisten  um  das 
vorliegende  Buch  Professor  Oskar  Paul  in  Leipzig,  der  bewährte 


Lxvm 


Vorwort  zu  Aristoxenus. 


Freund  seit  dem  Jahre  1866,  verdient  gemacht  Ohne  seine  freund- 
liche Vermittelung  bei  der  Firma  Ambr.  Abel,  die  er  mir  nach 
Moskau  hin  zu  Theil  werden  Hess,  würde  das  Buch  noch  ungedruckt 
sein:  es  machte  seit  einer  Reihe  von  Jahren  schon  die  verschie- 
densten Anstrengungen  aus  der  Handschrift  in  den  Satz  zu  gelangen : 
immer  vergebüch,  bis  endlich  durch  Freund  Paul  die  beiden  Chefs 
der  AbeFschen  Buchhandlung  sich  in  wahrhaft  uneigennütziger  Weise 
bereit  finden  Hessen,  dem  Aristoxenus  ein  Opfer  zu  bringen.  Mögen 
sie  das  Opfer  nicht  zu  bereuen  haben! 

Ausserdem  habe  ich  Herrn  Professor  Paul  auch  den  Nachweis 
der  lateinischen  Version  zu  danken,  welche  Antonius  Gogavinus 
1542  von  der  Aristoxenischen  Harmonik  nach  einer  verlorenen 
Handschrift  im  Drucke  hat  erscheinen  lassen.  Diese  Uebersetzung, 
welche  Marquard  „bisher  nirgends  hatte  auftreiben"  können,  war,  wie 
ich  durch  Paul  belehrt  wurde,  auf  der  Leipziger  Rathsbibliothek 
vorhanden. 

Noch  viel  höher  habe  ich  es  anzuschlagen,  dass  ich  durch  den 
freundschaftUchen  Verkehr  mit  Oskar  Paul  verhindert  wurde,  das 
grosse  Fragment  zu  übersehen,  welches  aus  der  dem  Prooimion  fol- 
genden Ausführung  der  siebentheiligen  Aristoxenischen  Harmonik 
bei  Boetius  erhalten  ist.  Es  ist  für  den  Zusammenhang  der  Aristo- 
xenischen Litteratur  von  grosser  Wichtigkeit.  Denn  in  demjenigen, 
was  uns  handschriftlich  als  Aristoxenisehe  Harmonik  überüefert  ist, 
findet  sich  zwar  eine  ideelle  Theilung  des  Ganztones  in  Ogdoemoria 
und  Dodekatemoria,  in  Achtel  und  Zwölftel  des  Ganztones.  Aristides 
aber  redet  von  einer  ideellen  Theilung  in  Vierundzwanzigstel  des 
Ganztones,  in  Sechszigstel  des  Quarten-Intervalles.  Durch  Boetius 
wird  in  Uebereinstimmung  mit  Ptolemäus  und  Porphyrius  diese  Ein- 
teilung dem  Aristoxenus  zugeschrieben,  und  zwar  in  einer  viel 
eingehenderen  Darstellung  als  bei  Ptolemäus  und  Porphyrius.  In 
dem  Aristoxenischen  Fragmente  bei  Boetius  erscheint  auch  der  Ter- 
minus technicus  „apyknos",  welcher  ebenfalls  bei  den  späteren  Musikern 
gebräuchlicli  ist.  In  der  ersten  und  der  zweiten  Harmonik  (der  achtzehn- 
theiligen) findet  sich  nicht  die  leiseste  Spur  von  der  Eintheilung  in 
Vierundzwanzigstel,  dem  Terminus  „apyknon"  begegnen  wir  ein  ein- 
ziges Mal  im  Abschn.  XU  der  ersten  Harmonik  (im  1.  Problem): 
es  ist  das  in  einer  Stelle,  von  der  ich  S.  266  sagen  musste,  sie  sei 


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Vorwort  zu  Aristoxenus. 


LXIX 


nicht  eine  genuine  Aristoxenische  Partie,  sondern  eine  bewusste  Ver- 
kürzung und  Umänderung  von  Seiten  dessen,  welcher  den  Stammcodex 
der  auf  uns  gekommenen  Handschriften  angefertigt  habe. 

Ich  muss  dies  folgendermaassen  auffassen :  da  Aristoxenus  in  den 
achtzehnt  heiligen  Darstellungen  der  Harmonik  lediglich  nach  enhar- 
monischen  Diesen  rechnet,  so  können  Boetius,  Ptolemäus,  Porphy- 
rius  die  ihnen  vorliegende  Aristoxenische  Rechnung  nach  Vierund- 
zwanzigsteln des  Ganztones  nur  aus  der  siebentheiligen  Harmonik, 
und  zwar  aus  dem  ersten  die  Gene  behandelnden  Meros  entlehnt 
haben. 

In  der  vortrefflichen  Schrift  „Die  Harmonik  des  Aristoxe- 
nianers  Kleonides  vom  Oberlehrer  Dr.  Karl  von  Jan",  durch  welche 
der  geehrte  Verfasser  zum  ersten  Male  eine  genaue  Einsicht  in  das 
gegenseitige  Verhältniss  der  späteren  Aristoxenianer  anbahnt,  sagt  der 
Verfasser:  „Die  kleineren  Intervalle  misst  Aristoxenus  nach  Zwölftel- 
tönen. Doch  lasst  sich  das  Intervall  im  Chroma  hemiolion  nicht 
auf  eine  ganze  Zahl  von  Zwölfteln  reduciren,  und  es  scheint  dämm 
ganz  richtig,  wenn  Aristides  20,  22  und  Porphyr.  311  den  ganzen 
Ton  in  24  Theile  zerlegt." 

Bis  einschliesslich  des  Beispieles  vom  Chroma  hemiolion  kommt 
die  Ausführung  des  Herrn  Karl  von  Jan  schon  bei  Boetius  vor.  Aus 
diesem  erfahren  wir  zugleich,  dass  nicht  zuerst  Aristides,  sondern 
Aristoxenus  den  Ganzton  in  24  Theile  zerlegt  hat. 

Von  den  Ausdrücken  „apyknos,  barypyknos,  mesopyknos, 
oxypyknos"  heisst  es  in  demselben  Programme:  „Es  ist  leicht 
möglich,  dass  diese  Terminologie  von  Kleonides  eingeführt  ist." 
In  der  vorliegenden  Aristoxenus- Ausgabe  S.  468  sagte  ich:  „Dem 
Aristides  und  Genossen"  sind  die  kürzeren  Termini  durchweg  ge- 
läufig, mithin  müssen  wir  dieselbe  für  eine  von  Aristoxenus  erst 
in  der  siebentheiligen  Harmonik  aufgebrachte  Terminologie  erklären. 
Der  ganze  Zusammenhang  meiner  Darstellung  der  siebentheiligen 
Harmonik  wird  die  Bedeutung  des  sonst  freilich  viel  zu  braehyo- 
logischen  „mithin"  nicht  unklar  lassen.  Der  ebenfalls  nur  der  Kürze 
wegen  gebrauchte  Ausdruck  „Aristides  und  Genossen",  den  dasselbe 
Programm  von  meiner  früher  1868.  1867  herausgegebenen  griech. 
Harmonik  her  mit  vollem  Rechte  getadelt  hat,  soll  wie  aus  dem 
neuen  Buche  ersichtlich  ist,  nichts  als  die  kürzeste  Bezeichnung 


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LXX 


Vorwort  zu  Aristoxenus. 


derjenigen  grioch.  Musiker  der  Kaiserzeit  sein,  welche,  wenn  auch 
nur  sporadisch,  Aristoxenisches  enthalten.  Eine  gemeinsame  Kate- 
gorie hilden  die  Genossen  des  Aristides  insofern,  als  sie  auf  die 
siebentheilige  Harmonik  die  Aristoxenus  zurückgehen,  vgl.  S.  444. 445. 
In  Moskau  konnte  ich  das  gegen  mich  gerichtete,  aber  für  mich  so 
ausserordentlich  lehrreiche  Programm  Karl  von  Jan's  tur  die  Ausar- 
beitung meines  Buches  noch  nicht  benutzen:  sonst  würde  ich  nrich,  um 
jene  Kategorie  der  Musiker  zu  bezeichnen,  eines  behutsameren  Aus- 
drucks bedient  haben.  Dass  Aristides  ein  Auszug  aus  Aristoxenus 
sei  oder  auch  nur  vorzugsweise  die  Aristoxenische  Doctrin  vortrage, 
ist  ja  schon  lange  nicht  mehr  meine  Ansicht  und  wohl  auch  im 
Jahre  1863  nicht  gewesen.  Dass  den  verschiedenen  Quellen  dieser 
späteren  Musiker  sorgfältig  nachzuspüren  ist,  und  dass,  so  lange 
dies  nicht  geschehen,  auch  die  Aristoxenus  -  Frage  nicht  endgültig 
entschieden  werden  kann,  dies  ist  auch  meine  feste  Ueberzeugung. 
Die  Untersuchung  nach  den  Quellen  jener  Musiker  kann  aber  nur  auf 
dem  Wege  gefuhrt  werden,  welchen  von  Jan  in  seiner  mustergül- 
tigen Arbeit  über  Kleonides  eingeschlagen  hat.  Dem  Gange  meiner 
Studien  musste  es  angemessener  sein,  zuerst  die  Frage  nach  der 
Aechtheit  der  harmonischen  Bücher  des  Aristoxenus  einer  strengen 
Prüfung  aus  dem  Zusammenhange  dieser  Fragmente  zu  unterwerfen; 
bezüglich  des  Zusammenhanges  zwischen  Aristoxenus  und  den 
Aristoxenianern,  deren  jeder  mehr  oder  weniger  auch  fremde 
Elemente  neben  Aristoxenus  aufgenommen  hat,  bin  ich  zunächst  der 
Ansicht,  dass  diese  Mischung  von  Aristoxenischem  und  Fremden 
schon  in  einer  gemeiusamen  Quelle  vorgenommen  war  (der  Arbeit  eines 
Aristoxenianers),  welche  unseren  Musikern  der  Kaiserzeit  zu  Grunde 
liegt.  Der  griechische  Text  des  Aristoxenus,  welcher  in  demselben 
Verlage  des  Herrn  Ambr.  Abel  unter  dem  Titel  erscheinen  wird: 
Aristoxeni  Tarentini  de  re  musica  quae  supersunt  ad  fidem  co- 
dieum  msc.  cum  aliorum  tum  Argentoratensis  et  Parisiensium 
collatorum  per  C.  Ae.  Ruelle  (lenofevensem  bibliothecarium 
composuit  ac  recensuit  R.  Westphal, 
stellt  die  Parallel -Stellen  zu  den  Aristoxenischen  Harmoniken  zu- 
sammen und  giebt  im  kritischen  Commentare  einige  eingehende, 
wenn  auch  keineswegs  abschliessende  Erörterungen  über  das  Ver- 
hältniss  zwischen  Aristoxenus  und  den  Aristoxenianern.    Ich  hoffe 


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Vorwort  zu  Aristoxenus.  LXXI 

dass  Herr  von  Jan  mit  jenen  Erörterungen  sich  mehr  in  Ueberein- 
stimmung  befinden  wird  als  mit  meiner  griechischen  Harmonik  der 
Jahre  1863.  1867. 

Eben  daselbst  werden  sich  auch  aus  Gevaerts  grossem  Werke 
(vgl.  S.  432)  die  Ergebnisse  für  den  Aristoxenischen  Text  verwerthet 
finden,  was  für  die  vorliegende  deutsche  Uebersetzung  und  Erklä- 
rung nicht  mehr  möglich  war;  nicht  minder  auch  die  neue  Ausgabe 
des  Aristides  von  Albert  Jahn. 

Indem  ich  nochmals  dem  Freunde  Oskar  Paul  für  das  Ari- 
stoxenische  Fragment  aus  Boetius  meinen  Dank  sage,  muss  ich 
auch  noch  Herrn  Professor  Heinrich  Bellermann  in  Berlin  meinen 
Dank  aussprechen.  Derselbe  hatte  die  grosse  Freundlichkeit,  an 
die  Firma  Ambr.  Abel  für  meinen  Gebrauch  ein  Exemplar  der  Mei- 
bomschen  Musiker  aus  dem  Nachlasse  seines  Vaters  Friedrich  Beller- 
niann,  in  welchem  dieser  zum  Aristoxenus-Texte  Meiboms  die  Va- 
rianten der  beiden  auf  der  Leipziger  Rathsbibliothek  aufbewahrten 
Aristoxenus-Handsehriftcn  eingetragen  hatte,  zu  übersenden. 

Meinem  alten  Marburger  Studiengenosse  aus  dem  Jahre  1849 
Herrn  Dr.  Berkenbusch,  gegenwärtig  Oberlehrer  der  Mathematik  am 
Gymnasium  zu  Bückeburg,  habe  ich  für  die  Gefälligkeit  zu  danken, 
dass  er  auf  meine  Bitte  die  von  Aristoxenus  gegebenen  Grössen- 
Bestimmungen  der  Intervalle  in  Logarithmen- Ausdrücke  umgeformt 
und  hierdurch  eine  genaue  Vergleichung  der  Aristoxenischen  Zählen- 
angaben mit  denen  des  Archytas,  Eratosthenes,  Pidyinus,  Ptolemäus 
ermöglicht  hat. 

Der  Freundlichkeit  des  Herrn  Professor  Moritz  Schmidt  in 
Jena,  der  ich  schon  so  vieles  zu  danken  hatte,  verdanke  ich  auch 
eine  handschriftliche  deutsche  Uebersetzung,  die  derselbe  von  der 
Rhythmik  des  Aristoxenus  in  dem  Ende  der  sechziger  Jahre  gemacht 
hatte.    Sie  war  mir  von  grosser  Wichtigkeit. 

Wie  hätte  ich  in  den  letzten  Jahren  ohne  B.  Sokolowsky's  uner- 
müdete,  fast  überwachende  Theilnahme,  welche  thatsächlich  eine 
Mitarbeiterschaft  am  Aristoxenus  war,  die  Arbeit  zu  Ende  bringen 
sollen,  für  die  sich  je  näher  sie  dem  Schluss  zuging  um  so  mehr  neue 
Gesichtspunkte  einstellten:  die  Chronoi  podikoi  und  die  Chronoi 
Rhythmopoiias  idioi,  —  die  Aristoxenische  Lelire  von  der  stets  die 


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LXXII 


Vorwort  zu  Aristoxenus. 


Hälfte  der  Länge  betragenden  Kürze  nach  der  Art  des  Bach'schen 
D-Dur-Präludiums  im  zweiten  Theile  des  Wohlt.  Clav.,  —  die  Unter- 
scheidung von  praktisch  beim  Taktiren  ausgeführten  und  bloss  theo- 
retischen Takten,  —  dann  aus  der  Aristoxenischen  Harmonik  die  Ver- 
schiebung eines  Blattes  der  handschriftlichen  Ueberlieferung,  —  die 
Aristoxenische  Sonderung  von  Eingangs -Abschnitten  (ap/at)  und 
Stoicheia.  So  Gott  will,  werde  ich  keine  der  für  die  Aristoxenischen 
Schriften  sich  aufdrängenden  Fragen  unbeachtet  gelassen  haben. 

Sollte  dies  geschehen  sein  oder  trotz  aller  meiner  Vorsicht  ein 
Versehen  stattgefunden  haben,  so  wird  der  rücksichtsvolle  Beur- 
theiler  in  der  Schwierigkeit  des  Unternehmens  eine  freundliche  Ent- 
schuldigung finden.  Denn  trotz  der  langen  dreissigjährigeu  Arbeits- 
zeit, welche  ich  auf  Aristoxenus  verwenden  durfte  (das  letzte  Drittel 
derselben  konnte  ich  Dank  meinem  Aufenthalt  in  Russland  fast  aus- 
schliesslich ihm  widmen),  war  doch  die  zweifache  Aufgabe  schwer 
genug  zu  lösen.  Erstens  die  Wiederherstellung  der  Aristoxenischen 
Rhythmik,  von  der  der  grosse  Gottfried  Herrmann  sagte:  sie  sei 
nicht  anders  als  durch  eine  glückliche  Auffindung  der  vollständigen 
Aristoxenischen  Schrift  zu  ermöglichen,  wenigstens  eine  Wiederher- 
stellung bis  zu  dem  Grade,  dass  sie  nicht  nur  die  Versification  der 
griechischen  Dichter  zur  zweifellosen  Klarheit  bringt,  sondern  auch 
für  die  musikalische  Rhythmik  der  christlich  modernen  Meister 
die  unverrückbaren  Normen  erschliesst. 

Zweitens:  Aus  den  Trümmern  der  harmonischen  Literatur 
des  Aristoxenus,  in  welchen  der  letzte  Herausgeber  nichts  als  einen 
wüsten  Byzantinischen  Schutthaufen  erblicken  zu  dürfen  venneinte, 
die  Fundamente  von  drei  Aristoxenischen  Bauwerken  wieder  auf- 
zufinden und  in  soweit  herzustellen,  dass  nicht  bloss  Alles,  was  uns 
indirekt  aus  Aristoxenus  überkommen  ist,  in  diesen  drei  Gebäuden 
seinen  richtigen  Platz  findet,  sondern  dass  wir  an  dem,  was  uns  von 
genuinen  Werken  des  Aristoxenus  verblieben  ist,  ebenso  sehr  unsere 
volle  Freude  zu  haben  im  Stande  sind,  wie  an  anderen  Denkmälern 
des  griechischen  Alterthumes. 

Moskau  und  Leipzig  1882. 

R.  Westphal. 


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Inhalts  -  Verzeichniss. 


ARISTOXENUS  THEORIE  DES  RHYTHMUS. 

Seite 


Alis  dem  ersten  Buche  der  rhythmischen  Elemente   3 

Aus  dem  zweiten  Buche  der  rhythmischen  Elemente    5 

I.      Zeitgrösaen  des  Rhythmus  und  des  Rhyfhmizomenon   5 

II,  1.  Taktlehre  im  Allgemeinen   20 

II,  2.  Taktiirten  und  Taktgrössen   35 

II,  3.  Diaircsis  der  Takte   78 

II,  4.  Die  Taktunterschiede  nach  dem  Schema   113 

II,  5.  Irrationale  Takte   151 

II,  6.  Einfache  und  zusammengesetzte  Takte   157 

II,  7.  Antithesis  der  TakttheUe   157 

III.  Tempo   159 

IV.  Rhythmenwechscl   160 

V.      Rhythmopoeie   161 

ARISTOXENUS  THEORIE  DES  MELOS. 

Die  drei  Schriften  über  das  Melos    165 

Die  verschiedenen  Darstellungen  der  Harmoniker  als  Aristoxe- 

nische  Vorlesungen   173 

Lücke  und  verlegtes  Blatt  in  der  handschriftlichen  Ueberlieferung. 

Die  Citate  „ta  iv  dtoyij"  und  „arotyeia"   179 

A.  Erste  Harmonik  des  Aristoxenus. 

Die  Verdächtigung  des  Buches  als  eines  Byzantinischen  Falsifikates  18t) 
Die  angebliche  Entstehung  des  Prooimion  aus  der  Conglutination 

zweier  Aristoxcnischer  Schriften   195 

Zusammenhang  der  ersten  Harmonik  des  Aristoxenus  mit  andern 

Schriften  desselben   197 

a.  Erster  naupttheil:  Eingangs-Abschnitte. 

Prooimion    203 

I.  Die  topische  Bewegung  der  Stimme,  Singen  und  Sagen     .    .    .  219 

II.  Aufsteigen,  Absteigen,  Höhe,  Tiefe,  Tonstufe   227 

III.  Ist  die  grösste  und  kleinste  Entfernung  zwischen  Hohem  und 

Tiefem  eine  unbegrenzte  oder  eine  begrenzte?   230 

IV.  Definition  von  Ton,  Intervall,  System;  vorläufige  Eintheilung  der 

Intervalle  und  Systeme   233 


LXXIV  Inhalte- Verzeiehniss. 

V.  Das  musikalische  Melos  im  Allgemeinen   239 

VI.  Die  drei  Arten  des  musikalischen  Melos  (die  drei  Tongcschlcchter)  241 

VII.  Die  symphonischen  Intervalle   242 

VIII.  Dpr  (rRn7.ton  und  seine  Theile   245 

IX.  Die  Unterschiede  der  Tongeachlechter   246 

X.  Die  Intervallen-Folge  auf  der  Scala  im  Allgemeinen   263 


b.  Zweiter  Haupttheil:  Harmonische  Stoicheia. 

XI.  Die  unzusammengesetzten  Intervalle  266 

XII.  Die  eminclischen  Zusammensetzungen  der  einfachen  Intervalle    .  2»>6 


Ii.  Zweite  Harmonik  des  Aristoxenus. 

a.  Erster  Haupttheil:  Eingangsabschnitte. 

VI.  Die  drei  Arten  des  musikalischen  Melos   273 

VII.  Die  symphonischen  Intervalle   273 

VIII.  Der  Ganzton  und  seine  Theile   275 

XI.  Der  Unterschied  der  Tongeschlechter   275 

X.  Ueber  die  emmelische  Intervallcnfolge  auf  der  Scala  im  AUgem.  284 

b.  Zweiter  Haupttheil:  Harmonische  Stoichcia. 

XI.  Die  unzuBammengcsctzten  Intervalle   285 

XII.  Die  cmmelischen  Zusammensetzungen  der  einfachen  Intervalle   .  29s 

XIII.  Die  Systeme    345 

XIV.  Die  gemischten  und  ungemischten  Tongeachlechter   :tS  1 

XV.  Die  Scala-Klange   414 

XVI.  Die  verschi»  denen  Stimm-Klassen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  41 

XVII.  Die  Transposition.s-Sealcn  .     42<> 

XVIII.  Die  Metabole   431 

Naeh.sclirift  zur  /weiten  Harmonik:   Abschn.  XIII.  XIV. 

C.  Siebentheilige  Harmonik  des  Aristoxenus. 

Prooimion  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  .  ,  ,  iM 

1.  Die  drei  Klanggeschleehter   464 


ARISTOXFAKS  SYMPOSION  ODER  VRRM1SOHTK 

TISCHREDEN. 

I.  Gegensatz  der  alten  und  neuen  Musik  473 

n.  Bewusflte  Einfarhheit  der  alten  Meister  .  .  .  .  ,  .  .  .  .  .  475 

ITT.  Die  Entmrmonik  478 

IV.  Krlangung  des  musikalischen  Kunsturthejlg  4SI 

V.  Khythmische  Neuerungen  der  archaischen  Zeit  4SI 

VI.  Ueber  die  rhythmische  Primärzeit   485 

Die  harmonischen  Grundsätze  der  Melodie-Begleitung  nach  Aristo- 
teles und  Aristoxenus  ä  :  s  s  ,  ,  ,  ,  t  s  s  :  .  487 


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•  * 

ARISTOXENUS 

THEORIE  DES  RHYTHMUS. 


Arlatoxenut,  MoHk  u.  Bhythmlk. 


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RHYTHMISCHE  ELEMENTE. 

Wir  müssen,  was  uns  von  dieser  werthvollsten  Schrift  der  gesammten 
Aristoxenisehen  Litteratur  geblieben  ist,  einem  der  werthvollsten  und  edelsten 
Kleinode  der  antiken  Prosa- Litteratur  überhaupt,  aus  dem  in  den  Handschriften 
der  Musiker  erhaltenen  Bruchstücke  derselben,  ferner  aus  den  wörtlichen  Excerp- 
ten,  welche  aus  ihr  der  Byzantiner  Michael  Pscllus  zu  seinen  Prolegomena  der 
rhythmischen  Doctrin,  verkürzend  und  mit  principloser  Umstellung  der  Aristo- 
xenischen  Sätze,  zusammengestellt  hat,  und  endlich  aus  einem  Citate,  welches 
die  harmonischen  Elemente  des  Aristoxenus  aus  den  rhythmischen  anführen, 
wieder  zusammensetzen.  Manches  aus  den  rhythmischen  Elementen  des  Aristo- 
xenus ist  mittelbar  (aus  der  Schrift  eines  umarbeitenden  Aristoxeneers)  in  das 
Werk  über  die  Musik  von  Aristides  Quintiiianus  und  in  die  von  Vincent  ver- 
öffentlichten Pariser  Fragmente  übergegangen.  Einige*  kennen  wir  auch  aus 
der  von  Porphyrius  ad  Ptolem.  eitirten  Schrift  des  unter  Hadrian  lebenden 
Musiker  Dionysius  von  Halikarnas  rtepi  irxotor^Toav  „über  Analogieeu  in  der 
Musik." 

Soviel  auch  von  der  Rhythmik  des  Aristoxenus  verloren  gegangen  ist,  den 
die  Taktlehre  behandelnden  Abschnitt,  für  uns  den  wichtigsten  des  ganzen 
Werkes,  können  wir  mit  annähernder  Sicherheit  wieder  herstellen. 


AUS  DEM  ERSTEN  BUCHE  DER  RHYTHMISCHEN  ELEMENTE. 

Auch  ohne  die  Mittheilung  Donis  (vgl.  oben  p.  XIV),  dass  zu  seiner  Zeit 
der  Cod.  Vaticanus  von  den  oroi/ei«  ^iD^ixa  noch  drei  Bücher  enthalten  habe, 
würden  wir  wissen,  dass  das  jetzt  darin  enthaltene  nicht  der  Anfang  der 
Schrift  sein  kann,  sondern  der  Anfang  etwa  nur  des  zweiten  Buches.  Aus  §  1. 
2.  (J.  7.  desselben  geht  hervor,  dass  eine  Darstellung  über  den  Rhythmus  im 
Allgemeinen  als  erstes  Buch  vorausgegangen  sein  muss.  Aus  den  Aristo- 
xenischen  Excerpten  bei  Psellus  lässt  sich  mit  Sicherheit  dem  ersten  Buche 
zuweisen: 


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4 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


Psell.  Frg.  6. 

Von  den  Rhythmizomena  ist  ein  jedes  ein  derartiges,  dass  es 
weder  continuirlich  in  Bewegung,  noch  continuirlich  in  Stätigkeit 
ist,  sondern  das  eine  und  das  andere  abwechselnd. 

Der  Stätigkeit  gehört  das  orchestische  Schema,  der  Ton  und 
die  Sylbe  der  melischen  Poesie  an,  denn  nichts  von  diesen  dreien 
kann  wahrgenommen  werden,  ohne  dass  eine  Stätigkeit  vorhanden  wäre. 

Der  Bewegung  dagegen  gehört  der  Uebergang  von  einem 
orchestischen  Schema  zum  anderen,  von  einem  Tone  zum  anderen, 
von  einer  Sylbe  zur  anderen  an. 

Die  von  dem  Stätigen  ausgefüllten  Zeiten  sind  die  wahrnehm- 
baren, die  von  der  Bewegung  ausgefüllten  die  nicht  wahrnehm- 
baren Zeiten:  nicht  wahrnehmbar  wegen  ihrer  Kleinheit,  indem  sie 
die  Grenzen  der  von  den  stätigen  Elementen  ausgefüllten  Zeiten  sind. 

Zu  beachten  ist  auch  dies,  dass  jedes  der  rhythmischen  Systeme 
nicht  in  gleichartiger  Weise  aus  den  der  Quantität  nach  wahrnehm- 
baren und  nicht  wahrnehmbaren  Zeiten  zusammengesetzt  ist.  Viel- 
mehr bilden  die  der  Quantität  nach  wahrnehmbaren  Zeiten  die  Be- 
standteile des  Systemes,  die  quantitativ  nicht  wahrnehmbaren 
bilden  die  Grenzen  der  quantitativ  wahrnehmbaren. 

Von  den  drei  Rhythmizomena  ist  zwar  auch  im  Anfange  des  zweiten  Buches 
die  Rede,  §  3—9,  jedoch  in  einer  Weise,  welche  deutlich  zeigt,  dass  auch  schon 
„h  rote  £|XTCposd£v",  d.  h.  im  ersten  Buche  davon  gehandelt  sein  muss.  Ohne- 
hin ersehen  wir  aus  der  kurzen  Kecapitulation  des  im  ersten  Buche  gesagten , 
dass  „£v  toi;  Ifirpoaftev  eipT((i.£vov,  xl  aurwv  Ixdorrj  uroxetxai",  was  das  Substrat 
einer  jeden  der  Arten  des  Rhythmus  sei,  d.  i.  die  drei  Rhythmizomena. 

Aus  dem  Frg.  6  Psell.  ergiebt  sich,  dass  Aristoxenus  die  Pause  als  Stell- 
vertreter der  Töne  und  der  Sylben  zu  den  integrirenden  Bestandteilen  des 
Rhythmus  rechnet;  denn  blosse  netapaseic  von  einem  Tone  zu  einem  anderen 
Tone,  von  einer  Sylbe  zur  andern  Sylbe  sind  die  Pausen  nicht,  da  die  \itta- 
£<iott;  als  dfyvuxrtot  6id  OfAixpiTT^a  ypo\oi  definirt  werden.  Wo  in  der  Musik 
keine  die  \ti^rt  t&v  j>jöjjuCouiMu*<  vertretenden  Pausen,  sondern  blosse  fxtTsßdait; 
vorkommen,  z.  B.  zwischen  Anakrusis  und  dem  folgenden  schweren  Takttheile, 
u.  s.  w.,  da  sind  das  unendlich  kleine  Grenzen  und  dürfen  daher  nicht  als 
yp<5voi  T^jotfioi  gehört  werden. 

Auch  Psell.  Frg.  1  kann  aus  dem  ersten  Buche  entlehnt  sein.  Da  aber 
dieses  von  der  Sylbendauer  handelnde  Fragment  uns  die  nicht  überlieferte 
Aristoxenische  Darstellung  des  Taktschema  reconstruiren  helfen  muss,  so  be- 
handeln wir  dasselbe  weiter  unten  im  Zusammenhange  der  Taktlehre. 


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I.  Zeitgrössen  des  Rhythmus  und  des  Rhythmizomenon.  5 


ZWEITES  BÜCH  DER  EHYTHMISCJIEN  ELEMENTE. 


L 

ZEITGROESSEN  DES  RHYTHMUS  UND  DES  RHYTHMIZOMENON. 

Büokbliok  auf  das  erste  Buch. 

§  1.  Dass  es  mehrere  Arten  des  Rhythmus  giebt,  ferner  die 
Merkmale  eines  jeden.,  sowie  die  Gründe,  wesshalb  man  sie  zusam- 
men unter  demselben  Namen  begreift,  endlich  die  Substrate  eines 
jeden,  das  alles  ist  im  Vorausgehenden  behandelt  worden.  Nunmehr 
haben  wir  ausschliesslich  über  den  Rhythmus  zu  reden,  welcher  in 
der  Musik  seine  Stelle  hat. 

Aus  dem  ersten  Buche  der  Aristoxeniachen  Rhythmik,  auf  welehes  hier 
recurrirt  wird,  ist  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  entlehnt,  was  Aristides  Quin- 
tilian  über  die  Musik  I.  p.  31  Meib.  bezüglich  des  Rhythmus  im  Allgemeinen 
berichtet:  „Rhythmus  wird  in  einer  dreifachen  Bedeutung  gebraucht: 

1.  im  übertragenen  Sinne  bei  unbewegten  Körpern,  wenn  wir 
z.  B.  von  einer  eurhythmischen  Statue  reden; 

2.  bei  allen  in  einer  Bewegung  zur  Erscheinung  kommenden, 
z.  B.  wenn  wir  sagen,  dass  Jemand  eurhythmisch  gehe; 

3.  im  engsten  Sinne  bei  der  Stimme  (der  Singstimme  wie  der 
Instrumentalstimme),  und  hiervon  zu  reden,  das  ist  jetzt  unsere 
Aufgabe.44 

Vom  Rhythmus  in  der  ersten  und  zweiten  Bedeutung  muss  Aristoxenus  in 
seinem  ersten  Buche  gehandelt  haben;  den  Rhythmus  in  der  dritten  Bedeutung 
soll  das  zweite  Buch  erörtern  („vuv  V  tjiAtv  ^epl  «ito-;  Xext*ov  toO  is  poustx^ 
xartofiivou  ^■■»ÖjaoO"). 

Vgl.  meine  Elemente  des  musikalischen  Rhythmus  1872,  §  1.  „Ist  eine 
unserem  Sinne  wahrnehmbare  Bewegung  eine  derartige,  dass  die  Zeit,  welche 
von  derselben  ausgefüllt  wird,  nach  irgend  einer  bestimmten  erkennbaren  Ord- 
nung sich  in  einzelne  kleinere  Abschnitte  zerlegt,  so  nennen  wir  das  einen 
Rhythmus.  Es  rührt  diese  Definition  des  Rhythmus  von  dein  griechischen 
Musiker  Aristoxenus  her  und  ist  trotz  ihrer  Anspruchslosigkeit  allen  dem- 
jenigen vorzuziehen,  was  moderne  Kunsttheoretiker  und  Aesthetiker  als  allge- 
meine Erklärung  des  Begriffes  Rhythmus  aufgestellt  haben. 

„Von  den  in  der  Natur  wahrnelunbaren  Bewegungen"  (zu  der  ersten 
Kategorie  des  Aristoxenus  gehörend)  „werden  wir  z.  B.  die  des  Sturmwindes, 
die  des  rauschenden  Wassers  nicht  eine  rhythmische  Bewegung  nennen 
können :  denn  wenn  bei  diesen  Bewegungen  sich  auch  gewisse  Abschnitte  oder 
wenn  wir  wollen  Einschnitte  bemerken  lassen,  so  sind  doch  diese  nicht  der 


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6 


Ariistoxenus  rhythmische  Element«  §  1. 


Art,  dasB  sie  das  Gefühl  einer  geordneten  Bewegung  in  uns  erwecken.  Da- 
gegen wird  die  Bewegung  des  Tropfenfalles  eine  rhythmische  heissen  dürfen: 
denn  die  dadurch  ausgefüllte  Zeit  wird  bei  den  Intervallen  der  aufeinander 
folgenden  Tropfen  in  nahezu  gleichmässige  Abschnitte  zertheilt  Ebenso  wird 
die  Bewegung  des  schwingenden  Pendels,  des  Pulsschlages  (x(vt)ou  twv  <iptrr 
ptfi>v  Aristid.  de  mus.  II.  p.  98  Meib.)  aus  demselben  Grunde  eine  rhythmische 
sein.  (Cicero  de  orat.  3  §  186  sagt  vom  Rhythmus:  „In  cadentibus  guttis 
quod  intervallis  distinguuntur,  notare  possumus,  in  amni  praecipitanti  non 
possumus"  „Beim  Tropfenfalle,  weil  sich  hier  die  Zwischenräume  unterscheiden 
lassen,  können  wir  den  Rhythmus  bemerken,  bei  dem  Rauschen  des  Stromes 
können  wir  es  nicht." 

„Es  ist  für  den  Rhythmus  wesentlich,  dass  die  aufeinander  folgenden  Grenz- 
scheiden der  einzelnen  Zeitabschnitte  nicht  so  weit  auseinander  liegen,  üass 
wir  nicht  anders  als  vermöge  -einer  gewissen  Reflexion  ihrer  Zusammengehörig- 
keit uns  bewusst  werden.  Die  Zeit  des  Tages  zerfällt  durch  die  hörbaren 
Glockenschläge  der  Thurmuhr  in  geordnete  Abschnitte  von  gleicher  Zeitdauer, 
aber  es  ist  uns  unmöglich,  ein  unmittelbares  Bewusstsein  von  der  Gleichheit 
dieser  Zeittheile  durch  unser  die  einzelnen  Stundenangaben  vernehmendes  Ohr 
zu  erhalten.  Noch  weniger  werden  wir  die  gleichmässige  Eintheilung  in  Tage 
und  Nächte,  so  empfindlich  dieselbe  sich  auch  unseren  Sinnen  aufdrängt,  eine 
rhythmische  nennen  können." 

„Die  Sinne,  welche  zur  Wahrnehmung  des  in  der  Natur  vorhandenen 
Rhythmus  dienen,  sind  der  Gesichts-,  der  Gehör-  und  der  Tastsinn. 

Der  Tastsinn  vermittelt  uns  die  Gleichmässigkeit  des  Pulsschlages. 

Das  Gehör  die  Gleichmässigkeit  des  Tropfenfalles. 

Ohr  und  Auge  zusammen  die  rhythmische  Bewegung  des  Pendels. 

Es  sind  dieselben  Sinne,  durch  welche  überhaupt  eine  Bewegung  sich  ver- 
nehmen lässt  —  sie  sind  es  auch,  durch  welche  uns  der  Begriff  des  Geordne- 
ten und  Gesetzmässigen ,  des  Maasses  vermittelt  wird  und  die  deshalb  in  der 
modernen  Physiologie  als  die  messenden  Sinne  vor  den  übrigen  ausgezeich- 
net werden." 

Der  Rhythmus  der  Musik  wird  uns  nur  durch  zwei  der  messenden  Sinne, 
das  Gesicht  und  das  Gehör  vermittelt. 

Schon  Aristoxenus  scheint  in  seinem  ersten  Buche  diese  Vermittelung  des 
Rhythmus  durch  die  drei  messenden  Sinne  besprochen  zu  haben,  wenn  anders, 
wie  es  doch  mehr  als  wahrscheinlich  ist,  aus  Aristoxenus  geschöpft  ist  was 
Aristides  Quintilian  an  derselben  Stelle  überliefert: 

„Jeder  Rhythmus  (der  Rhythmus  in  der  zweiten  und  der  dritten  der  vor- 
her angegebenen  Bedeutungen)  wird  durch  diese  drei  Sinne  erfasst: 

den  Gesichtssinn  bei  der  Orchestik, 

den  Gehörsinn  beim  Melos, 

den  Tastsinn  bei  den  Schlägen  der  Adern. 

Der  Rhythmus  der  Musik  aber  wird  durch  zwei  Sinne  vermittelt,  den  Ge- 


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> 

I.  Zeitgrössen  des  Rhythmus  und  des  Rhythmizomenon. 


7 


sichtssinn  und  den  Gehörsinn  (durch  das  Auge  die  Orchestik,  durch  das  Ohr 
das  Meioe  und  die  Poesie)".  Musik  wird  hier  also  in  einem  weiteren  Sinne  als 
gewöhnlich  bei  uns  gebraucht,  es  wird  ausser  Tonkunst,  der  Musik  im  engeren 
Sinne,  auch  die  Dichtkunst  und  die  Tanzkunst  darunter  begriffen,  die  drei 
musischen  Künste  der  Griechen,  die  den  drei  apotelestischen  Künsten:  Archi- 
tektur, Plastik  und  Malerei  entgegengesetzt  sind.  Griech.  Rhyth  und  Hann. 
1867  §  1. 

Aristides  fahrt  weiter  fort: 

Rhythmiairt  wird  in  der  Musik,  d.  i.  in  den  drei  musischen 
Künsten  die  orchestische  Körper-Bewegung,  das  Melos  und  der 
Worttext.  fDas  sind  die  drei  Rhythmizomena  Aristox.  Rh.  El. 
§  9).  Ein  jedes  Rhythmizomenon  kommt  entweder  für  sich  allein 
zur  Anschauung  oder  zugleich  mit  den  beiden  andern,  speziell 
mit  nur  einem  der  beiden  oder  mit  beiden  zugleich. 

Das  Melos  bloss  für  sich  allein  in  den  Tonleitern  und  rhyth- 
muslosen Melodien, 
bloss  mit  dem  Rhythmus  (aber  ohne  Worttext)  in  den  Instru- 
mentalsätzen und  Instrumental-Kola, 
bloss  mit  Worttext  (aber  ohne  Rhythmus)  in  den  sogenann- 
ten xcy  ufx£va»  aa^ata; 
der  Rhythmus  bloss  für  sich  allein  in  dem  blossenTanze  (ohne 
Musik  und. ohne  Text), 
der  Rhythmus  mit  dem  Melos  (aber  ohne  Worttext)  in  den 
Kola, 

der  Rhythmus  mit  blossem  Worttexte  in  den  Gedichten  mit 
fingirter  Action,  wie  denen  des  Sotades  und  ähnlichen. 
Wie  der  Worttext  mit  einem  jeden  von  beiden,  dem  Melos  und 
dem  Rhythmus  zur  Erscheinung  kommt,  ist  in  dem  vori- 
gen angegeben. 

Alle  drei  Rhythmizomena  vereint,  ergeben  die  vollständige 
Ode  (z.B.  die  Ode  Piudars,  bei  welcher  der  poetische  Text 
zugleich  gesungen  und  orchestisch  dargestellt  wird). 
Den  Worten  „xal  tI  aiträv  Ixdory  owSxeiTai"  §  1  zufolge  hat  Aristoxenus 
von  den  Rhythmizomena  auch  schon  Hb.  I  gesprochen.   Dass  die  Aristideische 
Darstellung  von  der  Combinirung  oder  Isolirung  der  drei  Rhythmizomena  schon 
bei  Aristoxenus  vorkam  und  daher  entlehnt  ist,  wird  um  so  mehr  wahrschein- 
lich als  auch  schon  die  Poetik  des  Aristoteles  mit  jener  „Combinirung  (fAefUY- 
fi£va>;)"  oder  „Isolirung  (^mpl;)"  der  Lexis  und  des  Melos  beginnt. 

Hiernach  (nach  Aristides  und  Aristoteles)  lassen  sich  für  die  musische 
Kunst  der  Alten  folgende  Kunstzweige  unterscheiden: 
A.  Ohne  Orchestik. 

1.  Yocal-Musik:  Gesungeue  Poesie  mit  Instrumentalbegleitung  ()i£ic  und 
ja4Xo;). 

2.  Recitations-Poesie:  (^tX-fj  ^(Aerpoc 


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8  Ariatoxenus  rhythmwehe  Elemente  §  2.  3.  4. 

3.  Instrumental-Musik:  (6tXV)  a&X7]ot«,  xiftctptaic). 

4.  Recitations-Poesie  mit  gleichzeitiger  Instrumentalmusik,  Melodram,  bei 
den  alten  Parakatologe  genannt:  Plutarch  de  mus  XVII,  Aristolet. 
problem  19,  6. 

5.  Blosser  Gesang  ohne  Instrumentalbegleitung  hatte  bei  den  Griechen 
wenigstens  als  ausgebildete  Kunstform  keine  Stelle. 

B.  Mit  Orchestik. 

1.  Chor-Gesang:  gesungene  Poesie  der  Choreuten  mit  Instrumentalbeglei- 
tung und  orchestischer  Bewegung,  die  „vollständige  Ode"  nach  Aristides. 

2.  Recitations-Poesie  mit  Orchestik  verbunden,  nach  Aristides  die  Gedichte 
des  Sotades.  Höchst  wahrscheinlich  wurden  sie  zur  Zeit  ihrer  Abfas- 
sung unter  den  Ptolemaeern  auf  dem  Theater  mit  wirklicher  Action 
dargestellt.  Die  Späteren,  welche  jene  Dichtungen  mit  Vorliebe  lasen, 
mussten  sich  die  Action  hinzudenken,  daher  „fingirte  Action." 

3.  Instrumentalmusik  mit  Orchestik,  unser  jetziges  Ballet,  welches  bei 
unserem  heurigen  Publikum  ebenso  beliebt,  wie  in  seinem  musischen 
Kunstwerthe  meist  bedeutungslos  ist.  Dem  klassischen  Hellenenthume 
war  diese  Kunstgattung  fremd:  sie  ist  erst  ein  Product  der  römischen 
Kaiserzeit  (Pantominus). 

- 

4.  Orchestik  ohne  Musik,  kann  immer  nur  eine  untergeordnete  Kunstgat- 
tung gewesen  sein.  Gleichwohl  wird  sie  von  Aristoteles  poetik  c.  1 
erwähnt,  wo  durch  die  Worte  oüxtp  tü>  jMh*$  toicitoi  t9)v  filjA-rjoiv 
ytu&i;  äpjxovta«  die  Instrumentalmusik  von  irgend  einer  Gattung  der 
Orchestik  ausdrücklich  ausgeschlossen  wird. 

§  2.  Das»  es  der  Rhythmus  mit  Zeitgrössen  und  ihrer  Wahr- 
nehmung zu  thun  hät,  ist  zwar  ebenfalls  schon  im  Vorausgehenden 
zur  Sprache  gekommen,  muss  aber  hier  wiederholt  werden,  da  jener 
Satz  gewis8ermaassen  der  Ausgangspunkt  der  wissenschaftlichen 
Rhythmik  ist. 

Aus  der  hier  angezogenen  Stelle  des  vorausgehenden  ersten  Buches  möchte 
wohl  das  Fragment  entlehnt  sein  bei  Bachius  p.  23  M: 

Rhythmus  ist  nach  Aristoxenos  die  Zeit,  zerfällt  von  einem  jedem 

der  rhy thmisirbaren  Stoffe, 
und  bei  Planud  in  Hermog.  V,  454  Walz: 

Rhythmus  ist,  wie  Ariatoxenus  und  [nach  ihm]  Hephaestion  sagt,  die 

Ordnung  der  Zeiten.  Vgl.  Arist.  rh.  El.  §  7. 

Rhythmus  und  Rhjthmizomenon  verhalten  sich  zu  einander  wie  die 

Gestalt  und  das  Gestaltete. 

§  3.  Man  denke  sich  diese  zwei  —  Naturen,  möcht'  ich  sagen 
—  die  des  Rhythmus  und  die  des  Rhythmizomenon  in  einem  ähn- 


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I.  Zeitgrossen  des  Rhythmus  und  des  Rhythmizomenon. 


9 


liehen  Verhältnisse  zu  einander  wie  dasjenige,  in  welchem  die  Ge- 
stalt und  das  Gestaltete,  die  ihrerseits  ebenfalls  nicht  dasselbe  sind, 
zu  einander  stehen. 

Dasselbe  Bhytbmlzomenon  kann  der  Ausdruck  verschiedener  rhyth- 
mischer Formen  sein. 

■ 

§  4.  Wie  die  Materie  verschiedene  Formen  annimmt,  wenn 
alle  oder  auch  nur  einzelne  Theile  derselben  auf  verschiedene  Weise 
geordnet  werden,  so  kann  auch  eine  und  dieselbe  als  Rhythmizomenon 
dienende  Gruppe  von  sprachlichen  Lauten  oder  von  Tönen  verschie- 
dene rhythmische  Formen  annehmen,  jedoch  nicht  vermöge  der 
eigenen  Natur  der  Rhythmizomenon,  sondern  kraft  des  formenden 
Rhythmus.  So  stellen  sich,  wenn  man  dieselbe  Lexis  d.  i.  die 
nämliche  Sylbengruppe  in  verschiedene  Zeitabschnitte  zerlegt,  Ver- 
schiedenheiten heraus,  welche  im  Wesen  des  Rhythmus  selber  liegen. 
Ebenso  wie  mit  den  Sylben  verhält  es  sich  auch  mit  den  Tönen. 

Ein  Beispiel  hierfür  enthält  der  Anonymus  Bellermann's  §  97  und  100. 
'EcdoTjfio;  (sechszeitig): 


§3 


Tz 


-M-- 


Tcf^ctoTjfi.o;  (vierzeitig): 


-t— 


Ein  anderes  Beispiel  bei  Bach  Kunst  der  Fuge  Nr.  1  und  Nr.  12,  zu- 
erst daktylischer,  dann  ionischer  Rhythmus: 


Daktylischer  Rhythmus: 


 t. 


-* — \ 


1- 


Jonischer  Rhythmus: 


-j. 


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10 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  4.  5.  6.  7 


Das  Beispiel  eines  poetischen  Worttextes,  der  ohne  Aenderong  der  Lexis 
auf  zwei  verschiedene  Weisen  zu  einem  Rhythmus  verwandt  werden  kann, 
liefert  Pindar  Pyth.  2.  Boeckh  hat  die  Anfangsworte  der  Strophe  als  einen 
Dochmius  gefasst: 

MrfaXort<SXiec  a> 

die  Rossbach- Westphal'sche  Rhythmik  vom  Jahre  1854  fasst  den  ganzen  ersten 
Vers  als  einen  trocbaeischen : 

MtfaXördXu;  a>  Supdxo  |  oai  ßo8u7ioX^(ioj 

Für  beide  rhythmische  Auflassungen  ist  die  äussere  Möglichkeit  vorhanden,  ob- 
wohl Pindar  selber  nur  die  zweite  Auffassung,  nicht  die  Boeckh'sche  im  Sinne 
gehabt  haben  kann,  wie  wir  an  dieser  Stelle  nicht  weiter  nachzuweisen  brauchen. 

In  allen  diesen  Fällen  beruhen  aber  die  verschiedenen  rhyth- 
mischen Formen  desselben  Rhythmizomenon  nicht  in  der  Natur  der 
Sprachsylben  und  der  Töne  selber,  sondern  sie  empfangen  diese 
Formen  durch  etwas,  dem  sie  an  sich  fremd  sind,  nämlich  durch 
den  formenden  Rhythmus. 

An  sich  haben  weder  die  Töne  noch  die  Sprache  mit  dem  Rhythmus  etwas 
zu  thun,  sie  sind  an  sich  nur  des  Rhythmus  fähig;  der  Rhythmus  wird  beiden 
erst  durch  den  schaffenden  Künstler  gegeben  und  es  beruht  in  seinem  freien 
künstlerischen  Ermessen,  wie  er  beides  dem  Rhythmus  unterordnen  will,  oder 
mit  anderen  Worten:  wie  er  es  zum  Ausdruck  des  Rhythmus  machen  will. 
Die  Sylben  der  Sprache  haben  an  sich  zftar  eine  bestimmte  Zeitdauer,  sie 
haben  auch  bestimmte  Accente,  durch  welche  in  den  modernen  Sprachen  ein- 
zelne Gruppen  von  Sylben  sich  zu  bestimmten  Zeitabschnitten  vereinigen.  Aber 
durch  Sylbenlänge  und  Wortacccnt  ist  noch  kein  Rhythmus  gegeben. 

§  5.  Gehen  wir  nun  weiter  auf  die  Analogie  ein,  welche  zwi- 
schen dem  Rhythmizomenon  und  der  gestalteten  Materie  einerseits, 
und  dann  zwischen  dem  Rhythmus  und  der  Gestalt  andererseits  be- 
steht, so  müssen  wir  sagen:  die  Materie,  in  deren  Wesen  es  liegt, 
sich  gestalten  zu  lassen,  ist  niemals  mit  der  Gestalt  oder  Form 
dasselbe,  sondern  es  ist  die  Form  eine  bestimmte  Anordnung  der 
Theile  der  Materie.  Ebenso  ist  auch  der  Rhythmus  mit  dem  Rhythmi- 
zomenon niemals  identisch,  sondern  er  ist  dasjenige,  welches  das 
Rhythmizomenon  in  irgend  einer  Weise  anordnet  und  ihm  in  Be- 
ziehung auf  die  Zeitabschnitte  diese  oder  jene  Form  giebt 


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I.  Zeitgrössen  des  Rhythmus  und  des  Rhythmizomenon.  H 

Rhythmus  kann  ohne  Rhythmizomenon  keine  Realität  haben. 

§  6.  Die  Analogien  gehen  noch  weiter.  Die  Form  kann  näm- 
lich keine  Realität  haben,  wenn  nicht  eine  Materie  vorhanden  ist, 
an  der  sie  sich  abprägt.  Ebenso  kann  kein  Rhythmus  existiren, 
wenn  kein  Stoff  vorhanden  ist,  der  den  Rhythmus  annimmt  und  die 
Zeit  in  Abschnitte  zerlegt.  Denn  wie  schon  im  ersten  Buche  gesagt  : 
Selber  kann  sich  die  abstracto  Zeit  nicht,  in  Abschnitte  zerlegen, 
es  mus8  vielmehr  etwas  Sinnliches  vorhanden  sein,  durch  welches 
die  Zeit  zerlegt  werden  kann. 

Das  Rhythmizomenon  also,  so  darf  man  sagen,  muss  aus  ein- 
zelnen, sinnlich  wahrnehmbaren  Theilen  bestehen,  durch  welche  es 
die  Zeit  in  Abschnitte  zerfallen  kann. 

„Sinnlich  Wahrnehmbar'4,  weil  der  Rhythmus  sonst  nicht  zur  äusseren 
Erscheinung  kommen  kann. 

Mit  §§  3,  4,  ö,  6  hat  sich  Aristoxenus  vollständig  auf  den  Standpunkt  der 
Aristotelischen  Metaphysik  gestellt  und  in  Aristotelischer  Weise  die  Abstrac- 
tion  des  Rhythmus  vollzogen.  Vom  Platonischen  Standpunkte  hätte  Aristoxe- 
nus  gesagt:  Der  Rhythmus  ist  eine  ewige  Idee,  vom  Anbeginne  dem  Geiste 
immanent  (zunächst  dem  Geiste  des  Demiurgen,  —  aus  dem  Geiste  des  Demi- 
urgen  auch  in  den  menschlichen  Geist  eingepflanzt),  der  Rhythmus  hat  also 
auch  eine  selbständige  ewige  Existenz,  er  hat  auch  ohne  das  Rhythmizomenon 
Realität.  Aristoteles  würde  den  an  und  für  sich  selbständigen  Rhythmus  ra  Abrede 
stellen,  so  gut  er  für  Piatos  Ideen  ohne  die  Materie  die  Realität  in  Ab- 
rede stellt.  Die  Identität  der  rhythmischen  Formen  in' den  musischen  Kunst- 
werken der  hellenischen  und  der  modernen  Kunst,  ohne  dasa  irgend  eine  Brücke 
der  Tradition  von  der  alten  zu  der  neuen  vorhanden  ist,  spricht  für  die  Auf- 
fassung von  der  selbständigen  Existenz  der  Idee  des  Rhythmus  im  Sinne 
Piatos:  wenigstens  hat  der  Rhythmus  das  griechische  Alterthum  überdauert 
und  zeigt  sich  gerade  so  wieder  bei  den  christlich-modernen  Künstlern,  ohne 
dass  ihn  diese  auf  irgend  eine  Weise  von  dorther  überkommen  hätten. 

- 

Nicht  jede  Anordnung  des  Rhythmizomenon  ist  Rhythmus; 
sie  kann  anch  Arrhythmie  sein. 

§  7.  Es  ist  nun  aber,  um  den  Rhythmus  zur  Erscheinung  kom- 
men zu  lassen,  nicht  genug,  dass  die  Zeit  durch  die  sinnlich  wahr- 
nehmbaren Theiie  eines  Rhythmizomenon  in  Abschnitte  zerlegt  wird, 
sondern  wir  müssen  in  Uebereinstimmung  mit  dem  im  ersten  Buche 
aufgestellten  Principe  und  ebenso  in  Uebereinstimmung  mit  den 


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■ 

12  Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  8.  9.  10. 

Thatsachen  der  Erfahrung  den  Satz  aufstellen,  dass  nur  dann  Rhyth- 
mus vorhanden  ist,  wenn  die  Zertheilung  der  Zeit  nach  einer  be- 
stimmten Ordnung  geschieht;  denn  keineswegs  ist  eine  jede  Art,  die 
Zeitabschnitte  anzuordnen,  eine  rhythmische. 

§  8.  Man  mag  es  nun  zunächst  ohne  Weiteres  annehmen,  dass 
nicht  jede  Anordnung  der  Zeitabschnitte  eine  rhythmische  ist,  später 
wird  es  aus  der  näheren  Darstellung  der  Rhythmik  von  selber  klar 
werden  (§31  ff.).  Indess  lässt  es  sich  vorläufig  durch  eine  Analogie 
anschaulich  machen.   Einem  jeden  ist  es  in  Beziehung  auf  die  Ver- 
bindung der  Sprachlaute  (Vocale  und  Consonauten)  bekannt,  dass 
wir  weder  beim  Sprechen  die  Laute,  noch  in  der  Melodie  und  Har- 
monie die  Töne  in  jeder  möglichen  Weise  mit  einander  verbinden, 
sondern  dass  es  hier  nur  einige  wenige  zulässige  Arten  giebt,  —  dass 
es  dagegen  viele  Weisen  giebt,  in  welchen  die  Laute  und  die  Töne 
sich  nicht  verbinden  lassen  und  von  unserer  Aisthesis  verworfen 
werden:  es  giebt  viel  weniger  Arten  der  harmonischen  Gruppirung 
der  Töne  als  der  unharmonischen  und  unmelodischen  Aufeinander- 
folge. Eben  dasselbe  wird  sich  ,  nun  im  weiteren  Fortgange  (§31  ff.) 
auch  für  die  Zeitabschnitte  ergeben.    Denn  gar  manche  denkbare 
Lautgrössen,  in  gleichinässiger  Folge  gedacht,  und  gar  manche  Arten 
von  Gliederungen  der  Laute  widerstreben  dem  rhythmischen  Gefühle, 
nur  wenige  sind  dem  rhythmischen  Gefühle  nach  zulässig  und  von 
der  Art,  dass  sie  der  Natur  des  Rhythmus  entsprechen.  Nicht  nur 
den  Rhythmus,  sondern  auch  die  Arrhythmie  kann  das  Rhythini- 
zomenon  darstellen,  es  kann  eine  errhythmische  und  eine  arrhyth- 
mische  Gestalt  annehmen,  und  man  darf  das  Rhythmizomenon  als 
ein  Substrat  bezeichnen,  welches  sich  in  alle  möglichen  Zeitgrössen 
und  alle  möglichen  Gliederungen  bringen  lässt 

Die  Theile  der  drei  Rhythmisomena. 

§  9.  Die  Zerlegung  der  Zeit  wird  von  jedem  Rhythmizomenon 
vermittels  seiner  Theile  vollzogen.  Solcher  Rhythmizomena  giebt  es 
drei:  Sprachtext,  Melos,  Körperbewegung  der  Orchestik. 

Hiernach  wird  der  Sprachtext  die  Zeit  zerlegen  durch  seine 
Theile  als  da  sind:  vocalische  und  consonantische  Laute,  Sylben, 
Worte  und  alles  derartige  (nämlich  Sätze.) 


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I.  Zeitgröeien  des  Rhythmus  und  des  Rhythmizomenon.  13 

Das  Melos  durch  die  ihm  eigenen  Töne,  Intervalle,  Systeme.  • 
Die  Körperbewegung  der  Orchestik  durch  Semeia  und  Schemata 
und  was  sonst  noch  ein  solcher  Theil  der  Bewegung  ist 

Chronos  protos  und  seine  Multipla. 

§  10.  Was  die  Namen  der  Zeitgrössen  betrifft,  so  heiss'  ich 
Chrtfnos  prötos  diejenige,  welche  durch  keines  der  Rhythmizomena 
einer  Zerlegung  fähig  ist;  Chronos  dfsemos,  trisemos,  tetrasemos 
diejenige,  in  welcher  der  Chronos  protos  zwei,  drei,  vier  Mal  enthal- 
ten ist  (zweizeitige,  dreizeitige,  vierzeitige  Grösse)  und  in  entspre- 
chender Weise  auch  die  übrigen  Grössen  (bis  zum  Chronos  pentekai- 
eikosa-semos,  der  25-zeitigen  Grösse)  (der  grössten,  welche  Aristo- 
xenus  erwähnt). 

Aristoxenus  drückt  die  rhythmische  Grösse,  die  als  ein  Multiplum  des 
Chronos  protos  bestimmt  wird,  stets  durch  ein  Compositum  mit  „  =  semos" 
aus.  Das  simplex  „Sema",  auf  welches  diese  Composita  zurückgehen,  kommt 
in  der  Bedeutung  von  Chronos  protos  nicht  vor,  erscheint  aber  als  Randglosse 
zu  unserer  Stelle  im  Codex  Vaticanus  (zu  den  Worten  „welche  durch  keines 
der  Rhythmizomena  einer  Zerlegung  fähig  ist*').  Dieselben  Composita  mit 
=  sümos  kommen  auch  in  den  rhythmischen  Zuschriften  zu  den  Musikbeispielen 
des  Anonymus  §  97—104  und  zu  dem  notirten  Texte  des  Mesomedischen  Hym- 
nus auf  die  Muse  vor  („4  oe  f>ydfio;  otu&exdor(|xo<;").  Ferner  sind  diese  Compo- 
sita bei  Aristides  Quintilianos  und  im  Fragm.  Parisinum  im  Gebrauch,  auch 
bei  Fab.  Quintil.  inst.  9,  4,  51,  wo  die  Erklärung  gegeben  wird  „nam  <rr,|xeiov 
tempus  unum  est."  Auch  in  solchen  Stellen  des  Metrikers  Marius  Victorinus, 
welche  darauf  hindeuten,  dass  sie  aus  einer  rhythmischen  Quelle  stammen. 
Hier  findet  sich  für  die  Zeitdauer  eines  Chronos  protos  auch  das  Compositum 
„monosemos"  gebraucht,  welches  sich  wieder  bei  Aristoxenus  nicht  findet.  Sonst 
gebrauchen  die  Metriker  statt  des  Aristoxenischen  „disi-mos,  trisemos,  tetrase- 
mus"  die  Composita  „dkhronos,  trichrouos,  tetrachronos"  Hephaest.  c.  3  eine 
Composition,  in  welcher  das  Wort  Chronos  in  der  Bedeutung  von  Chronos 
protos  gebraucht  ist.  Zuerst  bei  Dionysius  de  comp,  verbor.  17.  Deutsch  wird 
sowohl  „disemos,  trisemos"  wie  „dichrouos,  trichronos"  durch  „zweizeitig,  drei- 
zeitig" wiedergegeben. 

Bei  Aristides  Quintil.  (aber  niemals  bei  Aristoxenus)  wird  für  Chronos 
protos  der  Terminus  „Semeion"  angewandt.  Auch  im  Fragm.  Parisin.  Es 
scheint  dieser  Gebrauch  auf  dieselbe  rhythmische  Quelle  zurückzugehen,  der 
auch  Fabius  Quintilian  die  Stelle  inst.  9,  4,  51  von  der  Bedeutung  des 
Wortes  Semeion  als  „tempus  unum"  entnommen  hat,  umsomehr,  als  in  beiden 
für  Versfus«  abweicheud  von  Aristoxenus  das  Wort  }>j8a6;  statt  t:oj;  ge- 
braucht wird. 


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14 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  11.  12. 


§  11.  Die  Bedeutung  des  Chronos  protos  muss  man  auf  fol- 
gende Weise  zu  begreifen  versuchen.  Eine  der  vom  Gefühle  sehr 
deutlich  empfundenen  Wahrnehmungen  ist  die,  dass  die  Geschwin- 
digkeiten der  Bewegungen  keine  Beschleunigung  bis  ins  Unendliche 
erfahren,  sondern  dass  irgendwo  ein  Stillstand  in  der  Verkleinerung 
eintritt,  in  welche  man  die  Theile  dessen  setzt,  was  bewegt'  wird, 
wohlverstanden,  in  der  Art  bewegt  wird,  wie  sich  die  Stimme  be- 
wegt beim  Sprechen  und  Singen  und  unser  Körper,  wenn  man  tak- 
tirt  oder  tanzt  oder  sonstige  Bewegungen  der  Art  ausfuhrt  Bei 
der  Ersichtlichkeit  dieses  Sachverhaltes  ist  es  einleuchtend,  dass  es 
gewisse  kleinste  Zeiten  unter  den  Zeiten*)  giebt,  in  welchen  der  ein 
Melos  ausführende  einen  jeden  seiner  Töne  unterbringt.  Dasselbe 
gilt  selbstverständlich  auch  wenn  es  sich  um  Silben  oder  um  Se- 
meia  der  Orchestik  handelt.  Dass  aber  diejenigen  Zeiten,  welche 
die  „kleinsten"  sind,  weder  durch  zwei  Töne  noch  durch  zwei  Sylben 
noch  durch  zwei  Semeia  der  Orchestik  getheilt  werden  können, 
ist  klar. 

*)  Die  handschriftliche  Ueberlieferung  des  Aristoxenischen  Textes  an 
dieser  Stelle  lautet: 

Toutojn  Ik  ojtojc  £yeiv  cpaivo|A£vuW  8f,).ov  Zxi  dvafxaf<Sv  dativ  dv»i  -iva; 
•/Iotou;  yp^vou;  dv  ol;  6  fj-cXtuStuv  O^oet  xu>v  <p9<$YY«uv  Sxciötov. 

Die  Handschriften  sind  corrumpirt.  Es  ist  nothwendig  das  Wort  £Xa/to- 
tou;  ypovou;  in  iXay  toxou;  täv  yp4vt»v  zu  ändern,  damit  ein  verständlicher  Sinu 
herauskommt.  Man  mag  sich  mühen,  wie  mau  will:  mit  „D.aylawj;  yp'ivoj;" 
wird  man  nicht  fertig,  dagegen  ist  bei  iXayjoToy;  täv  ypW;  Alles  klar  und 
verständig. 

§  12.  Die  Zeit  nun,  auf  welche  in  keiner  Weise  weder  2  Töne, 
noch  2  Sylben,  noch  2  Semeia  der  Orchestik  kommen  können,  die 
wollen  wir  Chronos  protos  nennen.  Auf  welche  Weise  aber  die 
Empfindung  zu  diesem  Chronos  protos  gelangt,  das  wird  in  dem 
Abschnitte  von  den  Takt-Schemata  klar  werden  (vergl.  unten). 

Wäre  Aristoxenus'  Rhythmik  früher  bekannt  geworden,  so  würde  für 
die  Theorie  der  modernen  Rhythmik  sicher  längst  der  Terminus  „Chronos  pro- 
tos" in  Gebrauch  genommen  worden  sein,  so  gut  wie  andere  Ausdrücke  der 
antiken  Rhythmik:  Thesis,  Arsis,  Periode,  GUed.  Denn  der  Chronos  protos 
ist  auch  für  unsere  Musik,  sowohl  die  vocale  als  instrumentale,  ein  wichtiger 
Fundameutalbegriff.    Wir  können  ihn  definiren:  Chronos  protos  ist  der  dritte 


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I.  Zcitgrössen  de«  Rhythmus  und  des  Rhythmizomenon. 


15 


Theil  eines  trochaeischen,  der  vierte  Theil  eines  daktylischen  Versfusses.  Doch 
da  auch  der  Begriff  des  Versfusses  wenigstens  für  unsere  Instrumentalmusik 
bis  jetzt  kein  allgemein  geläufiger  ist,  so  wollen  wir  uns  den  Begriff  des  Chronos 
protos  durch  folgendes  klar  machen. 

Die  Rhythmen  unserer  Musik  sind  entweder  gerade  oder  ungerade  Rhyth- 
men, die  letzteren  zerfallen  wieder  in  trochaeische  und  ionische.  Die  trochaei- 
schen Rhythmen  werden  dadurch  von  dem  Componisten  angedeutet,  dass  er 

die  Taktvorzeichen      ,  g"  >  "j"  >  g"  >      '  4" '  g" '  16  6ebraucnt-  Bei  trochaei- 

schem  Rhythmus  —  aber  nur  bei  diesem,  nicht  bei  dem  die  gleichen  Vorzeichen 
fahrenden  ionischen  —  ist  jede  der  im  Takt -Nenner  vorgemerkten  Zeit- 
Einheiten  (jedes  Viertel,  jedes  Achtel,  jedes  Sechszehutel)  genau  dasjenige,  was 
Aristoxenus  Chronos  protos  nennt.  Ist  mit  jenen  Vorzeichen  aber  der  ionische 
Rhythmus  gemeint,  so  ist  jede  der  vorgemerkten  Zeiteinheiten  genau  dasselbe 
was  Aristoxenus  einen  Chronos  disemos  nennt.  Und  ferner  ist  zu  merken, 
dass  dieselben  Taktvorzeicheu  oft  auch  derartige  sind,  welche  wir  passend  als 
triolische  bezeichnen  können.  Das  kommt  vor  bei  daktylischen  und  ionischen 
(nicht  bei  trochaeischen)  Rhythmus.  Vgl.  meine  Auseinandersetzung  in  der 
Theorie  des  musikalischen  Rhythmus  seit  J.  S.  Bach.  Ebendaselbst  ist  ange-. 
geben,  wie  es  sicli  bei  dem  daktylischen  Rhythmus  mit  dem  Chronos  protoe 
verhalt  Im  Allgemeinen  aber  wird  man  sich  aus  den  oben  angeführten  Vor- 
zeichnungen des  trochaeischen  Rhythmus  eine  vollständig  adaequate  Anschau- 
ung des  Aristoxenischen  Chronos  protos  verschaffen  können. 

Im  trochaeischen  Rhytlunus  bedeutet  das  durch  die  Taktvorzeichnung 
angegebene  Viertel,  Achtel,  Sechszehntel  den  Chronos  protos.  Also  J  J  J  oder 

H"j  oder  J"j^j  werden  liier  je  nach  der  betreffenden  Vorzeichnung  einen 
Chronos  trisemos  bedeuten. 

Auch  im  daktylischen  Rhytlunus  wird  der  Chronos  protos  entweder  durch 
,  oder  durch  f  oder  durch  £  ausgedrückt,  nur  dass  diese  Werthgrösseu  nicht 
durch  das  Taktvorzeichen  ausdrücklich  angemerkt  sind.   In  entsprechender 
Weise  hat  dann  J  J  f       }  #R  den  Werth  des  Chronos  disemos;  J  J  J  J 

j  j  j  j  JTTj  ^en  ^  ertü  ^es  Chronos  tetrasemos.  Sehr  selten  bezeichnet 
der  Componist  den  Chronos  protos  im  daktylischen  Rhythmus  durch  j^;  dann ist 

—  ein  Chronos  disemos,  oder  5-  ein  Chronos  tetrasemos. 

0  0  '0  0  0  0  0  0 

Wir  nennen  die  verschiedenen  Ausdrucksweisen  des  Chronos  protos 

die  Viertel-Schreibung, 

die  Achtel-Schreibung, 

die  Sechszehntel-Schreibung, 

die  Zweiunddreissigstel-Schreibung. 


16 


Aristoxenus  rhythmische  Elcmeute  §  13.  14.  15. 


Das  von  Aristoxenus  angegebene  Gesetz  der  griechischen  Rhythmik,  dass 
der  Chronos  protos  niemals  in  kleinere  Zeitgrössen  zertheilt  werden  kann,  fin- 
det sich  auch  noch  in  unserer  älteren  Instrumental- Musik  festgehalten.  In  den 
Clavicr-  und  Orgel-Fugen  Bachs,  auch  Handels  kommen  nur  wenige  Ausnah- 
men von  dem  Aristoxenischen  Gesetze  vor.  Haydn,  Mozart,  Beethoven  dagegen 
zertheilen  den  Chronos  pro  tos  häufig  genug;  eine  ganz  gewöhnliche  Form  bei 

ihnen  ist,  dass  der  Chronos  protos  halbirt,  also  J  in  ^  ?  £  in  ^  zerlegt  wird. 

Ob  Bach  in  seinen  Fugen  die  Achtel-  oder  Sechszehntel -Schreibung  an- 
wendet (die  Sechszehntel-Schreibung  ist  bei  ihm  die  häufigste,  die  Viertel- 
Schreibung  kommt  dort  nicht  vor),  das  hängt  bei  ihm  von  dem  Tempo  ab. 
Bei  langsamem  Tempo  hat  der  Chronos  protos  eine  längere,  bei  rascherem 
Tempo  eine  kürzere  Note.  Bei  den  späteren  Componisten  ist  das  anders.  Sie 
richten  sich  mit  den  verschiedenen  Schreibungen  nicht  nach  dem  Tempo,  son- 
dern nach  dem  Ausdrucke,  in  dem  die  Composition  vorgetragen  werden  soll. 
Bei  grösserer  Gravität  wird  der  Chronos  protos  durch  längere  Note,  bei  grös- 
serer Leichtigkeit  durch  kürzere  Note  ausgedrückt.  Doch  giebt  es  so  viele 
Ausnahmen,  dass  nicht  sowohl  der  dem  Vortrage  zu  gebende  Ausdruck,  als 
vielmehr  ein  gewisses  Herkommen,  welches  nicht  immer  vollständig  zu  erklären 
ist,  die  Schreibung  des  Chronos  protos  bestimmt  So  wendet  Beethoven  für 
das  mit  dem  Ausdrucke  der  grössten  Leichtigkeit  vorzutragende  Scherzo  stets 
die  Viertel-Schreibung  an,  während  Bach  und  Händel  in  der  entsprechenden 
Musikform  (der  Giga)  die  Sechszehntel-Schreibung  anwenden;  die  Viertel- 
Schreibung  kommt  bei  Bach  vorwiegend  in  seinen  Choralvorspielen  für  Orgel  vor. 

Bei  einiger  Aufmerksamkeit  und  Uebung  kommt  man  leicht  dahin,  was 
bei  unseren  Componisten  dem  Chronos  protos  des  Aristoxenus  entspricht  Ohne 
dies  zu  wissen  und  lebendig  zu  fühlen,  ist  es  schwer  den  Rhythmus,  welchen 
der  Componist  im  Auge  hat,  zu  treffen.  Versteht  man  aber,  was  es  mit  unse- 
ren Taktbezeichnungen  für  eine  Bewandniss  hat,  so  wird  man  die  Aristoxeni- 

sehen  Taktbenennungen:  sechszeitig  u.  s.  w.  als  einheitlichen  Namen  für^., 
6  6 

-g-      ^-  -  Takt  kaum  entbehren  können. 

Einfache  und  zusammengesetzte  Zeitgrösse  vom  Standpunkte  der 

Rhythmopoeie. 

§  13.  Weiterhin  reden  wir  auch  von  einer  unzusamm engesetz- 
ten Zeit  mit  Bezug  auf  ihre  Verwendung  in  der  Rhythmopoeie. 

Dass  Rhythmopoeie  und  Rhythmus  nicht  identiscli  ist,  lässt  sich 
freilich  augenblicklich  noch  nicht  so  leicht  klar  machen,  inzwischen 
möge  folgende  Parallele  die  Ueberzeugung  davon  anbahnen.  Wir 
haben  am  Wesen  des  Melos  die  Anschauung  gewonnen,  dass  Ton- 
system und  Melopoeie  nicht  dasselbe  sind;  auch  Ton  nicht,  auch 


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I.  Zeitgrössen  des  Rhythmus  und  des  Rhythmizomenon.  17 

nicht  Tongeschlecht  und  auch  Metabole  (melischer  Wechsel)  nicht. 
Genau  so  muss  man  sich  die  Sache  bezüglich  des  Rhythmus  und 
der  Rhythmopoeie  vorstellen.  Die  Melopoeie  haben  wir  doch  wohl 
als  eine  Anwendung  des  Melos  kennen  gelernt,  —  in  derselben 
Weise  dürfen  wir  auf  dem  Gebiete  der  Rhythmik  von  der  Rhythmo- 
poeie behaupten,  dass  sie  eine  Anwendung  sei.  Wir  werden  das 
im  weiteren  Verlaufe  unserer  Pragmatie  schon  deutlicher  verstehen. 

§  14.  TJnzusammengesetzt  mit  Bezug  auf  die  Anwendung  der 
Rhythmopoeie  wollen  wir  eine  Zeitgrösse  beispielsweise  in  folgendem 
Falle  nennen.  Wird  irgend  eine  Zeitgrösse  von  Einer  Sylbe  oder 
Einem  Tone  oder  Einem  Semeion  der  Orchestik  ausgefüllt  sein,  so 
werden  wir  diesen  Zeitwerth  un zusammengesetzt  nennen;  wird 
aber  derselbe  Zeitwerth  von  mehreren  Tönen  oder  Sylben  oder  or- 
chestischen  Semeia  ausgefüllt  sein,  so  wird  er  eine  zusammen-  . 
gesetzte  Zeit  genannt  werden. 

Ein  Analogon  für  das  Gesagte  kann  die  Pragmatie  des  Hermosm6- 
non  (Harm.  I.)  liefern.  Denn  auch  dort  ist  dasselbe  Megethos  im  enhar- 
monischen  Ton  geschlechte  ein  zusammengesetztes,  im  Chroma  ein  un- 
zusammengesetztes; und  wiederum  im  Diatonon  ein  unzusammeu- 
gesetztes,  im  Chroma  ein  zusammengesetztes;  bisweilen  ist  das  näm- 
liche Megethos  sowohl  ein  unzusammengesetztes  wie  ein  zusammen- 
gesetztes, jedoch  nicht  an  derselben  Stelle  des  Systemes. 

Das  harmonische  Beispiel  unterscheidet  sich  von  dem  rhythmi- 
schen Satze  dadurch,  dass  die  Zeitgrösse  durch  den  Einfluss  der  Rhyth- 
mopoeie bald  eine  unzusammengesetzte,  bald  eine  zusammengesetzte 
werden  kann,  das  Intervall  aber  durch  die  Ordnung  des  Tonge- 
schlechtes oder  durch  seinen  Platz  im  Systeme.  Soviel  über  unzu- 
sammengesetzte und  zusammengesetzte  Zeit  im  Allgemeinen. 

§  15.  Nachdem  sich  aber  unser  Satz  in  der  angegebenen  Weise 
zerlegt  hat,  heisst  schlechthin  unzusammengesetzt  die  von 
keinem  der  Rhythmizomena  zerlegte  Zeit,  schlechthin  zusam- 
mengesetzte die  von  allen  Rhythmizomena  zerlegte,  gemischte 
Zeitgrösse  diejenige,  welche  von  Einem  Tone,  aber  zugleich 
von  mehreren  Sylben  eingenommen,  oder  umgekehrt  von  Einor 
Sylbe,  aber  mehreren  Tönen  ausgefüllt  wird. 

Ariitoseno«.  Mellk  u.  Rhythmik.  2 


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18 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  15. 


Für  die  gemischten  Zeitgrössen  der  zweiten  Art  finden  sich  Bei- 
spiele in  dem  melodisirten  Texte  des  Mesomedes.  Bellerniann  die  Hymnen  des 
Dionysios  und  Mesomedes,  Westphal  griechische  Rhythmik  und  Harmonik  1867, 
S.  54—65.  Die  Taktvorzeichnung  nach  Bach  wohltemp.  Ciavier  2,  5  Praelud. 
vgl.  unten  im  Abschnitte  vom  Takt-Schema. 

Hymn.  in  Musam  4. 


i  -  {xdc  ^piva«       fco  -  vei  -  tcu 


M    X    I     <J>  C    f      M<j)  C 


in  Helium  17,  19. 


XCU  -  Xtt>V     UTO  OUpfAOOt  [A<5(T/CUV 

To  -  Xu  -  ei  -  (xo-va    xös-jaov  i  -  Xlo      -  aaiv 


in  Kemesin  9. 


M     I     X    I    M    I    <}>  C       P    M   P  C 


3  b — >—  £5:=* 


in  Helium  15. 


MMMMMM  P  M  C  C  <}> 
■jXau-xd    Ü    *d-poi-8c  oe  -  Xd      •  va 


C    P    M  M  M  C    P  M     M    I    \  M 

In  Mus.  4  ist  die  Sylbe  va;  (in  q>p£vas)  ein  yp<Wo«  [mxtöc,  und  ebenso  die 
8ylbe  v«  (in  loveltw). 

In  Hei.  17  ist  die  Sylbe  Xeu  (in  Xeuxüv)  und  poo  (in  (xöoycov)  ein  {«*t<5«. 

In  Hei.  19  die  Sylbe  Xic  (in  eXloocuv). 
In  Nemes.  9  die  Sylbe  ßat  (in  ßalvctc). 
In  Hei.  15  die  Sylbe  Xd  (in  os/.dva). 

Beispiele  für  gemischte  Zeitgrössen  der  ersten  Art  (mehrere  Syl- 
ben  auf  demselben  Tone)  können  nicht  gut  andere  sein  als  etwa  folgende: 

In  Nemesin  9:  „X-f,ftou3o  hi  rdp'  wS"  sechs  Sylben  auf  demselben  Tone  c. 
In  Helium  15:  „  —  xd  ht  ndp  —  "  drei  Sylben  auf  demselben  Tone  c 


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I.  Zeitgrössen  des  Rhythmus  und  dea  Rhythnuzomenon. 


19 


Freilich  wäre  es  correcter  gewesen,  wenn  Aristoxenus  nicht  gesagt  hätte: 

xaTaXtj^pfrJJvcu",  sondern  „usi  guXXaßuft  rcXciövcov  pev,  <icl  p.iök  &i  Tcfoctnc" 
nach  der  ersten  Harmonik  §  30,  31  d.  i.  auf  Einer  Tonstufe. 

Beispiele  filr  die  schlechthin  unzusammengesetzten  Zeitgrössen 
sind  alle  i&ovöotjiaoi  und  Star^ot  ooXXaßal  des  Mesomedischen  Textes  und  folgende 
daä  fctarjfiov  pi^cflo;  überschreitende  Te?p4(9T)|A0i  ov/.Xajäotl: 


in  Helium  2. 


in  Helium  3. 


cj>  M  M  M  M  C  i|>  M  I  A  M 
irravot;  uz  l/-vto-ot    Ii  -    d>  -  xet< 


M    I    M    I     P     M    I  :\M 


in 


10. 


m  u  u  u  u  e  2    e  u 

fvj  -  poO|jLt-vov    aü-^e  va    %Xl  •  vei« 


in  Nemesin  13. 


K  (j)  p    p    M    I     f  MAM 
CvyÄv    (AE-fd    y  ei-pa  xpa  -  tgü  -  oa 


<J>  M   M  M    r    C    M      l  K  I 


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20  Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  16. 

IL 

TAKTLEHRE, 

  t 

1.  TAKTLEliKE  IM  ALLGEMEINEN, 
a.  Takt. 

§  16.  Dasjenige,  wodurch  wir  den  Rhythmus  markiren  und 
der  Aisthesis  fasslich  machen,  ist  ein  Takt  oder  mehr  als  Einer. 

Marquard  im  exegetisch.  Cominentar  S.  302:  „Ich  möchte  den  Ausdruck 
„des  Aristoxenus  so  verstehen,  „die  Füsse,  mit  welchen  wir  den  Rhyth- 
mus bezeichnen"  (ich  wähle  absichtlich  diesen  allgemeinen  Ausdruck)  sind 
„die  einfachen  Füsse.  aus  welchen  der  Rhythmus  besteht,  durch  welche  ich  also 
„auch  sein  eigentliches  Wesen  am  genauesten  bezeichne,  d.  h.  für  das  Auge 
„„notire",  für  das  Ohr  „taktire".    Habe  ich  z.  B.  den  Rhythmus 

—     W     —  > —     J    —  —  N_X|f 

„so  ist  der  Fuss,  durch  welchen  ich  diesen  bezeichne,  nicht 

-  w  -  ^, 

„sondern 

.« 

—  . 

Man  kommt  bei  Aristoxenus  »am  leichtesten  zu  einem  richtigen  Verständ- 
nisse, wenn  man  das  Wort  „irovs"  nicht  mit  „Fuss",  sondern  mit  „Takt"  über- 
setzt, do'jvBeroi  rcoy;  durch  „einfacher",  aiivötTo;  rov>;  durch  zusammengesetzter 
Takt.  Was  wir  Fuss  oder  Versfuss  nennen,  kann  zwar  das  Aristoxenisehe 
ttoj;  auch  bezeichnen,  doch  fällt  Fuss  oder  Versfuss  unter  die  Kategorie  des 
tcöü;  dauvöexo;: 

1.  ±  w 

einfacher  oder  monopodischer  Takt,  hat  2  Chronoi  podikoi :  eine  Thesis,  eine  ArsisT 

2.  ±  \j  s.  w 

zusammengesetzter  dipodischer  Takt,  hat  2  Chronoi  podikoi,  den  einen  Fuss  als 
Thesis,  den  anderen  als  Arsis,  u.  s.  w.  bis  zur  3.  Tripodie  und  4.  Tetrapodie 
(jeder  Fuss  ein  Chrouos). 

Wir  haben  Marquards  wegen  ein  gutes  Stück  der  Aristoxenischen  Takt- 
lehre antieipiren  müssen;  dass  das  Gesagte  richtig  ist,  wird  unsere  weitere  Dar- 
stellung zweifellos  lassen. 

Wenn  nun  Marquard  von  §  lß  zu  §  17  weiter  fortgegangen  wäre,  so  hätte 
er  in  seiner  Weise  weiter  interpretiren  müssen :  „Die  Takte,  mit  welcher  wir  den 
Rhythmus  bezeichnen,  haben  entweder  zwei  Chronoi  podikoi,  nämlich 


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II.  1.  Taktlehre  im  Allgemeinen.  21 

1.  der  monopodische  Takt  -  ^ 
so  wie  auch 

2.  der  dipodische  ±  ^  z 

oder  sie  haben  drei  Chronoi  podikoi,  nämlich 

8.  der  tripodische  ±  w  j.  ^  z  v^; 
oder  sie  haben  vier  Chronoi  podikoi,  nämlich 

4.  der  tetrapodische  j.  ^  j.  ^  j.  ^  j.  ^: 

Es  ergiebt  sich,  dass  unter  dem  roj;  <Jj  aT^otvojAefta  t6v  pjftfxiv  nicht  bloss 
wie  M.  will  ein  einfacher  ttoj«  (Kategorie  1.,  sondern  auch  ein  tk»  j«  jeder  der 
übrigen  Kategorien  2.,  3.  und  4.  geraeint  sein  muss.  „Wir  markiren  den  Rhyth- 
mus und  machen  ihn  fasslich  mit  einem  rroü;  der  Kategorien  1.,  2.,  3.,  4. 
und  zwar  mit'  Einem  oder  mehr  als  Einem."  Etwas  anderes  kann  die  Stelle 
unmöglich  besagen  und  Marquards  Interpretation  ist  also  verfehlt. 

Baumgart  in  der  S.  66  genannten  gegen  mich  gerichteten  höchst 
lehrreichen  Streitschrift  p.  IX  übersetzt:  „Wodurch  wir  den  Rhythmus  erkenn- 
bar machen,  das  ist  der  Takt,  und  zwar  einer  oder  mehr  als  einer4'.  Dann 
fährt  er  fort:  „Aristoxenua  ist  ein  zu  erfahrener  Praktiker,  um  nicht  daran  zu 
denken,  dass  mit  Einem  Takte  die  jedesmalige  Rhythmengattung  gar  nicht 
immer  deutlich  bezeichnet  ist.  Ein  kurzer  Takt  geht  so  rasch  vorüber  und  das 
Verhältnis  von  Thesis  und  Arsis  prägt  sich  dabei  dem  Ohre  so  wenig  ein,  dass 
wir  oft  im  ersten  Takte  über  die  Taktart  noch  unklar  bleiben;  erst  die  Wie- 
derholung desselben  Verhältnisses  befestigt  den  Eindruck  und  stellt  die  Art 
des  Rhythmus  ausser  Frage.  .  .  So  spricht  also  aus  Aristoxeuus  die  vorsichtige 
Erfahrung.  Er  mag  vorzugsweise  an  die  dipodisch  gemessenen  Rhythmen  ge- 
dacht haben,  doch  braucht  es  dieser  Beschränkung  meiner  Meinung  nicht;  der 
Fälle,  wo  ein  Takt,  selbst  zwei  Takte  das  Geschlecht  noch  nicht  sicher  er- 
kennbar machen,  sind  mancherlei  denkbar.'' 

Im  Uebrigen  will  Baumgart  or,|Aatv6pe&a  nicht  in  der  Bedeutung  von 
Taktiren  verstanden  wissen.  Ich  habe  oben  markiren  übersetzt,  was  nur  ein 
anderes  Wort  für  denselben  Begriff  ist.  „Eine  Definition  des  ww;  durfte  Ari- 
^stozenus  als  erfahrungsmässig  voraussetzen:  er  hätte  nur  sagen  können,  was 
„Aristides  p.  80  ganz  richtig  sagt:  xoj;  ue^  ouv  i<ni  pipnz  toü  ttovtö;  pjÖj*ov  hx 
„vj  töv  SXov  xatfliXafißdvofxiv.  Wenn  Aristides  vom  Takte  sagt:  hi  oj  xataXopi- 
„Hdvopt-*  riv  jkidplv,  so  bedeutet  das  zuletzt  ganz  dasselbe  wie  bei  Aristoxenus 
Ii  «TjjiaivdfAiHa  tov  pjÖ^v.  Jenes  ist:  „wir  begreifen  die  rhythmische 
„Bewegung  durch  da«  Taktmaass",  dieses  „wir  machen  sie  begreiflich".  Soll 
„sr^iveaöcu  hier  bedeuten  „taktiren",  so  wird  dem  scharfsinnigen  und  klaren 
..Aristoxenus  eine  Definition  zugeschrieben,  die  ihm  keine  besondere  Ehre  machen 
„würde;  er  hätte  gesagt:  „Wodurch  wir  den  Rhythmus  taktiren,  das  ist  der 
„Takt,  und  zwar  einer  oder  mehr  als  einer."  Uebersetzen  wir:  „Wodurch 
wir  den  Rhythmus  markiren,  das  ist  der  Takt  und  zwar  einer  oder  mehr 
als  einer",  so  verliert  sich  zwar  der  Anklang  an  das  alt-juristische  „servus  est  qui 
aervit",  aber  die  Sache  bleibt  thatsächlich  dieselbe:  cTjualvscftat  ist  genau  das- 


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22  Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  16. 

• 

selbe  wie  markiren,  und  dieses  wieder  kommt  mit  taktiren  Überein.  Auch 
Baumgart,  obwohl  er  es  nicht  Wort  haben  will,  hat  <njfi<uvou.t8a  im  Sinne  de» 
Taktirens  gefasst:  „Wodurch  wir  den  Rhythmus  erkennbar  machen,  ist  der 
„Takt,  und  zwar  entweder  Ein  Takt  (wenn  die  Angabe  eines  einzigen  Taktes 
„zum  Erkennbarmachen  ausreicht),  oder  wenn  die  Angabe  Eines  Taktes  nicht 
„gehörig  orientirt,  wenn  sie  über  die  Taktart  noch  unklar  lässt  („Aristoxeuus 
„ist  ein  im  Dirigiren  erfahrener  Praktiker,  die  vorsichtige  Erfahrung  spricht 
„aus  ihm"),  dann  sind  mehrere  Takte  nöthig,  um  den  Rhythmus  ausser  Frape 
„zu  stellen". 

„Wenn  Westphal  mit  Weil  den  Zusatz  „Ein  Takt  oder  mehr  als 
„Einer"  von  einem  taktwechselnden  Rhythmus  versteht,  so  lässt  er  Aristoxenus 
„abermals  etwas  sagen,  was  des  Sagens  nicht  werth  war.  Das  ist  vollkommen 
„selbstverständlich,  dass  jeder  verschiedenartige  Fuss  wieder  taktirt  werden 
„muss.  Wird  also  je  ein  Takt  angegeben,  so  kommt  gar  nichts  darauf  an,  ob 
„der  eine  dem  anderen  gleich  ist  oder  nicht;  es  wird  eben  nach  Einem  Takt 
„taktirt.  Der  Zusatz  „Ein  Takt  oder  mehr  als  einer"  wäre  bei  Westphala 
„Erklärung  nicht  ein  Zeichen  von  Genauigkeit,  sondern  ein  irre  führender 
„Pleonasmus." 

Statt  dessen  lässt  Baumgart  nun  den  Aristoxenus  folgendes  sagen,  was 
ein  Zeichen  der  Genauigkeit  sein  soll:  „Wodurch  wir  den  Rhythmus  begreif- 
lich machen,  das  ist  der  Takt,  und  zwar  Ein  Takt,  wenn  dieser  zum  Begreifen 
ausreicht,  oder  mehr  als  Einer,  wenn  der  Eine  Anfangstakt  zum  Begreifen  des 
Rhythmus  nicht  ausreicht".  Und  damit  macht  Aristoxenus  den  Anfangseiner 
Taktlehre!  „Eine  Definition  des  Taktes  hat  Aristoxenus  nicht  hinzugefügt, 
weil  er  sie  als  erfahrungsmässig  voraussetzen  konnte",  meint  Baumgart.  Aber 
dass  um  den  Rhythmus  begreifen  zu  lassen,  im  günstigen  Falle  Ein  Takt  ge- 
nüge, im  weniger  günstigen  aber  mehr  als  Ein  Takt  nothwendig  sei,  das  hält 
Baumgart  für  etwas  für  den  Beginn  der  Taktlehre  notwendiges!  Ist  das  die 
vorsichtige  Erfahrung  des  Praktikers,  die  hier  den  Aristoxenus  diesen  Satz  an 
den  Anfang  der  Taktlchre  stellen  heisst,  so  hätte  er  den  Satz  wenigstens  deut- 
licher aussprechen  müssen,  denn  weder  Weil  noch  ich  habe  den  Satz  im  Sinne 
Baumgarte  verstanden  und  Marquard  hatte  ihn  wieder  in  einem  anderen  Suine 
aufgefasst.   Ich  will  meine  frühere  Ansicht  noch  einmal  aussprechen: 

Der  Ausdruck  f»uöjxic  in  der  vorliegenden  Stelle  des  Aristoxenus  ist  das 
rhythmische  Ganze,  die  ganze  in  derselben  rhythmischen  Form  fortlaufende 
Compositum.  Aristides  sagt  in  der  Parallelstelle:  p£po<  toü  :tavT&<  ^-jftpoü,  3>i 
ou  tov  5Xov  %aTaXa|j.ßavofuv.  Das  nämliche  auch  Aristo»,  in  der  Abhandlung 
de  Chrono  proto  „rdvr««  oi  ix  tto&äv  ou-puivrai."    Das  Ende  des  jböfiöj 

ist  da,  wo  dasselbe  [lO.oz  in  ein  anderes  Rhythmusgeschlecht  übergeht,  wo  ein 
anderer  f>'jrt|x6;  beginnt  Die  drei  Strophen  des  ionischen  Rhythmus  im  Exodion 
der  Aeschyleischen  Hiketides  (an  die  Mclik  des  Acschylus  wird  Aristoxenus 
bei  seiner  Rhythmik  sicherlich  gedacht  haben)  sind  so  beschaffen,  dass  der 
Rhythmus  des  dritten  Syzygie 


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IL  1.  Taktlehre  im  Allgemeinen. 


0  fi^a«  ZeOc  ditaUZu 
durch  Einen  «o«;  markirt  oder  gemessen  werden  konnte,  durch  den  ttow«  doöv 
»croi  izdftr^oi  oder  durch  den  dipodischen  roy;  o^vöcto«  ftw&exdaTiixo; 

von  Anfang  biß  zu  Ende  der  Strophe.  Aber  der  Rhythmus  der  zweiten  Syzygie 

K'Jirpt&oc  Voux  dfieXti  dcopLÖc  ZV  eü<pptuv 
konnte  nicht  mit  ein  und  demselben  tto-jc  bis  zu  Ende  markirt  werden.  Für 
die  ersten  Verse  hätte  zwar  der  nouc  dauvdc-cot  e^dorjjxo;  ausgereicht,  der  sich 
bald  zu  tripodischen,  bald  zu  dipodischen  Kola  verbindet,  aber  für  den  Schluss- 
vers musste  man  nach  der  Taktlehre  des  Aristozenus  zwei  rcä&c;  annehmen; 
denn  man  maass  das  Kolon 

rcpoTcpdv  iriXoi  fjvaixtöv 

als  einen  w>y;  «tvtdinjfio«  und  einen  itou;  eircdoT^o;  iirfrpiTo;.  Denn  anders 
kann  das  ionische  dvaxXtup-tvov  des  Schlusses,  obwohl  es  nicht  minder  wie  die 
übrigen  KwXa  dem  ionischen  Rhythmus  angehört,  nach  Aristozenus  (und  den 
Metrikern)  nicht  gemessen  werden  vgl.  unten  S.  70. 

Hier  würde  ein  Fall  vorliegen,  wie  ich  ihn  im  Auge  hatte,  als  ich  sagte, 
die  Stelle 

*üi  hk  C7)|A.atvJfAefta  t6v  £u&jx6n  xal  pdbpipov  zoioupev  ttq  edoft-fjoei,  wj«  irzis 
de  ^  i&clou«  ivö; 

sei  von  den  taktwechselnden  Rhythmen  zu  verstehen.  Sie  sind  bei  den  Grie- 
chen so  häufig,  dass  es  durchaus  nicht  als  überflussig  angesehen  werden 
kann,  wenn  Aristozenus  gleich  im  Anfange  seiner  Taktlehre  darauf  Rücksicht 
nimmt.  Mit  unserer  modernen  Taktauffassung  steht  es  anders,  da  würden 
solche  Fälle  immer  seltene  Ausnahmen  sein,  wenn  sie  überhaupt  vorkämen. 
Aber  wenn  man  vom  Standpunkte  unserer  modernen  Taktauffassuug  sagen 
wird:  In  Bachs  wohlt.  Clav.  2,  5  ist  die  Fuge  durch  Einen  Takt  begreiflich 
oder  anschaulich  gemacht,  dagegen  das  der  Fuge  vorhergehende  Praelu- 
dium  durch  zwei  Takte  vgl.  unten  S.  120,  da  Bach  hier  das  combinirte 
12 

Vorzeichen  Q  g  gebracht  hat,  so  würde  das  vollständig  richtig  sein  und  den 

"Widerspruch  Baumgarts  nicht  zu  scheuen  haben.  Wir  werden  in  der  Folge 
sehen,  dass  solche  Combinationen  verschiedener  r.6hn,  wie  sie  in  der  angege- 
benen Compositum  Bachs  vorkommen,  in  der  antiken  Rhythmik  gerade  so  häufig 
anzunehmen  sind ,  wie  sie  in  der  modernen  Rhythmik  zu  den  grössten  Selten- 
heiten gehören.  Ich  muss  daher  beharren,  den  Aristozenischen  Satz  von  takt- 
wechselnden  Rhythmopoeien  zu  verstehen. 

Sollte  er  die  ihm  von  Baumgart  vindicirte  Bedeutung  haben,  so  würde 
er  bei  einem  so  wissenschaftlichen  Theoretiker,  wie  es  Aristozenus  ist,  ebensowenig 
zu  verstehen  sein,  wie  die  Marquardsche  Interpretation  entschieden  falsch  ist. 


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24 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  17.  18.  19.  20. 


b.  Chrono!  podikoi  oder  Semeia. 

§  17.  Von  den  Takten  bestehen  die  einen  aus  zwei  Takt- 
zeiten: einem  Aufschlage  (avu>  XP0V0*)  einem  •  Niederschlage 
(xatto  xpsvo;), 

andere  aus  drei  Taktzeiten:  zwei  Aufschlägen  und  einem 
Niederschlage,  oder  aus  einem  Aufschlage,  und  zwei  Niederschlägen, 

die  Takte  einer  dritten  Kategorie  aus  vier  Taktzeiten:  zwei 
Aufschlägen  und  zwei  Niederschlägen. 

§  18.  Dass  nun  aus  Einem  Abschnitte  kein  Takt  bestehen  kann, 
ist  klar,  da  ja  Ein  Semeion  keine  Theilung  der  Zeit  bewirken,  ohne 
Theilung  der  Zeit  aber  kein  Takt  bestehen  kann. 

Dass  aber  ein  Takt  mehr  als  zwei  Semeia  hat,  davon  liegt  in 
dem  Umfange  des  Taktes  der  Grund.  Denn  die  kleineren  unter 
den  Takten,  die  der  Aisthesis  leicht  fasslich  sind,  sind  leicht  zu 
überschauen  auch  bei  ihren  zwei  Semeia.  Mit  den  grossen  Takten 
verhält  es  sich  anders,  denn  bei  ihrem  für  die  Aisthesis  schwer  zu 
erfassenden  Umfange  bedürfen  wir  mehrer  Semeia,  damit  in  mehre 
Theile  getheilt  der  Umfang  des  ganzen  Taktes  übersichtlicher  werde. 

Weshalb  aber  die  Semeia,  deren  der  Takt  seinem  Wesen  nach 
benötlügt  ist,  der  Zahl  nach  nicht  mehr  als  vier  sind,  wird  später 
gezeigt  werden. 

Die  Ariatoxenißchen  Termini  für  die  Takttheile  sind: 

für  leichten  Takttheil:  für  schweren  Takttheil 

avtu  yp<5vo;  Aufschlag  xdtui  ypovo;  Niederschlag  ♦  . 

tö  dvo>  tö  xdru) 

ipoi;  Hebung  ßdloi;  Niedertritt 
bei  der  späteren  (Aristides,  Lateinern): 

ap«i;  bist; 

sublatio  depositio. 

Die  Termini  des  Aristides  „Arsis  und  Thesis"  gebrauchen  die  modernen 
Musiker  in  demselben  Sinne :  „Arsis"  für  leichten,  „Thesis"  für  schweren  Takt- 
theil. Die  Philologen  seit  Bentley  mit  wenig  Ausnahmen  leider  in  dem  umge- 
kehrten Sinne  des  Aristides :  „Arsis"  für  schweren,  „Thesis"  für  leichten  Takt- 
theil. Daher  die  Ucbersetzungen  der  Germanisten:  „Hebung"  für  schweren, 
„Senkung"  für  leichten  Takttheil.   Vgl.  darüber  die  griechische  Metrik. 

Der  gemeinsame  Name  für  leichte  und  schwere  Takttheile  ist  bei  Aristoxe- 
nus  xp^i  nootxol  (vgl.  §  58);  sobald  keine  Zweideutigkeit  entstehen  kann,  bloss 


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II.  1.  Taktlehre  im  Allgemeinen. 


25 


ypdvoi.  Ebenso  auch  a^p^  rooixd  oder  p.£p-yj.  Ausserdem  kommt  bei  Aristoxe- 
nus der  Terminus  rr^tl*  oder  oratio.  ro&txd  vor.  Aristides  gebraucht  den 
Ausdruck  or^eia  gleichbedeutend  mit  yptfvoi  Tip&xot.  Aristoxenus  nur,  wie  wir 
eben  angegeben,  für  Takttheile  im  technischen  strengen  Sinne,  oder  auch  für 
die  Bewegungen  der  Orchestik. 

c.  Chrono!  Rhythmopolias  idiol. 

§  19.  Durch  das  eben  Gesagte  darf  man  sich  aber  nicht  zu 
der  irrigen  Meinung  verleiten  lassen,  als  ob  ein  Takt  nicht  in  eine 
grössere  Anzahl  von  Theilen  als  vier  zerfalle.  Vielmehr  zerfallen 
einige  Takte  in  das  Doppelte  der  genannten  Zahl,  ja  in  ihr  Viel- 
faches. Aber  nicht  an  sich  zerfällt  der  Tact  in  solche  grössere 
Menge  (als  wir  §  17  angaben)  sondern  die  Rythmopoeie  ist  es,  die 
ihn  in  derartige  Abschnitte  zu  zerlegen  heisst.  Die  Vorstellung  hat 
nämlich  aus  einander  zu  halten: 

einerseits  die  das  Wesen  des  Taktes  wahrenden  Semeia, 
andererseits  die  durch  die  Rythmopoeie  bewirkten  Zerthei- 
lungen. 

Und  dem  Gesagten  ist  hinzuzufügen,  dass  die  Semeia  eines 
jeden  Taktes,  überall,  wo  er  vorkommt,  dieselben  bleiben,  sowohl 
der  Zahl  als  auch  dem  Megethos  nach,  dass  dagegen  die  aus  der 
Rhythmopoeie  hervorgehenden  Zertheilungen  eine  reiche  Mannig- 
faltigkeit gestatten.  Auch  dies  wird  in  dem  weiterhin  Folgenden 
einleuchten. 

Der  Terminus  „Chronoi  Rhythmopoiias  idioi"  im  Gegensatze  zu  „Chronoi 
podikoi"  ist  von  Aristoxenus  überliefert  §  58.  Ueber  das  Wesen  dieser  Chro- 
noi Rhythmopoiias  idioi  vgl.  §  unten  S.  105  ff. 

d.  Logos  podiktfs  und  Alogla. 

§  20.  Bestimmt  wird  ein  jeder  der  Takte  entweder  durch  einen 
Logos  (podikos,  rhythmisches  Verhältnis)  oder  durch  eine  solche 
Alogie,  welche  zwischen  zwei  unserer  Aisthesis  fasslichen  Logoi  po- 
dikoi in  der  Mitte  liegt. 

Man  kann  sich  das  Gesagte  etwa  so  zur  Anschauung  bringen. 
"Wenn  man  zwei  Takte  nimmt,  von  denen  der  eine  den  Niederschlag 
gleich  gross  hat  wie  den  Aufschlag,  jeden  im  Werthe  eines  Chronos 
disemos, 


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26 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  20.  21 


x  - 

2  2' 

der  andere  den  Niederschlag,  vom  Werthe  eines  Chrono*  disemos» 
den  Aufschlag  halb  so  gross: 

2  1  ' 

wenn  nun  zu  diesen  Takten  ein  dritter  genommen  wird,  dessen 
Niederschlag  eben  so  gross  ist  wie  bei  jedem  der  beiden  genannten 
Takte,  während  sein  Aufschlag  die  mittlere  Grösse  (arithmetisches 
Mittel)  der  beiderseitigen  Aufschläge  hat: 

2  H 

Ein  solcher  Takt  wird  einen  Niederschlag  haben,  welcher  zum  Auf- 
schlage in  einem  irrationalen  Verhältnisse  steht.  Die  Irrationalität 
wird  aber  zwischen  zwei  der  Aisthesis  fasslichen  Verhältnissen,  je 
nach  dem  Verhältnis  des  Isorhythmischen  und  des  Diplasischen, 
genau  in  der  Mitte  liegen.  Dieser  Takt  hat  den  Namen  Choreios 
alogos. 

Boeckh  gebührt  das  grosse  Verdienst,  diesen  Choreios  alogos  des  Aristo- 
xenus  in  den  unter  Trochaeen  am  Ende  eines  Kolons  und  im  Inlaute  des  Ko- 
lons am  Ende  der  trochaeischen  Dipodie  statt  des  3-zeitigen  Trochaeus  ver- 
statteten Spondeus.  erkannt  zu  haben.  Dies  geht  auch  aus  Bacchius  de  musica 
p.  25  Meibom  hervor,  wo  ein  Takt  äX^ov»  apscrö;  xi\  &£aea>;  paxpä;  olov  öpf^" 
(mit  einem  Spondeus  als  Beispiel)  aufgeführt  ist,  welcher  die  antithetische 
Form  des  yopcio;  aXo^o;,  nämlich  ein  „tafißo;  aXo^o;4'  sein  würde.  Bacchius 
nennt  denselben  6p(ho;,  doch  vermuthe  ich,  dase  an  dieser  Stelle  des  Bacchius 
eine  Lücke  Bich  befindet.    (Griech.  Rhythmik  und  Harmonik  1867  S.  96). 

Der  Richtigkeit  der  Boeckh'schen  Entdeckung  that  es  keinen  Abbruch, 
dass  Boeckh  die  von  Aristoxenus  angegebene  Messung  des  Chrpnos  alogos 
nicht  richtig  interpretirt,  indem  er  die  beiden  Takttheilc  nicht  auf  2  +  V!tJ 
sondern  +  B/7  Chronoi  protoi  bestimmt,  die  Zeit  des  ganzen  Taktes  also  auf  3 
Zpövoi  7:pröTot.  Denn  Aristoxenus  sagt  ausdrücklich,  dass  der  Niederschlag  des 
yopcio;  von  gleichem  Zeitwerthe  sei  wie  der  des  Daktylus  und  der  des 

Trochaeus,  also  dass  er  2-zeitig  und  nicht  •"/,  -zeitig  sei. 

§  21.  Nur  hüte  man  sich  auch  hier  vor  Missverständnissen  aus 
Unbekanntschaft  mit  dem  Rationalen  und  Irrationalen,  in  welcher 
Bedeutung  es  in  der  Rhythmenlehre  zu  nehmen  ist  Wie  ich  in  den 
diastematischen  Stoicheia  dasjenige  als  etwas  der  Natur  des  Melos 
nach  Bestimmbares  gefasst  habe,  was 


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II.  1.  Taktlehre  im  Allgemeinen.  27 
erstens  ein  Melodumenon  ist, 

zweitens  seinem  Megethos  nach  dadurch  erkennbar,  (dass  es  ein 
Mnltiplum  des  kleinsten  Intervalles  der  Meloduma  ist,)  wie  z.  B.  die 
symphonischen  Intervalle  und  der  Ganzton  oder  alles  damit  Messbare, 

dagegen  dasjenige  als  etwas  bloss  den  Zahlenverhältnissen 
nach  Bestimmbares,  bei  welchem  es  der  Fall  ist,  dass  es  (um) 
ein  Ämelodeton  (kleiner  oder  grösser  als  ein  der  Natur  des  Melos 
nach  bestimmbares  Intervall)  ist,  so  soll  ganz  analog  das  Rationale 
und  das  Irrationale  auch  in  der  Rhythmik  genommen  werden. 

Das  eine  wird  nämlich  als  etwas  der  Natur  des  Rhythmus  nach 
Bestimmbares  gefasst,  das  andere  als  etwas  nur  den  Zahlenverhält- 
nissen nach  Bestimmbares. 

Die  in  der  Rhythmik  als  rational  gefasste  Zeitgrösse  muss 

also 

erstens  zu  denjenigen  gehören,  •  welche  in  der  Rhythmopoeie 
vorkommen, 

zweitens  ein  bestimmbarer  Theil  des  Taktes  sein,  in  welchem 
sie  einen  Takttheil  bildet  ; 
dagegen  dasjenige,  was  als  etwas  bloss  den  Zahlenverhältnissen  nach 
Bestimmbares  gefasst  wird,  muss  man  sich  analog  denken,  wie  in 
den  diastematischen  Stoicheia  das  Dodekatemorion  (Zwölftel)  des 
Ganztones,  und  wenn  noch  etwas  Anderes  von  der  Art  bei  dem 
Wechsel  der  Intervalle  vorkommt. 

(Diesen  Intervallgrössen  steht  nämlich  das  Mass  gleich,  mit 
welchem  wir  die  Arsis  des  Chöreios  alogos,  die  zwischen  der  2zei- 
tigen  und  der  1  zeitigen  Arsis  die  Mitte  hält,  messen,  d.  i.  der 
halbe  Chronos  protos,  welcher  keine  von  den  in  der  Rhythmopoeie 
vorkommenden  Zeitgrössen  ist.) 

Aus  dem  Gesagten  ist  klar,  dass  die  in  der  Mitte  zwischen  den 
beiden  Arsen  stehende  Arsis  des  Choreios  alogos  nicht  commen- 
surabel  mit  der  Basis  ist,  denn  es  giebt  kein  den  beiden  Takttheilen 
gemeinsames  Maass,  welches  als  rhythmische  Grösse  vorkäme. 

Die  Analogieen  seiner  diastematischen  Stoicheia  (Intervallenlehre),  auf  die 
Aristozenus  verweist,  finden  sich  erste  Harmonik  und  zweite  Harmonik  vgl.  unten. 

Der  handschriftlich  überlieferte  Text  des  §  21  ist  durch  Auslassung 
von  Sätzen  verstümmelt.  Wir  haben  durch  Einschaltungen  in  der  Ueber- 
setzung  das  Ursprüngliche  herzustellen  gesucht.    Zur  Noth  kann  man  den 


28  Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  22.  26.  24. 

Sinn  des  von  Aristoxenus  Dargelegten  aus  dem  handschriftlich  Erhaltenen  ver- 
stellen, aber  eben  nur  mit  Noth  und  Mühe.  Aristoxenus  schreibt  klarer  und 
fasslicher,  und  sichert  sich  sonst  überall  vor  derartigen  Missverständnissen  aufs 
sorgsamste  und  peinlichste.    Vgl.  den  Anfang  gerade  dieses  §. 

e.  Siebenfache  Taktrerschiedenbeiten. 

§  22-  Von  den  Unterschieden  der  Takte  mögen  folgende  sieben 
dargelegt  werden: 

der  erste,  nach  welchem  sie  durch  das  Megethos  (den  Umfang) 
verschieden  sind, 

der  zweite,  nach  welchem  sie  durch  die  Taktart  verschieden 

sind, 

der  dritte,  nach  welchem  die  einen  rational,  die  andern  ir- 
rational sind. 

der  vierte,  nach  welchem  die  einen  unzusammengesetzt,  die 
andern  zusammengesetzt  sind, 

der  fünfte,  nach  welchem  sie  durch  Diairesis  (Theilung  in 
Takttheile)  von  einander  verschieden  sind, 

der  sechste,  nach  welchem  sie  sich  durch  Schema  (Form) 
unterscheiden, 

der  siebente,  nach  welchem  sie  durch  die  Antithesis  (Ord- 
nung der  Takttheile)  verschieden  sind. 

Mit  Rücksicht  auf  den  mit  der  Sache  noch  nicht  bekannt  gewordenen 
Leser  ändern  wir  in  den  folgenden  Erläuterungen  der  in  Rede  stehenden  sieben 
Takt  Verschiedenheiten  die  Reihenfolge.  Für  den  innerhalb  des  Griecheuthums 
Stehenden  konnte  es  kaum  eine  andere  Reihenfolge  geben  ab  die  von  Aristoxe- 
nus eingehaltene ;  für  den  zunächst  auf  die  vulgären  Takttheerien  unserer  mu- 
sikalischen Theorien  Angewiesenen  müssen  wir  dem  Verständnisse  durch  eine 
etwas  andere  Reihenfolge  entgegen  kommen. 

a'.  Einfache  und  zusammengesetzte  Takte. 

§  26.  Die  unzusammengesetzten  Takte  unterscheiden  sich  von 
den  zusammengesetzten  dadurch,  dass  sie  (die  unzusammengesetzten) 
nicht  in  Takte  zerlegt  werden,  während  die  zusammengesetzten  diese 
Zerlegung  zulassen. 

Auch  wenn  wir  den  „Takt"  unserer  modernen  Rhythmik  (Musik)  defi- 
niren  sollen,  so  werden  wir  kaum  eine  andere  ganz  sachgeraässe  Erklärung 


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II.  1.  Taktlehre  im  Allgemeinen. 


29 


geben  können,  als  indem  wir  sagen:  „Der  Takt  ist  entweder  ein  Versfuss  oder 
er  ist  eine  Combination  von  zwei,  von  drei  oder  auch  von  vier  Versfüssen. 
An  unserer  Instrumentalmusik  ist  das  schwerer  klar  zu  machen  als  an  unserer 
Vocalmusik,  obgleich  auch  für  die  Instrumentalmusik  jene  Definition  des  Taktes 
in  ihrem  vollkommenen  Rechte  ist, 

Takte  aus  einem  Versfusse  nennen  wir  monopodische  Takte,  z.  B. 
Don  Juan 

2      #  t  i  t 

4     Artige     Madchen     führst  du  her-  bei 

Takte  aus  zwei  Versfüssen  nennen  wir  dipodische Takte  z.B.  Zauberflöte 

4  Der    Vogelfänger    bin  ich  ja 

Takte  aus  vier  Versfüssen  nennen  wir  tetrapodischc  Takte  z.  B. 
Händel  Messias 

12  ,  , 

8  Er    weidet  seine  Heer  de 

Takte  aus  drei  Versfüssen  nennen  wir  tripodische  Takte,  doch  kommen 
sie  hauptsächlich  in  der  Instrumentalmusik  Bachs  vor;  für  die  Vocalmusik  ge- 
stehe ich,  kein  Beispiel  anführen  zu  können. 

In  der  Praxis  geht  auch  der  griechische  Takt  nur  bis  zur  Tctrapodie; 
theoretisch  erkennt  Aristoxenus  aber  auch  Takte  von  fünf  und  sechs  Vers- 
füssen an:  pentapodische  und  hexapodisehe  Takte  (vgl.  unten  S.  59». 

So  hat  denn  bei  Aristoxenus  der  Takt  zwei  Bedeutungen.  Er  bedeutet 
einmal  „Versfuss",  wie  bei  den  griechischen  Metrikern,  er  bedeutet  sodann 
eine  Verbindung  von  2,  3.  4,  5,  6  Versftissen,  für  welche  bei  den  Metrikern  der 
gewöhnliche  Name  „Kolon"  ist. 

Den  monopodischen  (mit  dem  Versfusse  zusammenfallenden)  Takt  nennt 
Aristoxenus  einfachen  Takt:  den  aus  mehreren  Versfüßen  oder  monopo- 
dischen Takten  bestehenden  Takt  nennt  Aristoxenus  zusammengesetzten 
Takt.  Dies  besagt  die  Definition  §  26:  ,.die  einfachen  Takte  lassen  keine 
Zerlegung  in  Takte  zu,  wohl  aber  die  zusammengesetzten." 

fj'.  Gerade  und  ungerade  Taktart. 

§  24.  Durch  die  Taktart  unterscheidet  sich  der  eine  Takt  von 
dem  anderen,  wenn  die  rhythmischen  Verhältnisse  der  Takte  ver- 
schieden sind,  z.  B.  wenn  der  eine  Takt  das  gerade  Taktverhältiiis, 
der  andere  Takt  das  zweitheilig -ungerade,  der  dritte  ein  anderes 
der  errhythmischen  Verhältnisse,  z.  B.  das  fünftheilig-ungerade  Takt- 
verhältnis hat. 

Wir  Modernen  unterscheiden  schlechthin  eine  gerade  und  eine  ungerade 
Taktart.    Die  Griechen  haben  zwei  ungerade  Taktarten,  die  eiue  eine  zwei- 


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30  Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  24.  28.  29. 

• 

theilige  wie  bei  uns,  die  andere  eine  ftinftheüig-ungerade,  welche  in  der  mo- 
dernen Musik  äusserst  selten  ist  und  keineswegs  bei  uns  den  beiden  anderen 
coordinirt  werden  kann.  Selbstverständlich  bezieht  sich  die  Unterscheidung 
der  geraden  und  ungeraden  Taktart  sowohl  auf  die  einfachen  wie  auch  auf  die 
zusammengesetzten  Takte,  bei  Aristoxenus  nicht  minder  als  bei  den  modernen. 
Nur  ist  Aristoxenus  in  dieser  Unterscheidung  der  geraden  und  ungeraden  Takt- 
art für  die  zusammengesetzten  Takte  viel  gewissenhafter  als  die  modernen 
Musiktheoretiker.  Ein  aus  vier  ungeraden  einfachen  Takten  zusammengesetzter 
12 

—  -Takt  ist  nach  Lobe  ein  ungerader  Takt,  nach  Aristoxenus  dagegen  ein 
gerader  Takt. 

„Wenn  ich  vier  Drei  -  Rubel  -  Scheine  besitze,  so  wird  die  Gesammt- 
zahl  der  Rubel  nicht  minder  eine  gerade  sein,  als  wenn  ich  zwölf  einzelne 
Rubel  habe.  Genau  diesem  Gebrauche  von  „gerade"  und  „ungerade",  in  wel- 
chem die  Sprache  der  Arithmetik  und  des  gewöhnlichen  Lebens  die  beiden 
Wörter  anwendet,  entspricht  der  gerade  und  ungerade  Takt  im  alten  jetzt 
mehr  als  2000jährigen  Gebrauche  des  Aristoxenus.  Als  dem  gewöhnlichen  Ge- 
brauche entsprechend  bedarf  der  Aristoxenische  Gebrauch  keiner  besonderen 
Rechtfertigung.  Dagegen  wäre  dieselbe  für  den  vom  gewöhnlichen  Leben  ab- 
weichenden Sprachgebrauch  Lobes  noth wendig,  wenn  dieser  darauf  Anspruch 
macht,  an  die  Stelle  des  Aristoxenischcn  gesetzt  zu  werden."  Allgem.  Theorie 
der  musikal.  Rhythmik  seit  Bach  1880  §  57.  Ich  weiss  übrigens,  dass  die  Lehre 
6  12 

Lobes,  der  —-  und  —  Takt  sei  ein  ungerader,  keineswegs  allgemein  von  den 

Musikern  adoptirt  ist;  alle,  welche  ich  um  ihre  Auffassung  fragte,  meinten,  dass 
diese  Takte  unter  die  Kategorie  der  geraden  zu  zählen  sein  werden. 

Y'.  Verschiedenes  Megethos. 

§  23.  Durch  das  Megethos  (die  Grösse  oder  den  Umfang)  ist 
ein  Takt  von  einem  Takte  verschieden,  wenn  das  (durch  die  Anzahl 
der  Chronoi  protoi)  sich  ergebende  Megethos  in  dem  einen  Takte 
ein  grösseres  als  in  dem  andern  ist 

Hierin  weicht  die  griechische  Anschauung  von  der  modernen  iu  folgendem 
Stücke  ab : 

Wir  denken  uns  den  monopodischen  daktylischen  Takt  grösser  und  kleiner 

^^^^ 

je  nachdem  er  durch  J  J  J  J  oder  J  J  j'J  oder  J  J  J  J  bezeichnet  ist,  ebenso 

den  tetrapodisch-daktylischen  Takt,  je  nachdem  er  durch  ^  0'  ^  oder 
J  J  J  J  oder  durch  J  J  j  j  ausgedrückt  ist;  ebenso  denken  wir  uns  den  tri- 

podischen   -  -  Takt   j  #«  j  J  Jjjj  J  j  j  j  grösser  als   den  tripodischen 
-  Takt  J  j  j  j  J"Jj"j  J^Jj  u.  s.  w.   Solche  Unterschiede  des  Megethos 


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II.  1.  Taktlehre  im  Allgemeinen. 


31 


haben  die  Alten  nicht,  da    |    |    i    |    und    t  ,  ,  ,  und    i  ,  ,  ,  in  diesem 

•  •  •  •  «44m  «44« 

Falle  nicht«  anders  sind  als  je  vier  Chronoi  protoi.  Und  selbst  wenn  in  diesen 
verschiedenen  Schreibungen,  in  der  Viertel-,  Achtel-  und  Sechszehntel-Schrei- 
bung, die  Takte  sich  von  einander  durch  grössere  oder  geringere  Geschwin- 
digkeit unterscheiden  sollen,  wie  dies  wohl  in  der  Instrumental-Musik  Bachs, 
aber  nicht  bei  Mozart  und  Beethoven,  der  Fall  ist,  so  würde  das  nach 
Aristoxenus  ein  Unterschied  des  Tempos,  aber  kein  Unterschied  des 
Taktes  sein.  Die  Griechen  zählen,  wie  gesagt,  bei  einem  Takte  nur  die  Ge- 
sammtzahl  der  Chronoi  protoi  und  geben  dabei  das  Genos  (die  Taktart)  an. 
Wir  modernen  müssten,  um  ein  genaues  Takt- Vorzeichen  zu  geben,  unseren 
Taktbezeichnungen  noch  hinzufügen,  ob  der  Takt  ein  monopodischer,  dipodi- 
scher,  tripodischer,  tetrapodischer  ist.  Es  giebt  monopodische,  dipodische,  te- 
trapodische  C- Takte:  die  dipodischen  bei  Bach  regelmässig  q  geschrieben 
(kleiner  alla  breve  Takt),  während  bei  späteren  wenigstens  in  den  Ausgaben 
C  und  (H  gewöhnlich  verwechselt  wird;  es  giebt  monopodische,  dipodische, 

2  4 
tetrapodische  —  -  Takte,  die  monopodischen  bei  Bach  —  -Takt  genannt;  es 

giebt  dipodische  und  tetrapodisch  alla  breve  Takte  (kleine  und  grosse),  jene 

3 

C,  diese  $  geschrieben;  es  giebt  monopodische  und  tripodische  -  -  und  ebenso 
3  9 

---Takte.  Es  giebt  monopodische  und  tripodische  —-Takte,  die  monopo- 
9 

dischen  y  -  Takte  gehören  zu  den  triolischen,  deren  wir  S.  15  erwähnten. 

i'.  Verschiedene  Ordnung  der  Takttheile,  verschiedene  Antithesis. 

§  29.   Durch  Antithesis  unterscheiden  sich  von  einander  die- 
jenigen Takte,  welche  den  schwachen  und  starken  Takttheil  in  einer  " 
entgegengesetzten  Reihenfolge  haben.  Dieser  Unterschied  wird  Statt 
finden  bei  Takten,  welche  gleich  sind,  aber  den  schwachen  und 
starken  Takttheil  in  einer  ungleichen  Anordnung  haben. 

Hier  ist  der  handschriftliche  Wortlaut  der  Aristoxenischen  Definition  sehr 
corrumpirt  Ich  habe  ihn,  so  gut  es  gehen  wollte,  nach  dem  Sinne  hergestellt. 
Doch  weicht  diese  Definition  der  Antithesis  immerhin  in  ihrer  Fassung  von 
der  Manier  der  übrigen  Definitionen  ab;  man  möchte  die  erhaltenen  Worte  des 
letzten  Satzes  eher  einem  erklärenden  Scholiasten  zuschreiben. 

Der  Anonymus  Bellermanni  II,  §  3  und  §  83  giebt  die  Notiz:  ,,'H  piv  ouv 
ftioie  OTj|xatvcTat  2xav  aiik&z  ?6  arjfulov  dfortXTOv  tq  ,  tj  oi  <£p«t;  8xav  iotty- 
piw  3 8a  oyv  f/roi  6t  «pfrrje  piXou;  ycupU  orifirJJ;  9}  ypdvov  tov  xaXou- 
(jivou  xrvoü  izapd  ttst  Ypdqprtai  ^  paxpac  6typ<$vo'j  —  ^  rpt^pdvou  yj  rerpa^pö- 
vo'j  ^  iccvra£pövou  ,  'cv  pev  ij>5^  xcyupiva  Xiy etat,  iv  ii  piXci  fiövtp  xaXctTat 
Sia^T^.a^fjLaTO.     Von  §  97  an  enthält  der  Anonymus  einige  Muaikbeispiele 


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32  Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  29. 

in  Instrumentalnoten,  in  denen  sowohl  die  «rt?^  wie  die  den  ypövo;  xevö;  und 
die  jjiaxpö  bedeutenden  Zeichen  zu  den  Noten  hinzugefügt  sind.  Aber  bezüg- 
lich der  o-riyat;  schliessen  wir  aus  diesen  Musikbeispielen,  dass  in  der  zu  An- 
fang gemachten  Angabe  die  Wörter  8£ai;  und  apat;  vertauscht  sind:  es  muss 
heissen  „*)  jxi-»  ojv  apot;  OTjualvetat,  8tov  d^Xöj;  to  arjfjieiov  aarirrov  tJ.  ^ 
oe  ö£at;  foav  £oTtYfA£vov.  Dem  würde  entsprechen,  dass  sonst  überall  bei  den 
Musikschriftstellern  an  erster  Stelle  die  ipoi;.  an  zweiter  die  Hiai;  genannt  wird, 
wenn  nicht,  wie  Aristo*,  rh.  el.  §  20,  gerade  bestimmte  Takte  gemeint  sind. 

Die  „oTifj.fr"  hatte  also  laut  dieser  Mittheilung  in  der  alten  Musik  die 
Bedeutung  unseres  Taktstriches.  Für  unsere  moderne  Notirung  nehmen  wir 
an,  dass  der  Taktstrich  immer  den  Anfang  eines  Taktes  bedeute,  und  wir  be- 
zeichnen alles  dem  Taktstriche  Vorausgehende  als  Vortakt.  So  war  es  bei  den 
Griechen  nicht.    Als  Beispiel  eines  wj;  e^dor^o;  bringt  der  Anonymus  §  97: 

T  r  l    t  h  I   r  t 


Hier  wird  der  t:oj;  nicht  wie  bei  uns  (von  Taktstrich  zu  Taktstrich)  ge- 
rechnet, sondern  je  vier  Tone  bilden  einen  ttou;  Haarlos,  der  auf  der  vierten 
Note  die  ort?^  hat.  Auch  die  in  der  Folge  zu  erläuternden  Angaben 
des  Aristoxenus  stimmen  damit  überein,  dass  nach  der  antiken  Auffassung  der 
Takt  keineswegs  immer  mit  der  am  meisten  accentuirten  Note  beginnt,  sondern 
dass  auch  die  nichtaccentuirten  oder  weniger  accentuirten  im  Anfange  des 
Taktes  stehen  können.  Wir  Modernen  gehen  dagegen  so  weit,  dass  wir  z.  B. 
vom  Anfange  des  Don  Juan: 

r  ii  l  Ii 

C  Keine    Ruh  bei  Tag  und  Nacht 

sagen,  dem  Takte  gehe  hier  ein  Auftakt  von  dem  Umfange  eines  ganzen  Vers- 
fusses  voraus,  obwohl  wir  für  den  poetischen  Text  nicht  anders  wissen,  als 
dass  „Keine"  ein  integrirender  Bestandtheil  des  Kolous  ist.  Von  dem  Verse 
der  Bachschen  Cantate  ,,ich  hatte  viel  Bekümmernis": 

iii  ii 
C  Bäche  von  gesalznen  Zähren 

sagen  wir  sogar,  dass  dem  ersten  tetrapodischen  Takte  ein  Auftakt  von  drei 
Versfüssen  vorausgehe.  Es  wäre  Zeit,  dass  wir  im  Interesse  der  richtigen 
rhythmischen  Auffassung  zu  der  Takttheorie  der  (kriechen  zurückkehrten, 
und  nicht  mehr  den  Takt  äusserlich  nach  der  Stelle  des  Taktstriches  bemässen, 
sondern  den  Satz  aussprächen,  dass  auch  bei  uns  ein  Takt,  namentlich  ein 
grösserer  zusammengesetzter  Takt,  den  Taktstrich  bald  am  Anfange,  bald  in 
der  Mitte,  bald  gegen  das  Ende  zu  (vor  der  stärksten  Accentnote  des  ersten 
oder  des  zweiten  oder  des  dritten  oder  des  vierten  Versfusses)  haben  könne. 
Gestehen  wir  endlich  ein,  dass  unser  Taktstrich  gegenüber  der  Weise  der 
Griechen  kein  Fortschritt,  sondern  ein  noth wendiges  Uebel  ist.  nothweu- 


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II.  1.  Taktlehre  im  Allgemeinen. 


33 


dig  durch  die  Gleichzeitigkeit  verschiedener  Stimmen,  obwohl  auch  die  Poly- 
pionie der  früheren  Jahrhunderte,  wie  z.  B.  Palestrinas,  des  Taktstriches  noch 
entbehren  konnte. 

e'.  Takte  von  verschiedener  Diairesis  (Theilung). 

§  27.  Durch  Diairesis  unterscheiden  sich  die  Takte  von  ein- 
ander, wenn  das  gleiche  Megethos  in  ungleiche  Theile  zerlegt  wird, 
ungleich  entweder  sowohl  durch  die  Anzahl  wie  durch  die  Megetho 
der  Theile,  oder  bloss  durch  die  Megethe. 

Mit  den  Worten  stimmt  die  Uebersetzung  nicht  genau  übercin,  den  Sinn 
gitbt  sie  vollständig  genau,  8xav  xö  auxö  [ii^etto;  cU  dvtoa  [Upr]  Siaipeftfj,  fjxoi 
xaxd  dpupfccpa,  xaxd  xe  xöv  dpiöpiov  xat  xaxd  xd  ixzfi^,  T}xaxdddxepa.  Es 
ergiebt  sich  leicht,  dass  dies  „eine  von  beiden"  „Anzahl  oder  Grösse  der 
Theile"  nicht  die  Anzahl,  sondern  nur  die  Grösse  sein  kann.  Vgl.  unten. 

Ein  vorläufiges  erläuterndes  Beispiel  aus  der  modernen  Musik:  Der 
6  3 

---Takt  und  der  -  -Takt  enthalten  jeder  sechs  Achtel,  aber  die  Diairesis,  die 

b  4 

Takttheilung  ist  verschieden. 

Takte  von  verschiedenem  Schema. 

§  28.  Durch  das  Schema  unterscheiden  sich  die  Takte  von 
einander,  wenn  dieselben  Theile  desselben  Megethos  nicht  auf  die- 
selbe Weise  geformt  sind. 

Hier  ist  die  Textcsüberlieferung  defect:  „Zxav  xd  auxd  pipTj  xou  aüxoü 
ueittiojz  ^  «uaajxoo;  r]."  Offenbar  ist  am  Ende  eine  Lücke,  welche  Psellus 
ausfällt,  wenn  er  „p^  tuaauxt»;  tJ  xeta-fp^va"  schreibt.  Ich  hielt  das  früher  für 
das  authentische  Wort  des  Aristoxcnus.  M.  Schmidt  widerspricht  mit  Recht  und 
verlangt  iLaaSxtu;  [xet>]^."  Daun  würde  die  oia<popd  xaxd  o/f^a  mit  der 
iia^opd  xax  dvxUhstv  auf  dasselbe  hinauskommen,  von  der  sie  doch  augenschein- 
lich etwas  verschiedenes  sein  soll.  Eine  Verbalform  auf  erfordert  die  durch- 
gängige Analogie:  sie  ist  noch  genauer,  wenn  wir  als  Verbum  Oy/^xio»]^ 
ergänzen. 

Ataipiaei  Ii  otasfipouaiv  dXX^Xav         2/Tjptaxi  Se  Statfcpojoiv  dXXV)Xa»v, 
8xav  x4  atixö  fie^etto;  Zxov  xd  aüxd  jx£p7j  xou  auxoü  {aet^öo-j; 

et;  dviaa  pUpr,  Siaipeftirj.  (boauxeue  sy ;7j}xaxioi^. 

„Theilungs- Unterschied  ist  es,  wenn  anders  getheilt  ist." 

„Form -Unterschied,  wenn  anders  geformt  ist." 

Das  scheint  zwar  eine  etwas  äusserliche  Definition  zu  sein  von  der  Art 
der  altjuristischen  „Servus  est  qui  servit."  Aber  wir  müssen  bedenken,  dass 
vor  Aristoxcnus  die  Namen  xaxd  Sialpeatv  und  /ata  <jyfj(ua  Sta^opd  noch  nicht 
üblich  waren,  dass  er  zuerst  diese  Neuerung  in  der  rhythmischen  Terminologie 
gemacht  hat   Und  da  ist  der  Sinn  doch  nur  folgender:  „Wenn  gleich  grosse 

Arlttoxenu«,  Melilt  u.  Rhythmik.  3 


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34 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  25.  30. 


Takte  verschieden  getheilt  sind,  so  nenne  ich  das  Theilungs- Ver- 
schiedenheit der  Takte;  wenn  gleich  grosse  und  gleich  getheilte  Takte  in 
ihren  einzelnen  Thcilcn  anders  geformt  sind,  so  nenne  ich  das  Form- 
Verschiedenheit  der  Takte."   Das  kann  mau  sich  gefallen  lassen. 

Alle  übrigen  Unterschiede  der  iztäez,  so  viele  ihrer  existiren,  sind  in  den 
Aristoxenischen  Sto^opai  berücksichtigt,  nur  der  eine  Unterschied,  dass  bei  Gleich- 
heit der  Taktart,  des  Taktumfanges  und  der  Antithesis  der  Takttheile  zwei 
Takte  eine  verschiedene  Silbenform  haben  können,  z.  B.  der  eine 

loivtxöc  duö  |j.etCovo;  die  Form  j.  —  w^,  der  andere  die  Form  x  ,  dieser 

Unterschied  würde  von  Aristoxenus  übersehen  sein,  wenn  nicht  dessen  „Statpopä 
xaxd  <T/;fifA«  ™66;"  eben  von  dem  verschiedenen  „Silbenschema  des  Vers- 
fusses"  zu  verstehen  wäre. 

Es  handelt  sich  allgemein  gesagt  bei  dem  oy^fia  um  die  Art  und  Weise, 
wie  bestimmte  rhythmische  Zeitgrössen  durch  die  p-ip^j  toü  pjtt|AtCofii*iy  aus- 
gedrückt werden.  KaXrä;  V  eizetv  toioütov  vot^t^o^  £>v>ttfit£4,u6vov,  oion  otivaottat 
|i£Ta-Ü}eo8ai  ei;  y  pövoiv  jaey^Htj  7zav:o&aird  xal  ei;  fcuvöecEt;  ravTooaTra;.  Besteht  das 
puÖjjitCöpievov  in  den  Silben  der  Xefo,  so  kann  es  vorkommen,  dass  dasselbe  y  povo>%. 
pll&oi  „Otto  (xiöi;  $vXXa?f);  xarvlri'^i"  oder  dass  es  „iirö  rXeidv<uv  SuXXafJüiv 
wzakrftfrfi".  Im  ersten  Falle  nennen  wir  den  ypovo;  „zpi;  xVjv  p^dponoti?; 
ypf(aiv  ßXezovre;"  einen  douvOeto;,  im  zweiten  Falle  einen  ayvöeto;.  Aristox. 
rhythm.  §  14.  Die  ota-fopä  <r/f,|Aaxo;  rooöv  besteht  also  darin,  dass  in  einem 
no'j;  derselbe  y^pövo;  f>y»fAix6;  in  der  Sylbenzusammenstellung  ein  öouvÖcto«  oder 
dass  er  ein  oyvfteTo;  im  Sinne  der  yp-rj<Ji;  py&|A07roiia;  sein  kann. 

Aber  wir  haben  bei  jeder  der  von  Aristoxenus  aufgeführten  5ia<popal  roSöav 
nicht  blos  an  die  dou^exoi  -45e;  oder  Versfusse  zu  denken,  sondern  auch  au 
die  oivÖeTOi  rAhta  oder  Kola.  Und  hieran  denkt  Aristoxenus  bei  der  fcioupo&i 
xxtd  oyfjjxa  ganz  speciell,  wie  aus  der  von  ihm  gegebenen  Definition  hervor- 
geht. Die  einzelnen  Versfusse,  aus  denen  der  <j6v»)c-o;  -oy;  zusammengesetzt 
ist,  erhalten  verschiedene  Form  durch  Auflösung  und  Zusammeuziehung,  das 
ganze  Kolon  ausserdem  aber  auch  noch  1)  durch  die  verschiedenen  Arten  der 
Katalexis,  im  Auslaute  und  auch  im  Inlaute,  2)  dadurch  dass  das  x&Xov  ent- 
weder ein  xaftapöv  oder  ein  jjlixtov  ist.  Also  dtzdUeoi;  (xaTdXr^i;)  und  jAtfct;  sind 
die  beiden  Elemente,  auf  die  es  bei  dem  <JXfj|Aa  tou  cdv&Itou  ttooö;  ankommt. 
Vgl.  darüber  unten  S.  113. 

t/.  Bationale  und  irrationale  Takte. 
§  25.   Die  irrationalen  Takte  unterscheiden  sich  von  den  ratio- 
nalen dadurch,  dass  der  schwache  Takttheil  mit  dem  starken  nicht 
commensurabel  ist. 

Vgl.  Aristox.  rhythm.  §  20  mit  der  von  uns  dazu  gegebenen  Erläuterung, 
aus  welcher  erhellt,  dass  es  bei  den  irrationalen  Takten  hauptsächlich  auf  deu 
Auslaut  des  Kolons  oder  bestimmter  rhythmischer  Abschnitte  im  Inlaute  des 
Kolons  ankommt. 


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II.  2  a.  Taktarten  und  Taktgrössen  continuirlicher  Rbythinopoeie.  35 


2.  TAKTARTEN  UND  TAKTGRÖSSEN. 

a.  Taktarten  continuirlicher  Rhythmopoeie. 

§  30.  Für  die  Takte,  welche  eine  continuiiliche  Rhythmopoeie 
verstatten*),  giebt  es  drei  Takt  arten,  die  daktylische,  die  iambische, 
die  paeonische  Taktart**): 

die  daktylische  in  geradem  Verhältnisse,  gerader  logos  \sos, 
Verhältniss  des  Gleichen; 

die  iambische  in  dem  ungeraden  Verhältnisse  1:2,  ungerader 
logos  diplasios,  Verhältniss  des  Doppelten; 
die  paeonische  in  dem  ungeraden  Verhältnisse  2:3,  ungerader 
logos  hemiolios,  Verhältniss  des  Anderthalbfachen. 

*)  Continuirliche  Rhythmopoeie  ILw/tfi  {iuftfAozoita  ist  bei  Mar.  Victoriu. 
mit  „continua  rhythmopoeia"  übersetzt  Hephaestion  gebraucht  das  Wort  suvey+,;: 

1.  von  der  continuirlichen  oder  wenigstens  mehrmaligen  Folge  desselben 
Versfußes  innerhalb  eines  Metrons  oder  Stichos.  Es  wenden  nach  ihm  z.  B 
die  Komiker  im  iambischen  Trimetron  den  Anapaest  cuveyö>;  an,  wie 

Vesp.  979  xaxd^a,  xatafta,  xa-rdßa,  xardpa,  xaTaßTjao|J.oi 

(fünf  Anapaesten  hintereinander), 
Av.  108  TTO&ardi  o\  2ötv  al  tprfjpei;  al  xaXal 

(drei  Anapaesten  hintereinander). 

Hephaestion  c.  5  sagt:  Toütov  (tgv  dvdjiaiaTov)  S£y_CTat  tö  iet|j.ßix6v  rcapd 
toi;  xtofitxot;  auvey  di;,  ~apd  &e  toi;  la(ißozotoi?  xal  toT;  Tpa^ixoü  ajravidiTe- 
pov.  Derselbe  sagt  c.  6  von  dem  im  trochaeischen  Tetrametron  angewendeten 
Daktylus:  tüj  Ii  iaxxüXi»  xtfi  xard  td«  Ttepirrdc  £p.7iltnwrt  y<t>pa;  f(xiOTa  ol 
ßoroioi  typ-fjoavTO  TTOi^Til,  anavltuc  Se  xat  ol  Tpa^ixol,  ol  fce  xopuxol  ooveyd>; 
»azep  xai  £n  töi  ln\i^ix^i  t»T>  eul  ttJ;  dp-rlou  dvarcaloTq). 

1.  Von  der  continuirlichen  Folge  ein  und  desselben  Kolons  oder  Metrons 
z.  B.  des  dvxraiartxov  rapotpuax6\  p.  c.  8:  Kpaxivo;  Ii  iv'US'jaseDoi  aur«]j  £yp^aato. 

St^dv  vjv  &ra;  £yt  atfdv 

xai  Ttdvra  ).<$y0v  "dya  xe6aet 
ferner  c.  9  von  den  yopiajxßtxd  TCTpdjiCTa  <S  xal  ouvcy  doTepd  £<mv  ola  xauxl 
rd  Za^oü; 

Acut£  vuv  djüpal  Xdpvre;  |  xaXXlxopol  tb  Motoai. 

Auch  von  dem  paeonischen  Verse 

{hipcXixdv  löt  |*dxap  |  <piXo<ppovtu;  eU  ipw 
sagt  Hephaestion  c.  13  ,,u»  oVj  fyapcv  Tp<5r<p  o  jvey  öä;  xeypjaBai  oötoj«  toü 

T6Tp<JJx£TpOU,  TOU  TpiOl  TtatoOt  TOt«  Ttpd>T0lC  iird^ClV  XpTjTtXOV. 

Hiernach  bedeutet  „r>6htz,  welche  die  ojveyfj  [>u8{A07tt>tla  annehmen",  soviel 
wie  „irtföc;,  welche  mehrmals  oder  continuirlich  wiederholt  werden  können." 

3* 


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:56 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  30.  31. 


Dieser  Ausdruck  des  Aristoxenus  schliesst  in  sich,  dass  es  ausser  den  in  diesem 
Zusammenhange  genannten  TtoSe;  und  Taktarten  auch  noch  andere  tMzs  giebt, 
(audvioi  iroöe;),  welche  eine  oyvex^  ^*jftf».oiroita  nicht  annehmen,  —  welche  nicht 
mehrmal  hintereinander  wiederholt,  sondern  nur  isolirt  gebraucht  werden  kön- 
nen, nur  so,  dass  ihre  Continuität  von  anderen  Ttöäcc  unterbrochen  wird. 

**)  Damit  wir  von  einer  aus  gleichen  Einheiten  (hier  den  chronoi  protoi) 
bestehenden  Gruppe  ein  deutliches  Bewusstsein  des  Ganzen  haben,  zerlegen 
wir  sie  inTheile.  Am  einfachsten  ist  die  Zerlegung  in  zwei  Theile,  einerlei  ob 
diese  einander  gleich  oder  in  einer  für  unsere  Aisthesis  leicht  zu  merkenden 
Weise  ungleich  sind.  Nicht  nur  die  einfachen,  sondern  auch  die  zusammen- 
gesetzten Takte  zerlegen  wir  in  dieser  Art: 

_  _  |  _  _  Gruppe  gerader  Theilung  (daktylisch) 

_  |  dreitheilig-ungerade  Gruppe  (iambisch) 

 I  fünfthcilig-ungerade  Gruppe  (paeonisch), 

wobei  wir  uns  eine  jede  der  kleinen  Linien  entweder  als  einen  Chronos 
protos  zu  denken  haben  (dann  ergeben  sich  einfache  Takte  oder  Versfitsse), 
oderals  cinMultiplum  von  Chronoi  protoi  (dann  ergeben  sich  zusammen- 
gesetzte Takte). 


b.  Umfang  der  Takte  continuirlicher  Rhythmopoeie. 

Von  der  Taktscala  des  Aristoxenus  ist  uns  nur  §  31—35  erhalten,  von 
§  36  nur  der  Anfang.  Damit  bricht  das  Fragment  des  cod.  Vatieanus  für 
immer  ab  (der  cod.  Venetus  schon  früher,  innerhalb  des  §  19).  „Bereits  G. 
Hermann  vermuthete,  dass  hier  ein  wichtiger  Theil  der  Aristoxenischen  Rhyth- 
mik verloren  gegangen."  G.  Hermann  opuscula  3  p.  92.  Es  ist  einer  der  aller- 
wichtigsten,  allein  gerade  hier  ist  der  Verlust  nicht  unersetzlich.  Denn  das 
Erhaltene  giebt  uns  die  sicheren  Normen  an  die  Hand,  mit  denen  wir  die 
übrigen  (xefiOrj  vom  8-zeitigen  an  restituiren  und  die  in  der  Handschrift  abge- 
brochene Scala  bis  zu  dem  Endpunkte  fortführen  können,  der  uns  aus  dem 
Excerpte  des  Psellus,  aus  dem  Fragmentum  Parisinum,  aus  Aristides  und  seinem 
Uebersetzer  Marcianus  Capella  bekannt  ist.  Ein  Fehltritt  ist  hier  geradezu 
unmöglich,  weil  uns  der  Gang,  den  die  Restitution  zu  nehmen  hat,  genau  durch 
•las  Vorausgehende  vorgeschrieben  ist,  Rosabach,  griech.  Rhythmik  1854,  S.  59. 

• 

1.  Dreizeitiger  Takt, 

monopodiaeh. 

§  31.  Von  den  Takten  (der  continuirlichen  Rythmopooie)  sind 
die  kleinsten  diejenigen,  welche  ein  dreizeitiges  Megethos  haben. 
Denn  das  zweizeitige  Megethos  würde  allzuhäufige  Taktschlage  er- 
halten müssen  (jeder  Takt  hat  ja  mindestens  zwei  Chronoi  podikoi, 
also  inüsste  in  dem  zweizeitigen  Takte  ein  jeder  Chronos  protos  als 


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II.  2  b.  Taktgrössen  und  Taktarten  continuirlicher  Rhythmopoeie.  37 


Chronos  podikos  markirt  werden*).  Der  Taktart  nach  werden  die 
dreiseitigen  Takte **)  iambische  sein;  deim  bei  drei  wird  nur  das 
Verliältniss  1 : 2  stattfinden  können. 

*)  Auch  wir  Modernen  haben  keinen  zweizeitigen  Takt,  denn  es  würde  die 
Eigentümlichkeit  eines  solchen  Taktes  sein,  dass  die  beiden  Chronoi  protoi 
desselben  untheilbar  wären,  dass  sie  unter  keinen  Umstanden  und  in  keiner 
der  verschiedenen  Stimmen  in  kleinere  Zeitgrössen  zerfällt  werden  könnten: 

also  z.  B.  2  -Takte,  deren  Achtel  niemals  in  Sechszehntel  gethcilt  werden 

8 

könnten.  Von  solchen  ComjK>sitionen  giebt  es  in  unserer  Musik  schwerlich  ein 
Beispiel.  Abo  in  der  continuirlichen  Rhythmopoeie  der  Modernen  fehlt  der 
zweizeitige  Takt  nicht  minder  wie  in  der  antiken. 

Der  zwei-zeitige  Takt  wird  von  Aristoxenus  aus  der  continuirlichen 
Rhythmopoeie  ausgeschlossen,  nicht  aus  der  Rhythmopoeie  überhaupt  vgl.  S.  76 
Andere  Berichterstatter,  welche  nicht  wie  Aristoxenus  den  Satz  vom  Unterschiede 
einer  continuirlichen  und  einer  nicht-continuirlichen  Rhythmojioeie  an  die  Spitze 
der  Taktlehre  stellen,  statuiren  einen  zwei-zeitigen  Takt  als  kleinsten  des  dak- 
•tylischen  Rhythmengeschlechtes  Aristid.  p.  35  Meib.  vgl.  unten. 

**)  Die  dreizeitigen  Takte  sind  in  der  modernen  Musik  stets  einfache 

Takte,  bei  der  Achtel-Schreibung  des  Chronos  protos  als  3  -Takt,  bei  der  Vier- 

8 

Q 

tel-Schreibung  als  -  -Takte  notirt. 

Dreizeitiger  ^-Takt. 

Bach,  Suite  L  6,  2  (Peters)  Passepied  II. 

1.  2.  3.  4. 


Dreizeitiger   J  -Takt 

Bach  Orgel-Sonate  4  (V,  1  Peters)  Passacaglia 

^x^xv^xn^xI^x^x     ^     X  X 


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38 


Aristoxenua  rhythmische  Elemente  §  81.  32. 


Dreizeitige  Takte  sind  unter  den—-  und  --Takten  nur  diejenigen,  welche 

wie  die  vorstehenden  je  vier  zu  einem  Kolon  zusammengesetzt  werden 
können.  Nur  diese  sind  Takte  des  trochaeischcn  Rhythmus.  Diejenigen 
3  3 

_ -  und  -  -Takte  aber,  welche  schon  je  zwei  zu  einem  Kolon  als  Protasis 
8  4 

oder  Apodosis  der  Periode  zusammengesetzt  werden  können,  wie  die  betreffen- 
den Takte  des  Bach'schen  Menuetts,  der  Polonaise,  der  Sarabande,  Courante 
sind  nicht  Takte  des  troehaeischen  Rhythmus,  sondern  des  ionischen,  nicht 
dreizeitige,  sondern  sechszeitige  Takte,  vgl.  §  34a. 


2.  Vierzeitige'r  Takt, 

monopodUch. 

§  32.  An  zweiter  Stelle  stehen  die  Takte  von  vierzeitigem 
Umfange.  Der  Taktart  nach  sind  dieselben  gerade  (daktylische). 
Denn  bei  vier  lassen  sich  zwei  Verhältnisse  annehmen,  2 : 2  und  1 :  3, 
von  denen  das  letztere  (triplasische*)  nicht  errhythmisch  ist,  das 
erstere  (daktylische)  unter  die  gerade  Taktart  fällt.**) 

*)  Als  isolirter  Takt  kommt  auch  der  triplasische  vor,  aber  nicht  in  der  fort 
laufenden  Rhythmopoeie  vgl.  unten  S.  75. 

**)  Der  vierzeitige  Takt  (stets  ein  monopodischerl  stellt  sich  bei  uns  in  der 

Sechszehntel-Schreibung  des  Chronos  protos  als  --,  in  der  Achtel-Schreibung 

als  — -  oder  als    -Takt,  in  der  Viertel-Schreibung  als    -  oder  als  C-Takt  dar. 
4  8  4 

2 

Monopodischer    -Takt  Er  begegnet  selten  genug.   Ich  entnehme  ein 
8 

Heispiel  dafür  dem  Faust,  —  nicht  Gounod's  Faust,  sondern  meines  hessischen 
Landsmannes  L.  Spohr,  den  wir  heute  mit  Unrecht  über  dem  des  Franzosen 
zu  vergessen  scheinen. 

Spohr,  Faust  No.  9  Allegro-Chor. 


Brenne  La  -  ter-nc,     na  -  he  und  fer  -  ne,  däm  -  me  -re  auf. 


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II.  2b.  Taktarten  und  Taktgröseen  continuirlicher  Rhythmopoeie.  39 
Flimmrc  und  leu-chte   ü  -  ber  die  feuch-te   Hai -de  hin  -  auf! 


5. 


6. 


0 


Monopodischer  -j- Takt. 

Gluck  Iphigenia  Taur.  Nr.  6  Allegro-Chor  der  Scythcn. 

Bc  -  sänf-tigt    ist   der   Göt-ter  Wuth 


I  « 


1.  2.  3.  4. 

da  sie    uns    selbst  das  Opfer  senden. 


2. 


3. 


4. 


Mozart  Don  Juan  Nr.  11  Presto. 

Ar-tige    Mädchen  führst  du  mir   lei  -  se 


1.  2.  3.  4. 

nach  deiner  Wei  -  se  zum  Tan  -  ze  her  -  bei. 


* 


- 1 — 


l. 


3. 


4. 


Den  monopodischen  —  -  Takt  kann  man  durch  das  blosse  Taktvorzeichen 

2 

nicht  von  dem  genau  auf  dieselbe  Weise  vorgezeichneten  dipodischen  —  -  Takte 

unterscheiden.   Daher  ist  die  Schreibung  derjenigen  vorzuziehen,  welche  das 

2  2 

—  -  Vorzeichen  dem  dipodischen  zueignend,  für  den  monopodischen  -  -  Takt  die 


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40 


Arisfoxenus  rhythmische  Elemente  §  33.  34. 


Schreibung-  -  Takt  wählen.  Das  letztere  geschieht  bei  Bach  als  einzigem  Bei- 
spiele  in  dem  unedirten  Praeludium,  welches  Spitta  in  der  Biographie  Bachs 


I  S.  430  besprochen.  Auf  meine  Bitte  hat  mir  derselbe  die  von  ihm  genom- 
mene Abschrift  des  Praeludiums  („nach  dem  auf  der  Königl.  Bibliothek  zu 
Berlin  befindlichen  Manuscripte  —  mit  Bleifedercorrecturen  von  Alfred  Dörflei 
nach  der  Handschrift  im  Buche  des  Andreas  Bach")  überlassen: 

12  3  4 

1 


i 


"5* 

Ii--* 


£.  Ä  *- 


2 


8 

L  U 


Monopodischer      -  oder  C  Takt- 
Beethoven  Clav.  Sonate  op.  13.    Molto  allegro. 


fei 


l. 


3. 


i. 


2. 


3. 


4. 


Bei  Bach  findet  sich  der  monopodische      -  Takt  selten ;  höchstens  in  d»r 

4 

Vocahnusik,  niemals  in  der  Instrumentalmusik.  Bei  den  folgenden,  bei  Haydn, 
Mozart,  Beethoven  immer  häufiger,  ist  hier  auch  in  der  Instrumentalmusik  einer 
der  häufigsten  Takte. 


3.  Fünfzeitiger  Takt, 


§  33.  An  dritter  Stelle  stehen  die  Takte  von  funfzeitigem  Um- 
fange. Denn  bei  fünf  lassen  sich  zwei  Verhältnisse  annelunen:  1:4 


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II.  2  b.  Taktgrössen  und  Taktarten  continuirlicher  Rhythmopoeie.  41 


(tetraplasisch)  und  2:3  (hemiolisch).  Von  ihnen  ist  das  tetrapla- 
sische  kein  errhythmisches;  das  hemiolische  wir<l  fünftheibg-ungerade 
(paeonische)  Takte  bilden. 

Man  hat  sich  mehrfach  bemüht  (Lehrs),  die  fünfzeitigen  Takte  (paeonische 
Versfüsse)  aus  der  Rhythmik  der  Griechen  auszuweisen,  weil  sie  in  der  modernen 
Musik  nicht  zu  Recht  beständen.  Das  letztere  ist  wahr,  das  erstere  ist  der  Er- 
klärung, des  Aristoxenus  gegenüber,  der  hier  allein  zu  entscheiden  hat,  unmög- 
lich; ja  es  sind  uns  in  den  Musikbeispielcn  des  Anonymus  Kola  aus  fuufzeitigen 
Versfüssen  überliefert  (vgl  unten  §  38). 

4.  Sechszeitige  Takte, 
moDopoditthe  und  dipodbehe. 

§  34.  An  vierter  Stelle  stehen  die  Takte  von  sechszeitigem 
Umfange.  Es  ist  dies  Megethos  zwei  Taktarten  gemeinsam,  der  ge- 
raden (daktylischen)  und  der  dreitheilig-ungeraden  (iambischen).  Denn 
von  den  drei  Verhältnissen,  welche  sich  bei  sechs  ergeben,  nämlich 
3:3  (isorrhythmisch),  2:4  (  =  1:2)  (diplasisch)  und  1:5  (pentapla- 
sisch)  ist  das  letztgenannte  kein  errhythmisches,  von  den  beiden 
anderen  aber  wird  das  isorrhythmische  dem  daktylischen,  das  dipla- 
sische  dem  iambischen  Rhytlunengeschlechte  zufallen. 

a.  Sechszeitige  Monopodie. 

Wenn  der  sechszeitige  Takt  der  iambischen  (dreitheilig  ungeraden)  Takt- 
art angehört,  dann  ist  er  ein  monopodischer  Takt  Die  Alten  unterscheiden 
denselben  von  dem  dreizeitigen  derselben  Taktart  dadurch,  dass  sie  den  drei- 
zeitigen „Trochaeus"  nennen,  den  sechszeitigen  „Jonicus",  früher  wie  es  scheint 
„Bakcheios"  Plutarch  de  mus.  29;  der  Name  „Jonicus"  ist  zuerst  bei  Varro 
nachzuweisen;  er  kam  auf,  als  die  von  Sotades  in  diesem  Rhythmus  geschrie- 
benen Gedichte  (aus  der  Zeit  des  zweiten  Ptolemaeus),  welche  wegen  ihres 
Dialektes  den  Namen  {wwtol  Xo^oi  erhielten,  zu  einer  Lieblingslectüre  der  Alexan- 
driner wurden.  Die  dreizWtigen  Trochaeen  der  Alten  haben  die  Silbenform 

£      V>      £      V*/      ^  \^ 

oder 

die  sechszeitigen  Jonici  haben  die  Silbenform 

±   —  \J  \J      s   —  \-/  w 

Die  dreizeitigen  Trochaeen  können  zu  einem  Kolon  von  4  Versfüssen 
vereint  werden,  die  sechszeitigen  Jonici  niemals:  zwei  ionische  Versfüsse  haben 
dieselbe  rhythmische  Bedeutung  wie  vier  trochaeische  (als  Protasis  oder  Apo- 
dosis  einer  Periode). 


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42 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  33.  34. 


In  der  modernen  Vocalrnusik  kann  der  Componist  einem  jeden  Takte 
ohne  Rücksicht  auf  die  Beschaffenheit  seiner  poetischen  Versfüsse  die  rhyth- 
mische Beschaffenheit  des  Jonicus  geben,  unsere  moderne  Poesie  hat  kein  ioni- 
sches Metrum.  Dass  unsere  Musik  aber  einen  von  allen  übrigen  Rhythmen- 
geschlechtern scharf  geschiedeneu  ionischen  Rhythmus  hat,  diese  Erkenntniss 
verdanken  wir  erst  der  antiken  Rhythmik.  Sie  ist  zuerst  ausgesprochen  in  der 
Theorie  des  musikalischen  Rhythmus  seit  Bach  §  81  ff.  Bisher  rechnete  man 
sie  ohne  Unterschied  in  die  Kategorie  der  dreitheilig- ungeraden  Takte.  Die 
ungeraden  Takte  pflegt  man  meist  so  zu  taktiren,  dass  man  einem  jeden  ent- 
weder nur  Einen  oder  drei  Taktschläge  giebt  Diejenigen,  denen  man  nur 
Einen  Taktschlag  giebt,  sind  die  dreizeitigen  Trochaeen;  diejenigen,  welche  je 
drei  Taktscldäge  erhalten,  sind  die  sechszeitigen  Jonici.  Dass  wenigstens  Bach 
ein  genaues  Bewusstsein  von  diesem  Unterschiede  der  dreitheilig- ungeraden 
Takte  hatte,  lässt  sieh  aus  der  besonderen  Art  und  Weise,  wie  er  den  Takt- 
strich setzt,  ersehen,  kann  aber  an  dieser  Stelle  nicht  näher  nachgewiesen 
werden. 

Das  Tempo  der  Jonici  ist  im  Unterschiede  von  den  Trochaeen  fast  tiberall 
ein  langsameres,  während  die  Trochaeen  sich  gewöhnlieh  in  einem  rascheren 
bewegen.   Die  Taktvorzeichnung  ist  für  beide  dieselbe.   Man  bezeichnet  den 

3  3 

ionischen  Takt  entweder  als  —  oder  als        oder  auch,  was  beim  Trochaeus 

o  4 


nicht  vorkommt,  als 


3 
2 


Sechszeitige  Monopodie  (Jonicus)  als  Takt. 
Beethoven,  Cis  Moll-Sonate.  Allegretto. 


:  i 

l±±^=4  

Mi 

I  1 

I 


Sechszeitige  Monopodie  (Jonicus)  als  ^--Takt. 
Wohltemp.  Clav.  1,  11  Fuge. 


IL  2b.  Taktgrösscn  und  Taktarten  continuirlicher  Rhythmopoeie.  43 


Sechszeitige  Monopodie  (Tonicus)  als  g-Takt. 
Wolütemp.  Clav.  1,  8  Praelud. 


m 


m 


b.  Sechszeitige  Dipodie. 

Wenn  der  seehszeitige  Takt  der  daktylischen  (geraden)  Taktart  angehört, 
dann  ist  er  eine  aus  zwei  dreizeitigen  (trochaeischen)  Takten  zusammengesetzte 
trochaeische  Dipodie:   bei  Sechszehntel -Schreibung  des  Chronos  protos  als 

^-Takt,  bei  Achtel-Schreibung  als  -i  -Takt,   bei  Viertel  -  Schreibung  als 

—  -  Takt  notirt 

Sechszeitige  Dipodie  (Ditrochaeus)  als  ^  -Takt. 
Bach,  wohlt.  Clav.  2,  11  Fuge. 

1.     2.   3.    4.  1. 

Sechszeitige  Dipodie  (Ditrochaeus)  als  -Takt. 
Bach,  wohlt.  Clav. 


Ueber  den  Vortakt  siehe  Theorie  des  musikal.  Rhythmus  seit  Bach. 

6 

Sechszeitige  Dipodie  (Ditrochaeus)  als  -j-  -Takt. 


Weber,  Capriccio. 

1  2 


8 


2 


^    O  *4  - — I — m   -  m-  *   m    m    m — L  m  — 


i  TTT 


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44 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  34.  35.  36. 


Beispiele  aus  der  griechischen  Instrumentalmusik.  Anonymus  §  97. 
Sechszeitiger  Rhythmus. 

T7l    f    hlr  F"h7r"t 


F 

9- 


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h  L 


HFL  r 


Ferner  Anonymus  §  104. 
Sechszeitiges  Kolon. 


Lw<    uc<   nv/n  <riFc 


c  w  n  w  l  u  < 


**•   .-- - 


§  35.  Das  sieben -zeitige  Megcthos  hat  keine  Takt  -  Diairesis. 
Denn  von  den  drei  Verhältnissen,  welche  sich  bei  sieben  annehmenn 
lassen,  ist  keines  errhythmisch;  das  eine  3:4  (das  epitritisehe),  das 
zweite  2:5,  das  dritte  1:6  (das  hexaplasische). 

Selbstverständlich  ist  lüor  immer  nur  von  den  rhythmischen  Verhältnissen 
der  in  der  continuirlichen  Rhythmopoeic  vorkommenden  Takte  die  Rede.  Als 
BolirterTakt  unter  andere  Takte  eingemischt  kann  der  siebenzeitige  epitritische 
Takt  vorkommen  (vgl.  unten  S.  70). 


5.  Achtzeit  iger  Takt, 

dipodisch. 

§  36.  An  fünfter  Stelle  werden  also  die  Takte  von  achtzeitigem 
Umfange  stehen.  Der  Taktart  nach  werden  dieselben  gerade  (dak- 
tylische) sein,  da  ja  von  den  bei  acht  sich  ergebenden  Verhältnissen 
nur  das  Verhältnis  4 : 4  ein  errhythmisches,  nämlich  das  des  geraden 
Rhythmus  ist.  Denn  (alle  anderen  ausser  4:4  sind  nicht  errhyth- 
misch, 1:7,  2:6,  3:5.) 


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II.  2  b.  Taktgrossen  und  Taktarten  continuirliehcr  Rhythmopoeie.  45 


Den  achtzeitigen  stete  dipodiscbcn  Takten  des  Aristoxenus  entsprechen 

in  unserer  Musik  bei  Sechszehutcl-Schrcibung  des  Chronos  protos  der  dipodische 
o  4 

y  -  Takt,  bei  Achtel-Schreibung  der  dipodische  —  -  Takt,  angedeutet  durch  das 
Zeichen  (p,  genannt  kleiner  (dipodischer)  alla  breve  Takt,  bei  Viertel-Schrei- 
bung  durch  de.  f -Takt,  genannt  grosser  (dipodischer,  alla  brevc  Takt. 

Aehtzeitige  Dipodie  als  y-Takt. 
Mozart,  Don  Juan: 

Schmähle,   to-be,  lie-ber  Junge! 


Achtzeitige  Dipodie  als  --Takt,  bei  Bach  stets  mit  dem  Zeichen  (B, 

während  C  entweder  den  tetrapodischen  sechszehnzeitigen  Takt  oder  den  mouo- 
podischeu  vierzeitigen  Takt  bedeutet  (letzterer  nur  in  der  Vocalmusik).  Nur 
als  Ausnahtne  kommt  (H  auch  für  den  tetrapodischen  Takt  vor  (wie  Spitta  und 
A.  Dörffel  meinen,  in  Folge  einer  der  Verschnörkelung  zugethanen  Handschrift) 
z.  B.  wohlt.  CT.  2,  5  Praclud.,  wo  die  Chrysander'sche  Ausgabe  das  richtige 
Zeichen  hergestellt  Bei  den  Spätereu  gehen  die  Zeichen,  C  und  C£  wenigstens 
in  den  Ausgaben  wild  durcheinander,  namentlich  in  den  Beethoven'scheu :  hier 
ist  auf  die  Taktzeicheu  durchaus  kein  Verlass.  (C  gehört  nur  dem  dipodisehen 
Takte  an  (die  ursprüngliche  auf  das  Tempo  bezügliche  Bedeutung  von  alla- 
breve-Takt  ist  als  antiquirt  anzusehen);  es  müsstc  die  Beethoven 'sehe,  Mozart- 
sche  u.  s.  w.  Taktvorzeichnung,  wenn  aus  den  Originalhandschriften  das  Rich- 
tige nicht  mehr  zu  ersehen  ist,  nach  dem  Bach'schen  Gebrauche  regulirt  werden. 

Bach,  Cantate  „Bleib  bei  uns" 

Beweis  dein  Macht,  Herr  Jesu  Christ,  der  du  Herr  al-ler  Herren  bist. 


1,      2.  3. 

Wohlt.  Clav.  2,  13  Fuge. 


4. 


1. 


2. 


3. 


4. 


1. 


2. 


3.        4.  L* 


Orgelfuge  V,  4,  1  (Peters)  mit  der  Zuschrift  „Alla  breVe". 


gl 


3£ 


*    £  *= 


1. 


1. 


2. 


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46 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  36.  37. 


Achtzeitige  Dipodie  als  Takt,  genannt  grosser  (dipodischer) 
alla-breve-Takt. 

Als  Beispiel  das  Silcher'sche  Lied: 

Der  Kai  -  ser  Bar-ba  -  ros  -  ea,  der  gros  -  se  Frie-de-rich. 


t  j 

t  j.  f  4  |  -  1  **- 

1.  2.  3.       4.     |  1.  2.  3.  4. 


Alle  anderen  Diairesen  des  achtzeitigen  Megethos  als  die  daktylische  sind 
nicht  errhythmisch.  Eine  Diairesis  3  :  5  ist  also  wenigstens  für  continuir- 
liche  Rhythmopoeie  durch  Aristoxenus'  Erläuterung  ausgeschlossen.  Es  ist  dies 
von  grosser  Bedeutung  für  die  rhythmische  Auffassung  der  Dochmien,  welche 
zu  langen  Perioden  continuirlich  wiederholt  werden.   Aeschyl.-Sept.  79: 

xaftcrcai  orpaTo;  |  ffxpaT'Szc&ov  Xirdiv  [ 

■ 

—      —     \S     —  \J     V-'V»/     _     y^J  — 

I 

Wir  besitzen  über  die  Messung  der  Dochmien  eine  beim  Schol.  Hephaest. 
p.  60  und  im  Etymol.  magn.  p.  2S5  vorkommende  Ueberlieferung,  die  nach 
diesen  beiden  Berichten,  die  offenbar  auf  Eine  Quelle  zurückgehen,  folgender-, 
maassen  herzustellen  ist: 

Ol  7tpoetpT(ji£voi  p-jftfjLOt,  totpL^o;  Ttilrov  £^bpiTOC,  «Spßol  xaXoüvtat,  £v  laö-nrjTt  rio 
xetvrat  xaft'  5  2xaaTo<  x&v  aptftfj.tüv  fxovdEoi  irXeovexxetxcu,  rt  -ydp  fiovdc  £«xi  ~oo; 
SudSa  r\  Sude  zpöc  xpidoa  ^  xpid?  -pö;  xexpd&a.  x<u  5oyfj.lq>  xptd;  iaxt  reo? 

irevxdoa  xal  oud;  -fj  TtXe(mxxoyoa.  ouxo;  ouv  6  £>'j8p.ö;  oix  •J]56vaxo  xaXtioftat 
6p8<Js,  irel  oO  {AovdSt  TtXeovexxetxat.  £x.X-f)8Tj  xolvvv  h6y\xvn,  b*  «p  x6  xfj;  dviavrr(- 
xos  (aeICov  xaxd  r^v  eidtTav  xpfvexat.  Vgl.  griech.  Rhythmik  und  Harmonik 
1867  p.  660  ff: 

„Die  Rhythmen,  in  welchen  die  beiden  das  Verhältniss  ausdrückenden 
Zahlen  nur  um  eine  Einheit  differiren,  nähern  sich  der  la6rr^  (ungenau  ist  ge- 
sagt h  la<$T7)Tt  xetvxou),  xaxd  W,v  ejöelav  xp(vovxai  und  heissen  deshalb  öpftol. 
Das  sind  die  rhythmischen  Verhältnisse: 

1  :  2  X070;  SirXdoio; 

2  :  3  X<5?oc  rjptäXto; 

3  :  4  X'^o«  idxpixo;. 

Das  Verhältniss  ist  hier  überall  der  von  den  Mathematikern  sogenannte 
1670;  l-\\t.6pio<i  (Nicom.  arith.  1,  19.  20) 

x  +  1 
x 

und  deshalb  kommt  für  diese  Takte  auch  der  Name  wföe?  lmp6pm  vor  Aristid. 
97  Meib.;  Porphyr,  ad  Ptol.  241,  freilich  so,  dass  hier  der  nou;  SirXdoto^  weil  des- 

2  x 

sen  Xdfo;  zohixbs  auch  durch  — —  ausgedrückt  werden  kann,  nicht  als  ^Tiuxdpios 
angeschen  wird. 


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II.  2b.  Taktgrössen  und  Taktarten  continuirlicher  Rhythmopoeie.  47 


Es  giebt  aber  Rhythmen,  so  erfahren  wir  hier,  in  welchen  die  Verhält«  iss- 
zahlen um  mehr  als  eine  Einheit  differiren,  und  in  dem  von  den  Mathemati- 
kern sogenannten  XÖ70;  fauupf)« 

x  +  1  +  n 
x 

stehen.  Dahin  gehöre  der  &<fypio«  <ixxdoT((j.o;,  dessen  X<$f&;  rafcwö;  3  :  5  sei. 
Dieser  soll  also  gemessen  werden  als  eine  Zusammensetzung  aus  dem  dreizei- 
tigen Jambus  und  dem  fünfzeitigen  Pacon 

\j  —  —  ^  —    oder   — 

3"       1   "  ~"   i  a 

vgl.  Aristid  p.  39  Meib.:  cuvn&rcai  Ii  tflt^^ou  xal  Tialcavo;  ätaptou  .  .  .  oöyjxiot 
Zi  £xaXoüvro  hia.  romlXov  xal  dvöfjtotov  xol  tö  p.-?)  xax  eifty  8ta>pei8at  T?j«  ^\>diio- 
roiioi.   Fab.  Quintil.  instit.  9,  4,  47.    Schol.  Aeschyl.  Sept.  103.  128. 

Die  in  diesen  Stellen  Überlieferte  Auffassung  des  Dochmius  kann  nicht 
die  des  Aristoxenus  sein,  denn  dieser  sagt,  ein  achtzeitiges  Takt-Megethos  ist 
bei  continuirlicher  Rhythmopoeie  (und  dieser  gehören  die  Dochmien  entschieden 
an)  nicht  errhythmisch,  wenn  es  eine  andere  Diairesis  als  4  +  4  hat.  Ari- 
stoxenus hat  doch  offenbar  für  seine  Rhythmik  den  Gebrauch  bei  Aeschylus 
und  den  Dramatiken»  vor  Augen:  wäre  der  dort  häufig  genug  vorkommende 
dochmische  Rhythmus 

w  —  —  ^  —    oder    o  —  —  o  — 

- 

3  5  5  ~3~ 

gemessen,  so  hätte  Aristoxenus  die  Diairesis  eines  achtzeitigen  Taktes  in  eine 
andere  Diairesis  als  8  +  8  nicht  in  Abrede  gestellt.  Also  wir  müssen  die 
uns  von  metrischen  Scholiasten  u.  s.  w.  überlieferte  Messung  des  Dochmius  als 
eines  achtzeitigen  Rhythmus  in  Abrede  stellen,  sie  gehört  in  dieselbe  Kategorie 
von  Ucberlieferungen,  wie  wenn  Hephaestion  einen  jeden  Choriambus  als 
sechszeitigeu  tou;  misst,  trotzdem  derselbe  häufig  genug  eine  katalektische  dak- 
tylische Dipodie  ist.  Auch  von  den  beiden  Bestandteilen  des  Dochmius  nach 
der  Auflassung  des  Aristoxenus  muss  der  eine  ein  katalektischer  Versfuss  sein. 


6.  Neunzeitiger  Takt, 

tripodlsch.  " 

§  37.  An  der  sechsten  Stelle  stehen  die  Takte  von  neunzeiti- 
gem Megethos.  Bei  der  Zahl  neun  ergeben  sich  die  Verhältnisse 
1:8,  2:7,  3:6,  4:5.  Von  diesen  sind  drei  nicht  enhythmisch, 
wohl  aber  das  vierte  3:6,  nämlich  ein  diplasisches.  Der  neunzei- 
tige Takt  wird  also  ein  dreitheilig-ungerader  (iambischer)  sein. 

In  der  modernen  Musik  wird  der  neunzeitige  Takt  bei  der  Sechszehntel- 

9  9 
Schreibung  durch  Jß ,  bei  der  Achtel-Schreibung  durch  -g  ausgedrückt 


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48  Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  37.  3S. 

9 

Neunzeitige  Tripodie  als-^  -Takt. 
Bach,  Partita  4,  Giga. 


Neunzeitige  Tripodie  als  -Takt 
Bach,  wohlt.  Clav.  2,  7  Praelud. 


L        2.  3.  1.        2.  8. 

Uebcr  den  Vortakt,  s.  Theorie  des  musikal.  Rbythm.  seit  Bach  §  182  ff. 

Bach,  wohlt  Clav.  1,  19  Fuge. 

^     1—  n 


1..  2. 


3.        1.  2. 


7.  Zehnzeitiger  Takt, 

monopodUch  und  dipodisch. 

§  38.  An  siebenter  Stelle  stehen  die  Takte  von  lOzeitigem 
Megethos.  Dasselbe  wird  zwei  Taktarten,  der  hemio tischen  ( ftinf- 
theilig-nngeraden)  und  der  geraden  (daktylischen),  gemeinsam  sein. 
Denn  von  den  Verhältnissen,  welche  sich  bei  10  ergeben,  sind  1:9, 
2:8,  3:7  nicht  errhythmisch ,  dagegen  wird  4:6  (hemiolisch)  der 
paeonischen,  5:5  der  daktylischen  Taktart  angehören. 

a.  Zehnzeitige  Monopodie,  genannt  Paion  epibatos  vgl.  unten  8.  93. 
Modernes  Beispiel  im  Volkslieder 


Prinz  Eu  -  ge  -  ni  -  us,  der  ed'le  Rit-ter, 

5.  I     . 


II.  2b.  TaktgrÖssen  und  Taktarten  continuirlicher  Rhythmopocie.  49 


wollt'  dem  Kai  -  ser  wiedrum  kriegen 


Stadt  und  Festung  Bel-ge-rad. 


Er  Hess   schlagen     einen  Brucken, 


dam  man  kunnt'  hin  -  ü  -  ber-rucken 


mit  d'r  Ar  -  mee  wohl  für  die  Stadt. 


Ein  solcher  Rhythmus  hiess  bei  den  Griechen  Paion  cpibatos.  Wie  der- 
selbe von  Aristides  erläutert  wird,  s.  unten  S.  93. 

Aristoxenus  sagt  in  den  vermischten  Tischgesprächen  bei  Plutarch  de 
nrasica  33:  „Wenn  ich  wiederholt  von  eigenthümlichem  Charakter  spreche,  so 
thne  ich  das  mit  Hinblick  auf  die  Wirkung,  welche  die  Musik  auf  unser  Ge- 
iuüth  ausübt  Der  Grund  dieser  Wirkung  besteht,  sage  ich,  entweder  in  der 
bestimmten  Art  und  WeUe  der  Composition  (wie  die  Töne  und  Taktzeiten  zu- 
sammengesetzt sind)  oder  in  der  Vereinigung  (Mischung  von  Melischem  und 
Rhythmischem)  oder  beide  Ursachen  wirken  zusammen.  So  ist  von  Olympus 
die  in  phrygischer  Tonart  gesetzte  Enhannonik  mit  dem  Paion  epibatos  ver- 
bunden. Hierdurch  wurde  nämlich  die  Wirkung  des  Anfangstheiles  im  Nomos 
auf  Athene  hervorgebracht.  Indem  dann  im  weiteren  Verlaufe  der  Composition 
bloss  der  Rhythmus  geändert  und  statt  des  paiouischen  der  trochaeische  ge- 
nommen wurde,  wurde  die  Enharmonik  des  Olympus  festgehalten.  Aber  trotz- 
dem dass  das  euharmonische  Tongeschlecht  und  die  phrygische  Tonart,  und 
ausserdem  das  ganze  Tonsystein  festgehalten  wurde,  ward  doch  die  Wirkung 
eine  völlig  andere,  denn  derjenige  Theil,  welcher  .  .  .  genannt  wird,  ist  im 
Nomos  der  Athene  von  dem  Anfangstheile  der  ethischen  Wirkung  nach  durch- 
aus verschieden/' 

Also  der  Anfangstheil  des  Olympischen  Nomos  auf  Athene  war  iu  epiba- 

tiseben  Paionen,  der  darauf  folgende  Theil  in  trochaeischeu  Tetrameteru  (dies 

werden  wir  uns  unter  den  Trochaeen  zu  denken  haben)  gesetzt.    Die  epibnti- 

schen  Paeonen  waren  demnach  in  continuirlicher  Rhythmopocie  gebraucht,  wie 
Arittoxennt,  Melik  n.  Rhythmik.  4 


50  Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  38.  89.  40. 

das  auch  in  unserem  Prinzen  Eugenius  der  Fall  ist.   Sonst  gebraucht  sowohl 

unsere  Musik  wie  auch  die  griechische  den  Paion  epibatos  als  isolirt  unter 

andere  Takte  eingemischt,  und  zwar  die  alte  nicht  minder  wie  die  moderne  in 

ionischen  Rhythmopoeien.   S.  72 — 74  giebt  dafür  Beispiele  aus  Sophokles  und 

Beethoven.   Dort  wird  sich  zeigen,  daas  der  Paion  epibatos  seinem  eigenthüm- 

lichen  Wesen  nach  eine  Verkürzung  der  ionischen  Dipodie  ist.    Dalier  denn 

auch  in  jenem  unserem  Volksliede  häufig  die  Modifikation  angebracht  wird, 

5  3 
dass  die  epibatißchen  (—  -  Takte)  mit  ionischen  (—  -  Takten)  wechseln,  z.  B. 

Prinz  Eu  -  ge  -  ni  -  us,  der  tapfre    Rit  -  ter 
+"   1   h 


Aristides  beschreibt  in  der  S.  98  anzuführenden  Stelle  den  Paion  epibatos 
als  einen  zehnzeitigeu  aus  fünf  Längen  bestehenden  Rhythmus.  Doch  kamen 
auch  andere  stets  zehnzeitige  metrische  Schemata  vor,  wovon  wir  unten  S.  72 
aus  Oed.  Rex  Beispiele  aufführen  werden.  Daher  sah  man  auch  die  Archi- 
locheische  Strophe 

als  eine  Verbindung  des  iambischen  Trimctrons  mit  dem  (zehnzeitigen)  Paion 
epibatos  an,  denn  etwas  anderes  als  diese  Strophe  kann  unter  den  bei  Plutarch 
de  mus.  28  dem  Archilochus  zugeschriebenen  Neuerungen  mit  dem  Ausdrucke 
„Verbindung  des  Jambeion  mit  dem  Paion  epibatos"  nicht  gemeint  sein. 


b.  Zehnzeitige  (pacouische)  Dipodie. 

Dies  ist  Aristoxenus'  zehnzeitiger  gerader  (daktylischer)  Takt  Bei  dem 
Anonymus  Bellermann  §101  findet  sich  ein  antikes  Instrumental-Beispiel  dieses 
Taktes  mit  der  falschen  Ueberschrift  der  Codd.  „öxTotor^o;".  (Der  Irrthum 
der  Handschriften  ist  dadurch  entstanden,  dass  der  Takt  nicht  zehn,  sondern 
acht  Notenzeichen  hat): 

HAT  L   F      C    F  C 
h  A  r  L    F     C     F  L 


hAL  r  h    l   r  l 


>  » 

|  4  

— »  m  »  

i — > — 

~f    ~y  1  

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II.  2b.  Taktgrössen  und  Taktarten  continuirlicher  Rhythmopoeie.  51 


CFFFF  TFlF 


Ein  Beispiel  einer  zehnzeitigen  Dipodie  christlich -moderner  Musik  würde 

es  sein,  wenn  wir  den  ^  -  Takt  der  Bachschen  Fuge  wohlt.  Clav.  2,  11  in 
5 

folgende    —  -  Takte  umformten. 


Die  rhythmus-verkürzendc  Umformung  ist  genau  nach  denselben  Grund- 
sätzen vorgenommen,  wie  wenn  Bach  in  der  Kunst  der  Fuge  aus  dem  dakty- 
lischen Rhythmus  der  Fuge  1  den  ionischen  Rhythmus  der  Fuge  12  entwickelt 
Dreizeitige  Trochaeen  und  vierzeitige  Daktylen  sind  die  primären  Rhythmen, 
fünfzeitige  Paeonen  und  sechszeitige  Jonici  sind  die  aus  den  primären  durch 
Verkürzung  abgeleiten  secundüren  Rhythmen.  Mit  Recht  unterscheidet  daher 
die  Theorie  der  griechischen  Metriker  zwei  Kategorien  der  Versfüsse:  1.  z65e; 
r?);  rpoiTTjC  dvciroöeia;,  troehaeisehe  und  daktylische,  2.  x6he<;  r»jc  oeur£pa<;  dvri- 
zaftelac,  paeonische  und  ionische  vgl  unten.  Die  Auffassung  der  Paeone  als 
verkürzte  Trochaeen  ist  schon  in  der  ersten  griech.  Rhythmik  1854  als  Vermu- 
thung  ausgesprochen. 

§  39.  Das  elf- zeitige  Megethos  hat  keine  errhythmische  Di- 
airesis.  Denn  von  den  Verhältnissen,  welche  sich  hei  11  ergeben, 
nämlich  1:10,  2:9,  3:8   4:7,  5:6,  ist  keines  ein  errhythniisches. 


8.  Zwölfzeitiger  Takt, 

tripodioch,  tetrapodbeh,  dipotliach. 

§  40.  An  achter  Stelle  stehen  daher  die  Takte  von  12zeitigem 
Megethos.  Bei  der  Zahl  zwölf  werden  sich  ergeben  die  Verhältnisse 
1:11,  2: 10,  3:9,  4:8  (diplasisch) ,  5 : 7,  6 : 6  ( isorrhythmisch).  Von 
diesen  gehört  das  diplasische  4:8  der  iambischen  (dreitheilig-unge- 
raden),  das  isorrhythmische  6:6  der  daktylischen  (geraden)  Takt- 
art an. 

a.  Zwölfzeitige  Tripodie. 

Antikes  Beispiel  in  Anonymus  Bellermann  §  99  eine  rhythmische  D-moll- 
Scala,  auf-  und  absteigend,  mit  der  Ueberschrift: 

4* 


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52  Ariatoxenus  rhythmische  Elemente  §  40. 

„Zwölfzeitiger" 


<    fl   A  w   C      FL  TAt 


Ein  Beispiel  antiker  Vokalmusik  giebt  der  Hymnus  des  Mesomodes  auf 
die  Muse  in  den  zwei  daktylischen  Hexametern,  welche  auf  die  beiden  iam- 
Tetrameter  folgen: 

Wei-se  Kai -Ii  -  o  -  pc    du,  An  -  füh-re-rin   lieb-licher  Musen, 

~  1fc±: 


25^ 


weiser  Begründer  der  WeüVn,  Sohn  Lato's     Delischer  Paian. 

>  .-g       I       '  3  1  1 —  m  z  ß  —  ' 


 1 — d  "* — £ — p — *■ 


W  "T  


3  3 

Bei  Bach  wird  der  zwölfzeitige  tripodische  Takt  entweder  als  —  oder  — 

notirt,  jenes  bei  Sechszehntel- Schreibung,  dieses  bei  Achtel-Schreibung  des 
Chrono«  protos. 

Wohltemp.  Clav.  1,  21  Fuge: 


1.    2.         3.  1.  2. 


3£ 

3. 


Wohltemp.  Clav.  2,  22  Fuge: 


1.  2. 


3. 


1.  2. 


3. 


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II.  2b.  Taktarten  und  Taktgrössen  continuirlicher  Rhythmopoeie.  53 

££=!=£= 


1. 


2. 


3. 


1. 


Igt  die  zwölfzeitige  Tripodie  so  dargestellt,  dass  jeder  einzelne  Versfuss 

derselben  durch  einen  einzigen  Chronos  tetrasemos  (  i  ausgedrückt  ist,  so  wird 

der  ganze  Takt  ein  Trochaios  semantos  oder  Orthios  genannt,  je  nach  der 


r  f  wr  r 

i — i  i — i  i — i  Trochaios  sümantos, 

>     n  ii 
■ — .  i — m — i  Orthios. 


So  zuerst  in  der  griech.  Rhythmik  1854.  (Boeckh  hatte  die  Bestandtheile 
beider  Takte  als  eine  achtzeitigp  und  eine  vierzeitige  Länge  gedeutet,  so  auch 
G.  Hermann).  Die  einzelne  der  drei  vierzeitigen  Längen  des  Taktes  ist  nach 
Aristoxenus  ein  „xp<*vo;  xaxdt  jbtytoicotlac  yp-fjotv  douv&eTo;",  daher  nennt  Ari- 
stides  den  ganzen  Takt  einen  „tou;  dt7rXotic'%  während  ihn  Aristoxenus  unter  die 
Kategorie  der  „tcooc«  eävftrroi"  zälilen  muss  („da  er  in  drei  vierzeitige  Takte 
zu  zerlegen  ist*'). 


Bach  chromatische  Fuge  I,  4,  1  (Peters): 

s^v^    X  v-/"^    X  W  W  X 


L-Ul — .  L 


tr.   tr.  tr. 

v>        X  ^  v-/      L  \J  \J  X 

^  n=    uum — .i 


^/\-/X\^^/    X  v>  v>  X 


i , 


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54 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  40. 


Wir  haben  den  Bachschen  Noten  die  entsprechenden  metrischen  Sche- 
mata in  griechischer  Weise  hinzugefügt.  Jede  Zeile  hat  den  Rhythmus  des 
griechischen  Hexametron;  in  der  ersten  Tripodie  des  Hexainetron  (der  Protasis 
der  zweigliedrigen  Periode)  gebraucht  Bach  eine  Anakrusis,  so  dass  also  die  dak- 
tylischen Küsse  des  griechischen  Hexametrons  zu  Anapaesten,  das  ganze 
tripodisch-daktylische  Kolon  zu  einem  anapaestischen  Prosodiakon  umgeformt 
sind.  Nun  wird  mau  ferner  bemerken,  dass  bei  Bach  auf  das  Prosodiakon  der 
Protasis  in  der  unteren  Stimme  als  Apodosis  ein  aus  drei  unzusammengesetzten 
tetrasemoi  Chronoi  bestehendes  Kolon  folgt.  Dies  Kolon  ist  es,  was  dem  zwölfzei- 
tigen Trochaeos  semantos  der  Griechen  entspricht.  In  der  Apodosis  der  letzten 
Zeile  erscheinen  gleichzeitig  in  der  oberen  Stimme  drei  daktylische  (oder  viel- 
mehr anapaestische)  Versfüsse,  in  der  Unterstimme  drei  unzusammengesetzte 
Chronoi  tetrasemoi.  Wir  haben  hier  durch  die  verschiedene  Rhythmopoeie  der 
beiden  Stimmen  dasjenige,  was  Aristoxenus  „Chronoi  miktoi"  nennt  (vgl.  §  15). 

In  der  Weise  wie  dies  letzte  Kolon  Bachs  haben  wir  uns  die  semantischen 
Trochaeen  des  Terpander  zu  denken,  der  dieselben  in  seinem  „Nomos  trochaios" 
angewandt  hatte.  Plutarch  de  mus.  28  „Terpander  soll  diejenige  Weise  der 
Orthios-Melodie,  welche  nach  Rhythmoi  Orthioi  gegliedert  ist,  und  dem  Orthioa 
analog  auch  den  semantischen  Trochaeus  erfunden  haben."  Der  Gesang  dieser 
Nomoi  bewegte  sich  in  lauter  Längen,  gleichsam  als  Cantus  firmus,  während 
die  Kithara-Bcgleitung  das  Schema  des  heroischen  Hexameter  einhielt  Vgl. 
meine  Gesch.  der  alten  und  mittelalterl.  Musik  I.  unter  Terpander. 

# 

b.  Zwölfzeitige  Tetrapodie. 
12  12 

In  unserer  Musik  als  —  -  oder  ---Takt  geschrieben,  jenes  bei  Sechs - 


zehntel-,  dieser  bei  Achtel-Schreibung  des  Chronos  protos. 
Bach.  Engl.  Suite  No.  6.  Giga. 

1.      2.        3.  4.         1.        2.        3.  4. 


Bach.  Engl.  Suite  3.  Giga. 

1.  2.        3.        4.         1.         2.  8.  4. 

Als  Beispiel  dieses  Taktes  in  einem  antiken  Melos  Anonym.  Bellermann 
§98  unter  der  Uebcrschrift  „Elfzeitiger",  einem  Handschriften  -  Irrthum  statt 
„Zwölfzeitiger'4  (entstanden  dadurch,  dass  der  Takt  nicht  zwölf,  sondern  elf 
Notenzeichen  hat): 


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IL  2  b.  Taktarten  und  Taktgrössen  continuirlicher  Rhythmopoeie.  55 


hAFHFC  ACLhA 

 f=*=r 

— 


3. 


4. 


CAFLLT  ATFLA 

9      P     v  — 


1. 


2. 


r-    T    L    f   L   F  ACLFA 


1. 


2. 


3. 


4. 


CFCFLF  ACLhÄ 


i. 


2. 


4. 


c.  Zwölfzeitige  Dipodie. 

Hier  sind  zwei  ionisch«-  Versfüsse  zu  einer  ionischen  Dipodie  coinbinirt. 

Für  die  Griechen  ist  uns  kein  indisches  Beispiel  dieses  Taktes  überliefert. 

Die  moderne  Musik  bezeichnet  ihn  bei  der  Sechszehntel-Schreibung  des  Chro- 

6  6 
nos  protos  als  —  -,  bei  der  Achtel-Schreibung  als  —  -Takt. 


Zwölfzeitige  Dipodie  als  ^--Takt. 


Bach,  wohlt.  Clav.  1,  15  Fug. 


i 

- #-   ■  W  0  w 

1     2      3     4  5 

6    12  3. 

4  5     6    1  2    3    4  5 

6 

Ueber  den  Vortakt  vgl.  Theorie  des  musikal.  Rhythmus  seit  Bach  §  182  ff. 


■ 


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56  Aristoxcnus  rhythmische  Elemente  §  41.  42.  43.  44. 

Zwölfzeitige  Dipodie  als  4--Takt. 


Bach,  wohlt.  Clav.  1,  4  Prälud. 


3§ 

1.    2.     3.     4.  5. 

 =j 

h^!                             -    g-     ■  * 

1                            l  ! 
6.  |     1.       2.      3.     4.  J 

_^  

>.  6. 
Ju 

Ebenfalls  mit  Vortakt. 


§41.  Das  1 3zeitige  Megethos  kann  keinen  Takt  (der  continuir- 
lichen  Rhythniopoeie)  bilden,  denn  von  den  bei  der  Zabl  13  mög- 
lichen Verhältnissen  1:12,  2:11,  3 : 10,  4:9,  5:8,  6:7  ist  keines 
ein  errhythmisches. 

§  42.  Der  14zeitige  Megethos  bildet  keinen  (für  die  continuir- 
liche  Rhythniopoeie  brauchbaren)  Takt,  denn  von  den  für  die  Zahl 
14  sich  ergebenden  Verhältnissen  1:13,  2:12,  3:11,  4:10,  5:9, 
6:8,  7:7  bildet  zwar  das  letztere  7:7  ein  errhythmisches,  nämlich 
ein  daktylisches,  aber  die  siebenzeitigen  Megethe,  welche  die  Bestand- 
teile eines  solchen  Hzeitigen  daktylischen  Taktes  bilden  würden, 
sind  für  die  continuirliche  Rhythmopoeie  nicht  errhythmisch. 

Bei  der  Gliederung  6  :  8  bildet  das  vierzehnzeitige  Megethos  den  grössten 
epitritischon  Takt,  welcher  zwar  nicht  in  continuirlicher  Rhythmopoeie,  aber 
i8olirt  unter  anderen  Takten  vorkommt  (vgl.  S.  72). 


9.  Fünfzehnzeitiger  Takt, 

pentapoüiBcn,  tnpoaiscn. 

§  43.  An  neunter  Stelle  stehen  die  Takte  von  15zeitigem  Me- 
gethos. Bei  der  Zahl  15  lassen  sich  folgende  Verhältnisse  nehmen: 
1:14,  2:13,  3:12,  4:11,  5:10  (diplasisch),  6:9  (hemiolisch ). 
Ausser  den  beiden  letzten  sind  die  Verhältnisse  tinrhythmisch.  Das 
lözeitige  Megethos  wird  also  zwei  Taktarten  gemeinsam  sein,  der 
iambischen  (dreitheilig-ungeraden)  und  der  paeonischen  (fünftheilig- 
ungeraden). 


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IT.  2b.  Taktarten  und  Taktgrösscn  continuirlicher  Rhythmopoeie.  57 
Der  funfzehnzeitige  dreitheilig  ungerade  Takt  ist  die  paeonische  Tripodie 


der  ftinfzehnzeitige  Takt  fönftheilig-ungerader  Taktart  ist  die  trochaeischc  Pen- 
tapodie 

In  der  modernen  Musik  darf  man  so  wenig  den  einen  wie  den  anderen 
suchen.  Denn  im  Rhythmus  paeonischer  Versfüsse  componirt  die  christlich- 
moderne Zeit  überhaupt  nicht,  sondern  nur  das  Alterthum,  und  die  trochaeischen 
setzen  wir  wenigstens  nicht  in  continuirlicher  Poesie  zu  Pentapodieen  zusammen. 

15 

Höchstens  wird  der  pentapodische  —  -  Takt  einmal  in  einem  Volksliode  zwi- 

15  12 

sehen  heterogenen  Takten  geschrieben,  im  Wechsel  von  —  -  und  —  -  Takten 

o  o 

vgl  „Mys  Lieb,  we'  du  zur  Chilehe  thust  ga",  in  meiner  allgemeinen  Rhyth- 
mik §  50. 


10.  Seohszehnzeitiger  Takt, 


§  44.  An  zehnter  Stelle  stehen  die  Takte  von  IGzeitigem  Me- 
gethos.  Bei  16  sind  alle  übrigen  Verhältnisse,  nämlich  1 : 15,  2 : 14, 
3:13,  4:12,  5:11,  6:10,  7:9  nicht  errhythmisch,  wohl  aber  8:8,  näm- 
lich ein  isorrhythmiscb.es.  Der  16  zeitige  Takt  wird  also  der  geraden 
(daktylischen)  Taktart  angehören.  Es  ist  aber  das  grösste  Megethos 
dieser  Taktart,  da  wir  nicht  im  Stande  sind,  in  diesem  Rhythmen- 
geschlechte  grössere  Megcthe  als  das  16zeitige  noch  als  Takte  zu 
empfinden  (Xach  Aristides.p.  35  Meib.). 

Je  nach  unseren  verschiedenen  Schreibungen  werden  die  16  Chronoi  protoi 
entweder  durch  Sechszehntel  oder  Achtel  oder  auch  durch  Zweiundtlrcissigstel 
ausgedrückt  Der  beste  Terminus  für  den  Takt  würde  nach  griechischem  Vor- 
gänge —  oder  ~  oder  ~  sein.  Leider  ist  diese  Nomenclatur  nicht  üblich. 
»    6     16  8  32 

pen  l^.Takt  nennen  wir  „4"  oder  C-Takt",  den  —-nennen  wir  „^--  oder 
16  4  o  i 

16  2 
grossen  alla  breve  Takt"  mit  dem  Zeichen  C|0T  den  —  nennt  Beethov.  „—-Takt". 

Es  ist  durchaus  nothwendig,  diese  tetrapodischen  Takte  stets  durch  den  Zusatz 
„tetrapodisch"  von  den  sonst  gleichnamigen  und  gleichbezeichnetcn  monopo- 

2 

dischen  und  dipodischen  C-  und  —  -  Takten  zu  unterscheiden,  wie  denn  über- 
haupt unsere  Takt-Nomenclatur  für  daktylische  Rhythmen  viel  weniger  gut, 
als  für  trochaeische  ist,  bei  welchen  letzteren  wir  Modernen  genau  so  wie  Ari- 


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58 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  44.  45.  46. 


stoxenus  nach  der  Anzahl  der  in  dem  Takte  enthaltenen  Chronoi  protoi  sagen : 

3  3        6     6     6      9     9     9     12    12    12      _..        .    .  .  „    v      . . 
~8  '  4  '    T9  7'  16 ;  ¥'  12'  16 ;  T '  T'  16*    DlC  P"nciPielle  Verschie- 
denheit in  unserer  Nomenclatur  der  trochaeischcn  und  daktylischen  Takte  ist 
eine  böse  Inconsequcnz  unserer  musikalischen  Terminologie. 

16 

Sechszehnzeitige  Tetrapodie  als  C-  d.  i.  —  -Takt. 

lb 

In  Bachs  Instrumental-Musik  ist  kein  Takt  so  häufig  wie  dieser.  Dort 
haben  alle  mit  C  bezeichneten  Takte  tetrapodische  Geltung,  da  die  dipodischen 

4  4 

—  -Takte  bei  Bach  das  Zeichen  Q  haben,  und  monopodische  —  -Takte  bei 

Bach  nur  in  der  Vocalmusik,  aber  nicht  in  der  Instrumentalmusik  vorkommen. 
Woldt.  Clav.  1,  20. 


Die  meisten  Bachschen  Fugenthemata  dieses  Taktes  haben  genau  das 
Schema  des  anapaestischen  Tetrametrons  oder  einer  anapaestischen  hypermetri- 
schen Periode.  Es  ist  von  hohem  Interesse,  dass  sich  bei  Bach  die  anapaestischen 
Protasen  (Vordersätze  der  Periode  )  genau  wie  bei  den  griechischen  Dramatikern 
durch  eine  Binnencaesur  in  zwei  Hälften  (Dipodien)  zerlegen.  Die  deutschen 
Dichter,  welche  anapaestischc  Metra  bilden,  wahren  die  Binnencaesur  nicht, 
wenn  sie  nicht  etwa  in  bewusster  Weise  die  Formation  der  Griechen  nachbilden. 

16 

Sechszehnzeitige  Tetrapodie  als  C  O-  d.  i.  -—-Takt. 

o 

Ist  viel  seltener  bei  Bach,  in  dem  ganzen  wohlt.  Clav,  nur  ein  einziges 
Beispiel. 

Wohlt  Clav.  2,  9  Fuge,  zweite  Repercussion : 

1.       2.       3.        4.        1.     2.         3.  4. 


Sechszehnzeitige  Tetrapodie  als  —  -  d.  i.  ---Takt. 

Ist  die  allerseltenste  Schreibung  der  Tetrapodie,  bei  Bach  noch  gar  nicht, 
erst  bei  Beethoven. 


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II.  2b.  Taktarten  und  Taktgrössen  continuirlicher  Rhythmopoeie.  59 
Beethoven,  Clav.-Sonate  No.  3.  Adagio. 


1.     2.    3.     4.     1.     2.     3  4. 


Der  sechszehnzeitige  Takt  ist  in  unserer  Musik  der  grösste;  grössere 
Takte  als  dieser  werden  nicht  geschrieben.  Ganz  analog  ist  es  nach  Ari- 
stoxenus'  Berichte  auch  bei  den  Griechen,  „mehr  als  vier  Chronoi  podikoi  kann 
ein  Takt  nicht  haben."  Theoretisch  geht  freilich  die  von  Aristoxenus  aufge- 
führte Taktscala  auch  noch  bis  zu  den  pcntapodischen  und  hexapodischen 
Takten,  aber  die  Praxis  giebt  denselben  keine  fünf  oder  sechs  Taktschläge, 
sondern  theilt  solche  Taktgrössen  entweder  in  fünf  monopodische  oder  in  drei 
clipodische  Takte,  vgl.  unten.  Von  §  45. 46  an  führt  uns  Aristoxenus  also  in  die 
Kategorie  der  bloss  theoretischen  Takte,  d.  i.  derjenigen  rhythmischen  Kola, 
welche  nicht  mehr  als  einzelne  Takte  taktirt  werden. 

§  45.  Das  17zeitige  Megethos  hat  keine  errhyth mische  Diai- 
resis,  denn  von  allen  Verhältnissen,  welche  für  die  Zahl  17  exi- 
stiren,  nämlich  1:16,  2:15,  3:14,  4:13,  5:12,  6:11,  7:10,  8:9, 
ist  keines  ein  errhythmisches. 

11.   Achtzehnzeitiger  Takt, 

hexapodtsch  und  tripodiach. 

§  46.  An  zehnter  Stelle  stehen  die  Takte  von  18zeitigem  Mege- 
thos. Bei  18  sind  die  Verhältnisse  1:17,  2:16,  3:15,4:14,  5:13, 
6:12  (diplasiseh),  7:11,  8:10,  9:9  (isorrhythmisch)  möglich.  Das 
isorrhythmische  9 : 9  würde  einen  geraden  Takt  ergeben,  doch  würde 
dieser  das  grösste  Megethos  der  geraden  Taktart  (das  lözeitige), 
welches  durch  die  Fähigkeit  unseres  Auffassungsvermögens  gegeben 
ist  (§  44),  überschreiten  und  kann  daher  der  18zeitige  gerade  Takt 
nicht  vorkommen.  Bei  dem  diplasischen  Verhältnisse  6:12  ist  das 
18zeitige  Megethos  ein  dreitheilig- ungerader  (iambischer)  Takt,  und 
zwar  ist  er  der  grösste  dieser  Taktart,  weil  unser  Empfindungs- 
vermögen nur  bis  zu  diesem  18zeitigen  Megethos  einen  Takt  des 
diplasischen  Megethos  vernimmt,    (Nach  Aristides  p.  35). 


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60 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  46. 


In  der  indischen  Poesie  ist  der  achtzehnzeitige  Takt  «lern  metrischen  Schema 
nach  ein  trochaeisches  (oder  jambisches)  Trimetron  (Hexapodie) 


oder  ein  ionisches  Trimetron 


WWX    —    ^    w-   X    —    U  \J  2.   — , 


jenes  ein  sechstheiliger,  hexapodischer,  dieser  ein  dreitheiliger,  tripodischer 
Takt, 

a.  Die  achtzehnzeitige  Hexapodie 

wird  zwar  von  den  Alten  nach  Aristoxenus  als  ein  einheitlicher  Takt  empfun- 
den (sonst  hätte  ihn  Aristoxenus  nicht  als  äusserste  Grenze  der  dreithei  lig- 
ungeraden Takte  gesetzt),  aber  die  Praxis  des  griechischen  Taktirens  zerlegte 
dies  Megethos  stets  in  drei  dipodische  Takte  (vgl.  unten).  Ob  eine  Hexapodie 
als  ein  Takt  oder  als  drei  Takte  taktirt  wird,  ist  für  den  musikalischen  Aus- 
druck und  Vortrag  gleichgültig:  die  Hexapodie  ist  bei  der  einen  Taktirung 
genau  derselbe  Rhythmus,  welcher  sie  bei  der  anderen  sein  würde,  gerade  so, 
wie  bei  Bach  musikal.  Opfer  das  angeblich  von  Friedrich  dem  Gr.  herrührende 
tetrapodi8che  Thema  genau  denselben  rhythmischen  Eindruck  macht  in  der  Fuge 
No.  1,  wo  es  nach  zwei  dipodischen  Takten  taktirt  wird,  und  in  der  Fuge 
No.  2,  wo  es  als  ein  einheitlicher  tetrapodischer  Takt  taktirt  wird. 

In  der  modemen  Musik  kommen  achtzelmzeitige  iambische  und  trochaeische 
Hexapodien  zwar  häufiger  vor  als  man  denkt,  aber  meist  nur  in  discontinuir- 
licher  Rhythmopoeie  isolirt  unter  andere  Kola  gemischt.  Sehr  selten  begegnet 
man  Partieen,  in  denen  die  Hexapodieen  continuirlich  folgen.  Hier  schreibt  sie 


der  Componist  in  dipodischen  —  -  Takten,  z.  B 

ö 

Mozart,  Figaro  No.  28  SusannarAric. 


0     säu  -  me  Uta  -  ger  nicht,  ge 


f3 


I 


liebte 


See  -  le, 


l 


I 


l 


f  * 


sehnsuchtsvoll  har-ret   dei  -  ner   hier   die  Freundin. 

'S 


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II.  2b.  Taktarten  und  Taktgrössen  continuirlicher  Rhythmopoeie.  Gl 


Noch  leuch  tet  nicht  dea  Mon  -  des     Sil-  ber  -  fackel, 


Ruh'  und   Friede  herrschen  auf  den  Fluren. 


Dies  sind  Trimeter,  nicht  iambische,  sondern  trochaeische ,  und  zwar 
..akephala"  (mit  fehlendem  Anfange):  der  Gesangstimme  fehlt  die  erste  der 
84'chü  Hebungen,  die  nur  in  der  Instrumentalbegleitung  ausgedrückt  ist,  wäh- 
rend der  Gesang  im  Anfange  des  Verses  pausirt.  Vgl.  Theorie  des  musikal. 
Rhythmus  seit  Bach  §  179. 

b.  Die  achtzehnzeitige  ionische  Tripodie 

würde  bei  den  Griechen  drei  Taktsclüage  haben  (Einen  auf  jedem  ionischen 
Versfusse)  und  könnte  daher  möglicher  Weise  auch  bei  den  Alten  als  ein  ein- 
heitlicher achtzehnzeitiger  Takt  taktirt  worden  sein.  Doch  sind  solche  ionische  Kola 
in  continuirlicher  Rhythmopoeie  überaus  selten,  wir  wüssten  kaum  ein  einziges 
sicheres  Beispiel  anzugeben.  Gesichert  sind  durch  die  Caesureu  die  Tripodieen 
in  dem  ionischen  Gedichte  des  Horaz  3,  12: 

Miserarum  est  neque  amori 

dare  ludum  neque  dulei 

mala  vino  lavere  aut  exanimari 

metuentes  patruac  verbera  linguac, 
aber  hier  stehen  sie  nicht  in  continuirlicher  Rhythmopoeie,  sondern  bilden  den 
Schluss  der  Strophen  nach  zwei  vorausgehenden  Dipodicen.  Auch  in  der  mo- 
dernen Musik  giebt  es  schwerlich  ionische  Tripodieen  in  längerer  continuir- 
licher Folge.    Deslialb  giebt  es  auch  kein  Vorzeichen  für  tripodisch-ionische 

9  9 

Takte,  die  durch  —  oder  —  gekennzeichnet  sein  müssten.  Bach  drückt  die 
ionische  Tripodie  entweder  durch  drei  ionische  Einzel-Takte  aus,  oder  er  giebt  das 
Vorzeichen  — ,  trotzdem  dies  für  die  ionische  Tripodie  unpassend  ist,  z.  B. 


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62        Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  47.  48.  49.  50.  51.  52.  53. 


Bach,  Fis-moll  Toccata  zweite  Fuge  I.  4,  4  Peters. 


Analog  wie  Bach  dem  iambischen  Trimetrou  wohlt.  Clav.  2,  4  Fuge  das 
12 

Vorzeichen  ^-  giebt,  welches  von  Rechts  wegen  nur  der  iambischen  Xetrapodie 
zukommen  könnte: 


Da  es  die  Griechen  dem  Berichte  des  Aristoxcnus  zufolge  bezüglich  des 
Taktirens  in  allen  übrigen  Stücken  genau  wie  die  Modernen  gemacht  haben, 
so  darf  man  dies  auch  bezüglich  der  ionischen  Tripodie  annehmen:  sie  wurde 
wo  sie  vorkam  nach  drei  Einzel  takten  taktirt. 


§  47.  Das  19zeitige  Megethos  hat  bei  eleu  sich  hier  ergeben- 
den Verhältnissen  1:18,  2:17,  3:16,  4:15,  5:14,  6:13,  7:12, 
8:11,  9:10  keine  einzige  rhythmische  Diairesis. 

12.   Zwanzigzeitiger  Takt, 
pentapoditch. 

§.  48.  An  die  zwölfte  Stelle  wird  daher  das  20zeitige  Megethos 
zu  stelleu  sein.  Unter  allen  sich  hier  ergebenden  Verhältnissen 
1:19,  2:18,  3:17,  4:16,  5:15,  6:14,  7:13,  8:12  (heimolisch), 
9:11,  10:10  (isorrhythmisch)  ist  bloss  das  hemiolische  8:12  ein 
(für  die  continuirliche  Rhythniopoeie)  brauchbares,  da  ja  das  isor- 
rhythmische  10 :  10  als  Taktinegethoa  den  grössten  daktylischen 
Takt  überschreiten  würde  (vgl.  §  44.) 

Das  zwanzigzeitige  Taktmegcthos  gehört  also  der  hemiolischen  d.  i.  fünf- 
theilig-ungeraden  Taktart  an.  Es  stellt  sich  als  ein  aus  fünf  vierzeitigen  Dak- 
tylen oder  Anapaesten  bestehendes  Kolon  dar,  wie  Aristoph.  Acharn.  285 

ak  [iev  ojv  xaxaXeioofACv  <I>  jAiapä  xe<paX+(. 

Dass  dies  in  der  That  ein  pentapodisches  Kolon  ist,  ist  in  der  griech. 
Khythmik  1854,  S.  93  nachgewiesen. 

Aber  obwohl  die  Theorie  nach  Aristoxcnus  das  pentapodisch-daktylisehe 
Kolon  als  einen  Takt  fasst,  kann  die  Praxis  des  Taktirens  sie  nicht  als  einen 
einzigen  Takt  markiren,  da  nach  der  Versicherung  des  Aristoxenus  kein  Takt 
mehr  als  vier  Taktschlüge  erhalten  kann  (also  nicht  fünf,  welche  beim  peuta- 


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II.  2b.  Taktarten  und  Taktgrössen  continuirlicher  Rhytlimopoeie.  63 


podigchen  Takte  nötbig  wären).  Deshalb  musste  das  zwanzigzeitige  Megethos 
beim  Taktiren  in  fünf  vierzeitige  unzusammengesetzte  Takte  zerlegt  werden. 
Das  interessante  Beispiel  dieses  Kolons  bei  Mozart  Zauberflötc  No.  13  ist  in 
dipodischen  Takten  geschrieben: 


les    fühlt  der    Lie  be  Freuden, 


1.      2.        3.  4. 
schnäbelt,  tändelt  herzt  und  küsst. 


fSpimäiggliS 

1.  2.  3.  4.  5. 

§  49.  Das  21  zeitige  Megethos  lässt  die  Verhältnisse  1 :  20,  2: 19, 
3:18,  4:17,  5:16,  6:15,  7:14  (diplasisch),  8:13,  9:12,  10:11  zu, 
aber  bei  dem  diplasischen  Verhältnisse  7 : 14  überschreitet  das  Me- 
gethos den  grössten  Takt  des  dreitheilig  -  ungeraden  (iambischen) 
Rhythmengeschlechtes,  also  ist  es  schon  aus  diesem  Grunde  als 
Takt  unbrauchbar. 

§  50.  Das  22zeitige  Megethos  wurde  zwar  ein  isorrhythmisches 
Verhältniss  11:11  zulassen,  aber  es  überschreitet  die  dem  grössten 
geraden  Takte  gestattete  Grenze  und  ist  schon  deshalb  für  die 
Rhythmopoeie  unbrauchbar. 

§  51.  Das  23zeitige  Megethos  ergiebt  nur  arrhj*thmische  Ver- 
hältnisse. 

§  52.  Das  24zeitige  Megethos  ergiebt  zwar  das  diplasische  Ver- 
hältniss 8:16  und  das  isorrhythmische  Verhältniss  12:12,  doch 
würden  beide  Takt-Megethe  dieser  Art  den  grössten  Umfang  der 
iambischen  und  daktylischen  Taktart  überschreiten. 


13.  Fünfundzwanzigzeitiger  Takt, 

§  53.  An  dreizehnter  und  letzter  Stelle  stehen  daher  die  Takte 
des  25zeitigen  Megethos,  denn  bei  der  Zahl  25  ergiebt  sich  das 
hemiolische  Verhältnis  10:15.  Die  Takte  dieses  Megethos  sind  die 
grössten  der  paeonischen  Taktart:  nur  bis  zum  25zeitigen  Takte 


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64 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  53.  54. 


kann  unsere  Aisthesis  den  hemioliscken  Rhythmus  erfassen.  (Nach . 
Aristid.  a.  a.  0.) 

Das  funfundzwauzigzeitige  Mcgethos  stellt  sich  also  als  ein  aus  fünf  fiinf- 
zeitigen  Paeonen  bestehendes  Kolon  dar,  welches  in  der  Praxis  des  Taktirens 
in  fünf  monopodische  Takte  zerlegt  wird.   Beispiel:  Acharu.  492 
ooü  y  dxo6oo9|xev;  <£7ioXet  xaxdi  ce  x«6«0ficv  tot«  Xtdoic. 

Vgl  Griech.  Rhythmik  1854  8.  93. 


Nur  von  zwei  Seiten  her  sind  Einwendungen  gegen  diese  zuerst  in  der 
griech.  Rhythmik  1854  mitgetheilte  Restitution  der  Aristoxenischen  Takt-Scala 
gemacht  worden. 

1.  Bernhard  Brill  (Aristoxenus'  rhythmische  und  metrische  Messungen 
S.  37)  nimmt  zwar  das  Resultat  unserer  Restitution  ohne  irgend  eine  Aenderung 
an,  sagt  aber  S.  36,  ob  sei  willkürlich,  dass  wir  den  Aristoxenus  die  bis  zum  'ox 
-aoT)|jw>v  jji^eöoc  eingehaltene  Methode  der  Darstellung,  wonach  er  jedes  Megethoa 
in  zwei  dem  X670;  woixi;  entsprechende  Abschnitte  zerlegt,  auch  für  die  übrigen 
fAe^flto]  bis  zur  jedesmaligen  Grenze  des  betreffenden  flvo«  pv&fiixiv  haben  ein- 
halten lassen.  Die  Methode  der  Deduktion,  welche  Aristoxenus  beim  2-,  3-, 
4-,  5-,  6-,  7-,  8-zeitigen  Megethos  anwendet,  ist  zwar  anscheinend  fiusserlich 
und  schabloncnmässig,  aber  in  ihrer  Art  vollkommen  gut  und  höchst  iustruetiv, 
ganz  im  Geiste  der  analytischen  Methode  des  Aristoteles.  Wenn  Aristoxenus 
consequent  war,  so  hat  er  diese  Methode  auch  bei  den  übrigen  (AC-f^dr,  beibe- 
halten; war  er  unconsequent,  nicht.  Ich  traue  dem  grossen  Vater  der  Rhythmik 
diese  Consequeuz  zu.  Brill  nicht  Weshalb  nicht?  Wohl  aus  keinem  anderen 
Grunde,  als  weil  er  die  Meinung  des  Herrn  Lehre  theilt,  „bei  Aristoxenus 
sei  die  rhythmische  Wissenschaft  noch  in  ihrer  Kindheit  befangen."  Einem 
Anfänger  in  den  Kinderschuhen  mag  Brill  keine  Consequeuz  zutrauen. 

2.  C.  Julius  Caesar  (Grundzüge  der  griechischen  Rhythmik  S.  127)  meint, 
man  könne  nicht  wissen,  ob  Aristoxenus  alle  theoretisch  als  £ppuö[xa  zuzulas- 
senden «xeY^Tj  auch  praktisch  zugelassen  oder  ob  er  nicht  vielmehr  einige  von 
ihnen  ausgeschlossen  habe.  Caesar's  Verdacht  trifft  die  trochaeischc  und  dak- 
tylische Pcntaj>odie,  während  die  paeonischc  Pentapodie,  da  sie  als  Grenze  des 
paeonischen  Rhythmengeschlechtes  hingestellt  werde,  ohne  weiteres  als  prak- 
tisch zulässig  aeeeptirt  wird.  Wäre  Caesar  mit  Mozart's  „Alles  fühlt  der  Liebe 
Freude"  und  mit  dem  Volksliede  „Mys  Lieb,  we'  du  zur  Chilche  thust  ga" 
bekannt  gewesen,  dann  würde  ihm  die  daktylische  und  trochaeische  Pentapodie 
nicht  bedenklich  geworden  sein,  lange  nicht  so  bedenklich,  wie  die  paeonisehe 
Pentapodie,  die  uns  zu  begreifen  herzlich  schwer  wird.  Sollte  die  daktylische 
(anapaestische)  Pentapodie  Aristoph.  Acharn.  485: 

oi  piv  ouv  xaxaXejoofjLfiv,  d>  fxiapa  xecpaXV); 


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11.  2b.  Taktarten  und  Taktgrössen  continuirliclier  Rhythmopoeie.  65 

irgend  wie  bedenklicher  sein,  als  die  paeonische  ebenda«.  492: 

ovj  "f  dxoiaojfAtv;  drsAtl  wA  as  ^tuaofjiev  tot;  XtftoT;. 
Docli  sollte  es  mit  der  von  Caesar  aufgeworfenen  Alternative:  „ob  prak- 
tisch oder  bloss  theoretisch  zugelass  11  ?"  sein  gutes  Recht  haben,  nur  war  sie 
in  einem  ganz  anderen  Sinne  als  es  Caesar  denkt  zu  entscheiden.  Die  paeo- 
nische Pentapodie,  obwohl  sie  Aristoxenus  ausdrücklich  als  Grenze  der  paeo- 
iüschen  Takte  anführt,  ist  nicht  minder  ein  nur  theoretischer  Takt  ab  die 
daktylische  und  die  trochaeische  Pentapodie,  nicht  minder  auch  das  iainbische 
Trimetron.  Aristoxenus  selber  hat  die  Alternative  entschieden,  indem  er  sagt, 
dass  der  Takt  nicht  mehr  als  höchstens  vier  Taktschläge  haben  könne. 


Rückblick  auf  die  kleinsten  und  grössten  Takt-Megothe. 

§  54.    Von  den  drei  Rythmengeschlechtern  der  continuirlichen 
Rhythmopoeie  sind  also  die  kleinsten  Takte  folgende  Megethe: 
der  iainbische  Takt  3zeitig, 
der  daktylische  Takt,  4zeitig, 
der  paeonische  Takt,  özeitig. 

Augenscheinlich  wird  erweitert: 
die  daktylische  Taktart  bis  zum  lGzeitigen,  (so  dass  hier  der 
grösste  Takt  das  Vierfache  des  keinsten  ist); 
die  jambische  Taktart  bis  zum  18zeitigen,  so  dass  hier  der 
grösste  Takt  das  Sechsfache  des  kleinsten  ist; 
die  paeonische  Taktart  bis  zum  25zeitigen,  (so  dass  hier  der 
grösste  Takt  das  Fünffache  des  kleinsten  ist). 

In  dieser  bei  PselliiH  Fragin.  12  erhaltenen  Stell«;  des  Aristoxenus  haben 
wir  die  in  (  )  eingeschobenen  Satze,  welche  bei  Psellus  fehlen,  aus  dem 

Fragm.  Parisinum  ergänzt. 

Dann  folgt  auf  das  Aristoxenische  Fragment  bei  Psellus  ein  Zusatz,  welcher 
nicht  vou  Aristoxenus  herrührt,  sondern  ursprünglich  eint;  zum  Texte  des 
Aristoxenus  hinzugefügte  Margiual-Glossc  gewesen  sein  inuss: 

Erweitert  aber  wird  das  iambische  und  paeonische  Rythmen- 
gescldecht  zu  einem  grösseren  Takt  -  Megethos  als  das  daktylische, 
weil  ein  jedes  der  beiden  ersteren  (in  seinem  kleinsten  Takte)  eine 
grössere  Anzahl  von  Chronoi  protoi  bat: 

Kleinster  Takt.    Größter  Takt, 
daktylisches  Geschlecht     2zeitig,  lüzeitig; 

iainbisches  „  ^zeitig,  18zeitig; 

paeonisches         „  ozeitig,  25zeitig. 

Arlstoieuu»,  .Melik  u.  Khjthmlk.  5 


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66 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  54. 


Nach  der  durch  Ar  iß  ti  des  vertretenen  rhythmischen  Doctrin,  nach  welcher 
der  kleinste  daktylische  Fuss  ein  Disemos  ist,  ist  die  in  dem  vorliegenden 
Satze  enthaltene  Darstellung  durchaus  richtig  und  logisch:  je  grösser  die  (klein- 
sten Takte)  Versfüsse  einer  jeden  Taktart  sind,  um  so  grösser  ist  auch  die 
tetrapodische,  hexapodische,  pentapodische  Zusammensetzung  der  Versfüsse  zu 
einem  zusammengesetzten  Takte;  je  kleiner  die  Versfüsse  sind,  um  so  kleiner 
auch  die  Zusammensetzungen. 

Wie  die  Stelle  früher  gelesen  wurde  (ohne  die  von  uns  eingeschobenen 
Worte),  da  verstand  mau  das  Wort  or^sta  im  technischen  Sinne  des  Aristoxe- 
nus (als  ypovot  momol  oder  Taktschläge).  E.  F.  Baumgart  sagt  über  die  Be- 
tonung der  rhythmischen  Reihe  bei  den  Griechen  (Programm  des  Matthias- 
Gymnasium  zu  Breslau  1869).  S.  XXXII:  „Die  Deutung  dieser  orgeln  als 
Taktschläge  erscheint  uns  unmöglich/'  S.  XII:  „Die  ganze  Stelle  kommt  uns 
vor  wie  eine  völlig  unlogische  Umkehrung  von  Grund  und  Folge.  Sie  besagt 
in  der  That  nichts  besseres,  als  etwa  folgendes:  Dieser  Weg  kann  nicht  bis 
zu  18  oder  25  Meilen  verlängert  werden,  weil  nicht  18-  oder  25-Meilenstcinc, 
sondern  nur  16-Meilensteine  darauf  zu  stehen  kommen.  Und  eine  solche  Er- 
klärung soll  Aristoxenus  gegeben  haben,  der  beim  Vater  der  Logik  in  die 
Schule  gegangen  ist,  der  scharfsinnige,  klare  Kopf,  der  über  den  Rhytlimus 
Alles  gedacht  und  geschrieben  hat,  was  das  Alterthum  davon  wusstc!  Es  bleibt 
nur  zweierlei  übrig:  Entweder  ist  der  Satz  eine  Zu  that  des  Psellus  aus  irgend 
einem  gelehrt  sein  wollenden  Grammatiker  oder  der  Sinn  ist  ein  anderer.  Wir 
nehmen  das  letztere  an."  S.  XXXII:  „Die  Stelle  gewinnt  ein  ganz  anderes 
und,  wie  wir  meinen,  völlig  einleuchtendes  Aussehen,  wenn  wir  die  OTjijieta  als 
ypOvot  upö*TOi  des  kleinsten  Fusses  fassen  (vgl.  Aristides:  yp<ho;  -pcöTo;  8c  xal 
ar^iios  xaXetTai).  Rechnen  wir  den  Pyrrhichius  als  kleinsten  Fuss  des  geraden 
Geschlechtes,  so  ist  1)  im  f£vo;  Toom  der  16-zeitige  Fuss  vom  kleinsten  das 
Achtfache,  2)  im  ?£vo;  otTiXacicrv  der  18-zeitige  Fuss  vom  kleinsten  das  Sechsfache, 
3)  im  y£no;  t(jaiöXiov  der  25-zeitige  Fuss  vom  kleinsten  das  Fünffache.  Und 
das  ist  eine  der  Xatur  der  Sache  ganz  entsprechende  Scala:  Je  kleiner  der 
kleinste  Fuss,  desto  mehr  Einzelfüsse  können  zu  einer  grösseren  Einheit  ver- 
bunden werden;  je  grösser  schon  der  kleinste  Fuss,  desto  schwerer  übersehet! 
wir  eine  grössere,  aus  seiner  Wiederholung  gebildete  Einheit,  desto  geringer 
niuss  also  die  Zahl  der  Einzelfüsse  sein."  Der  scharfsinnige  für  Aristoxenus 
viel  zu  früh  verstorbene  Baumgart  hat  mit  dieser  Auffassung  unstreitig  das 
richtige  getroffen,  und  auch  wenn  die  daraus  von  ihm  gezogeneu  Folgerungen 
falsch  sind,  sich  dadurch  um  die  Aristoxenische  Rhythmik  wie  irgend  ein 
an« lerer  verdient  gemacht.  Von  den  von  ihm  gestellten  Alternativen:  Ent- 
weder rührt  der  Satz  nicht  von  Aristoxenus  her  oder  es  sind  die  Aristoxe- 
nischen  crjjjLela  rooixd  anders  zu  verstehen"  hätte  er  sich  zugleich  für  beide 
entscheiden  müssen,  vgl.  unten.  Denn  1.  der  Ausdruck  ct)[A6üw  kommt 
zwar  bei  den  späteren  wie  dem  von  Baumgart  citirten  Aristides  (zuerst  bei 
Fabius  Quintiliau)  als  ein  mit  ypovo;  Trpüjxo;  gleichbedeutender  Terminus  vor. 


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II.  2b.  Taktarten  und  Taktgrössen  continuirlicber  Rhythmopoeie.  67 

niemals  aber  (wie  es  fälschlich  noch  Bocckh  annahm)  bei  Aristoxenus.  2.  Bei 
denselben  späteren  Berichterstattern  über  Rhythmik  (namentlich  bei  Aristides) 
wird  als  kleinster  daktylischer  Takt  der  Disemos  statuirt,  wahrend  Aristoxenus 
§  31  sagt:  „Die  kleinsten  Takte  sind  die  von  dreizeitigem  Megethos,  denn  das 
disemon  Megethos  würde  allzuhäufige  Taktschläge  erhalten  müssen''  und  §  54 
wird  diese  Grössenangabe  ausdrücklich  wiederholt.  Von  Aristoxenus  kann 
der  in  Frage  stehende  Satz  nicht  herühren;  er  hat  vielmehr  einen  Anhänger 
der  Aristideischen  Theorie  zum  Urheber,  der  zur  Erklärung  des  hier  von  ihm 
misa  verstandenen  Aristoxenus  ein  Scholion  an  den  Rand  setzte,  schon  ehe 
Michael  Psellus  aus  der  Aristoxenisehen  Rhythmik  den  Auszug  machte.  So  ist 
auch  dies  Scholion  in  den  Auszug  hineingerathen,  glücklicher  Weise  lässt  es 
sich  als  solches  erkennen.  Es  ist  genau  von  der  Art,  wie  die  in  den  Text 
der  Aristoxenisehen  Harmonik  hineingerathenen  Marginal-Scholien. 

Kurz  und  gut,  der  Schluss  des  §  54  stammt  nieht  von  Aristoxenus,  und 
wir  besitzen  mithin  von  ihm  keine  weitere  Angabc  darüber,  weshalb  in  der 
einen  Taktart  der  grösste  Takt  ein  grösseres  Megethos  hat  als  in  der  anderen. 
Es  genügt,  was  er  in  dem  Vorausgehenden  darüber  angegeben:  „Vermöge  un- 
serer Auffassuiigskraft  können  wir  in  der  und  in  jener  Taktart  keine  grösseren 
Takte  als  den  jedesmal  von  mir  angegebenen  als  Takteinheit  fassen."  Diese 
liei  Aristides  p.  35  M.  erhaltenen  Sätze  über  den  Grund  der  verschiedenen  Aus- 
dehnung der  Takte  können  vollkommen  ausreichen  und  müssen  von  Aristotclisch- 
Aristoxcnischem  Standpunkte  als  durchaus  genügend  erscheinen:  es  ist  eben  die 
llerufung  auf  die  Thatsaehe.  Achnlich  verfährt  Aristoxenus  auch  in  der  Har- 
monik, wenn  er  von  dem  Minimum  und  Maximum  der  symphonischen  Inter- 
vallgrössen  spricht. 

Hätte  Aristoxenus  seine  rhythmische  Theorie  nicht  vom  Aristotelischen, 
sondern  vom  Platonischen  Standpunkte  aus  entwickelt,  so  dürften  wir  ihm  wohl 
zutrauen,  dass  er  für  die  Maxiina  der  Tak  tum  fange  eine  metaphysisch-mathe- 
matische Begründung  zu  geben  versucht  hätte,  etwa  wie  Plato  in  seinem  Ti- 
maeus  die  diatonische  Scala  aus  geometrischen,  arithmetischen  und  harmoni- 
schen Proportionen  ableitet.  Aehnlich  hat  auch  Feussner  iu  .seiner  Schrift  über 
Aristoxenus  einen  mathematischen  Satz  für  die  Verschiedenheit  der  Takt- Maxima 
ausfindig  zu  machen  versucht.  Doch  denken  wir,  mit  solchen  Versuchen  ist 
seifet  im  besten  Falle,  wenn  sie  nämlich  zu  annehmbaren  Resultaten  führen 
<was  aber  bei  Feussner  nicht  der  Fall  ist)  nichts  getlian:  unsere  Wissenschaft 
von  der  Rhythmik  der  Griechen  ist  damit  nicht  weiter  gefördert.  Seien  wir 
froh,  dass  es  der  Beobachtungsgabe  des  Aristoxenus  gelungen  ist,  eine  auch 
für  unsere  moderne  Kunst  fort  und  fort  gültige  Scala  der  praktisch  mög- 
lichen Taktgrössen  aufzustellen:  ohne  dieselbe  würden  wir  nicht  wissen,  welche 
Takte  und  Kola  wir  in  den  Compositionen  unserer  Meister  zu  suchen  haben. 
Denn  dass  wir  in  der  christlich-modernen  Musik  z.  B.  keine  Combinationcn  aus 
fiinfzeitigen  (paeonischeu)  Versfüssen  zu  suchen  haben,  bringt  in  der  Sachlage 
keine  grosse  Aenderung  hervor. 

5* 


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68 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  55.  56. 


Am  meisten  wird  uns  befremden,  dass  Aristoxenus  zwar  eine  Combination 
von  sechs  dreizeitigen  Takten,  aber  nicht  von  sechs  vierseitigen  Versfüssen 
anerkennt,  da  wir  doch  unbestritten  in  unserer  Munik  auch  die  letzterer  be- 
sitzen. Wir  müssen  überzeugt  sein,  dass  Aristoxenus  auch  in  dieser  Beziehung 
eine  richtige  Beobachtung  aus  der  musischen  Kunst  der  Alten  mittheilt.  Für 
die  alte  Instrumentalmusik  können  wir  ihn  freilieh  nicht  controlliren,  aber  für 
die  Vocalmusik  d.  i.  die  indische  Poesie  steht  uns  die  Cou trolle  zu:  Aristoxe- 
nus hat  genau  die  Wahrheit  berichtet.  Die  griechische  Metrik  würde  das  aus- 
zuführen hüben. 

c.  Isolirt  vorkommende  Taktarten  und  Taktgrössen. 

§  55.  Von  den  Taktarten  sind  die  normalsten  die  drei  ge- 
nannten, nämlieh  die  des  isorrhythmischen,  des  diplasischcn  und  des 
hemiolischen  Verhältnisses  (die  gerade,  dreitheilig-ungerade  und  fünf- 
theilig-ungerade Taktart).  Biswcilcu  kommt  aber-  auch  (isolirt  unter 
andere  Takte  eingemischt)  ein  Takt  des  triplasischen  Verhältnisses 
(1:3)  und  des  epitritisclieu  Verhältnisses  (3:4)  vor  (welche  wir 
oben  von  der  continuirlichen  Rhythmopoeie  ausgeschlossen  haben V 

(Das  Megethos  der  Takte  des  triplasischen  Rhythmengeschlech- 
tes  ist  das  4zeitige.) 

Das  Megethos  der  Takte  des  epitritisclieu  Rhythmengeschlechtes 
beginnt  mit  dem  7zeitigen  als  dem  kleinsten  und  erstreckt  sich  bis 
zum  14zeitigen  als  dem  grüssten. 

§  56.  Und  zwar  verhält  es  sich  in  der  Natur  des  Rythmus  mit 
den  Verhältnissen  der  Takte  wie  in  der  Harmonik  mit  dem  Wesen 
des  Symphonischen. 

Dionys,  ap.  Porphyr: 

Die  Musiker  werden  das  nämliche  bezeugen,  dass  die  sympho- 
nischen Intervalle  und  die  rhythmischen  Verhältnisse  der  Takte 
Gemeinsames  und  Verwandtes  haben,  denn  ihre  Ansicht  ist,  dass 
die  Symphonien  durch  folgende  Verhältnisse  bedingt  sind: 

die  Quarte  durch  das  epitritische  3:4, 

die  Quinte  durch  das  hemiolische  2:3, 

die  Octave  durch  das  diplasisehe  1:2, 

die  Doppeloetave  durch  das  triplasische  1:3, 

denn  die  Homophonie  ist  nach  jenen  Musikern  durch  das  Verhält- 


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II.  2c.  l8olirt  vorkommende  Taktarten  und  Taktgrösscn.  G9 


niss  des  Gleichen  verursacht.  Das  seien  die  nämlichen  Verhältnisse, 
in  denen  zufällig  auch  die  Takte  der  Rhythmen  verborgen  seien: 
die  meisten  und  die  am  normalsten  gebildeten  in  dem  Verhältnisse 
des  isorrhythmischen  1:1,  des  diplasischen  1:2  und  hemiolischen 
2:3,  einige  wenige  auch  im  epitritischen  3:4  und  im  triplasischen 
1:3. 

Erläuterungen  zu  §  55.  56. 

1.  Vom  epitritischen  und  triplasischen  Bhytfimengeschlechte 

im  Allgemeinen. 

Plato  der  früheste  Schriftsteller,  welcher  der  griechischen  Taktarten  ge- 
denkt (er  sagt  nicht  fiv/,,  sondern  slorj,  nennt  deren  nur  drei:  rep.  3, 
400a:  Tpia  £otIv  eior;  i;  mv-at  3aoet;  -Xixovrat.  Damit  meint  er  die  daktylische, 
diplasische  uud  hemiolische  Taktart.  Ganz  Recht,  denn  nur  die  rr^Se«  dieser 
in  der  Aristoxenischen  .Scala  berücksichtigten  drei  ^ivr,  gestatten  eine  ouvr/i,; 
j>u»|xoT:oua  oder  wie  Plato  sich  ausdrückt:  können  zu  Ji'iaei;  verknüpft 
werden,  mag  man  nun  dies  Wort  in  dem  Sinne  der  späteren  als  Dipodie  <S.  s^) 
oder  in  einer  weiteren  Bedeutung  fassen. 

Aristoteles  sagt  Probl.  19,  39:  KaöaitEp  iv  -rot;  fiirpot;  ol  irooe;  fyo-j«  -po; 
ai^ro'j;  Xd-pv  töv  rpö;  laov  tj  oOo  rpö;  ev      xai  rtva  <£XXov,  ovJtcw  xat  oi  iv  Tg 
cjficpmvia  '^ÖÖY-yot  Xo^ov  eyouoi  xivtjactu;  zpö;  o'jtoü«.  Wir  lesen  hier  bei  Aristoteles, 
vorausgesetzt,  dass  dies  Problem  ein  acht  Aristotelisches  ist  ivgl.  Prantl.  über 
Arist.  Probleme),  genau  dasselbe,  was  uns  Aristoxenus  §54  in  dem  Auszuge  des 
.Psellus  mitthcilt,  x&v     zootx&v  X^cov  eteoiaiaxot  ttotv  oi  tpeT;  3  te  to  j  laou  %i\  6 
toü  ötrXaolou  xai  ö  xoü  f^ioXlou*  fivsTat  05  -ote  ^ov»;  xai  iv  Tpir/.ctattp  /  07a. 
f Ivctat  xal  iv  imTpiT«;).  "Fan  0£  xcti  iv      toO  pyöpLOÜ  »yoci  4  Ttooixö;  XG70;  oioztp 
iv      x&O  Tjppioouivo'j  tö  ai»picpa>vov.  Die  Stelle,  welche  Porphyrius  aus  Dionysius 
Tepl  6|aoiot/)tcdv  mittheilt,  (dem  jüngeren  unter  Hadrian  lebenden  Dionysius,  dem 
Musiker  und  Sophisten,  welcher  nach  Suidas  24  Bücher  puttfxtxd  br^^^i-t, 
36  Bücher  einer  jxoyotx-fj  laTOpia,  24  Bücher  piouaixfj;  Ttaioeta;      oiarpi^d»v  ge- 
schrieben) diese  Stelle  lüsst  keinen  Zweifel,  wie  die  Analogie  zwischen  Sym- 
phonieen  und  Taktarten  zu  verstehen  ist.    Sic  zeigt  auch  dies,  dass  was  der 
jüngere  Dionysius  in  seiner  Abhandlung  nepi  &jxotoTTjTu>v  (vermuthlich  einem  seiner 
24  Bücher  pvOpwuüv  'j^ojAVT^dTtuv)  als  Ansicht  der  Musiker  citirt,  aus  derselben 
Quelle  stammt,  woher  auch  Psellus  seine  rhythmischen  Prolambanomena  excer- 
pirt  hat,  woher  mittelbar  auch  Aristides  und  das  Fragmentura  Parisinum  ihre 
Nachrichten  über  das  epitritisclre  Rhythmengeschlecht  überkommen  haben, 
nämlich  aus  der  Rythmik  des  Aristoxenus.    Der  Ausdruck  Mey<py£oTaTOi"  des 
Psellus  findet  sich  auch  bei  Dionysius;  was  Psellus  mit  „flvcTal  totc  kojc"  aus- 
drückt, das  ist  dasselbe  wie  das  „dXtfoi  oi  xive«'«  des  Dionysius.   Psellas  hat 


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70 


Aristoxenus  rhyth mische  Elemente  §  55.  56. 


den  Aristoxenus  (freilich  unvollständig  genug)  verbotenus  excerpirt;  wie  Dio- 
nysius von  der  Darstellung  abgewichen,  darüber  steht  uns  kein  Urtheil  zu. 
Auch  Aristides  p.  35:  -pooxiö£aot  o£  xtve;  xai  xo  inlxpixov  und  6  öe  h'  zp6;  xov 
Y  y£vv?  T0V  £nlxptxov  ).oyov  wird  wenigstens  mittelbar  aus  Aristoxenus  stammen, 
ebenso  auch  Aristid.  p.  35:  To  hi  i-lxptxov  dpyexai  fiiv  drö  eTCxaar)|i.o'j,  Ytvcxai 
hk  ?tu;  Teaoape5xatSexa«TrjiAO"j.    £-dvw;  hi  tj  ypf)ois  aüxoy. 

Ich  bemerke  hier,  dass  in  der  angeführten  Stelle  aus  den  Aristotelischen 
Problemen  dem  Wortausdrucke  nach  an  4  -jivr)  £jO|Atxd  gedacht  wird :  X^ov  tov 
7tpö;  (sov  —  Tj  ö6o  zpö;  ev  —  tj  xat  xi^a  dXXov  d.  i.  ausser  dem  isorrhythmischen  und 
dem  diplasischen  nicht  ein  Rhythmengeschlecht,  das  hemiolische,  sonderu  eines 
•  von  den  anderen  Rhythmengeschlechtern:  die  anderen  ausser  dem  isorrhythmi- 
schen und  diplasischen  sind  das  hemiolische  und  das  epitritische  oder 
das  hemiolische  und  das  epitritische  und  das  triplasische.  Denn 
wenn  auch  Aristides  des  triplasischen  nicht  gedenkt,  so  wird  es  doch  in  dem 
JVagmente  des  Psellus  neben  dein  epitritischen  ausdrücklich  erwähnt,  und  auch 
aus  der  Stelle  des  Dionysios  geht  mit  Notwendigkeit  hervor,  dass  es  von  den 
Musikern  d.  i.  Aristoxenus  so  gut  wie  das  epitritische  anerkannt  war. 

„Die  von  Aristoxenus  aufgestellte  Analogie,  die  für  uns  keine  andere  Be- 
deutung hat  als  zu  zeigen ,  dass  Aristoxenus  den  Xo^o;  £-(xpixo;  und  xptTtXdatoc 
„entschieden  anerkennt,  stammt  von  den  Pythagoreern.  Hieraus  erklärt  sich 
„die  Thateache,  dass  in  dieser  Analogie  die  sechste  der  musikalischen  Sympho- 
„nieen,  die  Undecime,  xö  oid  raoär*  xai  5id  xeaoapcav  3  :  8  nicht  genannt  ist.  Ihr 
„entspricht  kein  rhythmisches  Verhältniss.  Musste  nun  nicht  gerade,  so  fragen 
„wir,  auch  die  Berechtigung  des  epitritischen  und  triplasischen  Geschlechtes 
„problematisch  sein,  da  es  keinen  der  Undecime  entsprechenden  Xö^oc  |bofMx6« 
„3:  8  gab?  Die  Antwort  ist  nein;  wenigstens  nach  der  Theorie  der  alten  Py- 
„thagoreer  konnte  hierdurch  die  Analogie  nicht  gestört  werden.  Denn  wir  wissen, 
„dass  deren  Schule  die  Undecime  in  der  Zahl  der  Symphonieen  nicht  gelten 
„lassen  wollte.    So  berichtet  Ptolemaeus  Harmon.  1,  5  p.  9  Wall." 

Die  Undecime  in  die  Zahl  der  Symphonieen  eingeführt  zu  haben,  darauf 
macht  Aristoxenus'  Zweite  Harmonik  §  47  Anspruch.  Vgl.  meine  Griechische 
Rhythmik  und  Harmonik  vom  Jahre  1867. 

2.  Vom  kleineren  (siebenzeitigen)  Epitrit 

Hcphaestion  statuirt  den  tto-j;  inixptxo;  izxisr^oz 

—  \j  —  —  und  —  —  ^  — 

in  zwei  verschiedenen  Metren: 

1.  im  ttuvtxov  in  £Äct3oovo;  dvaxX(6jj.eviv',  wo  auf  einen  xplxo;  icaUuv  rcxxd- 
ot({jlo;  ein  Srixcpo;  iwrpixo;  erxdor^o;  folge  Heph.  c.  p.  12:  wexe  xfjv  icpö  xtj; 
xpo/aixf,;  (pdaetu;)  sei  Ymaftai  revxdorjuov,  xoux  döxt  xplxr(v  -atamxTjv,  xai  xr,v 
xpoyatxfjV,  iiT.uxiu  rpoxdxxotxo  rffi  {amxt];,  Ylveaöai  iTtxaOT^ov  xpoyVt'xfjV,  x^>v 


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II.  2c.  Isolirt  vorkommende  Taktarten  und  Taktgrössen. 


71 


xaXoifievov  Scuxepov  £:uxpixov.  Zwei  rcöSe;  dieser  Art  nannte  man  zusammen 
iamxöv  feipcxpov  dvaxXdtpcvov  xaxd  töv  dvaxXtupLEvov  yapaxxr]pa: 

zapd  5'  tj'jt«  ll'jft'i|jL'ivopov 
xaxdouv  £paixa  tpeuftuv. 

v^"^  —  ^  —   

v-  -  v  ' 

TTClltUV  iTlltpiTO; 

rcv-da^pi'.;  eTTTdaTjuo?. 

Den  £:r{xpixo;  jtoj;  schliesst  Aristoxenus  von  der  O'jvcy^j;  ^uftfionoela  aus. 
Als  Bestandtheil  des  d-^xXmpEvov  steht  der  t:oj;  erctxpixo«  sTrcdorju-o;  nicht  in  der 
cjvey^c  p^fyoTtoda,  sondern  stets  als  isolirter  Takt  unter  anderen,  nämlich  in 
unmittelbarer  Nachbarschaft  eines  raUuv  revxdo^fjios,  er  kann  niemals  eine  cou- 
tinua  rhythmopoeia  bilden  und  sollten  auch  noch  so  viele  dvaxXebfUv«  auf  ein- 
ander folgeu.  Es  steht  also  nichts  entgegen,  <Ia*s  dieser  Epitrit  des  Anaklomenon 
ein  wirklicher  -oj;  iztxpixo;  snxdGTjuo;  ist.  Wir  dürfen  nicht  zweifeln,  dass 
Hephaestion  hier  die  alte  rhythmische  Tradition  überliefert,  und  dass  auch 
Aristoxenus  das  dvaxX<t*|A6NOv  nicht  anders  gemessen  hat. 

Auf  diesen  Fall  aber  muss  das  Vorkommen  der  eirrdoT^o;  izlxptxoc  be- 
schrankt gewesen  sein.  Denn 

2.  im  xpoyatxov  und  iatfixliv,  wo  jene  Versfüssc  -  ^  und  ^  — 

an  Stelle  der  trochaeischen  und  iambischen  Dipodie  -  ^  -  w  und  w —  ^  - 
häufig  genug  gebraucht  werden,  und  wo  Hephaestion  sie  ebenfalls  als  eTrrdoT)- 
|*ot  i^xpiToi  aufiasst,  kommen  sie  nicht  isolirt,  sondern  ausserordentlich  häufig 
auch  in  mehrmaliger  Wiederholung  ohne  durch  andere  VersfÜsse  unterbrochen 
zu  sein  vor,  z.  Ii.  Aristoph.  Kquit  291: 

Ozotc [Aoüfxai  |  xd;  6&o0;  oo-j" 
ßXi^o^  cf;       d-  |  axapodu-yxxos. 
£v  d-yopa  xd-  |  fi»  xiftpafAfAii. 
otacpop-f^oj  a   |  et  xi  fp6;ei«. 
x  azposop-fjac»  o  |  cl  XaX-rjost;* 
6jxoXoy»  xX£~-  |  xeiv  o-j  o  ouy(. 
vtj  xkv  fEpf*r)v  |  x6v  d-yopatov, 
xäniopxw  j  -je  jiXerctfvxiuv. 

Hippolyt  752: 

KXcivd«  'Aft-fjvac  Mouv6you  o'  |  dxxalotv  ix&^oavxo  rXex-   \  xd;  izsi- 
aadxouv  dpyd;  Itz  d-|re(pou  xe  7a;  £(3aoav.] 

Trach.  101: 

H  zovxla;  avXdivoi;  rj  |  otaoatotv  d-dpoi;  xXtöei;,  |  etn  tu  xpaxtaxeOoav 
xax'  K\tn  1. 

Auch  in  iambischen  Trimcteru.  Vgl.  Aias  545.  Man  hat  Noth,  so  viele 
unmittelbar  auf  einander  folgende  Diiamben  und  Ditrochaeen  zu  finden.  Wie 
sollte  es  da  nun  kommen,  dass  die  sechszeitigen  Diiamoen  und  Ditrochaeen  in 


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72  Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  55.  56. 

die  Klasse  xäv  ttoS&v  t&v  xai  ouvc/f,  p-jO^o^tia«*  £-ioeyofx£v<ov  gerechnet  wer- 
den, dass  dagegen  die  unter  Diiamben  nnd  Ditrochaeen  eingemischten  Vers- 

füssc  —  —      —  und  —  \y  aus  der  £uOfxo-oita  «vs/^;  ausgeschlossen 

würden,  wenn  sie  eircdsrjfiot  inb^ttoi  wären?  Für  die  continuirliche  Rhyth- 
niopoiie  heisst  es  §  35  vom  e7rxd<JT({Ao;  ircixpixo;  „oux  fyet  öiatpcotv  Ttoftix^v  .  .  . 
ouSei;  ioriv  IppuOpto;."  Es  folgt  hieraus  mit  Notwendigkeit,  dass- der  Versfuss 
s.  s.  —  und  —  j.  \j  ± ,  wenn  er  wie  in  den  herbeigezogenen  Beispielen  der 
Stellvertreter  des  Ditrochacus  oder  des  Diiatnbus  ist,  kein  E-xdoTrijAo;  iTihotto; 
ist,  dass  viel  in  ehr  Hephaestion  sich  irrt,  wenn  er  ihn  fiir  einen  i-rrzdar^oi 
xptxo?  erklärt.  Wir  können  hier  den  Hephaestion  aus  Aristoxenus  berichtigen: 
er  hat  kein  7-zeitiges,  sondern  ein  6' ,'s -zeitiges  Megethos  —  oder  auch  vielleicht 
irgend  ein  anderes  (vgl.  unten),  nur  nicht  das  Megethos  eines  tcou;  £rlxpixo; 
iTrrda^fio;,  denn  diesen  konnte  er  nur  haben  in  einer  nicht  a^eyjfj;  frubp.0r.01i7. 


3.  Vom  grösseren  (vierzehnzeitigen)  Epitrit. 

Wir  würden  durchaus  fehl  gehen,  wollten  wir  in  dem  14-zeitigen  Epitit 
etwa  die  Verdoppelung  des  7-zeitigcn  voraussetzen,  denn  ein  solches  \it-(tdoz 
xeaoapeoiatScxdoTjjzov  würde  ein  pifetto;  h  Xö-ycp  !sa  sein,  da  es  in  zwei  gleiche 
Hälften  zerfallen  würde:  es  wäre  ein  7tou;  SaxTvXixöc,  aber  kein  £-lxpixo;. 

Mit  unserem  grossen  Epitrit  muss  es  darin  dieselbe  Bewandniss  wie  mit 
dem  kteinen  siebenzeitigen  haben,  dass  er  in  der  Rhythmopoeie  nicht  mehrere 
Male  hinter  einander  gebraucht  werden,  sondern  stets  nur  isolirt  unter 
andere  icfött  eingemischt  werden  kann.  Der  siebenzeitige  wurde ,  wie  wir  ge- 
sehen, stets  mit  einem  fiinfzeitigen  Paion  verbunden  und  kam  in  der  dvdxXaot; 
des  ionischen  Rhythmus  vor.  Den  vierzehnzeitigen  können  wir  zunächst  an 
unserer  modernen  Rhythmopoeie  klar  machen.  Wie  in  einer  besonderen  Art 
der  ionischen. Rhythmopoeie  die  Alten  den  kleinen  siebenzeitigen  Epitrit  mit 
dem  fünfzeitigen  Paion  (dem  Ttaltuv  oidpio;)  verbanden,  so  verbindet  z.  B. 
Beethoven  in  der  ersten  Es-dur  Clav.  Sonate,  in  der  ionischen  Rhythmopoeie  des 
Largo-Satzes,  den  vierzehnzeitigen  grossen  Epitrit  mit  dem  zehnzeitigen  Paion 
epibatoß. 

1«  Paion  epibatos. 


2*  Grosser  Epitrit.  8.      Jonisehe  Dipodie. 


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II.  2c.  Isolirt  vorkommende  Taktarten  und  Takt^rösseu.  73 


4.  Jonische  Tripodie.     5.  Paion  epibatus. 


«.  •  Grosser  Epitrit        7.  Jonische  Tripodie. 


Die  Zahlen  oberhalb  der  Notenzeilen  bezeichnen  die  Kola  ( 1  . .  .  7 ) ,  die 
Zahlen  unterhalb  der  Noteuzeilen  sind  die  Chronoi  Rhythmopoiias  idioi  (vgl. 
S.  105.  112),  ciu  jeder  von  dem  Umfange  zweier  Chronoi  protoL 

3 

Alle  vorausgehenden  Kola  des  im  -    -  Takte  geschriebenen  Largo  sind 

ionische.  In  der  vorstehenden  Partie  sollte  Kolon  1  eigentlich  eine  ionische 
Dipodie  Hein.  Dieselbe  ist  aber  um  den  letzten  Chronos  di.semos  verkürzt; 
sie  ist  statt  eines  zwölfzeitigen  Dimetron  ionikon  ein  zehnzeitiger  Paion  epiba- 
tos  geworden.  —  Das  Kolon  2  .sollte  wiederum  ein  ionisches  Dimetron  sein; 
aber  um  so  viel  das  vorausgehende  Kolon  1  verkürzt  ist,  um  so  viel  (nämlich 
um  einen  Chronos  dfcemos)  musstc  das  ihm  folgende  (Kolon  2)  vergrössert  wer- 
den. So  ist  aus  einem  zwölfzeitigen  Dimetron  ionikon  ein  vierzehnzeitiges  Epi- 
triton  geworden.  Der  zehnzeitige  Paion  epibatos  ist  einer  der  Takte  tü>v  %*\ 
cjveyij  ^idpoKoitav  imhr/oni\o>v  (vgl.  oben);  der  vierzehnzeitige  Epitrit  ist  von 
der  «jvey-T;;  ^vOfjioiroda  ausgeschlossen,  er  kann  nur  (wie  in  unserem  Falle)  in 
Verbindung  mit  einem  heterogenen  Takte,  d.  i.  isolirt  unter  anderen  Takten 
vorkommen.  Was  das  vorausgehende  (Kolon  1)  zu  wenig  hatte,  nmss  das  fol- 
gende (Kolon  2)  zu  viel  haben.  So  wird  die  „nicht  continuirliche"  Rhythmo- 
poeie  ausgeglichen.  Es  folgt  als  Kolon  3  wieder  ein  regelmässiges  Dimetron 
ionikon.  Ein  Dimetron  ionikon  ist  auch  Kolon  4;  doch  das  ihm  folgende 
Kolon  5  ist  wieder  ein  um  den  Chronos  disemos  verkürztes  Dimetron  ionikon 
d.  i.  ein  zehnzeitiger  Paion  epibatos.  Nun  folgt  an  sechster  Stelle  wiederum 
statt  eines  zwölfzeitigen  Dimetron  ionikon  ein  zur  Ergänzung  des  Rhythmus 
um  einen  Chronos  disemos  verlängertes  Kolon,  nämlich  wieder  wie  an  zweiter 
Stelle  ein  vierzehnzeitiger  grosser  Epitrit,  ah  den  sich  an  siebenter  Stelle  ein 
regelmässiges  Trimetron  ionikon  von  achtzehn  Chroni  protoi  anschliesst. 

Wir  haben  mit  der  rhythmischen  Erklärung  des  ionischen  Satzes  der 
ersten  Beethovcnschen  Es-dur-Souate  zugleich  die  rhythmische  Analyse  der  ioni- 
schen Strophe  Oed.  Rex  483—497  Dindorf  gegeben. 


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74  Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §.55.  56. 

1.  Aewd  jjlsv  ouv,  oeivd  tapdooet  |  ootp^c  otcuvo8£xa;, 

2.  oy-re  ooxoüvr  ovY  dTtwpdoxovO' *  |  8  ti  hll-m  &'dropä. 

3.  r^TOjAott  S'itarlatv  ojt'  ev-  [  ödV  &p&v  o*!>t'  tatara. 

5.  Tj|  xü)  llo/.y^ou  veixo;  fxeit1  o-j-  |  ts  7rdpoiö£v  tot'  £fa»Y'  oSf*  Tavüv  riu 

6.  £fAaöov,  Ttpö;  Swj  8f)  ßaoa^iu 

7.  £zl  rdv  iniSajjiciv  |  spdtiv  eija.'  OloiwS&a  Aa(Jöaxt&au  . 

8.  iirlxoypo;  d5V;).<uv  öavdrtuv. 

1.     —     \s '    W '     X     —  W     X     —        V>  X     —    N-/     V>  ^ 


Grosser  Epitrit  Paion  epibatos. 

2.  —  v>  ■      x  —  v_/  x  —    v_/  ^  x  —  ^>  v_,  x 

>.   *     »   i 

Grosser  Epitrit  Paion  epibatos. 

3.  ^wx—  ^v^x  —    ^  <w»  z  —  \j  i. 

-  >  V  .  I 

Jon.  dimetron  Paion  epibat. 

4.  \J    S_<     X     —    V_,    \_/  x 


Paion  epibat. 


5.  X    —    ~    v     _L    —    w   v^'    X    —  \_-^>X—    V-ZV^X—    v^\~>X  — 

*  '   . — .   t 

Jonic  trimetr.  Jonic  trimetr. 

6.  \y  \j  x  w  ■  \„  ■  x  —  v-  ■  w  x 

V  ' 

Grosser  Epitrit. 

7.  w  v  x  ~  ^  x  —    w  ^  x  —  w      x  —  ^/  >^  x 


Paion  epibat  Jonie.  trimetr.  katalekt. 

8.  w  ^  x  w  ^  x  —  x 


Großer  Epitrit 

Diese  Acccntuations- Auffassung  der  V.  1  und  2  finde  ich  auch  bei  W. 
Dindorf  Metra  Aeschyli  u.  s.  \v.,  der  für  dieselbe«  folgendes  Schema  giebt: 

— ,  \S  \J   1.    —   w'   W    X    —   ^  X    —   v-/  w  X 

Alle  Ehre  dem  verdienstvollen  Philologen,  der  hier  ohne  von  Aristoxenus  und 
Beethovenscheu  Parallelen  etwas  zu  wissen  nach  eigenem  richtigem  rhythmischem 
Gefühle,  abweichend  von  allen  früheren  nicht  ein  Choriambikou  erblicken 
wollte,  obwohl  die  antiken  Metriker  dasselbe  schwerlich  anders  als  Choriam- 
bikon  genannt  hätten. 


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II.  2c.  Isolirt  vorkommende  Taktarten  und  Taktgrössen.  75 

m  • 

4.  Die  übrigen  nur  isolirt  vorkommenden  Takte. 

a.  Der  triplasische  Tetrasemos. 

In  dem  Excerpte  des  Psellus  wird  er  unmittelbar  neben  dem  Epitrit  ge- 
nannt. Wir  können  nicht  zweifeln,  das*  diese  Stelle  des  Psellus  direkt 
aus  Aristoxenus  genommen  ist.  Auch  Dionysius  bezeugt  sein  Vorkommen  in 
der  Rhythmopoeie.  Freilich  ist  das  nicht  die  ouvc^S  j>utt|AOiroita,  von  der  ihn 
Aristoxenus  §  32  aufs  entschiedenste  ausxchlie<*t.  Wo  wir  die  Aristoxenischen 
Epitrite  zu  suchen  haben,  Hess  sich  aus  Hephaestiou  und  Beethoven  entnehmen, 
nämlich  als  isolirte  Takte  unter  ionischem  Rhythmus.  Ebenda  haben  auch  die 
triplasischen  Takte  ihre  Stelle.  Docli  muss  ich  zunächst  das  negative  Resultat 
angeben,  dass  Hephaestions  „ttoj;  xexpdypow;  ix  ßper/eta;  xai  fxaxpa;  xai  3pa- 
ysiac,  6  djA^tßpaxu;  ^  —  o"  (Heph.  c.  3)  damit  nicht  gemeint  sein  kann,  wenn 
auch  spätere  Metriker  diesen  Fuss  dem  -jevo;  xpnrXdoiov  zuweisen,  gerade  wie 

Hephaestion  selber  den  unter  Trochaeen  gemischten  Fuss    —  w  einen 

tzo'jz  d^tTptxo;  nennt.   Also  ist 

'EpacjAOvtöi)  XaplXac  Hephäst,  c.  15 

von  den  Alten  nicht  amphibrachisch  gemessen  worden: 

—  O,   <J  —  W ,   v-/  —  v_/, 

denn  hier  würden  die  dreisylbigen  Versfüsse  in  einer  jvjdpLoroita  ouvsyjJ);  ge- 
braucht sein,  von  der  Aristoxenus  §  32  deu  xexpdo7)[i.o;  noy;  xptrcXdsio;  ausdrück- 
lich ausschliesst.  Vielmehr  muss  auch  Aristoxenus  das  vorstehende  Kolon  so 
gemessen  haben,  dass  der  erste  itou;  desselben  ein  revxdoT;uo;  iraiaiv  öeyxepo; 
war,  wie  diese  Messung  bei  Hephaestion  vorkommt 

Dagegen  würden  Metra  wie  Prometheus  397  Dindorf: 

1.  Y.x£vu>  os  to<  O'J*  !  Xo|*£\a;  xuya;  lIpou.T(fteü. 

2.  Saxpuolcxaxxov  ir.  iooouv  |  paOtvtüv  &'  el  |  ßojxeva  £eo;  napeidv 

3.  voxloi;  exc-y;*  tra^ai;.  |  dui^apxa  fdp  tdöe  Ze6; 

4.  l&to«  vöjxoi;  xpaxyMtuv  |  u^ep-f^avov  Öeot;  xot;  |  itdpo«  evoetxwaw  aty|idv, 
im  Anfangskolou  des  v.  1  mit  einem  *oj;  xExpdoTjfAoe  xptnXdoio;  anlauten,  auf 
den  ein  xexpdoT^o;  oaxrjXtx&c  folgt: 

I  >     /  S      I       I  \      /  \ 

1.     \J  —  W     —    —  \^   \J    —    V>     —  —  — 

2.  \^V^    —    —    <«/    W    —    |    U    U    -    —    |    W    V»/    \J    —    ^/    —  — 

3.  WV>  —   \-/   —   \J  —  —    |    W  w   —  v^  —  v>  — •  — 

4.  wo  —  \j  —  \j  —  —  Iww  —      —  v/  —  —  I   \j  \-/  —  —  —  o  —  — 

Ebenso  Sophokl.  Elektra  1058  Dindorf: 

1.  Ti  xouc  dvottev  |  'fpovifiiuxdxou;  otoovou; 

2.  icopcopevc*  xp<xpä;  xrrjoo(*iwu;  d?p'  tuv  xe  flXdoxoi-'otN  d<p  «av  t  tfvaoiv 

c&ptuot,  xdV  oix       loa;  xeXoü|Aev; 

3.  dXX'  ou  xd^  Ali;  daxpairdv  |  xai  xd>  oipaviav  Oepiw,  |  oapov  oix  drcdvijxoi. 


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76  Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  55.  56. 

4.  oi  yÖcma  ßporotot  'fdfia,  '  xaid  jxoi  ß<5aoov  otxxpdv 

5.  Ära  xol;  IvepfK  Axpetöai;,  |  iyopevxa  o^pouo1  ivetör,. 

/ — — — >  >  >  i    >  /  \ 

1.  \j  —  \j   —  —   i  ^  ^  —  \y 

2.  w  ^  —  w>  —  \j  |  ~>  \j  —  ^  —  \j  f       ^  —  \j  —  \j  •■ 

•v^w  —  ow  —  s>  —  w 

3.  —  —   —  \J  \J   —  \J   —    |    —   —   —  W         —  O   —    |    —   Ö   —   s-/   v-/   —  — 

4.  _^v^_^_^__  |  ^  ^  —  w  —  w  

5.  w  v_/  —  v>  —  w  |  ^  ^  —  ^/  —   

In  beiden  Stroplieu,  der  des  Prometheus  und  der  Elektra.  ist  der  gemein- 
same Anfang 

\j  —  ^  —  — 

kein  katalcktische«  lambikon,  denn  dieses  würde  nach  S.  18.  19  anders  zu 
messen  sein  (mit  verlängerter  vorletzter  Sylbc),  sondern  eben  eine  triplasisch- 
spondeische  Dipodie,  eine  Dipodie  aus  einem  4-zeitigeu  Triplasios  und  einem  4- 
zeitigen  Spondeus.  Das  in  beiden  Strophen  auf  diese  Dipodie  folgende  ionische 
Anaklomenon  zerfallt  nach  antiker  Messung  in  einen  5-zcitigen  Paion  und  einen 
7-zeitigen  Epitrit  vgl.  oben  S.  71.  Es  ist  nicht  ohne  Interesse,  dass  sowohl  die 
beiden  rMtz  itrtxpixoi  wie  der  ^ov;  xptTcXotcto;,  welche  *ammtlich  von  «1er  vnv/ifi 
^'jOfioTTotta  ausgeschlossen  werden,  als  isolirt  eingemischte  Takte  in  der  ioni- 
schen Rhythmopoiie  vorkommen.  In  v.  4  der  Elektra-Strophe  erscheint  wie- 
derum der  intxpixo;  xeoaapeoxai&exdcirjiAo;,  wie  unter  den  Ionici  Oed.  Rex.  483 
vgl.  oben  S.  74,  wenn  auch  in  einem  abweichenden  Schema. 

Ob  der  tsvjs  xptrXasto;  noeli  anderweitig  in  der  Rhythmopoeie  zugelassen 
wird,  daB  würde  die  griechische  Metrik  zu  untersuchen  haben. 

b.   Der  daktylische  Disemos. 

Aus  der  ouveyr,;  p'ySf/owxia  sclüiesst  ihn  Aristoxenus  aus  §  31.    Aber  als 
isolirten  Versfuss  muss  ihn  auch  die  alte  Rhythmik  anerkannt  haben.  Das 
Fragmentum  Parisinum  §  11  (Griech.  Rhythmik  u.  Harmonik  1867  Anhang 
S.  45)  sagt:  "Ap/txai  Ii  xo  SaxxyMx&v  dnö  xexpao^ixo'j  [ä^tu^f,;],  aSfcexai  pi/pt 
ixxultxaoi^o'j.  &<jtc  -ylvcaftat  xöv  fj^iaxov  wJ&a  xoO  iXaylaxoy  xexpcmXdsiov.  "Eon 
hi  8xe  xal  lv  otor^tp  flvtxat  oaxxyXtxo;  Ttoti;.  Die  Fassung  dieser  Stelle  erinnert 
durchaus  an  die  Pscllianischen  Prolambanomena  §  12  u.  9,  namentlich  dürfte  die 
wörtliche  Uebereinstimmung  fiart  ^Iveobai  xöv  jxiywxov  7:65a  . .  .  xoO  iXaytarov»  in 
den  beiderseitigen  Darstellungen  und  ,,f  Ivexcn  hl  ttoxc  ttoCic  xat     .  .  .'*  und  „Itzi 
Ii  oxe  xal  iv  Sia^4p.tp  -fbexai  fiaxxuXtxi*;  rou;"  zu  betonen  sein.  Freilich  stammt 
das  Fragm.  Paris,  nicht  direct  aus  Aristoxenus,  sondern  durch  Vennittelung 
eines  Uniarbeiters,  dem  auch  das  nicht  Aristoxenische  „ix  xexpaff/jnou  dfoi'jf^" 
aufzubürden  ist.   Auch  Aristides  spriclit  die  Existenz  eines  rove  SaxxuXixos 
iloTjfio;  mit  absoluter  Bestimmtheit  aus  p.  35  Meib. 


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II.  2c.  Isolirt  vorkommende  Taktarten  und  Taktgrössen.  77 


Wo  wir  ihn  zu  suchen  haben?  Da  wo  ein  ttov»;  Storno«  isolirt  zwischen 
anderen  z<5oec  steht.  Das  geschieht  bei  den  Lesbischen  Dichtem  im  Anfange 
eines  {iirpov  roXuoy^jxdTiorov  Hephaest.  c.  16,  z.  B.  dem  «Depexparetöv : 

zcXSxeoat  SoveiTat 

v£>  ^  J.  ^  ^ -  ±  — 

und  in  den  SaxrjXixd  AioXixa  Hephaest.  c.  7: 

x£Xop.at  xtva  tiv  yapievra  Mivtova  xaXloaat 
Ueber  die  Messung  dos  polyschematistischen  Pyrrhichius  s.  unten . 

c.  Auch  noch  andere  Megethc, 

welche  Aristoxenus  in  seiner  Taktscala  aus  der  oyvr/Vj;  f»v»8(Aoroita  aussehliesst, 
gehören  zu  denen,  welche  als  isolirte  Einmischungen  unter  anderen  Takten 
vorkommen.  Aus  Aristoteles  Metaph.  14,  6  wissen  wir,  dass  die  Griechen  den 
heroischen  Vers  in  folgender  Diairesis  maassen : 

xwXov  <iptoT6p<Jv  xtüXov  &e£i6v 

r  r-  \ 

A^Bpa  uoi  ^w£7:e  fAOÜoa,  l  i:oXjTpo::ov  8;  (idXa  roXXa 

'  ,  '        v  / 

8-sylbig  9-sylbig 
ll-zeiti^  13-zeitig 

Dort  in  der  Aristotelischen  Metaphysik  ist  die  Rede  von  Zahlen- Analogieeu, 
welche  von  manchen  gezogen  würden.  Von  den  beiden  mittleren  Saiten  des 
Oktacliordes  komme  auf  die  eine  die  Zahl  9,  auf  die  andere  die  Zahl  8  (die 
Saitenlängen  ausdrückend  nach  Pythagoras  und  Pluton).  Von  Aristoteles  selber 
wird  diese  Analogie  nicht  gebilligt. 

6  c 

H  f 
9  g 

12  c  

„Ebenso  habe  der  epische  Vers  (wenn  er  aus  lauter  Daktylen  besteht)  die 
gleiche  Hümme  von  8  -f-  9  =  17  Sylben." 

Die  strenge  Theorie,  die  wir  bei  Aristoteles  in  der  Diairesis  des  epischen 
Verses  vertreten  sehen,  fasste  ihn  also  nicht  als  einen  daktylischen,  sondern  als 
einen  daktylisch-auapaestischen  Vers,  uls  eine  Tiepiooo;  olxouXoc  aus  zwei  ver- 
schiedenen Versfüssen,  ähnlich  wie  es  d»*r  Fall  ist  bei  Bach  in  dem  daktylisch- 
anapaestischeu  Tetrametrou  wohlt.  Clav.  1,  18: 


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78 


Ari>toxenus  rhythmische  Elemente  §  55.  56. 


l  w  II 


•  II 


14  zeitig. 


16  zeitig. 


1 1 


Und  so  wird  durch  die  Aufeinanderfolge  katalektischer  und  nkatalektischer 
Kola  stets  eine  non  continua  rhythmopoeia  bewirkt;  was  das  eine  Kolon  über 
die  für  die  continua  rhythmopoiia  verlangte  Grösse  hat,  das  hat  dort  das 
andere  Kolon  stet«  zu  wenig  und  hierdurch  findet  die  richtige  Ausgleichung 
der  Megethe  statt,  so  da.«s  schliesslich  wieder  dieselbe  Summe  der  Zeitgrössen 
sich  ergiebt,  welche  die  fortlaufenden  Kola  der  «me/f,;  p^jS)|AO-oua  haben  wür- 
den. Bereits  gaben  wir  8.  ~'A  aus  der  ersten  Es-dur-Sonate  Beethoven's  an  dem 
nur  in  der  „non  continua  rhythmopoeia"  vorkommenden  grossen  Epitrit  ein 
Beispiel  dieser  Ausgleichung  der  Kola-Grossen. 


3.  DIAIRESIS  DER  TAKTE, 
a.  Die  Takt-Diairesis  in  Chronoi  podikoi. 

Von  der  oiatpeot;  roowr,,  welche  §  35  genannt  wurde,  jener  Theilung  des 
Taktes  in  zwei  dem  Logos  podikos  entsprechende  Abschuitte,  ist  diejenige 
Diairesis  des  Taktes  in  Theile  |u£pT()  zu  scheiden,  mit  welcher  es  die 
xo-d  c.totp£aiv  otacpopd  der  Takte  zu  thun  hat  und  von  der  §  27  eine  allgemeine 
Definition  gegeben  wurde.  Die  jxipTj  des  letzteren  Falle«  sind  die.  ypövoi  n&otxoi 
oder  ST;jxeta  -oorxd,  die  apoti;  und  £daeis,  die  leichten  und  schweren  Takttheile, 
unter  deren  Anwendung  der  taktirende  Dirigent  (r,fep.u>v)  die  Singenden 
und  Instrumentalisten  den  Rhythmus  einhalten  lässt.  Sie  haben  eiu  wesentlich 
praktisches  Interesse,  während  die  aus  der  otaipeci;  -ooi*-^  sich  ergebenden  zwei 
Abschnitte  des  Taktes  theoretischer  Art  sind,  um  die  betreffende  Taktart  zu 
bestimmen.  Bei  den  einfachen  Takten  ist  diese  theoretische  oexipeoi;  mit  der 
praktischen  Takt-Diairesis  identisch,  denn  jeder  der  beiden  theoretischen  Ab- 
schnitte ist  zugleich  ein  praktischer,  eine  Arsis  oder  eine  Basis.  Dagegen  sind 
bei  den  zusammengesetzten  Takten  die  beiden  Diaireeen  verschieden,  denn  der 
zusammengesetzte  Takt  hat  je  nach  Umfang* und  Taktart  entweder  zwei  oder 
drei  oder  vier  Takttheile. 

Es  war  ein  Mangel  der  ersten  griechischen  Rhythmik  (1854),  dass  diese 
Arten  der  Diairesen  nicht  geschieden  wurden.  Dort  war  jeder  der  beiden  dem 
X<Sfo;  TCi$i-x&t  Abschnitte  entweder  als  Niet;  oder  als  dpot;  gefasst,  z.  B.: 


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II.  3a.  Takt-Diairesis  in  Chronoi  prodikoi. 


79 


—  \y  —  v ,  —  ^  —  ^ 

•  /   ' 

ttioi;  dpoi; 

m 

—  \*/  —  ^,  —  v> 
Öeoi;  apot; 

-    w    -    \>    -    vy,    —    \>    —  ^ 

s  /       V   < 

tisai;  äpai; 

Dieser  falschen  Auffassung  ein  Ende  gemacht  zu  haben,  ist  das  grosse 
Verdienst  IL  Weil's  in  seiner  Besprechuiig  des  Buc  hes  (Weil  über  Arsis  und 
Thesis  N.  J.  f.  Phil.  u.  Paed.  76  S.  396).  Anschliessend  an  den  in  der  Rhyth- 
mik besonders  betonten  Satz,  dass  rous  bei  Aristoxcnus  in  einem  anderen  Sinne 
als  in  dem  uns  geläufigen  Sinne  der  Metriker  gebraucht  wird,  dass  er  nicht 
bloss  Einzelfuss,  sondern  dasselbe  wie  Kolon  bedeute,  sagt  Weil,  dass  wenn 
Aristoxenus  einem  jeden  rouc  mindestens  zwei,  den  tAeydXot  wtöes  aber  auch 
drei  und  vier  Semeia  vindicirc,  dass  dann  die  ne-y*'01  rcooe;  von  den  grösseren 
der  in  der  Aristoxenischen  Scala  enthaltenen  rAhtt  verstanden  werden  müssteu. 
Auch  Aristides  gebe  hiermit  im  Einklang  dem  10-zeitigen  Paion  epibatos  vier 
Chronoi,  dem  12-zeitigen  Trochaibs  seinantos  und  orthios  drei  Chronoi.  Sich 
stützend  auf  die  Stelle  des.  Psellus  §  f>4,  die,  wie  sie  handschriftlich  überliefert 
ist.  die  Zald  der  Semeia  mit  dem  grössten  Megethos  jeder  Taktart  in  Causal- 
Nexus  bringt: 

Taktarten  Zahl  der  Semeia     grosstes  Megethos 

■ydvo;  oaxrjXixöv  2  16-zcitig 

Y^vo;  intfafa  8  18-zeitig 

Y£vo;  7:at(«vix<iv  4  25-zeitig 

nimmt  Weil  an,  dass  die  zwei  Semeia  der  daktylischen,  die  drei  Semeia  der 
iambischen.  die  vier  Semeia  der  paeonischen  Taktart  zu  vindicircu  seien.  Die 
Tetrapodic  habe  hiernach  zwei,  die  Tripodie  drei,  die  Pentapodie  vier  Semeia. 

Die  Auffassung  Weil's  hatte  sich  seitdem  unsere  Metrik  zu  eigen  gemacht, 
zuerst  in  den  Fragmenten  und  Lehrsätzen  der  griechischen  Rhythmiker  1861, 
S.  128.  Jedem  tetrapodischen  Kolon  gaben  wir  mit  Weil  nur  zwei  Semeia, 
eine  8£oi;  und  eine  o&si;: 

W     V>    —    W    V>    —  —     W     w'  — 

Erst  Dr.  E.  F.  Baiungart  in  seiner  vortrefflichen  gegen  mich  gerichteten 
Streitschrift  „über  die  Betonung  der  rhythmischen  Reihe  bei  den  Griechen"  im 
Programm  des  katholischen  St.  Matthias-Gymnasiums  zu  Breslau  machte  da- 
rauf aufmerksam,  dass  diese  Auffassung  unüberwindliche  Schwierigkeiten  habe. 
„Wenn  wir  nicht  glauben  wollen,  dass  die  Griechen  aus  einer  Art  theoretischer 
Steifheit  den  ganzen  Zweck  und  Nutzen  des  Taktirens  unsicher  und  illusorisch 
gemacht  haben,  so  können  wir  ihnen  eine  solche  Handhabung  derselben  nicht 


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80  Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  57. 


zutrauen."  Baumgart  verwirft  deshalb  die  Beziehung  der  aus  3  und  4  Xp<Svot 
bestehenden  Takte  auf  die  rMn  cjvöe-roi  und  kehrt'  zu  der  alten  Auffassung 
Boeckh'a  zurück. 

Boeekh  metr.  Pind.  p.  22  und  Ind.  lect.  Berol.  1825  p.  5  hält  die  2,  3,  4 
yp6vot  oder  STjjAeta,  welche 'Aristoxenus  §  17  den  wfte;  zuertheilt^  für  identisch 
mit  den  ypivot  ttoojtoi.  Die  betreffenden  ro5e;  seien  der  2-,  3-,  4-zeitige,  obwohl 
Aristoxenus  weder  den  2-zeitigen  roj;  für  die  ouvcy^;  pjßfAonoiia  anerkennt 
noch  auch  jemals  wie  Aristides  den  Tenninns  «rrjuetov  als  gleichbedeutend  mit 
ypovo«  rpÄTo;  gebraucht.  Nach  Boeekh  also  würde  Aristoxenus  keinen  grösse- 
ren rcoi»;  als  den  4 -zeitigen  Daktylus  oder  Auapaest  statuireu.  Das  glaubt  nun 
Boeekh  auch  in  der  That  aus  Aristoxenus  Worten  schliesscn  zu  müssen,  denn 
wenn  es  (sagt  Boeekh)  im  weiteren  Fortgange  der  Aristoxenischen  Stelle  §  19 
heissc,  durch  die  Khytlunopoeic  werde  ein  ttoj;  auch  in  mehr  als  4  yp^vii  zer- 
legt, so  seien  damit  die  das  4-zcitige  Megcthos  überschreitenden  7^&e;  vom  5- 
bis  zum  25-zettigen  gemeint.  Jene  (vom  2-  bis  4-zeitigen)  seien  die  dojvOeroi 
-öoe;,  diese  (vom  5-  bis  zum  25-zeitigen)  seien  die  ouv»exot;  —  der  5-zeitige 
Paion  sei  aus  einem  Trochaeus  und  Pyrrhichius,  der  6-zeitige  Jonicus  aus 
einem  Spondeus  und  einem  Pyrrhichius  zusammengesetzt  u.  s.  w. 

Dieser  an  sich  ganz  seharfsinmgen  Deutung  Boeckh's  widerspricht,  dass 
Aristoxenus  dem  ypovoc  zootxi;  unter  Umständen  ajich  das  pi-fetto«  8Xov  roSös 
giebt  s.  unten.  Dies  ist  bei  Boeekhs  Identificimng  von  yp«Svo;  rpA-o;  und  it^cion 
nicht  möglieh,  denn  ein  ypövo;  npöro;  kann  imtcr  keinen  Umständen  einen 
ZXo;  roj;  bilden,  um  so  weniger,  als  Aristoxenus  nicht  einmal  das  [xi^efto;  6lar4- 
piov  als  -r/j;  anerkennen  will. 

Boeekh  hat  unbeachtet  gelassen,  dass  nach  seiner  Interpretation  des  Aristo- 
xenus dieser  dem  toI^jj-o;  ttoj;  drei  o-r^eta  zuertheilen  müsste,  während  Aristo- 
xenus demselben  §  20  zwei  OTjueta  vindicirt  hat.  Ebendaselbst  giebt  Aristo- 
xenus dem  rov>;  xeTpaor^o;  zwei  ot^ela,  nicht  wie  es  nach  Boeekh  der  Fall 
sein  müsste,  vier  or^eia.  Auch  dem  5-zeitigen  Paion  wird  von  M.  Victorinus 
eine  TptotjpLo;  ftisi;  und  eine  'JaTjjAo;  apat;  zuertheilt,  also  zwei,  nicht  al>er 
fünf  3r(|AEia;  dem  6-zcitigen  Jonicus  «'ine  Tetpaairj|Ao;  8£ct;  und  eine  Storno;  ipet;, 
wieder  zwei,  nicht  sechs  Seincia;  nicht  minder  heisst  es  vom  6-zeitigen  Ditro- 
chaeus  bei  Victor. , ,uniis  pes  ipsiv,  alter  ft£aiv  obtinebit",  wiederum  zwei  Semeia. 
Auch  die  8-zeitige  anapaestisehe  und  daktylische  Dipodie  hat  trotz  ihres  8- 
zeitigen  Megethos  gleich  der  troehaeisehen  nur  Eine  dlpai;  mid  Eine  8£oi;  Für 
alle  Tc«55e»  vom  5-zcitigen  bis  zum  8-zeitigen  steht  es  fest,  dass  sie  nur  zwei 
Semeia  haben.  Und  da  sie  alle  nur  2  Semeia  haben,  bo  gehören  sie  nicht, 
wie  Boeekh  will  zu  den  pcYdÄot  it^oe;,  da  die  p.efd>Ai  tcoBe;  nach  Aristoxenus 
mehr  als  2  CTjueta,  nämlich  3  oder  4  nöthig  haben.  Wir  müssen  also  die 
jASfdXoi  Tftöe;  nothwendig  unter  den  die  Achtzoitigkeit  überschreitenden  fiE^iSTj 
suchen,  nicht  aber  unter  den  otaip£oet;  ut:ö  pjftpLOTrouac  YivSp-evai. 

Baumgart  hat  Boeckh's  Auffassung  etwas  modificirt.  »ber  keine  der  eben 
aufgezählten  Schwierigkeiten  hinweggeräumt.    Es  lässt  sich  nun  einmal  das 


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IL  3a.  Takt-Diairesis  in  Chrouoi  podokoi. 


81 


OT(fjieiov  des  Aristoxenischcn  §  18  nicht  mit  dem  ypovo;  ^pöbtos  identificircu, 
wenn  nicht  Aristoxenus  Darstellung  voll  der  grünsten  Widersprüche  sein  soll. 

Nichts  desto  weniger  hat  sieh  Baumgart  um  dir  Lehre  von  den  o^fxeia 
aufs  höchste  verdient  gemacht,  indem  er  nachweist:  auf  die  Stelle  des  Psellus, 
welche  hier  Weil  zur  Grundlage  gemacht,  dürfe  jene  Lehre  unmöglich  gestützt 
werden;  der  Sinn  bei  Psellus,  wenn  dort  Logik  vorhanden  sein  «olle,  müsse 
ein  anderer  sein,  nämlich  derjenige,  welchen  wir  oben  angegeben  haben. 

Wir  bleiben  dabei,  dass  Weil's  Erklärung  der  Aristoxenischcn  Lehre  von 
den  Semcia  im  Wesentlichen  das  richtige  gesehen,  indem  er  die  [xefdXoi  rAhti  d.  h. 
die  Kola  ins  Auge  zu  fassen  betout;  dass  allein  Weil  das  Richtig  getroffen, 
aber  nicht  Boeckh- Baum  gart.  Doch  hört  nach  Baumgarts  richtigen  Ein- 
wanden die  Stelle  des  Psellus  auf,  ein  Hülfsmittel  zu  sein,  um  den  verschieden- 
artigen 7r<Sfce;  o'jv&eTOt  eine  bestimmte  Semeien- Anzahl  zuzuweisen.  Das  einzige 
Hülfismittel  sind  die  bei  den  Metrikern  vorkommenden  Angaben  über  apai;  und 
Hcsu,  besonders  über  die  ßdsei;.  Schon  früher  versuchten  wir  die  letzteren 
zu  benutzen,  besonders  System  der  antiken  Rhythmiker  1S65  S.  107.  Doch 
war  uns  damals  noch  die  Stelle  des  Psellus  das  Regulativ  für  die  Be- 
nutzung, und  die  Verwerthung  des  in  den  Metrikern  enthaltenen  Materiales 
deslialb  eine  unrichtige.  Die  Uebereinsrimmung  zwischen  den  Metrikeru  und 
Aristoxenus  ist  eine  noch  viel  grössere  als  wir  damals  ahnten;  sie  lässt  uns 
zugleich  eine  Identität  der  griechischen  Taktirweise  mit  der  modernen  erkennen, 
die  auch  Baumgart  vollständig  befriedigt  hätte. 

Von  der  Aristoxenisehen  Ausführung  der  Diairesis  in  Chronoi  podikoi  ist 
durch  Psellus  ein  einziges  Fragment  gerettet  worden,  aus  dem  Zusammenhange 
des  Abschnittes,  auf  welchem  sich  Aristoxenus  §  18  beruft.  Leider  enthält 
dies  Fragment  nur  einen  Theil  von  dem,  was  schon  in  jenem  §  17  zu  lesen  is-t. 

§  57.  Denn  von  den  Takten  bedürfen  die  einen  ihrem  Wesen 
nach  bloss  zweier  Seraeia,  einer  Arsis  und  einer  Basis, 

die  anderen  Takte  bedürfen  dreier  Semeia,  nämlich  einer  Arsis 
und  einer  zweifachen  Basis, 

die  Takte  einer  dritten  Kategorie  haben  vier  Semeia  nöthig: 
zwei  Arsen  und  zwei  Basen.*) 

•)  Die  Semeia  der  dritten  Kategorie  sind  nicht  in  der  Parallelstelle  §  17, 
sondern  blos  in  der  vorliegenden  Stelle  genannt.  Dadurch  ist  sie  wichtig  ge- 
nug. Für  die  Takte  der  zweiten  Kategorie  dagegen  ist  sie  unvollständiger  als 
die  Parallelstelle,  denn  dort  sind  als  die  drei  Semeia  des  hierhergehörenden 
Taktes  genannt 

«il  h't  ix  Tpt&V 

66o  (j.ev  tu>v  ava),  £m»;  os  toO  "/.«xtuj, 
tj  d;  £v6;  jxev  toj  avo>,  ojo  Ii  Ttüv  xd'tu. 
Caesar  (und  ihm  folgend  Bartels)  glaubt  bezüglich  der  aus  drei  Semeia  be- 
stehenden Takte  für  die  beiden  parallelen  Stellen  Uebcreinstimmung  herstellen 

Arl«tox«DU»,  Melik  u.  Rbjtliraik.  G 


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82 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  57. 


zu  müssen.  Er  bewirkt  sie  dadurch,  dass  er  in  dem  Excerpte  die  eine  der 
beiden  Alternativen,  welche  §  56  nicht  aufgeführt  ist,  weil  sie  bei  Psellus  nicht 
angegeben  sei,  als  einen  unglücklichen  Zusatz  der  Aristoxenus- Handschrift  ent- 
fernt. Wo  wir  die  Wahl  haben  bei  derartigen  Discrepanzen  werden  wir  eher 
an  eine  Auslassung  von  Seiten  des  Epitomators  Psellus  zu  denken  haben,  der 
ja  so  mangelhaft  wie  möglich  excerpirt.  Das  zeigen  solche  Stellen  des  Psellus, 
für  welche  das  Original  der  Aristoxenisehen  Rhythmik  erhalten  ist.  Und  wer 
mag  denn  überhaupt  aus  der  Rhytlimik  des  Aristoxenus,  von  der  wir  nur 
so  Weniges  haben,  noch  dies  Wenige  durch  Auswerfungen  verkürzen?  Unsere 
erste  Pflicht  ist,  was  Aristoxenus  überliefert,  festzuhalten  und  in  der  Erklärung 
keine  Müh«  und  Sorgfalt  zu  sparen,  bis  dieselbe  gelungen  ist. 

In  dein  Folgenden  stellen  wir  zur  Erörterung  der  aus  zwei,  aus  drei,  aus 
vier  Semeia  bestehenden  Takte  zunächst  Alles  zusammen,  was  wir  sonst  bei  Aristo- 
xenus und,  wo  dieser  uns  verliest,  bei  den  antiken  Metrikern  darüber  vorfinden. 

a.  Takte  mit  zwei  Semeia. 

Im  Voraus  ist  zu  reeapituliren,  dass  Aristoxenus  die  durch  Accentuation  ver- 
schiedenen Semeia  auch  ypövoi  nennt,  nämlich  den  leichten  „ovo  ypovo;",  den 
schweren  Takttheü  „*<£tw  ypovo;".  WTo  kein  Missverständniss  möglich  ist,  lasst 
er  bei  ypövoi  die  Zusätze  avo>  und  -a*™  aus. 

Für  „avw  ypövo;"  sagt  Aristoxenus  auch  „Arsis",  für  „xäreo  ypovo;**  aber 
niemals  „Thcsis"  (wie  alle  anderen  Quellen  der  Metrik  und  Rhythmik),  son- 
dern „Basis." 

Monopodische  Takte. 

Für  zwei  einfache  Takte  sind  bei  Aristoxenus  selber  die  Semeia  ihrem 
dynamischen  Werthe  nach  bestimmt  §  20,  nämlich  für  den  3-zeitigen  und  den 
4-zeitigen  Takt:  „Der  3-zeitige  Takt  hat  einen  Slor^o;  xa-rci  ypovo;,  einen 
halb  so  grossen  dtvcu  ypovo;. 

Der  4 -zeitige  Takt  hat  einen  olor(u.o;  xdTto  ypovo;  und  einen  eben  so 
grossen  dve»  ypovo;." 

Neben  diesen  beiden  kleinsten  rationalen  Takten  bestimmt  Aristoxenus 
auch  die  beiden  Takttheile  des  irrationalen,  des  yopeto;  0X070;.  Die  Basis  (diesen 
Terminus  gebraucht  er  nunmehr  statt  xdrw  ypövo;)  ist  dieselbe  wie  der  schwere 
Takttheü  des  rationalen  trisemos  und  tetrasemos,  während  die  Arsis  des  Choreios 
alogos  die  mittlere  Grösse  von  den  Arsen  des  trisemos  und  tetrasemos  habe, 
^ou;  Tpto'/jpo;  rou;  T6Tpocr)|«>; 

1  —    v>  ^ 

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TO  xoLtui  TO  4v«n  TO  xdlCD  tö  <£va» 

olOTJUlOV  ^JXtOU  OtOT(U0V  olOTjflOV 


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II.  3a.  Takt-Diairesis  in  zwei  Chronoi  podikoi.  83 

yopeto;  dXojo«; 
_  ^ 


ßdat«  apst; 

Ueber  den  einfachen  5 -zeitigen  und  6 -zeit igen  Takt  verlassen  uns  die 
eigenen  Angaben  des  Aristoxenus.  Ergänzend  tritt  ein,  was  die  Metriker,  namen- 
lich Marius  Victorinus  im  Cap.  „de  rhythmo"  mittelbar  aus  Aristoxenus  Rhyth- 
mik überliefert  p.  53  Gaisf.  Rhythmorum  autem  tres  esse  differentias  volunt, 
in  daetylo,  iambo,  paeone,  quae  fiunt  per  dpoiv  et  8£ow.  Nam  daetylus  aequa 
temporum  divisionc  taxatnr  .  .  .  dicunt  in  dpott  et  Hau  aequalem  rationein  Ivos 
....  Iambus  a  brevi  syliaba  ineipit,  quae  est  unius  temporis,  et  in  longam 
detwüt,  quae  est  temporum  duorum.  trochaeus  autem  contra.  Secundus  autem 
rhythmua  in  iambo  dupli  ratione  substitit,  [Aovöurjfxo;  (unius  enira  temporis)  dpau 
ad  oio7](aov  8£civ  comparatur .  .  .  Eadem  et  in  ionicis  dupli  ratio  versatur  .... 
eritque  öIot(|ao;  dpot;  ad  itTpadr^os  06otv  seu  contra  .... 

Tertius  autem  rhythmus,  qui  paeonicus  a  musicis  dicitur,  hemiolia  subsistit, 
quae  est  sexcupli  ratio.  Hemiolium  enim  dicunt  uumerum,  qui  tantundem 
habeat  quantum  alius  et  dimidium  amplius  ut  si  compares  tres  et  duo.  Nam 
in  tribus  et  dus  at  essem  dimidium  contiretur,  quod  cum  evenit  Tptorjjxo;  Äpot; 
ad  i(o7)(xov  8£«iv  aeeipitur  i.  e.  tres  partes  in  sublatione  habens,  duas  in  posi- 
tione,  seu  contra.  Quam  rationein  maxime  ineurrunt  paeouici  versus  et  bacebiei 
ita  nobia  gradientibus  ut  paeonicus  servetur  rhythmus.  Hae  sunt  tres  partitio- 
nes,  quae  continuam  MM-oTOttav  faciunt.  Aristoxenus  autem  ait  nou  omni  modo 
inter  8e  composita  tempora  rhythmum  facere  .... 

Mar.  Vict.  p.  2483  (im  Cap.  de  arsi  et  thesi):  In  cretico  nunc  sublatio  longam 
et  brevem  occupat,  positio  unam  longam,  vel  contra  positio  longam  et  brevem, 
sublatio  unam  longam. 

—       —  oder  —  v-/'  — 


/ 


dp«;  ftioi;  &£ai;  dpoi; 

TpWTJfAO;  ÖlffTjfAO;  Tpi3T;[JL0;  0107^0; 


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84  Aristoxenus  rhythmische  Elemente.  §  57. 

zo-j;  £;dferjfio; 

—     —  ^ 


Ölst;  apai; 

Dipodische  Takte  und  Taktordnungen. 

Uebcr  die  zusammengesetzten  Takte,  vom  6-zcitigen  dipodisqhen  au, 
sind  uns  bezüglich  der  Takttheile  wiederum  die  Zeugnisse,  der  Metriker  zur  Hand. 
Nach  ihrer  Angabe  wird  ein  fjiixpov  entweder  nach  mono|>odischen  oder  nach 
dipodischeu  Bcstandtiicüen  gemessen.  Der  gemeinsame  Terminus  für  diese  ge- 
meinsamen Bestandteile  des  fifixpov  ist  „ßdai;".  Die  fJdoi;  ist  also  entweder 
eine  lACivorootxi)  oder  ct7tooix-?j  ßäoi;. 

Von  der  pcwitooix^)  ßdot;  redet  Schul.  Hephaest.  pag.  162:  Xi^erai  oe  xö 
rjpaüxiv  e;d[i.eTpov  di:ö  toü  dpiO|Aoy  töjv  ßdoecuv. 

Die  dipodische  Basis  definirt  Schul.  Hephaest.  p.  124:  Bdot;  o£  irzi  tö  £x 
h'jo  -ooüjv  oyv£3TT]x<J; ,  toO  jjlsv  dpaci,  toj  0£  «>£aet  rcapaXaix^avoixsvyj.  *H  o5rto;- 
£dai;  eadv  t)  ex  -ooo;  xai  xataX/^eoj;  vvjt£ot'.  ;;.ti;  ouX/.a^f,;  -ool  boy|x£vr;;.  Da- 
her wird  fSdat;  gleichbedeutend  mit  otzoofo  oder  ay^la  gebraucht;  selten  von 
Hephacstion,  wenigstens  selten  in  dem  uns  von  ihm  vorliegenden  Encheiridion  p.36 : 
Td  fAev  -jap  ex  oüo  iowlx&v  xal  Tpoyaixfj;  ßdaeaj;.  Mar.  Victor.  2489  R :  Duorum 
pedum  copiüatio  ßdsi;  dieitur,  .  .  .  qui  si  eiusdem  generis  fuerint  dipodiara 
aut  ut  quidam  tautopodiam,  sin  dtspares  . .  .,  syzygiam  efticiuut.  In  qua  ipsi; 
nimm,  altcrum  fteoi«;  pedera  obtinebit 

Mit  dem  von  dem  Metrikern  gebrauchten  Terminus  ßdai;,  der  sich,  wie 
wir  hieraus  ersehen,  auf  die  rhythmische  Accentuation  (dpat;  und  ö£ou)  des 
Metrums  bezieht,  steht  im  Zusammenhange  der  Ausdruck  „jäalveiv"  oder  „'Iii- 
veoSai'"'  in  den  oft  wiederkehrenden  Ausdrücken  ßalverai  fAsroiv  xaTo  otro5tav 
oder  xtrrd  (xovozoolav  (Schob  Hephaest.  163)  oder  auch  activisch  fJa(vo[t£v  xatd 
Oizootav,  j>atvo(X£v  oxTasTjiuo;. 

Lateinisch  wird  dies  von  den  Metrikern  wiedergegeben  durch  „scanditur 
singulis  pedibus''  oder  „per  syzygiam''  Mar.  Victor.  2521  P.  Hiernach  kann 
wohl  kein  Zweifel  sein,  dass  sich  ßdoi;  und  ßalvav  zunächt  auf  das  Takttreten 
bezieht. 

Andere  lateinische  Ausdrücke  für  denselben  Begriff  sind: 
ferire 

S.  meine  Theorie  der  antiken  Rhythmik, 

caedere  > 

Breslau,  F.  E.  C.  Leuckart  S.  109. 

percutere 


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II.  3a.  Takt-Diairesia  in  zwei  Chronoi  podikoi. 


85 


Das  Substantivum  ,.percussio"  erscheint  mit  „3dat;"  durchaus  gleichbe- 
deutend. Mar.  Victor.  2572:  Fcritur  dipodiis  trimcter  tribus,  quem  a  numero 
pedum  ut  diximus  nostri  seuarium,  a  numero  percussionum  trimetrum  Graeci 
dicunt.  Mar.  Victor.  2508:  Tribus  percussionibus  per  dipodiaa  caeditur. 

Besonders  bemcrkenswerth  ist  Fab.  Quintil.  inst  9,  4,  51:  Magis  tarnen 
Ulis  licentia  est,  ubi  tempora  etiam  animo  metiuntur  et  pedum  et  digitorum 
icta  intervalla  signant  quibusdam  notia  atque  aestimant  quot  breves  illud  spa- 
tium  habeat:  inde  7eTpdortpLOt,  ;r£vrd«7juoi,  deinceps  longiores  fiunt  percussiones, 
nnm  3rj|iciov  tempus  unum  est.  Zur  Erläuterung  dieser  Angabe  Quintiliaus 
folgendes: 

TCTpdaTjao;  percussio  bei  einem  ^iaivcjöai  xard  rMa  Ttipaa^uov: 

^ev-:daTj|j.o;  percussio  bei  einem  ^atveoftai  xa-rd  r<5oa  rEvrdsTjixov: 

—  \j  —  revtdaTjo.'/;  ßiai;. 

Die  longiores  percussiones.  welche  Quintilian  im  Sinne  hat,  sind: 

e^dar^jLo;  percussio  bei  einem  fktveottat  xatd  xihz  eSdor^ov: 
~  —  —  s;dorj|jLo;  -laot;, 

und  bei  einem  ßaiveoftai  xaxd  iuro&iav  efcdaTj.uov: 

-  w  -  ^  d;diT([Ao;  jJdm?, 

6xTda7j[xo«  percussio  bei  einem  3aiveot)cti  xatd  oizoola^  ^xTasT^ov 
^  w  -  ^  ^  -  wrdsTjfAo;  £dai;. 

Dass  alle  diese  Mittheilungen  des  Fahrns  Quintilian  und  der  Metriker 
aus  der  Doctrin  des  Aristoxeuus  stammen,  den  ja  namentlich  Marius  Victorinus 
auch  sonst  als  Gewährsmann  anführt,  kann  kein  Zweifel  sein.  Freilich  ist 
Aristoxenus  nicht  die  unmittelbare  Quelle,  sondern  ein  die  Rhythmik  des  Ari- 
stides  umarbeitender  Aristoxcneer,  dem  wir  auch  sonst  in  der  rhythmischen 
und  melischen  Litteratur  der  Alten  begegnen.  Ihm  gehört  an:  1)  dass  .statt 
des  Aristoxcnischen  Chronos  protos  der  Terminus  ot^uciok  gebraucht  ist  2)  dass 
statt  des  schweren  Takttheiles  nicht  pdai«,  sondern  iHo«;  gesagt  wird.  3)  der 
eigentümliche  Gebrauch  des  Wortes  ßdo«.  Das  Wort  selber  ruft  zwar  die 
Aristoxenische  -Jdst;  als  Terminus  für  starken  Takttheil  in  Erinnerung,  ein 
Terminus,  der  bloss  bei  Aristoxenus  vorkommt.  Wie  nämlich  bei  Marius  Victorinus 
das  Wort  /c6pa  oder  sedes,  als  Ausdruck  für  den  einzelnen  Versfuss  gebraucht 
das  Gebiet  oder  den  Umfang  eines  einzelnen  rhythmischen  Accentes  mit  In- 
begriff der  zum  Accent  gehörenden  unbetonten  Sylben  bezeichnet,  so  ist  „jidai; 
Ixr.olvAi"  der  Terminus  für  das  Gebiet  eines  Hauptaccentes  mit  dem  dazu  ge- 
hörenden Nebenaccente,  welches  das  Megethos  einer  Dipodic  hat,  geworden. 
So  ist  der  Aristoxeuischc  Terminus  ,,,Vzai;"'  zwar  nicht  bei  Aristides,  denn  dieser 
sagt  ftioi;  statt  jäd«;,  wohl  aber  in  der  Terminologie  der  Metriker  und  des 
Fabius  Quintilian  festgehalten,  zwar  in  einiger  Modifikation  der  Bedeutung, 
aber  unter  Fcsthaltung  des  rhythmischen  Grundbegriffes:  des  durch  das  Nicdcr- 


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HG 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  57. 


treten  des  Fusses  oder  die  percussio  zu  markirenden  Megethos,  auf  welchen 
der  rhythmische  Accent  kommt. 

Wir  können  also  Aristoxenus  Doctrin  über  die  iro5e;  mit  zwei  ortetet 
dahin  vervollständigen; 

1)  alle  r.6bti  douvö-Eiot  haben  zwei  (njfieta,  eine  dpai;  und  eine  Man  (ßebte). 

2)  alle  roSSe;  cjv&etot  vom  Umfange  einer  Dipodie  haben  ebenfalb  zwei 
OTjjxeia,  eine  dpai;  und  eine  ttioi;  (ßdat;),  nämlich: 

a.  der  rouc  e;d<n)fi.o;  oaxxuXixö;: 

dps. 

±  \J,   Mi  ^ 

b.  der  rcou?  oxxdffTjfxo;  8axxuXtx6;: 

dpa.  8eo. 

X    v-'  ^ ,        ^  w 

c.  der  7tou;  oexd<jY)p.o;  oaxxyXtx'S;: 

dpa.  Ma. 
j.  w  — ,  Jt  \s  — 

d.  der  Ttou;  ouoexdaT)po(  6axxjXix<4; : 

dpa.  ftea. 

\^  v>    X   — ,   \J  <U  IL  — 

Die  Reihenfolge  dp«;,  ftiai?  (ßdat;)  entspricht  der  unmittelbar  von  Ari- 
stoxenus gemachten  Angabe,  doch  werden  wir  alsbald  sehen,  dass  auch  die  um- 
gekehrte Reihenfolge:  &Eat;  (jädat;),  dpot;  möglich  ist.  Unsere  rhythmischen 
Quellen  nämlich  geben  diese  letztere  Accentuation  für  den  tou;  öxxdoTjfAo;  5ax- 
xuXtxo;  an,  in  welchem  jedes  Semeion  durch  einen  einzigen  xaxd  j^duorotla; 
^pfjaiv  doovdcro;  yp<5vo;  dargestellt  ist,  den  sog.  arttvoEto;  [xeI£cdv  8  xai  omXoü; 
ix  xexpaa-fjpiou  dsaco;  xai  xexpaaT)|Aoy  dpoca»; 

ftiot;  dpot;. 

Aristid.  I.  p.  30  M.  Die  beiden  Bestandteile  dieses  achtzeitigen  Taktes  hat 
schon  Boeckh  richtig  als  zwei  vierzeitige  Längen  erkannt.  Vgl.  Aristid.  IL 
p.  97.  98:  T&v  iu  low  X6?tp  .  .  .  el  oid  fATjxfaxwv  ypovwv  ou;j.fSahg  flvEaftat  xoj;  iz^oa;, 
xXelcav  ^)  xaxdaxaat;  £pup  ai-wix'  dv  xfj;  otawta;  .  . .  Ata  xouxo  xov;  pajxtaxou;  toi; 
lepot;  ypivot;,  oU  expwvTO  ^apexTctafiivot;  xr(v  xe  zepl  xaOxa  otaxptßiJ)v  jiilav  xai 
(ptXoywpiav  £voetxv.iti,Evoi  xf,v  xe  atixAv  oidvotav  IoÖxtjxi  xai  pL^jxei  xröv  ypövrov  e; 
xoOfxiÖTTjTa  xa&taxdvxE;  w;  xa6xrjv  ovaav  bfUiav  b-r/fy. 

Die  verschiedene  Ordnung  der  Chronoi  podikoi  in  dem  dipodischen  Takte 
bezeichnen  wir  Modernen  durch  verschiedene  Setzung  des  Taktstriches,  welcher 
entweder  vor  dem  ersten  oder  vor  dem  zweiten  Versfusse  der  Dipodie  steht. 
In  der  Theorie  des  musikal.  Rhythmus  seit  Bach  habe  ich  diese  beiden  Formen 
des  dipodischen  Taktes  die  beiden  Taktorduungen  genannt.  Z.  B.  für  den 
dipodischen  (j;-Takt: 


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II.  3a.  Takt-Diairesis  in  zwei  Chronoi  podikoi. 


87 


Erste  Taktordnung  (Taktstrich  vor  dem  ersten  Versfusse): 
Be  -  weis'  dein  Macht,  Herr  Je  -  su  Christ, 

«r  ff  i  ii  i 


apoi; 


Man  apot 


der    du  Herr  al  -  1er    Her  ren  bist. 


apoic       Heotc  apai; 


Zweite  Taktordnung  (Taktstrich  vor  dem  zweiten  Versfusse): 
Kei  -  ne   Ruh  bei  Tag  und  Nacht, 


±        -        IL      —      ±         —  Jl 

apoii        öiot;        dtpau  8£<Ji; 
nichts  was  mir  Ver-gnü-gen  macht, 


pp — 4 — p— =h 

t — »        *  .-1 

£      —        JL       —      2.        —  JL 

äpst;        öioi;        apsi;  ftscu 

Wir  wiederholen,  was  wir  schon  früher  angedeutet,  dass  es  auf  einer  fal- 
schen Auffassung  des  Rhythmus  beruht,  wenn  man  in  der  modernen  Musik 
den  Takt  von  einem  Taktstriche  bis  zum  nächsten  Taktstriche  rechnet,  oder 
kürzer,  wenn  man  unter  Takt  dasjenige  versteht,  was  von  zwei  Taktstrichen 
eingeschlossen  ist.  Nur  äusserst  selten  ist  dies  der  Fall.  Genau  wie  man  für 
den  poetischen  Text  in  dem  zweiten  Beispiele  die  Versfusse  folgendermassen 
zählt: 

Keine  |  Ruh  bei  Tag  und  |  Nacht, 
12  3  4 

und  so  wenig  man  in  dem  poetischen  Texte  den  ersten  Versfusw  „keine"  von 
dem  folgenden  als  Auftakt  abtrennen  wird,  ebenso  darf  man  auch  im  Melos 
den  ersten  Takt  nicht  erst  mit  dem  zweiten  Versfusse  beginnen  lassen,  zumal 
da  —  wenigstens  in  dem  vorliegenden  Falle  und  so  auch  in  fast  allen  anderen 
—  das  Melos  genau  dieselbe  Accentuation  hat  wie  der  deutsche  poetische  Text 
beim  Recitiren.  Vielmehr  müssen  wir,  der  griechischen  Rhythmik  folgend,  nicht 
bloss  von  unseren  bisherigen  Vorstellungen  über  zusammengesetzte  Takte  und 
deren  Taktart  (wie  der  Lobescheu  \  abgehen,  sondern  uns  auch  darin  der  an- 
tiken Doktrin,  die  hier  schärfer  als  wir  zu  sehen  verstand,  anschliessen,  dass 
wir  den  Satz  aufstellen: 


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88 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  57. 


in  einem  dipodischcn  Takte  steht  der  Taktstrich  entweder  vor  der 

Hebung  des  ernten  oder  der  des  zweiten  Yersfusses. 
Grössere  Ruhe  und  grössere  Bewegung,  das  sind  die  wichtigen  Unterschiede 
de«  musikalischen  Ausdruckes,  die  wir  bei  den  Gegensätzen  der  beiden  Takt- 
ordnungen in 

ii  i  ii  i 

Beweis  dein  Macht  Herr  Jesus  Christ 
—    IL      —        ±        —      il  —  ± 

und 

IUI  II 

Keine  Ruh  bei  Tag  und  Nacht 
j.  -     IL     -     ±      -  IL 

sofort  heraushören.  Dieselbe  erste  Taktordnung  wie  in  „Beweis  dein  Macht 
Herr  Jesus  Christ",  wendet  Bach  überall  für  die  im  dipodischen  Takte  ge- 
schriebenen Choräle  an;  diejenige  Taktordnung  dagegen,  welehe  in  „Keine 
Ruh  bei  Tag  und  Nacht"  angewandt  ist,  in  welcher  der  Taktstrich  nicht  vor 
dem  ersten  Vcrsfusse  steht,  wo  der  Takt  nicht  mit  der  »sai«,  sonder  der  eipau 
anfängt,  liebt  Bach  in  den  Gavotten  und  in  der  rnstrumentalfuge.  Ph.  Spitta 
Leben  Bachs  I,  S.  774  sagt  von  dieser  zweiten  Acceutuationsart:  „Es  darf 
nicht  unbemerkt  bleiben,  dass  darin  jene,  Bach  eigentümliche  innere  Erregt- 
heit sich  offenbart,  indem  erst  nach  dem  Verlaufe  von  einem  Takte  der 
stärkste  Aeeent  hörbar  wird,  dem  alles  vorhergehende  in  eigener  Unbefricdi- 
gung  zustrebt/* 

Aristoxenus  (denn  offenbar  gehen  auf  ihn  die  darüber  handelnden  spä- 
teren Musiker  als  ihre  wenn  auch  nicht  unmittelbare  Quelle  zurück)  unter- 
scheidet drei  Style  in  der  Musik,  die  niimlichen  für  die  Melopoeie  und  Rhyth- 
mopoeie  d.  i.  für  das  melische  und  rhythmische  Element  der  Musik.  Sie  werden 
die  drei  Tropni  (d.  i.  ^Compositionsarteu)  oder  auch  Ethe  (d.  i.  Charaktere)  ge- 
nannt, indem  man  dabei  von  der  verschiedenen  Art  und  Weise  ausgeht-,  wie 
die  Seele  der  Zuhörenden  durch  die  Compositiou  afficirt  wird,  eine  Affection, 
die  nach  griechischer,  gewiss  richtiger  Auffassung  in  gleicher  Weise  durch  die 
Rhythmopoeie  wie  durch  die  Melopoeie  bewirkt  wird.  Was  Aristoxenus  selber 
darüber  im  Zusammenhange  gesagt,  ist  nicht  mehr  erhalten,  aber  was  Spätere 
aus  ihm  über  diesen  Gegenstand  geschöpft  haben,  davon  ist  uns  wenigstens 
das  Wesentlichste  überkommen.  Es  war  in  die  Schrift  eines  Aristoxeneera  über- 
gegangen, der  hauptsächlich  die  dritte  Harmonik  des  Aristoxenus  umarbeitete 
und  der  dann  von  den  Musikern  der  römischen  Kaiserzeit  ihren  kurzen  Dar- 
stellungen zu  Grunde  gelegt  worden  ist  Unter  ihnen  ist  die  dem  Euklides 
zugeschriebene  Einleitung  in  die  Harmonik. 

Ilm  ihm  heisst  es  p.  21  Meib.: 

°K<jti  Ik  StaoTaXTixöv  (asv  t,!)o;  fxeXozoda;  ot  ou  c/(fjLaiv£Tai  p^aXo-pi-eta 
xai  fclappia  «u/fj;  dvop&Be;  *al  ~pa;et;  itfwixoX  xat  z-iOir)  tojtqi;  olxeia.  -/J)^« 
oe  toutoi;  [Aa/.toTa  |a£v  yj  xpaY«)0W  *ai  töiv  Xotrwv  oe  Soa  to6to\>  ly.eTat  toü  yapix- 
Tfjpo;. 

» 


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II.  Sil.  Takt-Diairesis  in  zwei  Chronoi  podikoi. 


89 


I'jotoXtixöv  U,  Ii  oy  (md-yeTai  t)  tyjy)\  et;  -zrtr.t^rr^a  xi\  dvavopov  oid- 
Oeotv.  dpfjtooci  o£  t6  toioOtov  xa.Td<mrijj.a  toi«  epro-txoi;  TrdÖeat  xal  ftp^voi«  xal  olx- 
TOt;  xal  tot;  KapaicX^olot;. 

'II  auy  ootixov  oj  ^06;  dort  ji.eXoroua;  u»  rapireTat  ^peu/TT,;  d^X'fc  **i 
xaTdoTTjfjLa  £Xeud£pt4v  te  xal  clpijvixo\.  dpjioV/jai  0  a&T«»  ÜSpwi,  zaiäve;,  E^xrijAta 
xal  Td  toutoi;  Spot«. 

Also  folgende  drei  Compositionsarten  oder  Cliaraktere  werden  flir  die  mu- 
sische Kunst  der  Griechen  unterschieden: 

I.  Der  diastal tische  d.  i.  der  erregte  Charakter,  in  welchem  sieh  Hoh- 
heit,  Glanz  und  Adel,  männliche  Erhebung  der  Seele,  heldenmüthige  Thatkraft 
und  Affeete  der  Art  darstellen.  Besonders  in  den  (Chor-) Gesängen  der  Tra- 
gödie und  Ähnlichen  Compositionen. 

II.  Der  hesyehastisehc  d.  i.  der  ruhige  Charakter,  durch  welchen  Seelen- 
frieden, freier  und  friedlicher  Zustand  des  Gemüthes  bewirkt  wird.  Dem  wer- 
den angemessen  sein  die  Hymnen,  Pneane,  Enkomieen,  Trostlieder  und  ähnliches. 

III.  Der  systaltische  d.  i.  der  gedrückte,  beengte  Charakter,  welcher 
das  Gemüth  in  eine  niedrige,  weichliche  und  weibische  Stimmung  presst.  Es 
wird  dieser  Tropos  für  erotische  Affeete,  für  Klagen  und  Jammer  und  Aehn- 
liches  geeignet  sein. 

Auch  im  systaltischen  liegt  Erregtheit  wie  im  diastaltischen  Ethos,  aber 
keine  Erregtheit  edler  Art,  soudern  diejenige,  welche  wir  Sentimentalität  nennen. 
Aus  anderen  Mittheilungen  der  Alten  folgt,  dass  mich  die  monodischen  Ge- 
sänge der  Tragödie  (die  Bühnen-Arien)  zu  dem  systaltischen  Tropos  gerechnet 
werden. 

Unsere  Choräle,  welche  bei  Bach  im  dipodischen  (j'-Takte  erster  Ordnung 
notirt  sind ,  müssen  als  Typus  des  ruhigen  Charakters  gelten.  Ihnen  entsprechen 
bei  den  Griechen  die  *3|Avot,  die  ihrerseits  als  Haupt-Typus  des  hesychastisehen 
Tropos  genannt  werden.  In  der  That  ist  auch  der  daktyliseh-dipodischc  Takt 
erster  Ordnung  als  czovosto;  [leilitov  für  die  heiligen  Hymnen  gebraucht  worden, 
.  wie  wir  aus  der  Stelle  des  Aristides  belehrt  werden.  So  werden  die  Compo- 
sitionen in  dem  mit  der  dpai;  beginnenden  Takte,  —  ..die  Compositionen  der 
innerlich  erregten  Stimmungtvgl.  Spitta)"  —  den  griechischen  Compositionen 
des  Tporo;  oiaTraXTtxo;  entsprechen.  Somit  sind  wir  wieder  im  Besitze  der 
antiken  Nomenclatur.    Der  zo-j;  oxTda^jio;  mit  der  Ordnung  der  Semeia 

»tat;  apat; 
ist  ein  roic  dxTdo7)|io;  f(ov»y  aoTtxi;, 

mit  der  umgekehrten  Ordnung  der  Takttheile 

dpai;  Uiot; 

ist  er  ein  tto-j;  öxTdar^o;  otaaTaXTix«i;. 

Was  den  dritten  der  griechischen  Tropoi  betrifft,  so  nimmt  das  Sentimen- 
tale bald  die  erregte  Weise  der  Tropos  diastaltikos,  bald  die  Rulle  de«  Tropos 
hesychaatikos  an. 


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Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  57. 


b.  Takte  mit  Tier  Semeia. 

Tetrapodische  Takte  und  Taktordnungen. 

Die  tetrapodischen  Takte  oder  Kola  sind  es  vorwiegend,  welche  Aristo- 
xenus im  Auge  haben  muss,  wo  er  sagt: 

Ol  U  täv  ttoSäv  tercapat  7u<p0xaai  otjjulot;  ypfjodat,  ojo  ipoesi  xal  l-jo 
ßdaeat, 

denn  zufolge,  der  bei  den  Metrikern  erhaltenen  Ueborlieferung  über  die  per- 
cussio  der  ßdtaei;  haben  sie  folgende  Accentuation : 

dpo.       8£a.       dpa.  8£o. 

£   ^        JL  ^         J.   <J        ML  w 
^Z^>JL\JJ.^>JL 
±  \J  \J    JL  \^  ^     JL  ^  \J    JL  \J  \J 

\J  ^   ±     v>  \J  JL    \J  \J  ±     \J  \J  JL 

\  >  > 

fJdot;  ßdots 

"Apotc,  d£«t;,  dp«;,  dlot;  oder  in  der  Terminologie  des  Aristoxenus:  "Apsic, 
ßdau,  apot;,  ßdais:  das  sind  die  (60  dpaet;  und  5io  [ideet;,  welche  Aristoxenus 
den  aus  4  <n)p.eia  oder  4  yptfvot  tto&ixoI  bestehenden  roi&e;  (jieYdXoi  zuertheilt. 
Es  ist  schon  oben  darauf  hingewiesen,  dass  sich  in  dem  von  den  Metrikern 
gebrauchten  Ausdrucke  ßdtoi;  die  unmittelbare  Spur  Aristoxenischer  Terminologie 
erhalten  hat,  denn  wenn  auch  der  Gebrauch  des  Wortes  sich  bei  den  Metri- 
kern verändert  hat,  so  bezeichnet  es  doch  immer  noch  das  Verhaltniss  des  di- 
podischen  |a£Xo;  der  tetrapodischen  Takte  zum  rhythmischen  Accente. 

Aus  den  Angaben  des  Aristoxenus  §  17  und  des  Aristides  ersehen  wir, 
dass  für  die  o0y8etoi  w5Se;  so  gut  eine  $ict<fopd  xax  dvxl&eoiv  wie  für  die  dauv- 
8etoi  Tz6hti  besteht,  dass  also  für  die  tetrapodischen  Takte  auch  folgende  An- 
ordnung der  öTjjjieta  vorkommen  konnte: 

%ia.      dpa.      8£o.  doi. 

JL\JJ.\>JL^/J.^  ' 

^  JL        \J  J.        \J  JL        \J  J. 
JL  w  ^    J.  <U  \J    JL  o         ±  \J  ^ 
^  ^  JL    ^  ^  ±    \J  ^  IL         sj  j_ 

>■  , —  .  v  1 

Die  mit  der  apai;  anfangende  Tetrapodie  würde  der  diastaltischen  oder  er- 
regten, die  mit  der  8£ci;  beginnende  der  hesychastischen  oder  ruhigen  Compo- 
si  tonsweise  angehören. 

In  der  christlich  moderneu  Musik  sind  die  tetrapodischen  Takte  besonders 
zahlreich  bei  Bach  vertreten,  am  meisten  für  den  daktylischen  Rhythmus  in 
der  Form  des  C-Taktes:  C-Takte  des  diastaltischen  Tropos  in  den  Instrumeu- 
talfugen,  C-Takte  des  hesychastischen  Tropos  in  den  Allemauden  der  Suiten. 

* 

Ilov;  £xxai6exdo7)fi.o;  Sta3Ta).Tix<i;: 


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II.  3a.  Takt-Diaircsis :  Takte  von  vier  Chronoi  podikoi. 


91 


Bach,  Wohlt.  Clav.  1,  2: 

1.  2. 


3. 


4. 


dpo.      ßda.      dpa.     ßdat;.  % 

Ale  Beispiel  aus  Bach  wählen  wir  die  allemandenartige  Bearbeitung  des 
thüringischen  Volksliedes:  „Ich  bin  so  hing  nicht  bei  dir  gewdst"  Kaiserlingk- 
Variationen  Nr.  30  (I,  6,  3  Peters). 

1.         2.         3.  4. 
Ich   bin  so  lang  nicht  bei  dir  ge-west 


ßdai;,     dpoi;,    ßdot;,  apot;. 

Mit  dem  Taktschritte  hinter  der  Hebung  des  dritten  Fusses  (dritte  Takt- 
ordnung) Wohlt.  Clav.  1,  3  (nach  einem  thüringischen  Tanz-Thema): 


1. 


2. 


3. 


4. 


1.  2. 


3. 


4. 


.11 


-      ^OjNw-  V_/  X,W^       X       -X,-      X,-  X,\-/>^  X 

ßdoic    apot;     ßdc«    dpat;     ßdoi;   dpot;    ßdaw  apoi; 


flau;  5oooexäoT4fxo;  fjouy  a  ottx<5c. 

Ausser  der  16-zeitigen  Tetrapodie  giebt  es  nur  noch  einen  tetrapodischen 
Takt,  den  hmUxdir^oi,  unseren  geraden     -  oder    "-Takt.    Ein  Beispiel  bei 

Bach  für  den  hesychastischeu  Tropos  dieses  Taktes: 

Engl.  Suite  H  Gigue 

ßdat;        dpoi;      ßdata  dpo. 

Diese  hesychantische  Accentuation  der  Tetrapodien  ist  es,  welche  Bentley 
verlangt,  wenn  er  accentuirt  haben  will: 

te  advenio  spem,  salutem,  |  consilium,  auxilium  expetens. 


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92  Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  5". 

Die  Hauptaecentc  sind  von  Bentlcy  durch  '  markirt;  mit  Rücksicht  auch 
auf  die  Nebenaccente  soll  hiernach  gelosen  werden: 

11  t  n  i  11  i  n  i 

Ad  tc  advenio  spem,  salutem,  1  consilium,  auxilium  expetens. 

Aus  Bach  haben  wir  diese  Accentuation  der  Tetrapodien  nachgewiesen, 
welche  Bentley  als  die  allgemeine  und  einzige  verlangt.  Aber  obwohl  sie  auch 
bei  den  Alten  nicht  gefehlt  haben  wird,  ist  doch  nicht  diese  den  Anfang  des 
Ditrocbaeus,  sondern  nur  die  den  zweiten  Fuss  desselben  durch  den  Ictus  aus- 
zeichnende Accentuation  nachzuweisen,  nicht  blos  in  der  Hauptstelle  des  Aristo- 
xenus,  sondern  auch  bei  Mar.  Victorin  p.  2489  P.,  nach  welcher  die  Accentuation 
des  trochaeischen  Tetrainet ron  folgende  sein  würde: 

i  Ii  i  n  i  niii 

Ad  te  advenio  spein,  salutem,  |  consilium,  auxilium  expetens. 

Aber  weder  die  eine,  noch  die  andere  Accentuation  darf  die  Recitations 
poesie  durch  gehend  anwenden,  vielmehr  muss  auch  für  die  lateinische  Reeita- 
tiou  derselbe  Wechsel  wie  für  die  deutsche  als  möglich  statuirt  werden: 

r  ii  i     ii  in  i  n 

Seid  umschlungen  Millionen,  |  diesen  Kuss  der  gauzen  Welt!  (  | 

ir  i  ■      Ii  f  i  ii  ii  i 

Brüder,  überm  Sternenzelt  |  muss  ein  lieber  Vater  wohnen.  [  | 

Auch  in  den  deutschen  Versen  wechselt  die  diastaltische  und  hesycha- 
stische  Accentuation,  d.  i.  die  ruhig  gemessene  und  pathetisch  erregte  Accen- 
tuation, je  nach  Verschiedenheit  des  Wortaccentes  und  der  logischen  Bedeut- 
samkeit der  Wörter  ab.  Das  Melos  verlasst  häufig  genug  die  natürliche  Accen- 
tuation des  Worttextes,  wie  denn  z.  Beethovens  Comj>ositiou  der  vorstehenden 
Verse  Schillers  von  der  Accentuation  der  Schiller'schen  Worte  mehrfach  ab- 
geht. Auch  die  besten  und  ausgezeichnetsten  Melopoeien  schliessen  sieh  iu 
ihrer  Accentuation  nicht  ängstlich  an  die  der  Recitatiousverse ,  ohne  dass  wir 
dies  dem  Componisten  zu  einem  grossen  Vorwurfe  machen  dürfen.  Wer,  wie 
Sulzer  in  seiner  Theorie  der  schönen  Künste,  den  absoluten  Anschluss  des 
melischen  Accentes  an  den  Recitationsaccent  verlangt,  der  hat  damit  die  Mög- 
lichkeit strophischer  und  antistrophiseher  Responsionen  für  das  Melos  in  Abrede 
gestellt,  denn  der  Dichter  vermag  fast  niemals  den  antistrophischen  Versen 
dieselbe  Aecentuation  wie  den  strophischen  zu  geben,  weder  im  Deutsehen, 
noch  in  den  antiken  Sprachen  (vgl.  Musikalische  Rhythmik  seit  Bach  §  172. 173). 
Im  Melos  hält  der  Componist  für  die  strophischen  Verse  dieselbe  Accentuation 
wie  für  die  antistrophischen  ein,  entweder  die  hesychastische  oder  die  diastal- 
tische, in  den  Recitationsversen  des  Dichters  dagegen  findet  ein  fast  fortwähren- 
der Accentuationswechsel  statt.  Will  sich  der  Rccitirendc  continuirlich  au  eiu 
Recitationsschema  binden  (wie  es  Bentley  für  Terenz  verlaugt),  so  wird  das 
metrische.  Recitiren  zu  einem  langweiligen  und  pedantischen  Scandircn.  Ge- 
schmackvolles Vers-Lesen  ist  dasselbe  wie  geschmackvolles  Prosa-Lesen:  Mau 
folge  stets  der  durch  die  logische  Bedeutung  der  Wörter  und  Sätze  gebotenen 
Accentuation,  in  der  Poesie  wie  in  der  Prosa;  es  ist  durchaus  nicht  unküust- 


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11.  3a.  Takt-Diairesis:  Takte  von  vier  Chronoi  podikoi.  93 


lerisch,  wenn  über  dem  Inhalte  des  declainirten  Gedichtes  der  Rhythmus  bei 
den  Zuhörern  uubemerkt  bleibt,  obwohl  der  grössere  Künstler  immer  derjenige 
ist,  welcher  den  Zuhörer  ausser  am  Inhalte  gleichzeitig  auch  an  der  rhythmi- 
schen Formation  Genuss  empfinden  zu  lassen  im  Stande  ist.  Dazu  gehört  aber 
selbstverständlich,  da**  das  Aecentuireu  kein  schablouenmässiges  ist:  weder 
eontinuirlich  nach  hesyehastischer,  noch  continuirlich  nach  diastaltischer  Acccu- 
tuatiou ! 

Paion  epibatos. 

Ausser  den  tetrapodisehen  Takten  gehört  zu  den  Takten  mit  vier  Seine ia 
auch  der  Paion  epibatos,  wie  H.  Weil  richtig  gesehen  hat. 

Es  ist  ein  als  ttoj;  gefasstes  Kolon,  welches  nach  Aristid.  p.  54  aus  fünf 
Langen  besteht: 

£x  fiaxpä;  disem;  xai  p.apxäc  apoetu;  xai  gjo  fia*pü>v  (Haetuv  xai  p.axpä; 
dpasw; 

&.    a.    8.  9  ft.  d. 

Aristoxenus  würde  ihn  einen  aOvftero;  tto-j;  nennen,  Aristides  reelmet  ihn 
unter  die  d-Xot  d.  i.  doiSv&erot  z<JSe$,  weil  er  bei  diesem  Schema  lediglich  aus 
gleich  grossen  ypovot  otcTituoi  besteht  (d-Xoüv  ist  bei  ihm  so  viel  wie  bei  den 
Metrikern  xa&ap»5v,  oiivHerov  soviel  wie  jmxtov).    Weiterhin  sagt  Aristides: 

„KtfiTjTat  jx£v  ojv  inßoTi;  £ireio^  tetpdat  /pu>u.sv<>;  [idpcoiv  ix  oiiotv  apsetuv 
xai  O'jow  ota'f&potv  fteoetov  f^exat." 

„Er  heisst  iztßa-rö;  d.  i.  ein  Paeon,  bei  welchem  das  Takttreteu  zur  An- 
wendung kommt,  weil  er  vier  Takttheile  hat.  2  apoei;  und  2  verschiedene  8£oei;." 

Auch  p.  t>4  spricht  Aristides  von  der  oiz/.f;  8£at;  des  Epibatos.  Dass  er 
auch  in  der  oyvey  ^;  p-j&jxorroita  vorkommt,  so  gut  wie  in  unserem  Prinz  Eugenius, 
peht  aus  Aristoxenus  bei  Plutareh  de  intis.  liervor.  In  seiner  Anwendung  als 
isoürter  Takt  bei  Sophokl.  Oed.  R.  4MS  (vgl.  oben)  würde  auf  ihn  die  Messung 
des  Aristides  folgendennassen  anzuwenden  sein: 

w   \J      X     —    ^     ^  J. 

d.        Ö.    d.  ». 

Er  ist  hier  ein  rhythmisch  verkürztes  otpeTpov  iamxöv  du  eXdjaovoc,  be- 
stehend aus  einem  6-zeitigen  tamxö;  dV  iXdasovo;  und  einem  4-jseitigcn  dvdzai- 
oto;.  Beide  ^ioec  haben  hier  die  Gliederung,  welche  sie  als  douvöc-rot  mioe; 
haben  würden.  Der  6-zeitige  tomxo;  besteht  aus  einer  2-zeitigen  dpoi;  und  einer 
4-zeitigen  SUst«,  der  4-zeitige  dvdzaiiTo;  aus  einer  2-zeitigen  iHai;.  Daher  die 
zwei  oid^opoi  $Uaet;  oder  die  ützXfj  Ö£ai;  nach  Aristides,  die  9eot;  des  ionischen 
und  die  *>£ot;  des  anapaestischen  Versfusses. 

Ich  weiss  nicht,  wie  Baumgart  a.  a.  0.  S.  XXV  dazu  kommt,  zu  behaup- 
ten: „Die  4  uipTj  des  Aristides  sind  unserer  Meinung  nach  4  jiipt;  rfj;  X£;ea>; 
„oder  wenn  man  will,  4  «pö^oi.  Der  7tatca>  eztfJoxo;  hatte,  wo  er  in  der  Poesie 
.  .vorkam,  nur  4  Sylben 


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94 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  57. 


„Auf  jede  Sylbe  fiel  ein  Aceent,  ein  schwerer  oder  leichter  in  der  von  Aristides 
„zuerst  angegebenen  Folge,  beim  Dirigiren  möglicherweise  auch  nur  ein  Nieder- 
ster Aufschlag,  und  so  gebraucht  der  Versfuss  nicht  mehr  als  vier  Aecente 
„oder  Sehläge.  Es  erklärt  sich  nun  ohne  Weiteres,  was  Aristides  mit  seinen 
„zwei  verschiedenen  Thesen  will,  auch  was  die  o«:Xi)  8£otc  besagt  Die  ver- 
schiedenen Thesen  sind  die  beiden  Thesen  von  ungleicher  Dauer;  die  doppelte 
„Thcsis  ist  die  vierzeitige;  denn  diese  ist  es,  auf  welcher  allein  die  von 
„Aristides  angegebene  „erschütternde  Wirkung"  des  Rhythmus  beruhen  kann  . . . 
„Wahrscheinlich  sind  meistens  nur  vier  Sehläge  gegeben  worden,  aber  die  Praxis 
„konnte  unter  Umständen  recht  wohl  auch  fünf  für  zweckmässig  halten.  Darüber 
„hatte  bloss  der  Dirigent  zu  entscheiden." 

Was  Baunigart  von  den  fünf  Schlägen  der  Praxis  bemerkt,  das  ist  nicht 
ganz  unrichtig,  denn  Aristoxenus  verlangt,  dass  jeder  -o!»c  ausser  seinen  Chro- 
noi  podikoi,  deren  der  Epibatos  hier  nach  Aristides  vier  haben  wird,  auch 
noch  seine  Chronoi  Rhythmopoiias  idioi  erhalten  müsse,  deren  Anzahl  grösser 
als  die  der  Chronoi  podikoi  sind. 

1       2       3  4 

a.'     0.      n.      ft.       Chronoi  podikoi. 

O    W  V>  ^/      —  , 

cup&c    hxm  -  voÖetd; 

\>  w    ±  —  ^  \J  S 

1     2  3     4     5      Chron.  Rhythmop. 

Im  Paion  apibatos,  der  verkürzten  ionischen  Dipodic,  würden  die  Chronoi 
Rhythmopoiias  idioi  denen  der  vollständigen  ionischen  Dipodie,  aus  welcher  er 
abzuleiten  ist,  ganz  analog  sein.  Nur  hatte  darüber  nicht,  wie  Baumgart  meint, 
der  Dirigent  nach  dem  jedesmal  vorliegenden  Falle  die  Entscheidung  zu  treffen; 
vielmehr  geht  aus  Aristoxenus  hervor  (vgl.  unten),  dass  die  Chronoi  Rhyth- 
mopoiias ebenso  unerlässlich  waren,  wie  die  Chronoi  podikoi.  Wenn  der  für 
Aristoxenus  leider  zu  früh  verstorbene  Baumgart  diese  Thatsache  der  antiken 
Rhythmik  noch  kennen  gelernt  hätte,  so  würde  er  mit  dieser  Modifikation  der 
von  ihm  bekämpften  Weil'schen  Auffassung  sicherlich  zufrieden  gestellt  sein; 
denn  sie  trägt  den  Forderungen  des  modernen  Taktirens  die  vollkommenste 
Rechnung. 

c.  Takte  von  drei  Semela. 

Tripodische  Takte  und  T-aktordnungen. 

Wenn  zu  den  Takten  mit  zwei  Semeia  die  dipodisehen,  zu  den  Takten 
mit  vier  Semeia  die  tetra  podisehen  gehören,  so  bleiben  natürlich  als  Takte  mit 
drei  Semeia  die  tripodischen  übrig. 


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II.  3a.  Takt-Diairesis:  Takte  von  drei  Chronoi  podikoi.  95 


In  unserer  modernen  Melik  sind  Tripodien  der  oyve^c  j>u9|A0Trola  sehr 
selten,  so  geläufig  sie  auch  der  heroischen  und  elegischen  Poesie  der  Alten 
waren. 

Ein  Beispiel  von  tripodischen  Kola  unserer  Voealmusik  ist  Gluck  Iphi- 
genia  taurica  No.  1.  Bei  Gluck  ist  das  tripodiach -daktylische  Kolon  je  in  drei 
monopodischen  Takten  geschrieben. 


Zur  Hül-fe,  all-ra'äch-ti-ge  Göt-ter,    habt  mit  uns  Armen  Geduld, 


der  Blitz  dem  Trotzen  der  Spötter,    uns  schirmet  in  gnä  -  di-ger  Huld! 


&.  —p  - 


uns  schir-met   in    gnft  -  di  -  ger  Huld! 


NIM 

-   J.   -  J.  ^  ^  J.  ^\^>x^^i^^i  II 

Das  ist  eine  Strophe  ganz  ähnlich  der  Hora tischen: 

Diffugere  nivea  |  redeunt  iam  gramiua  campis  | 

»  t  t 

arboribusquo  eomae  , 

nur  das8  bei  Gluck  dem  tripodischen  Kolon  epodikon  nicht  ein,  sondern  zwei 
dikola  vorausgehen  und  dass  jedes  tripodische  Kolon  durch  Anakrusis  erweitert, 
also  ein  anapästisches  Prosodiakon  ist. 

Gluck  lässt  jeden  der  -<5Se;  Texpaor^oi  einen  einzelnen  Takt  bilden.  Das 
ist  genau  dieselbe  Messung  dieser  Verse,  welche  die  alten  Metriker  für  das 
daktylische  Hekametron  statuiren,  nach  welcher  dasselbe  aus  zwei  Kola  mit 
der  Messung  xered  wföa,  xatd  ßdoiv  fiovora>8ix-fjv  besteht 

xäXov  xtbXov 


\  '      v  /      v  /      v  1      v  /     V  / 

ßdou;       ßdci;        ßdai;      ßcteic        ßäai;  ßdai; 


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96 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  57. 


Ich  bemerke,  dass  auch  hier  der  von  den  Metrikern  gebrauchte  Terminus 
jJdoi;  sich  an  die  Aristoxenische  Bedeutung  des  Wortes  anschliesst,  dass  es 
mit  Rücksiebt  auf  den  rhythmischen  Accent  zu  verstehen  ist;  nur  umfasst  es 
nicht  bloßs  die  accentuirte  Silbe,  sondern  auch  das  Gebiet  der  zur  Accentsilbe 
gehörenden  unaccentuirten.  Wird  irgend  ein  Kolon  nach  monopodischen  Tak- 
ten taktirt,  so  bleibt  die  durch  die  stärkeren  und  die  schwächeren  H£aet;.  d.  i. 
die  durch  die  Haupt-  und  die  Nebenictus  bedingte  Accentuatiou  von  Seiten 
des  Taktireudeu  unbezeiehnet.  Auch  die  Metriker  lassen  sie  bei  ihrer  Messung 
xard  rooa  unbezeichuet. 

Aristoxenus  dagegen  fasst  mit  Rücksicht  auf  die  Accentuatiou  das  tripo- 
dische  Kolon  als  einen  einheitlichen  -oj;  oüvtte-ro;.  Hat  er  bei  den  t:ööe;,  denen 
er  vier  or^eia  oder  /povoi  rooixot  vindieirt,  die  tetrapodischen  Kola,  bei  den 
;r6oe;  mit  zwei  ar^eta  die  dipodisclien  Takte  im  Auge,  so  ist,  wie  gesagt,  iücht 
anders  zu  denken,  als  dass  unter  den  zofo;,  denen  er  drei  -/pivoi  zrÄnni  giebt, 
die  tri  podischeu  Kola  zu  verstehen  sind. 

Die  aecentuelle  Beschaffenheit  dieser  drei  yp<Woi  tooixgi  bestimmt  er  §  17 
folgendermassen : 

ol  Ii  Ix  xpt&v,  ouo  ;xev  täv  dvtu,  e>ö;  os  toj  xdtai 
ir(  d;  evo;  fiev  roü  dvoj,  o->>  o*  x&v  xd?w. 

Das  sind  zwei  tripodisehc  Kola,  die  sieh  durch  verschiedene  Reihenfolge 
der  ypovot  rootxot  ihrem  dynamischen  Werthe  nach  unterscheiden.  Das  erste 
Kolon: 

dva>  yoövo;,  dvw  ypovo;,  xdtt»  ypovo;; 

(iß»;)  (*pst;)  (ßdat;) 

das  zweite  Kolon: 

dvtu  ypovo;,  xd-u>  ypövo;,  xdttu  ypovo;. 

(dp»;)  (/dst;)  (^dat;. 

Wenn  Bachs  Instrumentalmusik  naeh  tripodischen  Kola  gegliedert  ist.  so 

3  3 

ist  sie  nach  tripodischen     oder  ^  Takten  geschrieben  und  zwar  stets  mit 

einer  Accentuatiou  die  der  ersten  der  von  Aristoxenus  angegebenen  zwei  For- 
men entspricht  z.  B.  wohltemp.  Clav.  1.  21  Fuge: 


7  -7Fn 


—  ,  —    J.  ,   —        .££  \  w         w       ,   w         _i  ,  — 


avoj    avtu    xdtto  dvtu         ovuj  xdxe 


Dieselbe  Accentuation  scheinen  die  daktylischen  Hexameter  in  Mesorae- 
des  Hymnus  auf  die  Muse  zu  haben 


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II.  3a.  Diairesis  in  Semeia:  Takte  von  drei  Chronoi  podikoi.  97 
KaXXtö-7reia  ootpa,      fiou-cdiv  irpoxaödrfETi  tepTrvröv 


avo>     avco       xcbcu  äv(o       ava>  xdxw. 

Die  zweite  der  oben  gedachten  Aristoxenischen  2-r)(j.eia-Ordnungen  für  den 
rripodischeu  Takt: 

ävw  ypovo;  xaxcu  yp<5vo;  xaTiu  ypo\o; 

(*>U)  (?aot;)  (ßobt;) 

ist  die  einzige,  welche  in  der  zweiten  Aristoxenischen  Stelle  über  die  Zahl  der 
y_povot  Tto&txoi  (in  dem  Excerpte  des  Psellus)  genannt  wird: 

oi  Ii  xptolv,  dtpaei  xctl  Si-Xrj  ßaoei. 

Wir  fühlten  uns  durchaus  nicht  berechtigt  mit  Caesar  und  Bartels  die 
eine  der  beiden  ^fiEta-Ordnungen,  weil  sie  von  Psellus  nicht  erwähnt  werde, 
zu  streichen.  Das  Fragment  der  Aristoxenischen  Rhythmik  ist  bereits  bo  de- 
fect,  dass  wir  Alles,  was  uns  geblieben  ist,  sorgsam  zu  Rathe  halten  müssen: 
von  «lern  glücklich  Verbliebenen  dürfen  wir  nicht  das  Geringste  wegwerfen, 
wir  müssen  warten,  bis  uns  die  Erklärung  geglückt  ist.  In  unserem  Falle 
hat  Bachs  wohltemperirtes  Ciavier  sie  ermöglicht. 

Die  zweite  von  Aristoxenus  gegebene  Auflassung  für  die  Sr^aeia-Ordnung 
des  tripodischen  Taktes  wird  durch  Aristides  bezeugt.  Dieser  redet  nämlich 
von  zwei  triiH>disch-daktylischen  Rhythmen,  in  denen  jeder  vierzeitige  Versfuss 
durch  eine  einzige  gedehnte  Länge  ausgedrückt  ist,  dem  oplho;  und  dem  xpo- 
yoüo;  <njp.avT(i;,  von  denen  er  p.  DK  Meib.  sagt:  „Sidt  x&  irXeova^civ  toi«  |Aaxpo- 
tcxtoi;  "J(X0l?  npodfoyor*      d$iuju.a"  und  die  er  p.  37  Meib.  beschreibt: 

5pftio;  h  ix  T6Tpacr/;{j/,y  dpseoa;  xal  ixtzai^vj  öiacaj;, 

also:  ■    '   ,    ,   "   ■    ,  "  , 

dp«;  8£st; 
xpoyato;  otjliiyto;  h  i\  6xxaaf,uoü  Odaem;  xai  xETpaurj^ou  äpsEu»;, 
also :  ,  " 


i  1  i_ 


dloi;  apat; 

Genauer  ist  der  Rhythmus  angegeben  in  der  Namenserklärung  p.  38: 
orjjxavxö;  hi  (xaXsixai),  8tt  ßpaöC»;  urv  toi;  ypovn;,  ärrtTc/v^tot;  ypTjxeu  errj- 
(jiaatat;  TtaoaxoXo'j&^tjEco;  eVxa,  ot-Xactx'tov  xct;  ft£a£i;. 

Aristides  zählt  beide  Rhythmen  zu  den  arXoi.  Wir  hatten  schon  oben 
Gelegenheit  anzumerken,  dass  dies  nicht  die  Ansic  ht  des  Aristoxenus  sein  kann, 
der  vielmehr  beide  Rhythmen  gleich  der  daktylischen  Tripodie 

zu  den  Tjvftexot  rMti  rechnen  muss.  Denn  von  dieser  sind  jene  beiden  Rhyth- 
men des  Aristides  nur  dadurch  verschieden,  dass  die  yp<ivoi  no^txot  der  dak- 
tylischen Tripodie  aOv&exoi  xazä.  jbuÖjjLOTroiCa;  yp^siv  sind,  die  des  tfpfttoc 

ArUtoxenu«,  Melik  u.  Rhythmik.  7 


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98 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  56. 


und  oTjfxavr'S;  aber  da'jvSUtot  vgl.  §  14.  Diese  Beschaffenheit  der  y>*6voi  hat 
Aristides  im  Auge,  wenn  er  die  zooe;,  in  denen  sie  enthalten  sind,  änXoi  d.  i. 
daivfte-rot  nennt.  Ebenso  ist  es  ein  Versehen  des  Aristides  oder  seiner  Quelle, 
wenn  er  beim  fySho;  und  S7(uav:<>;  das  eine  Mal  von  einer  iix-cfor(fxo;  ܣat; 
spricht,  das  andere  Mal  den  Takt  einen  tto-j;  oi-XaatdCwv  rd;  ftiaetc  nennt. 
Das  zweite  ist  ohne  Zweifel  das  Richtige,  schon  weil  er  nur  auf  diese  Weise  ein 
Taktvon  drei  ypovo».  Tto^txoi  ist,  die  er  doch  ab  tripodischer  Takt  haben  muss. 
Diese  ganze  Auffassung  der  zwölfzeitigen  Takte,  welche  aus  3  vierzeitigen 
Chronoi  bestehen,  hat  die  Rhythmik  der  vortrefflichen  Arbeit  H.  Weil's  zu 
danken.  Ein  Beispiel  dieses  Rhythmus  in  der  christlich-modernen  Musik  haben 
wir  oben  aus  der  chromatischen  Fuge  Bach 's  beigebracht. 


Bis  zu  dieser  Grenze  gehen  diejenigen  Kola,  von  denen  jedes  auch  als  ein 
zusammengesetzter  Takt  aufgefaßt  werden  und  als  solcher  beim  Dirigiren 
taktirt  werden  kann:  da«  dij>odische  Kolon  durch  zwei  Hauptschlage,  da,«  te- 
tra]>odische  durch  vier  Hauptschläge  (und  ebenso  auch  der  Paion  epibat«»s>. 
das  tripodische  Kolon  durch  drei  Hauptsehlägc.  Es  ist  damit  nicht  gesagt,  dasd 
alle  diese  Kola  stets  so  aufgefasst  und  taktirt  werden,  es  kann  das  Kolon  auch 
als  eine  Gruppe  von  mehreren  einfachen  Takten  (Versfüssen)  taktirt  werden, 
die  Dipodie  als  zwei  Takte,  die  Tripodie  als  drei  Takte,  die  Tetrapodie  als 
vier  Takte.  Es  kann  auch  das  tetrapodischc  Kolon  beim  Taktiren  als  zwei 
einzelne  dipodische  Takte  taktirt  werden.  Das  ist  alles  auch  in  unserer  modernen 
Musik  so,  wie  es  Aristoxenus  von  der  griechischen  darstellt. 

Es  giebt  ausser  den  dipodischen ,  tripodischen,  tetrapodischen  Kolon  auc  h 
noch  pentapodische  und  hexapodische  Kola  (aus  fünf  und  sechs  Versfussen). 
Auch  von  diesen  hat  nach  Aristoxenus  ein  jedes  die  Bedeutung  eines  Taktes, 
aber  es  wird  nur  theoretisch  als  solcher  gefasst,  praktisch  dagegen  vom  Hege- 
mon (Dirigenten)  niemals  als  je  Ein  Takt  taktirt.  Es  müsste  fünf  oder  sechs 
Taktschläge  haben,  aber  mehr  als  vier  Taktschläge  gaben  die  Griechen 
nach  Aristoxenus  Berichte  einem  Takte  nicht.  In  der  moderneu  Musik  ist  es 
genau  ebenso.  Das  sind  theoretische  Takte.  Auch  in  der  modernen  Musik 
müssen  sie  als  solche  gefanst  werden,  indem  der  vortragende  Solist  oder  auch  der 
Dirigent  eine  klare  und  lebendige  Uebersieht  habe,  mit  welchem  Kolon  er  es  in 
einem  jeden  Falle  zu  thuu  hat,  und  sich  stets  bewusst  sei,  im  wievielten  Vers- 
fnsse  des  betreffenden  Kolons  er  sich  jeweilig  befindet  z.  B.  bei  einem  hexapo- 
dischen  Kolon: 

Beethoven  erste  Es-dur  Sonate  AUegro-satz:  Kolon  49 


1.  2.  3.  4. 


• : 


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I 


II.  3a.  Diairesis  in  Semeia.  Keine  Takte  von  5  oder  Ii  Chronoi  podikoi.  99 


Bach  wohlt.  Clav.  1,  2  Fuge 

1.  2. 


3.  4. 


5.  6. 


ferner  in  einem  ]>cntapodisehen  Kolon:  ebendaselbst  Bach  wohlt.  Clav.  1,  2 
(mit  folgendem  rripodischen  Kolon). 


1.  2. 


3.       4.  5. 


I. 


2. 


JA. 


■    ■   -  5t*  r 


Beethoven  Clav.  Sonat.  3  Adagio. 

l.      2.         3.  4. 


5. 


1. 


2.      3.  4. 


I 


!  ! 


T 

! 


d.  Keine  Takte  von  fünf  oder  sechs  Chronoi  podikoi. 

Die  moderne  Musik  kennt  zwei-,  drei*,  viertheilige  Takte  mit  der  betref- 
fenden Zahl  von  Haupttakt>ehhigen  (Berlioz  in  den  unten  S.  106  angeführten  Stel- 
leu). Dasa  Takte  von  mehr  als  vier  Theilen  geschrieben  werden,  findet  sich  höch- 
stens versuchsweise;  eingelebt  haben  sich  Takte  von  fünf  Takttheilen  nicht  und 
werden  es  auch  wohl  niemals  können.  Unsere  klassischen  Meister  hatten  kaum 
Veranlassung  gehabt  sie  zu  schreiben.  Denn  obwohl  bei  ihnen  auch  pentapo- 
dische  und  hexapodische  Kola  gar  nicht  so  selten  sind  wie  man  gewöhnlich 

7* 


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100  Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  56. 

denkt,  so  kommen  dieselben  doch  hauptsächlich  nur  isolirt  unter  anderen  Kola 
vor,  nicht  fortlaufend  für  grössere  rhythmische  Partieen. 

Bei  den  Griechen  sind  pentapodische  und  hexapodische  Kola  häufig  genug 
auch  in  fortlaufender  Rhythmopoeie ,  nicht  nur  das  hexapodische  Trimetron 
iambikön,  sondern  auch  der  Alcaische,  Sapphische,  Phalaeceische  Vers,  welche 
schwerlich  ein  anderes  als  ein  pentapodisches  Megethos  gehabt  haben 
können.  Aber  dennoch  ist  es,  als  ob  die  rhythmische  Praxis  der  Griechen 
nun  einmal  in  Allem  mit  der  modernen  übereinstimmen  sollte.  Denn  Aristo- 
xeuus  lehrt  §17.  18:  „Es  giebt  Takte  von  zwei,  drei,  vier  Chronoi  podikol,  aber 
mehr  als  vier  Chronoi  haben  die  Takte  nicht.  Weshalb  es  aber  nicht  mehr 
als  vier  Chronoi  giebt,  wird  späterhin  gezeigt  werden." 

Vom  modernen  Standpunkte  aus  würde  die  Antwort  folgende  sein: 
Schon  das  Taktiren  nach  vier  Hauptbewegungen  ist  einschliesslich  der 
zu  jeder  Haupt bewegung  hinzukommenden  Nebenbewegungen  des  Handgelenkes 
(vgl.  unten  S.  10fi)  complicirt  genug,  weshalb  es  der  Dirigent  nur  bei  langsamem 
Tempo  durchführt.  Takte  von  mehr  als  vier  Taktschlägen  vermöchte  der 
Dirigent  nur  so  auszufahren,  dass  die  Aufführenden,  um  derentwillen  er  doch 
taktirt,  nur  wenig  Nutzen  davon  hätten.  Sie  würden  verwirrt  werden,  die 
rhythmische  Bedeutung  der  Handbewegungen  nur  schwer  verstehen  und  das 
Taktiren  würde  seinen  Zweck  verfehlen.  Deshalb  schreiben  Gluck  und  Mozart, 
wenn  sie  in  pentapodisehen  oder  hexapodischen  Kola  componiren,  lieber  nach 
monopodiachen  oder  dipodischen  Takten,  von  denen  je  füuf  oder  drei  auf  ein 
Kolon  kommen. 

Viel  anders  wird  auch  Aristoxenus  die  von  ihm  aufgeworfene  Frage: 
,,Ari  n  ou  flveTat  z).£tw  (njiAeto  ?ü>v  xerraptuv;"  nicht  beantwortet  haben.  Er 
wird  in  seiner  Ausführung  des  Abschnittes  von  der  Diairesis  in  Chronoi  podi- 
kol (denn  dieser  ist  es.  auf  welchen  mit  „Ga-epov  Jci/dfjce-rai"  verwiesen  wird) 
gesagt  haben:  dass  es  deshalb  nicht  der  Fall  sei,  weil  das  Markiren  von 
irXeiw  aT,[X£ta  :äv  TCTraptov  von  Seiten  der  Dirigenten  für  die  rapaxoXo-jdtjoi;  (das 
Folgen  von  Seiten  «1er  Ausführenden)  keinen  Nutzen  habe,  weil  es  die  Aus- 
führung nicht  nur  nicht  erleichtern  würde,  sondern  unter  Umständen  erschweren 
und  in  Verwirrung  bringen  könne. 

Theoretisch  wird  das  Vorkommen  von  Takten  aus  5  und  6  Versfüssen  in 
der  Aristoxenischen  Rhythmik  (§  54)  anerkannt,  denn  er  nennt  den  18-zeitigen 
als  den  grössten  jambischen,  den  25-zeitigen  als  den  grössteu  paeonischen  Takt: 
augenscheinlich  fasst  er  diese  G-fussigcn  iaii^ty.d  und  diese  5-füssigen  -atamxd 
deshalb  als  rooe;,  weil  er  in  ihnen  dieselbe  Solidarität  des  Accentuations- 
verhiiltnisses  wie  in  den  2-füssigcn,  3 -flüssigen,  4-füssigen  Takten  fühlt. 
Aristoxenus  gehört  nun  einmal,  wie  Baumgart  a.  a.  0.  p.  XXXVI  sagt,  „zu 
den  Feinhörern,  welche  die  Accentuation  des  Kolons  genau  empfinden"  —  eine 
Fähigkeit,  die  Baumgart  für  sich  selber  und  seine  Collegen  unter  den  Musikern 
in  Abrede  stellt.  Auch  Aristoxenus  hat  die  5  oder  6  VersfÜssc  jener  Kola  in 
ihrer  rhythmischen  Bedeutung  als  Chronoi  podikoi  empfunden,  worauf  seine 


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II.  3a.  Diairesis  in  Seineia.    Keine  Takte  von  5  oder  6  Chronoi  podikoi.  101 

Definition  der  &ta<fopd  xata  otafpeotv,  die  wir  S.  105  ff.  noch  näher  erörtern,  hin- 
deutet, aber  praktisch  wird  das  Markiren  dieser  fünf  oder  sechs  Verefüsse 
als  der  Chronoi  podikoi  eines  zusammengesetzten  Taktes  nicht  ausgeführt 
wegen  der  grossen  Schwierigkeit,  die  dasselbe  der  irapaxoXojdrjot;  bereiten 
würde. 

Die  Pentapodie,  mag  sie  aus  drei-zeitigen ,  vier-zeitigen  oder 'fünf- 
zeitigen Versfüssen  bestehen,  wird  also,  obwohl  Aristoxenus  das  Bewusstsein 
festhält,  dass  sie  ein  einziger  zusammengesetzter  Takt  xerrd  Xöjov  t)|j.i6Xto>  ist, 
von  dem  antiken  %e;*c6v  stets  als  eine  Gruppe  von  5  monopodischen  Takten 
dirigirt.  Wir  haben  oben  S.  95  gesehen,  dass  auch  ein  tripodisches  Kolon  nach 
der  Darstellung  der  Metriker  nicht  als  ein  einheitlicher  Takt  (wie  Aristoxenus 
darstellt),  sondern  als  eine  Gruppe  von  3  einzelnen  monopodischen  Takten 
vom  Dirigenten  markirt  wird.  Während  aber  eine  Tripodie  auch  als  einheit- 
licher zusammengesetzter  Takt  markirt  werden  kann,  kann  die  Pentapodie  nie- 
mals anders  als  eine  Gruppe  von  5  monopodischen  Takten  dirigirt  werden. 

Die  Hexapodie  d.  i.  das  trochaeische  oder  iambische  Trimetron  wird 
immer  so  taktirt,  dass  jede  der  drei  dipodischen  flauet;,  von  denen  die  Metri- 
ker reden,  als  ein  einheitlicher  dipodischer  Takt  markirt  wird.  Für  die  Aus- 
führung des  Melos  macht  das  nun  keinen  grossen  Unterschied,  ob  das  Trime- 
tron von  dem  Dirigenten  in  drei  Takte  zerfällt  wird,  oder  ob  es,  was  nicht  an- 
geht, als  ein  einheitlicher  grosser  Takt  markirt  würde.  Wie  gesagt,  der  Unter- 
schied für  den  Ausführenden  wird  nicht  gross  sein,  nicht  grösser,  als  wenn 
Bach  im  musikalischen  Opfer  dieselbe  daktylische  Tctrapodie  in  Nr.  2  als  tetra- 
podischen  Takt  schreibt,  in  Nr.  i  durch  zwei  dipodische  Takte  ausdrückt.  In  dem 
einen,  dem  einzig  vorkommenden  Falle,  wo  der  Dirigent  eine  jede  der  drei  im 
Trimetron  enthaltenen  ßdaei;  als  selbständigen  dipodischen  Takt  markirt,  giebt 
er  jeder  Dipodie  ihren  Hauptaccent  und  ihren  Ncbenaccent.  Im  andern  Falle, 
wo  die  drei  Dipodien  zu  einem  grösseren  Takte  vereint  würden,  würde  von 
den  Hauptaccenten,  welche  die  Dipodien  haben,  unter  kräftigerem  oder  weniger 
kräftigem  Aualangen  des  ganzen  Armes  der  eine  zum  stärksten  Hauptacccnte, 
der  andere  zum  schwächeren  Hauptacccnte,  der  dritte  zum  noch  schwächeren 
Nebenaccente  etwa  so: 

—  \j  jti  \J   —  ^  ji  \j  —  \y  £ 

V  '    «■  '     *  ' 

Der  Dirigent  würde  in  diesem  Falle  die  verschiedene  Dynamik  der  Ac- 
cente  durch  drei  verschiedene  Grade,  welche  er  für  die  Stärke  des  Auslangens 
mit  dem  dirigirenden  Oberarme  anwendet,  für  die  Ausführenden  fasslich  machen, 
eine  Gradation,  die,  da  er  nach  drei  dipodischen  Takten  taktirt,  unterbleibt. 

Wie  nun  jeder  der  drei  einzelnen  dipodischen  Takte  (die  drei  Jiaaet;  oder 
percussiones  Fab.  Quintü.)  taktirt  wurde,  darüber  geben  die  in  letzter  Instanz 
aus  griechischen  Quellen  schöpfenden  lateinischen  Metriker  folgenden  Bericht: 

Juba  bei  Priscian  1321:  Der  Trimetcr  nimmt  an  der  2.,  4.  und  6.  Stelle 
nur  solche  Füsse  an,  die  mit  der  Kürze  anfangen,  quia  in  his  locis  feriuntur 
per  conjugationem  pedes  trimerrorum  [libb.  pedestrium  metrorum],  weil  an  den 


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102 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  56. 


genannten  Stellen,  der  2.,  4.  und  6.,  die  Versfüssc  der  Trimeter  den  Ictus  haben. 
Wenn  man  also  bisher  annahm,  der  Trimeter  werde  an  der  1.,  3.,  5.  Stelle 
betont,  so  lehrt  Juba  „qui  inter  metricos  auctoritatcm  primae  eruditionis  ob- 
tinuit,  iusistens  Heliodori  vestigia,  qui  inter  Graeeos  huiuBce  artis  anti&tes  ant 
primus  aut  solus  est"  gerade  das  Gegentheil:  der  Vers  soll  nach  ihm  (und 
Heliodor)  an  der  2.,  4.,  6.  Stelle  den  Ictus  haben. 

Caesius  Bassus  bei  Rufin  p.  2707 :  „Da  der  Iambus  auch  Füsse  des  dak- 
tylischen Geschlechtes  annimmt,  so  hört  er  auf  als  iambischer  Vers  zu  erscheinen, 
wenn  man  ihn  nicht  durch  die  Percussion  in  der  Weise'  gliedert,  dass  man  beim 
Taktiren  den  Fusstrittt  auf  den  Iambus  kommen  lässt  Demgemäss  nehmen 
jene  Percussionsstcllen  keinen  andern  Versfuss  an,  als  den  Iambus  und  den 
ihm  gleichen  Tribrachys." 

Asmunius  bei  Priscian  p.  1321:  „Da  der  Trimeter  3  Ictus  hat  ,  so  ist  es 
nothwendig,  dass  er  die  Verlängerungen  durch  Irrationalität  (moram  adjecti- 
temporis)  an  den  Stellen  zulässt,  auf  welche  kein  ictus  percussonis  kommt.4' 
,?Im  1.,  3.  und  5.  Fuss  hebt  der  Vers  an  (hat  die  Dipodie  den  xaÖTjfO'jfjLcvos 
ypövo;),  im  2.,  4.  und  6.  hat  er  den  Ictus." 

Terentianus  Maurus  v.  2249:  „Weil  der  Vers  bloss  an  den  ungeraden 
Stellen  den  Spondeus  annimmt,  so  müssen  wir  den  Iambus  der  zweiten  Stelle 
anweisen  (vgl.  2261  et  caeteris  qui  sunt  secundo  compares)  und  müssen  hier- 
her beim  Seandiren  den  gewohnten  Ictus  verlegen  (adsuctam  moram  =  adsuetum 
ictum),  welchen  die  inagistri  artis  durch  den  Schall  des  Fingers  oder  durch  den 
Niedertritt  des  Kusses  zu  unterscheiden  pflegen." 

Atilius  Fortunatianus  p.  2692:  „In  den  anlautenden  Stelleu  oder  subla- 
tiones  (apaeic),  welche  ungleiche  Stellen  genannt  werden,  kommen  alle  5  Fiisse 
vor  (Iambus,  Spondeus  u.  s.  w.),  in  den  auslautenden  Stellen  oder  depositiones 
(Ö£oei;),  welche  gleiche  Stellen  heissen,  nur  solche  Füsse,  welche  mit  einer 
kurzen  Sylbe  anfangen." 

Also  der  Lehrer,  der  die  Schüler  im  Tercntius  unterwies,  sagte  ihnen  von 
dem  Verse: 

Poeta  cum  primum  animum  ad  scribendum  appulit, 
dass  sie  ihn  folgendermassen  zu  betonen  hätten: 

Poeta  cum  primum  animum  ad  scribendum  appulit, 
indem  er  auf  die  zweite  Hebung  der  Dipodien 

r  t  t 

.    .    cum  scrib    .    .    .  it 

den  Sehlag  des  Fingers  oder  den  Tritt  des  Fusses  fallen  Hess. 

Bentley  im  schediasma  de  metris  Terentianis  lehrt  richtig:  ictus  percussio 
dieitur,  quia  tibicen  dum  rhythmum  et  tempus  moderabatur,  ter  in  trimetro, 
quater  in  tetrametro  solum  pede  feriebat.  Aber  um  die  weiteren  Zeugnisse  be- 
kümmert sich  Bentley  nicht,  und  nachdem  er  in  den  auf  jenen  Satz  folgenden 
Worten  die  bekannte  falsche  Definition  von  apai;  und  H£at;  gegeben,  fährt  er  fort: 


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II.  3a.  Takt-Diairesis.  Uebersicht. 


103 


Hos  ietus  sive  dpsst;  magno  discentium  commodo  nos  primi  in  hac  editionc 
per  accentus  acutos  expressimus,  tres  in  trimetris: 

Pocta  cum  priraum  animum  ad  scribeudum  appulit 
Die  Zeugnisse  der  lateinischen  Metriker  basiren  auf  der  Doctrin  eines 
älteren  griechischen  Metrikers,  des  Heliodor  oder  eines  noch  älteren,  und  was 
dieser  über  die  Accentuation  des  Trimeters  sagte,  fliesst  aus  der  Gelehrsamkeit 
Alexandriens.  Was  Bentley  dem  ganz  Entgegengesetztes  lehrt,  basirt  auf  dem 
vulgären  Taktgefühl  der  Modernen.  Die  Tactirung,  welche  beim  Trimeter  die 
AI  ten  wollen,  ist  die  diastaltischc,  was  Bentley  verlangt,  die  hesychastische.  Bei 
einem  Melos  wtirde  e9  wohl  Sinn  haben,  continuirüch  für  trimetrische  Partien 
entweder  die  eine  oder  die  andere  beider  Takt-Ordnungen  anzuwenden.  Aber 
bei  der  Recitation,  welche  sowohl  die  alten  magistri  artis,  wie  auch  Bentley 
allein  bei  ihren  Accentuationslehren  von  Augen  haben,  hat  das  schwerlich  einen 
Sinn,  denn  beim  Lesen  der  Verse  würde  es  den  Tod  eines  guten  Vortrages  be- 
deuten, wenn  man  fortwährend  Schablonen  massig  immer  diastaltisch  oder  immer 
hesychastisch  accentuiren  wollte.  Wir  haben  darüber  bereits  oben  S.  92  ge- 
sprochen. 

e.  Uebersicht  der  oiatyopd  7ä»v  sooöiv  xaxd  oialpeatv. 

Die  in  der  allgemeinen  Uebersicht  und  Definition  der  Taktunterschiede 
von  Aristoxenus  gegebene  Definition  des  Unterschiedes  nach  der  Diairesis  §  27 
sind  wir  nunmehr  im  Stande  vollständig  zu  verstehen  und  durch  Folgendes 
zu  erläutern. 

Die  Aristoxenisehe  Scala  der  z4ge;  ergiebt  als  „IppyOjAa"  dreizehn  ^.v\i^ 

3  jAEY^Tj  für  äayvfteroi  zooe;:  das  toIot^ov,  Te-pasrjjxov,  -evcäffTjjxov, 

1  fii^eÖo;  als  xoivov  für  eiuen  drjv&STo;  und  einen  ouvOeio;  rou;,  nämlich 

das  e^dcTjjjLOv  (as^eSo;, 
9  jxE-yiÖT;  für  -<5öe;  a-jv8c?oi,  und  zwar 
5  fAEYsÖT,  als  Toto  für  je  einen  ttou;.  nämlich  das  öxTdatjjjiov,  iwEdatj  |aov, 

exxaiOExdo^nov,  eixoodaTJtuov,  TrevrexaisixoodaT^OM, 
4  ptfi^  als  xoivd  für  mehrere  ojvöexot  ttooe;. 
Die  [ac7£»t,  xoivd  (einerlei  ob  für  einfache  oder  zusammengesetzte  zo&ec) 
unterscheiden  sich  von  einander  durch  verschiedene  ötatoEat;.   Diese  wird  von 
Aristoxemis  §  27  definirt: 

Aiatpiost  ös  oiaciioouot  dD.TjXrov,  5rav  -o  aü-ö  U.I7E&0;  e{;  dvtaa  {iipr,  Swi- 
pc8^  T,T0t  xorrd  dfx'^vcepa,  xard  te  tov  dptftaöv  xi\  xatd  ?d  [ae^t,,  r,  xctrd 
ft-XTEpa. 

Wir  haben  diese  Definition  nach  den  vorliegenden  Worten  auszuführen. 

A.  To  üüt'j  ad^eöo;  tö  t&v  -ofctbv  öiaipeirai  eU  p-spf)  xaxd  te 
rd  [aey^t]  xai  xaxd  töv  dpiÖfiov  dvtea. 
1.  Aexdsrt{iov  fxeyefto«  ouo  -ooeüv  xoiviv 


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Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  27. 

a)  toO  fJte-v  iv  Tau)  Xfy»  oexaaVjjxoy 
|i£po;  |A£po; 
—  \s  —    —  \j  —  2  jxiprj  TrevraaTjua 


b)  toO  &e      ^fjnoXltjj  Xöftp  OETta^fAoy 

|A.        |A.        (X.  JA. 

—      —      —      —      —    4  fiipT],  Tp(a  (xsn  SbTjixa,  En  oe  TeTpdoTjurjv. 

2.  Aa>ocxdo7j(xov  jAife&o;  Tptär*  roo&v  xoiv<v 
£uo  ja£v  £v  taip  X<5y«>  ttooöv 
fx£po«  fiipo; 

a)  ^v_/  w  w   2  jjiipT)  ifcda^ua 

b)  —        —  ^    —         —  w  4  (xipTj  TpforjjAa 


i 


c)  ivö;  oe  £v  oinXastip  Xfyp  ^ooo; 

(x£po;           {i£po«  (Aipo; 
 ^  ^  w  w  8  (xip^  e^dar^a. 

JTTT^  fffffi 

1         I  I         I         I  I 

3.  rievTE*cit5rxa57jfjiov  [a£ye&o;  öio  zooü>v  xoiv<$v 

a)  toü  (Aev  £v  (irXaoltp  X«5ftj>  7too6; 
|x£po;  ftspo;  u£po; 

_  \j  —      _  w  _      _v^_    Tpid  {AtpT^  -evrdoT([Aa 

•        0   0  0*0        0  0  0  0  0 


b)  toü  os  £v  TjiAioXtiij  \6fw  zoo«5; 

|A.  |A.  {A.  (A.  fi. 

- 

—  w     —  ^    —  w    _>w/    —        5  [Aipir]  TptarjjAa. 

csT   zsd    zäJ*  ssf  si^ 

4.  XDx-ojxcnoexdoTjfAOv  (A^eöo;  fcvoiv  ttoowv  xoiwv,  exaxipoy  o'  a-j-rcbv  £v  oinXa- 

otti»  XiSft» 

|a£P.  fx£p.  1x£p. 

a)  ^  w  v-/w    3  lASpr,  i;do7)jAa. 

i         i  i 
•  •     P  P  P  P  •      •  - 


b)    —  W      —  ^      —   ^      —  ^>      —  —  ^     6  (AtOT^  TpiOTjJAa. 

m  IM  =/  ^  £±/ 


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II.  3b.  Takt-Diairesisis  in  Chronoi  Rhythmopoiias  idioi.  105 

B.  To  aixö  n^edo«  otatpetxai  ci;  avioa  xaxd  xd  pfflÜr}  jitpr,. 
5.  fE$a<rr)|i.ov  (t^cftoc  fcuoTv  7roSfiv  xotvov 

a)  toO  ja£n  i\  ämtaafap  mU<i 

pip.  [*. 

 w        2  |x£p7)  d\wa,  t6  |xcv  xexpdorijAOv,  xö  5e  Slor^ov. 

*  P  *  P    P  • 

cur  y 

b)  xoy  oi  £v  low  Xö-j-tp  ttoW« 

;x.  ja. 

—  -   \J      2  fJlipT]  Tp(07j|A«. 

*  P  P      P  P  • 

=y  yy 

Von  den  beiden  für  die  xaxd  otatpcoiv  oiaipopd  von  Aristoxenus  statuirten 
Alternativen:  „8xav  xö  a*ixö  pi*fefto;  ei;  dvtoa  fxipT)  Siatpeftrj  a)  fjxot  xax'  dj/sd- 
xepa,  xaxd  xe  xöv  dpi&jAov  xal  xaxd  xd  jAejidtj  b)  Tj  xaxd  ftdxepa"  kann  die 
zweite  Alternative  (b)  nur  den  Einen  Fall  umfassen:  uiprj  taa  jxsv  xaxd  xov 
dptöfxov,  dvtaa  xaxd  to  (jt£Ye^°* »  für  den  zweiten  Fall,  welcher  dem  Wortlaute 
nach  möglich  sein  könnte,  too  uev  xaxd  xöv  dptdfxöv,  dvioa  oe  xaxd  xö  ja^eNo;, 
ist  in  der  Scala  der  von  Aristoxenus  als  ippuBuot  zugelassenen  roSie;  kein  Raum. 


b.  Takt-Diairesis  in  Chronoi  Rhythmopoiias  idioL 

In  der  Einleitung  §  18  heisst  es  bei  Aristoxenus,  nachdem  er  von  den 
Takten  mit  zwei,  drei,  vier  Takttheilen  geredet,  und  dass  ein  Takt  nicht  mehr 
als  deren  vier  haben  könne: 

„Bei  dem  oben  Gesagten  darf  man  sich  aber  nicht  zu  der  irrigen  Meinung 
„verleiten  lassen,  als  ob  ein  Takt  nicht  in  eine  grössere  Anzahl  von  Theilen 
„als  vier  zerfalle.  Vielmehr  zerfallen  einige  Takte  in  das  doppelte  der  genann- 
ten Zahl,  ja  in  ihr  vielfaches.  Aber  nicht  an  sich  zerfallt  der  Takt  in  solche 
„grössere  Menge,  als  wir  in  §  17  angaben,  sondern  er  wird  von  der  Rhythmo- 
„poeie  in  derartige  Abschnitte  zerlegt.  Die  Vorstellung  hat  nämlich  aus  ein- 
„ander  zu  halten 

„einerseits  die  das  Wesen  des  Taktes  wahrenden  Semeia, 
„andererseits  die  durch  die  Rhythmopoeie  bewirkten  Zeitteilungen. 
„Und  dem  Gesagten  ist  hinzuzufügen,  dass  die  Semeia  eines  jeden  Taktos  über- 
„ail,  wo  er  vorkommt,  dieselben  bleiben,  sowohl  der  Zahl  als  auch  dem  Mege- 
„thos  nach,  dass  dagegen  die  aus  der  Rhythmopoeie  hervorgehenden  Zerlegungen 
„eine  reiche  Mannigfaltigkeit  gestatten.  Auch  dies  wird  in  dem  weiterhin  Fol- 
genden einleuchten." 

Den  materiellen  Inhalt  des  Aristoxenischen  Berichtes  versuchen  wir  uns 
folgendermaßen  zum  Verständniss  zu  bringen.  Von  den  folgenden  drei  Zeilen 


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106 


Aristoxcnus  rhythmische  Elemente  §  57.  58  a. 


enthalte  die  erste  die  xoy  ~oBö;  S'jva|xtv  cfoXdcoovTa  or(uEia,  nämlich  1)  für  den 
noi;  £vt  56o  ypöv(ov,  2)  Ix  Tpt&v,  3)  ex  TErrdpcrv,  durcli  zwei,  drei,  vier  kleine 
Striche  dargestellt.  Die  zweite  und  dritte  Zeile  enthalte  durch  kleinere  Striche 
ausgedrückt  die  von  Aristoxenus  ,,e\toi;  t&v  -ooüiv"  zugeschriebenen  „öia'.f/laei; 
uno  tt;;  j)uö|i.ozoila;  7tvoaevai",  welche  das  oircXdaiov  und  das  TroXXazXdffiov ,  das 
doppelte  und  vielfache  von  der  Zahl  der  im  Takte  enthaltenen  2  oder  3  oder 
4  Semeia  betragen.  Und  zwar  sei  in  der  zweiten  Zeile  das  SiTtXdsiov,  in  der 
dritten  das  r:oXXd:tXdoiov  augegeben,  indem  wir  uns  das  -oXXarXdciGv  m  indes  te  ns 
als  ein  dreifaches  denken  müssen. 

Td  OT,(xeta  rd  toj        tcoSö;  o-jvojaiv  cpuXdaaovTa. 
I  I  t:.  ex  5-jo  2)  z.  ix  tpt&v  3)  z.  £x  Terrdpiuv 

12  l  2  i  12  3  4 

AI  uro  tt(;  |>jÖfxo-oiia;  Ytvöfi.evai  oiaiploei;. 
Evioi  tot*  roo&v  et;  ömXdoiov  toü  elpTipivou  TtXTjflav); 

1234  1      7      3456  (234567* 

\  I  \  I  ^  r\  /  \  /  \  /  \  /  \  /  V  / 

xat  ci;  TtoXXazXdoiov  fiepi^ovroii 

123456  123456789 

v  I    V  /  V  •    V  „  '    \  .   

Die  Worte  et;  Si-Xdoiov  xat  el;  iwXXazXdstov  reden  von  einem  Multipluireu 
der  2,  3,  4  in  einem  „zou;  xa&'  ayxov"  enthaltenen  orj^eta  oder  y_ptf*#i,  aus  wel- 
chem sich  die  Zahl  der  üzö  ttj;  j!>o8|xo-oita;  Y^ueva  P-P^i  ergeben  muss.  Ent 
weder  muss  die  Semeia-Zahl  mit  2  multiplicirt  werden  (SirrXdciov  toO  etpr^ivoj 
zXtjttoy;),  oder  mit  3,  oder  vielleicht  auch  mit  4,  mindestens  aber  mit  2  und  3 
(rttXXa-XdoiON  toü  eipTjpivou  tcXt^Ioj;). 

Wir  ziehen  aus  dieser  Stelle  zunächst  keine  Folgerungen,  sondern  wollen 
nur  eine  genaue  Interpretation  des  Wortlautes  geben.  Aber  folgende  Stelle 
aus  Hcctor  Berlioz  Instrumentationslehre  deutsch  von  Alfred  Dörftel  1864  mag 
hier  als  eine  Parallele  herbeigezogen  werden.  In  dem  Capitel  „der  Orchester- 
dirigent" heisst  es  dort  nämlich  S.  259:  ,.Ist  das  Tempo  sehr  langsam,  so  muss 
man  jeden  Takttheil  noch  einmal  abtheilen,  also  acht  Bewegungen  für  den  vier- 
theiligen und  sechs  Bewegungen  für  den  dreitheiligcn  Takt  machen,  indem  mau 
jede  der  oben  angegebenen  Haupt bewegungen  verkürzt  wiederholt .  .  .  Der  Arm 
muss  bei  diesen  kleineu  ergänzenden  Bewegtmguugen ,  welche  wir  für  die 
Unterabtheilung  des  Taktes  andeuten,  durchaus  unbctheiligt  bleiben  und  nur 
das  Handgelenk  den  Taktirstab  in  Bewegung  setzen."  Was  Berlioz  Haupt - 
bewegungen  nennt,  würde  dem  Aristoxenischen  „ttjv  tou  ttoSö;  cuvafiw  cvXdo- 
oovea  CT,fj.efa"  entsprechen;  was  dort  kleine  ergänzende  Bewegungen 
heisst,  entspricht  dem  Aristoxenischen  „ü-ö  rfj;  jbty*o-oda;  ftvo^evat  wupeoet;." 
Die  Bcrlioz'schcu  Beispiele  der  ergänzenden  kleinen  Bewegungen  beziehen  sich 
auf  ein  Verdoppeln  der  vier  und  der  drei  Hauptbewegungen.  In  dem  Beispiele 


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II.  3b.  Takt-Diairesis  in  Chronoi  Rhythmopoiias  idioi.  107 

398  auf  S.  66  des  Anhanges  ist  ein  Beispiel  für  das  Verdreifachen  gegeben. 
Vom  Vervierfachen  dürfte  in  dem  modernen  Dirigiren  kein  Beispiel  vorkommen. 

Am  Schlus.se  des  §  18  verweist  Aristoxenus  auf  einen  später  folgenden  Ab- 
schnitt seiner  Rhythmik,  in  welchem  er  die  Lehre  von  der  Zahl  der  Chronoi 
rhythmopoiias  idioi,  die  man  den  Takten  zu  geben  habe,  klarstellen  werde. 
Wir  besitzen  aus  ihm  ein  kleines  von  Psellus  überliefertes  Fragment. 

§  57.  Jeder  Takt,  welcher  zerfällt  wird,  wird  in  eine  grössere 
und  in  eine  kleinere  Zahl  von  Theilen  zerfallt. 

Die  Uebersetzung:  ,.Ein  jeder  in  eine  grössere  Zahl  [von  Theilen]  zer- 
falltc  Takt  wird  auch  in  eine  kleinere  zerfällt",  welche  irgendwo  vorgeschlagen 
ist,  liegt  ferner  ab.  Die  von  mir  gegebene  Uebersetzung  ist  einfacher  und 
näherliegend.  Der  Sinn  dieses  Aristoxenischcn  Satzes  ist  klar  genug:  bei  der 
Diairesis  wird  ein  jeder  Takt  in  eine  grössere  Zahl  von  kleineren  Chronoi  rhythmo- 
poiias idioi  und  in  eine  kleinere  (höchstens  bis  zu  vier  gehende)  Zahl  von  grösseren 
Chronoi  podikoi  zertheilt.  Die  kleineren,  beim  Dirigiren  mit  dem  Handgelenk  oder 
Unterarme  ausgeführten  Taktirbewegungen  (vgl.  H.  Berlioz  a.  a.  0.)  pflegen 
wir  nur  hei  langsamem  Tempo  auszuführen,  bei  raschem  Tempo  giebt 
der  Dirigent  nur  die  Hanptbewegungen  (die  Chronoi  podikoi)  an.  Nach  dem 
vorliegenden  Fragmente  des  Aristoxenus  hat  der  griechische  iflviäiv  die  Auf- 
gabe bei  jedem  Takte  neben  der  geringeren  Zahl  der  Chronoi  podikoi  auch 
noch  die  grössere  Zahl  der  Chronoi  rhythmopoiias  idioi  zu  markiren;  wi<-  bei- 
derlei Chronoi  ausgeführt  wurden,  darüber  fehlt  uns  leider  die  Darstellung  des 
Aristoxenus.  Dass  zugleich  das  Markiren  beiderlei  Arten  von  Chronoi  notwen- 
dig war.  einerlei  ob  das  Tempo  ein  langsameres  oder  ein  rascheres  war,  geht 
auch  aus  dem  Schlüsse  des  Fragmentes  §  5Sb  hervor.  In  5Sa  wird  von  den 
beiden  Arten  der  Taktirtheile  Folgendes  gesagt: 

§  58a.  Ton  den  Chronoi  sind  die  einen  Chronoi  podikoi,  die 
andern  sind  Chronoi  rhythmopoiias  idioi. 

Chronos  podikos  ist  derjenige,  welcher  das  Megethos  eines 
Taktabschnittes  hat.  des  leichten  oder  des  schweren  oder  eines  gan- 
zen Taktes. 

Chronos  rhythmopoiias  idios  ist  derjenige,  welcher  diese  Me- 
gethe  überschreitet  oder  hinter  ihnen  zurückbleibt. 

Diese  Stelle  ist  wiehtig  genug,  denn 

1)  sie  macht  uns  mit  den  kürzesten  Termini  für  die  in  Rede  stehenden 
Arten  der  Chronoi  bekannt:  ypovoi  zooixot  für  die  r?)v  zvj  zooi»;  oivafxiv 
s'j/.acaovra  or^eia,  ypovot  ^uftfjLOTrotto;  Ioim  für  die  j-6  tt(;  ^uöfjioroita; 
7'.vö»i£vat  oiaif»£aet;. 

Der  Terminus  /plvoi  rootxoi  kommt  auch  bei  Aristides  p.  34  M.  vor.  T/ri 
Tö>v  yoovrov  ol  {*ev  «Ht).ot,  oi  xal  moixol  xgt>.oOvrat,  ol  xai  zoXXanXoT  (Marcianus 


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108 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  58. 


Capeila:  „Siinplicia  sunt  quae  podica  perkibentur  ....).  So  ist  umzustellen. 
Weshalb  die  zootxol  als  dt— Xo t ,  die  ^j8[xotoeIi;  Tätot  als  zoXXarXot  bezeichnet 
werden,  geht  aus  Aristoxenus  §  59  hervor.    Vgl.  S.  110. 

2)  Sie  sagt  ausdrücklich,  dass  der  ypövo;  rootxöc  entweder  a)  in  einer 
Arsis  oder  Basis  oder  b)  in  einem  oXo;  zo*j;  besteht.  Das  Erstere  ist  der  Fall 
bei  dem  yp&*>;  roowJ;  eines  tjM  aoyvftero;,  das  zweite  bei  dem  yptfvo;  7to*tx«>; 
eines  t.o-ji  ouvöeTo;. 

Den  Ausdruck  „ö  napotXXaastuv  -riJTa  tat  jj-e^i»^  e(t  £rt  tö  puxpyv  elx  £-i 
tö  px^a-'  finden  wir  genau  so  bei  Pseudo.  Euklid,  p.  9  Meib.  wieder,  wo  er 
von  den  irrationalen  Intervallen  gebraucht  ist  aXo-fa  Sc  (oiaorr^aTi)  ts  zapi*/.- 
Xdrrovra  taOta  -rd  fze?^?)  Irl  tö  fj.et£ov  7}  Izt  to  IXarrov  dX^Y«»  oiaarfiixiTt.  Es 
ist  zu  vermuthen,  dass  auch  diese  Worte  des  Pseudo-Eukleides  aus  Aristoxenus 
geflossen  sind,  wenigstens  mittelbar,  denn  Pseudo-Eukleides  excerpirt  seine 
introductio  harmonica  aus  einem  Aristoxeneer,  welcher  von  der  dritten  (damals 
noch  vollständigen)  Harmonik  des  Aristoxenus  eine  Umarbeitung  vorgenommen 
hat.  Vgl.  meine  Vorbemerkung  zur  dritten  Harmonik  des  Aristoxenus.  Auch 
I.  Harm.  48  kommt  derselbe  Ausdruck  tW  ir:\  t6  pif«  . .  .  eh*  i~l  xo  ptixpov  vor. 

In  unserer  Stelle  der  Rhythmik  ist  „elr  Irl  tä  .  .  .  etV  d-t  -6  <j.i- 

xpöv"  nicht  von  der  kleineren  oder  grösseren  Anzahl  der  betreffenden  Chronoi, 
sondern  von  dem  Megethos  der  Chronoi  zu  verstehen.  Was  von  dem  Verhält- 
nisse des  Megethos  der  Chronoi  podikoi  zu  dem  der  Chronoi  rhythtnopoiias 
idioi  in  unserer  Stelle  gesagt  ist,  ist  übrigens  zu  karg,  als  dass  wir  es  bis  ins 
Einzelne  interpretiren  können.  Ich  wenigstens  unterlasse  es  für  jetzt  darauf 
einzugehen.  Die  Angaben  dagegen  über  das  Vcrhältniss  der  beiderseitigen 
Chronoi  bezüglich  ihrer  Anzahl  im  rou;,  ergiebt  eben,  weil  bestimmte  Zahlen 
genannt  sind,  eher  bestimmte  Resultate  und  soll  weiterhin  auf  Grundlage  des 
Ueberliefcrten  auszuführen  versucht  werden. 

§  58  b.  Und  es  ist  der  Rhythmus,  wie  gesagt,  ein  System  aus 
den  Chronoi  podikoi,  von  denen  jeder  bald  ein  leichter,  bald  ein 
schwerer  Takttheil,  bald  ein  ganzer  Takt  ist.  Rhythmopoeie  da- 
gegen wird  sein,  was  aus  Chronoi  podikoi  und  Chronoi  rhyth- 
mopoiias  idioi  besteht. 

Der  Takt  als  abstrakte  mathematische  Grösse,  als  Fach,  welches  ausge- 
füllt werden  soll  (Aristoxenus:  wj;  xaxd  t^v  aytoy  ouvapuv  §  18.  19)  hat 
bloss  ypövot  rooixol  —  zwei,  drei,  vier;  ,,<ÜTt  70p  £;  ev6;  ypdvou  zoj;  oix 
av  ett)  cpavepov,  ir.tüif.ep  iv  07)}ieiov  oj  itoiet  ätalpEGiv  yptfvoy".  Der  mit 
den  Theilen  des  Rhythmizomenon,  mit  Tönen  oder  Sylben  ausgefüllte  Takt, 
der  Takt  in  seiner  concreten  Erscheinung,  bedarf  ueben  der  zwei  oder  drei 
oder  vier  yp'5v>t  rofcixoi  gleichzeitig  auch  noch  der  -/pfaot  xf(;  p-jftuo-oib; 
«toi.  'PuBjxö;  in  unserer  Stelle  ist  die  Reihenfolge  abstrakter  Takte,  etwa  auch 
die  Takte  im  Geiste  des  Componisten  vor  der  Darstellung  derselben  durch  das 


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II.  3a.  Takt-Diairesis  in  Chronoi  Rhythmopoiias  idioi.  109 

Melos;  ^dponatt*  ift  die  im  Melos  dargestellte  Reihenfolge  der  Takte,  ist  die 
rhythmische  Compositum  des  Tonkünstlcrs.  Sagt  nun  Aristoxenus,  der  Rhyth- 
mus ist  ein  System  aus  Chronoi  podikoi  (aus  Arsen.  Basen,  ganzen  Takten),  die 
Rhythmopoeie  dagegen  ein  System  aus  Chronoi  podikoi  und  zugleich  aus 
Chronoi  Rhythmopoiias  idioi,  so  kann  dies  doch  nur  dasselbe  besagen,  was  wir 
auch  schon  als  Sinn  des  §  57  erkennen  mussteu  und  was  scharf  genommen  auch 
schon  in  §  19  enthalten  war,  dass  nämlich  bei  der  Ausführung  einer  Rhyth- 
mopoiie  (d.  i.  einer  Composition)  durch  Sänger  und  Instmmentalisten  der  Diri- 
gent zugleich  die  Chronoi  j»odikoi  und  die  Chronoi  rhythmopoiias  idioi  zu  mar- 
kiren  hat.  Es  liegt  darin  ferner  dieses,  dass  der  tjY£!A"JV  De'  (len  Griechen  neben 
den  dirigirenden  Hauptbewegungen  stets  die  dirigirenden  Nebenbewegungen 
für  die  Takte  anzugeben  hatte,  dass  die  letzteren  nicht  wie  bei  uns  bloss  bei 
langsamem  Tempi  anzugeben  waren.  Und  hieraus  dürfte  wiederum  hervor- 
gehen, was  ohnehin  schon  wahrscheinlich  ist,  dass  bei  den  Griechen  keine  so 
raschen  Tempi  wie  bei  uns  genommen  werden,  dass  die  antike  017107^  mit  un- 
serer verglichen  durchschnittlich  eine  langsame  war,  obwohl  innerhalb  dieses 
im  ganzen  langsamen  Tempo  immer  noch  genug  Raum  für  die  Gradationen 
des  Tempo  vorhanden  waren.  Vgl.  erste  Harmon.  §  27:  „Wir  vermeiden  es 
beim  Reden  die  Stimme  ruhig  auszuhalten,  wir  müssten  denn  durch  leiden- 
schaftliche Erregtheit  dazu  genöthigt  werden.  Heim  Singen  aber  vermeiden 
wir  gerade  umgekehrt  die  continuirliche  Bewegung  und  lassen  die  Stimme  so 
viel  wie  möglich  verweilen,  denn  je  mehr  wir  einen  jeden  Ton  als  einen  für 
sich  gesonderten  einheitlichen  und  stiitigen  Ton  zum  Vorschein  kommen  lassen, 
um  so  klarer  wird  das  Melos  von  der  Aisthcsis  aufgefasst". 

Dass  hier  den  dirigirenden  Nebenbewegungen  eine  ähnliche  Bedeutung 
eingeräumt  wird  wie  den  Hauptbewegungen,  dass  sie  zwar  nicht  für  die  Theorie, 
aber  für  die  Praxis  des  Taktirens  für  gleich  notwendig  wie  jene  gehalten 
werden,  dürfte  bei  den  durch  unsere  früheren  Studien  des  Aristoxenus  gewon- 
nenen Anschauungen  befremden,  denn  früher  wussten  wir  nichts  davon.  Aber 
Aristoxenus  sagt  es  an  drei  Stellen  des  aus  seiner  Rhythmik  uns  vorliegenden 
Bruchstückes.  Wie  nach  §  18  (Schluss)  der  Verlauf  seiner  vollständigen  Rhythmik 
einen  Abschnitt  enthalten  haben  muss,  in  welchem  die  Lehre  von  den  Chronoi  po- 
dikoi als  denllauptbewcgungen  des  Taktirens  dargestellt  war.  so  kann  es  nach  §  19 
(Schluss)  auch  nicht  an  einem  Abschnitte  gefehlt  haben,  welcher  den  Chronoi  rhyth- 
mopoiias idioi  als  den  taktirenden  Nebenbewegungen  gewidmet  war.  Ks  liegt  in 
dem  eigentümlich  klaren  Wesen  der  Aristoxenischen  Darstellung,  in  der  logi- 
schen Manier  derselben,  dass  wir  von  dem  ersteren  Abschnitte,  obwohl  er  tat- 
sächlich nicht  mehr  vorliegt,  doch  aus  einzelnen  Andeutungen  das  meiste,  was 
darin  enthalten  war,  restituiren  können.  Für  den  Abschnitt  von  den  taktiren- 
den Nebenbewegungen  ist  eine  Restitution  unmöglich.  Denn  was  von  dem 
Megethos  der  Chronoi  Rhythmopoiias  §  58a  gesagt  wird,  entzieht  sich  ganz 
unserem  Verständnisse  und  was  von  der  Zahl  dieser  Chronoi  für  den  einzelnen 
Takt  gesagt  wird,  ist  zu  allgemein,  als  dass  wir  darauf  eine  vollständige  Theorie 


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110 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  59. 


der  Chronoi  podikoi  begründen  wollten.  Wir  dürfen  dem  Abschnitte  über  die 
y^ovot  pjÖfioroita;  das  kurze  Fragment  aus  der  dritten  Harmonik  hinzufügen: 

£  59.  Allgemein  zu  sagen,  es  bedingt  die  Rhytlnnopoiie  viele 
und  mannigfaltige  Bewegungen,  die  Takte  aber,  durch  welche  w;ir 
die  Rhythmen  bezeichnen,  stets  einfache  und  constante  Bewegungen. 

Das  Wort  ..Bewegungen"  können  wir  jetzt  im  Sinne  von  IL  Berlioz  a.  a. 
O.  gebrauchen.  Dasselbe  wie  in  unserem  Fragmente  §  59  sagt  Aristoxenus 
auch  schon  §  19:  Kai  Tiposttexiov  -rot;  eipr^evoi^  Z-i  Tai  fAEv  exdoTO-j  rrooö;  a^o-tia 
otajjisvEi  loa  ovra  xal  tw  dptbjjujj  xal  t<Tj  [AE^et,  al  6'  taö  Ti(;  pjilfiorotea;  ^e/ö- 
(Asvat  oiatpioet;  TtoXXf.v  Xa^dvojat  -oixiXiav.  "Karat  os  tojto  xai  ev  toi;  Eireera 
'yavco'iv.  „Und  dem  Gesagten  ist  hinzuzufügen:  die  Semeia  eines  jeden  Taktos 
sind  überall,  wo  er  vorkommt,  constant,  sowohl  der  Zahl  wie  dem  Megethos 
nach,  dagegen  gestatten  die  aus  der  Rhythmoi>oeie  hervorgehenden  Bewegungen 
eine  grosse  Mannigfaltigkeit.  Auch  dies  wird  in  dem  weiter  folgenden  klar 
werden." 

Das  nämliche  ist  auch  bei  Aristides  p.  34  Mcib.  enthalten:  "F/ti  t&v  ypovt»v  oi 
ijev  d-Xoi,  oi  y.ai  ttooixoI  xaXovvrat,  oi  oe  -oXXa7tXoi.  So  habe  ich  diesen  Satz 
schon  in  den  Fragmenten  der  griechischen  Rhythmiker  durch  Umstellung  emeu- 
dirt,  denn  die  handschriftliche  Ueberliefemng  lautet:  Tti  t<ov  ypöv<uv  oi  usv 
ä-Xot,  oi  oe  zoXXa-Xoi,  ot  xai  rrootxoi  xaXoüvrat.  Maricauus  Capeila  übersetzt: 
Sed  temporum  alia  simplieia  sunt  quae  podica  perhibentur,  wobei  das  griechische 
Original  von  der  fehlerhaften  Umstellung  noch  frei  geblieben  zu  sein  scheint. 

Daraus  folgt  nun,  dass  Megethos  und  Anzahl  der  Chronoi  Rhythmopoüas 
für  ein  und  denselben  Takt  z.  B.  den  Iti-zcitigcn  nicht  constant,  wie  die  Chronoi 
podikoi,  sondem  variabel  ist.  Die  Chronoi  podikoi  (Hauptbewegungen  des 
Taktirens)  folgen  aus  der  logischen  Natur  des  Taktes  und  sind  immer  dieselben, 
die  Chronoi  Khythmopoiia.s  (die  Nebenbewegungeu  des  Taktirens)  sind  drin 
Megethos  und  der  Anzahl  nach  für  ein  und  denselben  Takt  variabel.  Das 
wird  uns  nicht  Wunder  nehmen.  Denn  bei  uns  ist  es  nicht  viel  anders.  Die 
in  der  Natur  des  Taktes  liegenden  Hauptbewegungen  sind  coustant,  die 
Nebenbewegungeu  hängen  von  der  Form  ab,  welche  der  Compoiüät  der 
betreffenden  Rhythmopoiie  gegeben  hat;  ob  der  Dirigirende  sie  so  oder  so 
den  Ausführenden  verständlich  machen  will  oder  sich  dieser  Mühe  ganz 
überheben  zu  können  glaubt,  das  hängt  von  der  jedesmaligen  Rhythmopoiie- 
Beschaffenheit  des  Melos  ab.  Hier  muss  das  Ermessen  der  Dirigenten  ent- 
scheiden. 

Und  doch  deuten  die  Zahlenangaben  des  §  19  darauf  hin,  dass  wenigstens 
einige  allgemeine  Normen  für  den  doiDuö;  töiv  tt(;  ö'jHfjioroita^  lotarv  ypovcuv  be- 
standen haben,  welche  Aristoxenus  dargestellt  haben  wird  in  dem  Absclmitte. 
auf  welchem  er  sich  mit  den  Worten:  „'Kurt  6s  toüto  xat  £»  -oi;  ereita  wXvepoV' 
beruft.    Eiiüges  davon  lässt  sich  wieder  gewinnen. 


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II.  3b.  Takt-Diairesis  in  Chronoi  Rhythmopoiias  idioi. 


111 


MeplI/mat  -jap  £vtot  täv  rooäiv  tf;  tö  otTtXdatov  toü  eipT](ji£vou  zX^Öou;  apift- 
|j.ov  xal  el;  to  roXXarXäoiov".  „Es  werden  nämlich  einige  der  Takte  in  Chronoi 
Rhythmopoiias  derartig  eingetheilt,  dass  die  Zalü  der  Chronoi  podikoi  (2,  3,  4| 
um  das  2  fache  oder  vielfache  vergrössert  wird/'  Wir  haben  dabei  also  an  ein- 
fache Takte  oder  au  zusammengesetzte  Takte  von  2,  3,  4  Versfüsseu  zu  denken. 
Dass  in  der  Anzahl  der  Chronoi  rhythmoi>oiias  die  Zahl  der  Chronoi  podikoi 
verdoppelt  ist,  lässt  sieh  leicht  denken  für  die  aus  daktylischen  Versfüssen  be- 
stehenden rjjhti  ouvötTot,  denn  der  einzelne  Versfuss  hat  als  solcher  zwei  Semeia, 
einen  leichten  und  einen  schweren  Taktthcil.  Es  ist  kaum  anders  möglich,  als 
dass  z.  B.  in  einer  anapästischen  Tetrapodie  neben  den  vier  die  Chronoi  podikoi 
markirenden  Hauptbewegungen  auch  noch  doppelt  so  viel  Nebenbeweguugen, 
die  Chronoi  rhythmopoias  idioi  markirend,  angegeben  wurden,  von  denen  auf 
jeden  Versfuss  zwei  kamen,  der  eine  auf  den  leichten,  der  andere  auf  den 
schweren  Thattheil  des  einzelnen  anapästischen  Versfusses.  So  würde  des 
7to  j«  £xy.aiOExd3TT)fio;  ausser  seinen  vier  die  Chronoi  podikoi  markirenden  Haupt- 
bewegungen im  Ganzen  acht  die  Chronoi  rhythmopoiias  idioi  angebende  Xeben- 
bewegungen  erhalten,  so  dass  also  dieser  Takt  zu  denjenigen  „tviot  t&v  ttooäv" 
gehörte,  in  welchen  der  „dpiflfiö;  täv  Terrdpajv  twoix&v  yp6va>v  ei;  ot7rXdatov 
dpi8[Ao\  jjicpiCETat.'4  Der  16-zeitigc  Takt  ist  einer  von  denjenigen,  in  welchem  die 
Zahl  der  4  Chronoi  podikoi  in  der  Zahl  seiner  Chronoi  rhythmopoiias  zu  acht 
verdoppelt  ist.  Bezeichnen  wir  die  Chronoi  podikoi  durch  römische  Zahlen  ober- 
halb des  Notensystems,  die  Zahl  des  Chronoi  rhythmopoiias  idioi  durch  arabische 
Zahlen  unterhalb  des  Xotensystcms,  so  würde  z.  B.  das  Fugenthema  wohlt.  Cl. 
1,  2  folgendennaaf*seu  nach  der  Bestimmung  des  Aristoxeuus  taktirt  sein: 

I  II         III  IV 

oo3.  aps.        Uta.      /oo^ot  7:001x0t 

/  -v  -\  »    /  V 

.\^\-/     ±  —    J_    \J  ^    X  —  IL 

^   !  —    j.   ^  ^  ±  —      it    y  p<ivot  ^ji)|xo7:oita;  totot. 

1        2  3    4     5      6    7  8 

<   — ^ — -  *  '  -  * 

Hiermit  wäre  auch  die  Frage  Baumgarts  erledigt  (a.  a.  0.  p.  VI.): 
„Denken  wir  uns  eine  auapästische  Tetrapodie.  Wie  trafen  Sänger  und  Spieler 
den  gleichzeitigen  Anfang?  Wir  sehen  dazu  keine  Möglichkeit  Eine  solche 
Möglichkeit  musste  freilieh  auch  für  das  griechische  Taktireu  vorhanden  sein." 
Mit  Recht  sagt  Baumgart  p.  VI:  „Das  steht  sicher,  dass  die  griechischen  Vjfe- 
jao\s;  im  Wesentlichen  keinen  andern  Beruf  und  Zweck  hatten,  als  unsere 
Dirigenten."  Eben  aus  diesem  Grunde  genügte  es  nicht,  wie  Aristoxenus  sagt, 
dass  sie  die  Chronoi  podikoi  taktirten,  sondern  sie  hatten  auch  noch  die  Chronoi 
rhythmopoiias  idioi  zu  markiren.  Die  Art  und  Weise  freilich,  wie  sie  das  Be- 
zeichnen beider  Arten  von  Chronoi  gleichzeitig  mit  einander  vereint  haben,  ob 


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112 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  59. 


sie  etwa  für  das  Eine  den  Fuss  und  für  das  Andere  die  Hand  gebraucht,  oder 
ob  sie  es  machten,  wie  dies  H.  Berlioz  als  unsere  heutige  Taktirmethode  be- 
schreibt, dass  die  Hauptbewegungen  mit  dem  ganzen  Arme  ausgeführt  werden, 
die  Nebenbewegungen  dagegen  nur  mit  dem  Unterarme  oder  dem  Handgelenke 
im  Anschlüsse  an  die  Bewegungen  des  Oberarmes,  darüber  giebt  das  uns  er- 
haltene Fragment  der  Aristoxenischen  Rhythmik  keine  Mittheilungen  und  das 
Versprechen  des  Aristoxenus  §  18:  „"Eoxai  oe  xoüxo  xat  h  xot;  tneixa  tpavtpfSv" 
ist  ein  unerfüllbares  geworden,  da  der  hiermit  citirte  Abschnitt  seiner  Rhyth- 
mik untergegangen  ist. 

Doch  soll  nach  Aristoxenus  die  Zahl  der  Chronoi  rhythmopoiias  idioi  nicht 
blos  das  zweifache,  sondern  auch  das  vielfache  von  der  Anzahl  der  Chronoi 
podikoi  sein.  Unter  dem  vielfachen  müssen  wir,  wie  bereits  oben  bemerkt, 
mindestens  das  dreifache  verstehen.  Werden  wir  bei  dem  zweifachen  auf 
Zusammensetzungen  aus  Versfüssen  des  geraden  Rhythmus  verwiesen,  so  wer- 
den wir  bei  dem  „dreifachen"  selbstverständlich  auf  die  Versfttsse  des  unge- 
raden Rhythmus  geführt.  Wir  werden  am  Sichersten  gehen,  wenn  wir  hierbei 
zunächst  an  Zusammensetzungen  aus  ionischen  Versfüssen  denken.  Die  ionische 
Dipodie,  als  einheitlicher  Takt  gefasst,  hat  (wie  alle  dipodischen  Takte)  zwei 
Chronoi  podikoi.  Bei  dreimal  so  viel  Chronoi  Rhythmopoias  wird  sie  deren 
sechs  haben.  Als  Beispiel  diene  das  Kolon  3  der  S.  72  aus  Beethoven's  erster 
Es-dur  Sonate  angeführten  Partie: 

I  II  Chronoi  podikoi. 

>  \  \ 

\J       \J        ±    \w/  — 

s/    v/    —    —  ^    -    -     Chronoi  rhythmopoiias. 

1  2      3         4  f>  6 

Die  ionische  Tripodie,  falls  sie  bei  den  Griechen  als  einheitlicher 
lö-zeitiger  Takt  vorkam,  mussten  sie  beim  Dirigiren  mit  3  yp*5voi  zooixot  und 
mit  3  mal  3  ypövot  ^jrtjxo-otta;  taktircn.  Vgl.  Kolon  7  derselben  Stelle  aus 
Beethoven: 

i  II  III 

r  \  ,  \  I-  \ 

1  2     3       4  5       6       7  8  9 

Nach  dieser  aus  Aristoxenus  folgenden  Taktirweise  der  Ionici  müssen  diese 
Rhythmen  z.  B.  Bachs  wohlt.  Clav.  1,  11  F-dur  Fuge  taktirt  werden,  vgl. 
Theorie  der  musikal.  Rhythmik  S.  236.    Auf  jeden  Chronos  disemos  kommt 


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II.  4.  Takt-Schema.  113 

eiiie  der  rhythmischen  Taktir-Zahlen ,  welche  in  diesem  Falle  (beim  ionischen 
Rhythmus)  keine  Chronoi  podikoi,  sondern  Chronoi  Rhythmopoiias  idioi  sind. 

Ob  auch  in  Zusammensetzungen  ungerader  troehaeischer  Versfüsse 
zu  einem  grösseren  Takte  der  einzelne  Chronos  protos  als  Chrono»  Rhythmo- 
poiias  fungiren  kann,  darüber  unten  S.  124.  125. 


4.  DIE  TAKT  -UNTERSCHIED  E  NACH  DEM  SCHEMA. 

Die  Taktverschiedenheit  nach  dem  Seheina  darf  nicht  mit  der  nach  der 
Diairesis  verwechselt  oder  vermischt  werden,  wie  es  früher  von  mir  geschah, 
wo  ich  die  Fälle  2a  und  2b,  Xr.  4a  und  4l>  der  S.  104  als  Falle  der  Schema- 
verschiedenheit ansah.  Denn  wenn  auch  auf  diese  die  Kategorie  der  Schema- 
verschiedenheit  zu  passen  scheint,  so  ist  doch  nichts,  was  auf  sie  die  Anwendung 
der  von  Aristoxenus  über  Diairesisverschiedenheit  aufgestellten  Definition  hin- 
dert, unter  welche  wir  sie  oben  begreifen  mussteu.  Die  Analogie  der  übrigen 
Fälle  erfordert  die  Kategorie  der  Diairesisverschiedenheit  mit  Notwendigkeit. 

Wir  haben  vielmehr  S.  33.  34  uns  dafür  entschieden,  dass  ayfjjxa  -oßäiv  bei 
Aristoxenus  dasselbe  ist  wie  das  metrische  Schema,  von  welchem  die  Metriker 
reden,  d.  i.  der  durch  verschiedene  Sy Ibenbeschaffenheit  hervorgebrachte  Formen- 
Unterschied  desselben  -ov»;  im  engeren  und  im  weiteren  Sinne  des  Wortes,  als 
.tto'j;  dauvftcTOs  (Versfuss)  und  als  nov>;  ovnBcto;  (metrisches  Kolon).  Die  Aristo- 
xciüsche  Definition  §  28  bezieht  sich  vorwiegend  auf  die  grösseren  -öoe*  oder 
Kola.  Wenn  die  Metriker  von  einem  Metron  polyschematiston  sprechen,  so 
fassen  auch  sie  das  Wort  o/fi(ua  in  diesem  letzteren  Sinne,  Hephacst.  c.  16. 

Der  Schemaunterschied  der  zusammengesetzten  Takte  oder  Kola,  welchen 
Aristoxenus  im  Auge  hat,  bezieht  sich  also  darauf,  dass  in  der  indischen  Poesie 
ein  und  dasselbe  Kolon  von  gleichen  |x£pr„  gleich  der  Anzahl  und  dem  Megethos 
nach,  das  eine  Mal  durch  ein  anderes  Sylbensehema  als  das  andere  Mal  ausge- 
drückt sein  kann.  Das  eine  Mal  ist  es  ein  akatalcktisches,  das  andere  Mal 
ein  katalektischcs  oder  brachykatalektisches  Kolon,  welches  die  Katalcxis  ent- 
weder im  Auslaute,  oder  auch  im  An-  und  Inlaute  hat.  Im  letztern  Falle 
wird  ea  in  der  metrischen  Tradition  prokatalektisch  oder  dikatalektisch  genannt, 
wofür  der  Gesammtname  asynartetisch  ist.    Vgl.  unten  S.  131. 

Ferner  kann  von  zwei  gleichgrossen  Kola  das  eine  ein  von  den  Metrikern 
sogenanntes  katharon,  d.  i.  aus  gleichen  Versfüssen  bestehendes,  das  andere 
ein  Kolon  mikton,  d.  i.  aus  ungleichen  Füssen  zusammengesetztes  sein.  Vgl. 
S.  130. 

Bei  der  Katalexis  handelt  es  eich  um  die  den  Betrag  einer  fehlenden 
Sylbe  ergänzenden  Pause  oder  Sylbendehnuug  nach  Art  der  uns  in  den  kata- 
lektischen  Versen  des  Mesoinedes  überlieferten  3-  und  4-zeitigen  Sylbeidangen 

Ariitoieam,  Melik  u.  Rbjtbmik.  y 


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114 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  60. 


vgl.  oben  8. 18. 19.  Bei  den  xül*  pinxi  handelt  es  sieh  vorwiegend  um  die  Frage, 
wie  bei  der  Verbindung  3-seitiger  und  4-zeitiger  Versfüsse  in  demselben  Kolon 
die  Sylben  des  Mt  los  zu  messen  sind. 

Ueber  die  Sylbeninessung  in  der  Katalcxis  hat  sich  von  Aristoxenus  keine 
Andeutung  erhalten.  Seine  Doctrin  iat  in  dieser  Beziehung  durch  die  notirten 
Textesworte  der  Mesomedischen  Hymnen  zu  ergänzen. 

Dagegen  besitzen  wir  ein  Aristoxenisches  Fragment,  welches  über  die 
Sylbendauer  im  Allgemeinen  spricht  Es  bildet  dasselbe  den  Anfang  der 
Pselianischen  Prolambanomena.  Sollte  es  auch  ni<:ht  aus  dem  Aristoxenisohen 
Abschnitte  vom  Takt-Schema  excerpirt  sein,  sondern  vielleicht  dem  ersten  ein- 
leitenden Buche  der  Aristoxenischen  Rhytlunik  angehören,  so  dient  es  doch 
jedenfalls  dazu,  uns  über  jene  Doctrin  sachlich  aufzuklären  und  mag  daher 
hier  eingereiht  werden. 

§  60.  Zuerst  ist  zu  merken,  dass  ein  jedes  Maass  zu  dem  Ge- 
messenen in  irgend  einem  Verhältnisse  steht  und  davon  den  Namen 
hat  Ist  die  Sylbe  etwas  Derartiges,  was  den  Rhythmus  messen 
kann,  so  wird  auch  sies  ich  zum  Rhythmus  wie  das  Maass  zum  Ge- 
messenen verhalten. 

•  Das  haben  nun  freilich  die  älteren  Rhythmiker  so  angenommen. 
Dagegen  sagt  Aristoxenus:  Die  Sylbe  ist  kein  Maass.  Denn  ein  jedes 
Maass  ist  an  sich  quantitiv  bestimmt  und  steht  zu  dem  Gemessenen 
in  einem  bestimmten  Verhältnisse.  Aber  in  dieser  Beziehung  ist  die 
Sylbe  in  iltrem  Verhältnisse  zum  Rhythmus  nicht  etwas  Bestimm- 
tes, wie  es  das  Maass  im  Verhältnisse  zum  Gemessenen  ist  Denn 
die  Sylbe  nimmt  nicht  immer  das  eine  Mal  dieselbe  Zeit  ein,  wie 
das  andere  Mal ;  das  Maass  aber  muss,  insofern  es  Maass  ist,  bezüg- 
lich der  Quantität  constant  sein,  und  ebenso  auch  das  Zeitmaass  be- 
züglich der  in  der  Zeit  gegebenen  Quantität;  die  Sylbe,  wenn  sie 
Zeitmaass  sein  sollte,  ist  bezüglich  der  Zeit  nicht  constant,  denn  die 
Sylben  halten  nicht  immer  dieselben  Zeitgrössen  ein,  obwolü  stets  das- 
selbe Grössenverhältniss.  Denn  dass  der  Kürze  die  halbe  Zeit,  der 
Länge  das  Doppelte  derselben  zukommt  .  . 

Damit  schliesst  das  Fragment  des  Psellua.  Das  bei  ihm  fehlende  Schluss- 
verbum  des  Aristoxenischen  Satzes  könnte  einen  allgemeinen  Sinn  haben,  wie 
in  der  älmlichcn  Stelle  bei  Fab.  Quintil.  inst.  9,  4,  48  „Longam  esse  duorum 
temporum,  brevem  uniux,  etiam  pueri  sciunt."  Es  könnte  aber  der  Satz  des 
Aristoxenus  auch  näher  auf  die  Thatsache  der  Sylbendauer  eingegangen  sein 
und  die  Ausnahmen  von  der  Regel  angegeben  haben.  Denn  dass  Aristoxenus 
wen  der  hier  angegebenen  Regel 


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IL  4.  Takt-Schema. 


115 


„Die  Kürze  ist  die  Hälfte  der  Länge" 
bestimmte  Ausnahmen  statuirt  hat,  leidet  keinen  ZwefeL  Da  ist  zuerst  nach 
Aristoxenus  eigener  Aussage  (§  20)  eine  irrationale  Sylbe  des  Trochaeus,  welche 
l1/, -zeitig  ist.  Da  sind  ferner  die  aus  den  Melodieen  des  Mesomedes  sich  er- 
gebenden Langen,  welche  über  das  2-zeitige  Maass  hinaufgehen,  welche  3-  und 
4- zeitig  sind,  mit  einem  Worte  die  Langen  der  Katalexis,  von  welcher  auch 
die  Metriker  sagen,  dass  hier  eine  ouXXaß^j  nofii  laoupivrj  vorkomme. 

Von  Sylben  anderer  Messung  als  diesen  ist  uns  von  den  Alten  nichts 
überliefert.  Wir  wissen  nichts  davon  und  fassen  die  Regel  des  Aristoxenus 
mit  ihren  Ausnahmen  folgendermasscn  zusammen: 

Die  Länge  ist  überall  das  Doppelte  der  Kürze. 
Ausnahmen  sind: 

1.  die  anderthalbzeitige  irrationale  Sylbe  (nach  Aristoxenus  eigenen 
Worten), 

2.  die  mehr  als  2-zeitige  Länge  der  Katalexis  (nach  den  notirten  Hym- 
nen des  Mesomedes). 

Gern  bestätige  ich  dem  Herrn  Brill  (Aristoxenus  rhythmische  und  metrische 
Messungen  S.  20.  73),  dass  die  Art  und  Weise,  wie  unsere  frühere  griechische 
Khythmik  und  Metrik  die  Ausnahmen  fasste,  irrig  war;  ebenso  constatirc  ich 
ihm  auch  dieses,  dass  Aristoxenus  keine  kyklischen  Versfüsse  statuirt  vgl.  Erste 
Harmonik  §  25—28.  Irrig  waren  demnach  auch  die  Sylbenmessungen  der  grie- 
chischen Metrik  vom  J.  1867/68,  ausser  den  dort  angegebenen  Messungen  der 
Daktylo-epitrite,  die  ich  auch  jetzt  für  richtig  erkläre. 

Der  grösste  Vorwurf,  den  man  dem  Hephästion  mit  den  übrigen  Metri- 
kern macht,  ist  der,  dass  er  im  Einzelnen  von  keiner  andern  Sylbcnmessung 
als  von  der  1 -zeitigen  und  2-zeitigen  wisse,  wenn  auch  im  Allgemeinen  die 
Thatsache  anderer  Sylbenmessung  wenigstens  den  übrigen  Metrikern  nicht  un- 
bekannt sei  (denn  das  kleine  Encheiridion  Hephästions  sagt  nichts  davon). 
Und  doch  müssen  wir  sie  von  jenem  Vorwurfe  freisprechen.  Sie  geben  uns 
die  Kategorieen  der  Katalexis  und  Brachykatalexis,  welche  nicht  zur  Seite  ge- 
schoben, sondern  richtig  verstanden  sein  wollen,  und  dann  Alles  enthalten, 
was  von  langen  Sylben  über  die  zweizeitige  Messung  hinausgeht  Wenn  sie 
die  Katalcxis  und  Brachykatalexis  der  gemischten  Kola  falsch  bestimmen,  wenn 
Heliodor  den  5-zeitigen  Paion  mit  dem  katalektischen  Ditrochaeus,  wenn  auch 
Hephästion  den  6-zeitigen  Choriamb  mit  der  8-zcitig  zu  messenden  katalektisch- 
daktylischen  Dipodie  confundirt,  so  sind  das  Fehler,  welche  wir  zu  erkennen 
und  zu  berichtigen  im  Stande  sind. 

Ausser  den  bezeichneten  Irrungen  bezüglich  der  Katalexis  begehen  sie 
den  durch  Aristoxenus  zu  corrigirenden  Fehler,  dass  sie  den  unter  Trochaeen 
eingemischten  Epitrit  für  einen  7-zeitigen  zo-j;  halten,  während  die  Schlusa- 
läuge  dieses  Epitrits  keine  2-zeitige,  sondern  eine  1 '/„-zeitige  fAaxod  ist. 

Darin  aber  begehen  sie  keinen  lrrthnm,  dass  sie  uberall,  wo  er  vor- 
kommt, sowohl  in  %&Xa  xatfapd  wie  in  xäiXa  |Mxxd,  den  Trochaeus  und  lambus 

S* 


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116 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  60. 


für  einen  3-zeitigen,  den  Daktylus  und  Anapäst  für  einen  4-zeitigen  Versfuss 
halten,  daas  auch  der  im  Choriamb  enthaltene  Daktylus  nach  ihrer  Messung 
nichts  anderes  als  ein  4-zeitiger  Daktylus  sein  würde.  Der  Irrthum  war  viel- 
mehr lediglich  auf  unserer  Seite,  wenn  wir  von  trochacisch  zu  messenden  Dak- 
tylen, von  daktylisch  zu  niessenden  Troehaeen  gesprochen  haben.  Die  nie- 
lische Metrik  der  Griechen  hat  solche  Verfiisse  niemals  gekannt.  Denn  die 
sogenannten  kyklischen  Daktylen,  von  denen  Dionysius  berichtet,  dass  sie  nach 
Einigen  nicht  viel  verschieden  von  den  Troehaeen  gewesen  sein  sollen,  gehören 
nicht  der  strengen  Rhythmik  des  Melos,  sondern  der  freien  Dcclainatious-  oder 
Recitationsrhythmik ,  nicht  der  gesungenen"  Poesie  des  Melos,  sondern  der 
„gesagten  "  Poesie  des  Rhapsodenvortrages  der  heroischen  Verse  an. 

Bontley  war  der  erste,  der  den  Satz  von  der  „Taktgleichheit"  der  in 
den  alten  Metreu  auf  einander  folgenden  Versfüsse  aussprach: 

„Ietus  pereussio  dicitur,  quia  tibicen  diun  rhythmum  et  tempus  modera- 
batm*,  ter  in  trimetro,  quater  in  tetrametro  solum  pede  feriebat.  Hos  ictus  sive 
ipoei;  magno  discentium  com  modo  nos  primi  in  hac  editione  per  accentus  accu- 
tos  expressimus.  tres  in  trimetris,  quattuor  in  tetrametris.  Horum  autem  accen- 
tuum  duetu,  si  vox  in  Ulis  syllabis  acuatur  et  par  temporis  mensura,  quae 
ditrochaei  vel  impltou  Seu-ripou  spatio  semper  finitur,  inter  singulos  accentus 
servetur,  universus  eodem  modo  lector  eiferet,  quo  olim  ab  actorc  in  scena  ad 
tibiam  pronuntiabantur. 

Qua  re  ego  jain  ab  adolescentia  . . .  aliam  mihi  scansiouis  ratiouem  institui, 
per  ot-ootav  scilicet  Tpoyatxfjv  hoc  modo: 

po-  |  eta  dederit  |  quae  sunt  adole-  |  scentium." 

Man  hat  mehrfach  darnach  gesucht,  diesen  Satz  von  der  Taktgleichheit 
bei  Aristoxenus  aufzufinden.  Wir  haben  oben  die  Stellen  S.  19.  59  besprochen, 
welche  mau  in  jenem  Sinne  falsch  interpretirt  hat. 

Bentley  ging  zwar  bei  seinem  Axiome  der  antiken  Taktgleichheit  von 
der  modernen  Musik  aus,  wie  man  aus  den  die  Anakrusis  abscheidenden  Takt- 
strichen ersieht,  mit  denen  er  den  Trimeter  des  Tereuz  versah.  Aber  erst  J. 
H.  Voss  wagte  es.  die  metrischen  ro&c;  dureh  unsere  Notenzeichen  auszudrücken. 
Sein  Taktgefühl  veranlasste  ihn  bei  den  Mischungen  dreizeitiger  und  vierzei- 
tiger Versfüsse  zu  der  Annahme,  daas  der  vierzeitige  Daktylus  der  den  Rhyth- 
mus bestimmende  Takt  sei,  und  dass  mithin  die  Troehaeen  aus  dreizeitigen  zu 
vierzeitigen  Versfüssen  gedehnt  werden  müssten: 


2. 
4 


i   n  | 

*  1 

1  | 

J.  H.  Voss,  Zeitmessung  der  deutschen  Sprache  1802,  S.  Ib3  ff. 

A.  Apel,  der  sich  zu  demselben  Axiome  der  Taktgleichheit  bekannte, 
machte  es  iu  der  Ausführung  umgekehrt  wie  Voss;  sich  stützend  auf  den  ky- 
klischen Fuss  des  Rhetor  Dionysius,  von  welchem  dieser  zu  verstehen  giebt, 


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II.  4.  Takt-Schema. 


117 


das»  sein  Rhythmus  dem  trochaeiacheu  sehr  nahe  komme,  fasste  Apel  den  drei- 
adrigen Trochaeus  als  den  für  den  Rhythmus  massgebenden  Versfuss,  dem 
der  Daktylus  gleichgestellt  werdeu  müsse: 


>  I  * 

•     I   0  4 

A.  Apel,  Aphorismen  über  Rhythmus  und  Metrum,  Anhang  zu  dem  Drama 
Aetolier  1806;  A.  Apel.  Ueber  Rhythmus  und  Metrum,  allgemeiue  musikalische 
Zeitung  1809;  A.  Apel,  Metrik  1814  u.  16. 

A.  Boeckh,  anfangs  tun  Anhänger  der  Apel  sehen  Messung,  „Ueber  die 
Versmaassc  des  Pindar"  in  Wolfs  und  Buttraann's  Museum  der  Alterthumsw. 

1H08,  S.  344,  leugnete  später  die  Kxistcnz  eines  Versfusscs  J^J  bei  den  Grie- 
chen. In  seiner  späteren  Auffassung  de  metris  Pindari  1811  p.  105.  268  geht 
er  von  Aristoxenus  Stelle  über  den  yopeioc  dXoYo;  aus.  Dies  sei  der  unter 
Trochäen  vorkommende  Spondeus.  Aber  der  von  Aristoxenus  dem  yopEio; 
aA.070;  vindicirte  SUbenwerth  2-Ml4  sei  nicht  die  absolute  Grösse,  sondern 
diese  Zahl  gebe  nur  das  relative  Verhältniss  der  beiden  Takttheile  an,  da  der 
Rhythmus  gleiche  Takte  erfordere.  Der  yopeio;  iXo-yo;  müsse  dem 
dreizeitigen  Trochäus,  der  neben  ihm  vorkomme,  gleichwertig,  also  drei- 
zeitig seiu: 

12  _^ 

2  1  7  T 
_    ^    _  _ 


3  3 

Das  ist  aber  eine  falsche  Interpretation  des  Aristoxenus,  vgl.  unten  S.  118 
Unrichtig  ist  mithin  alles  Andere,  worin  die  Boeckh'sche  Messung  den  vermeint- 

9 

liehen  /p4>o;  0X070;  ^    zu  Grunde  legt.     Denn  Boeckh  substituirt  diesen 

Werth  auch  der  Länge  des  mit  Trochäen  gemischten  Dactylus,  da  dieser  nach 
Dionys  de  comp.  verb.  17  ein»'  ikoyn  jjiavtpi  haben  müsse: 

9     6     6     9     6  6 

7     7     7     7     7     7     2     1     2  1 

—     ^    ^>    —  —    <j    —  ^/ 

■  '    ■  '     \  >    >  > 

3  3  3  3 

In  den  daktylo-epirritischen  Metren,  welche  bei  den  Alten  iTTtO'jvtteT* 
heissen  (S.  135).  soll  der  Epitrit  derselbe  wie  in  den  trochäischen  Versen  sein, 
aber  der  hier  vorkommende  Daktylus  sei  nicht  wie  in  den  Logaöden  der 
kyklische,  sondern  liabe  das  Megethos  einer  trochäischen  DijK>die,  „quod  sentiet, 
qui  huiusmodi  versus  reete  (!)  didicerit  aut  recitare  aut  cancre". 

12    9  3     3  3  3 

2  l  "7  7  3  2  2  3  2  2  3  3 
—     ^1    —     —     —  —    -^i-^i    —  — 

■  _  '  ■-  >  •■  1  v  

6  6  6  6 


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118  Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  60. 

Der  in  diesen  Metren  vorkommende  Creticus  habe  die  Messung: 

12   £  12 

"5  5  5 
_    ^  — 

v  ' 

6 

Von  diesen  «einen  Sylbenmessungen  im  Allgemeinen  sagt  Boeekh:  „Nostris 
notis  designari  nequeunt,  sed  disci  poterant  facillime.  Quae  etsi  conjectura 
nituntur,  tarnen  neque  ex  veteribus  refutnri  posse,  nec  commodiorem  viam  novi, 
qua  inotrorum  veterum  inaequali  mensurae  conciliari  aequalitas  proraus  neces- 
saria  possit."  Doch  widerlogen  sie  sich  aus  den  Worten  des  Aristoxenus  „rfjv 
jj.ev  ßdmv  Iotjv  aiToi;  <4|A<pot£pot;  £ytu\"  (vgl.  SS  20).  Auch  widerspricht  die 
Aristoxenische  Scala  vom  Takt-Megethos,  denn  die  in  den  daktylo-epitritischen 
Strophen  häufig  genug  vorkommenden  daktylischen  Tctrapodieen  würden  der 
Boeckh'Hchen  Messung  zu  Folge  ein  dreissigzoitiges  Megethos  haben,  was  nach 
Aristoxenus  für  kein  daktylisches  Kolon  möglich  ist 

*  '        v  .  ,        ^  1        V  / 

6  6  ß  »; 

Metr.  Pind.  p.  104  bemerkt  Boeekh  noch: 

Superest  igifur  ut  servatis  rationibns  numerisve  immutata  siut  tempora; 
quod  fieri  vidimus  duetu  rhythmico,  quam  Graeci  vocant  dfui-ji^. 

Diese  letzte  Bemerkung  ist  richtig.  Alles  Andere  in  seiner  Sylbenmessung 
ist  falsch. 

Die  Rossbach-Westphal'sche  Metrik  stellte  sich  in  der  ersten  Auflage 
1856.  mach  einem  bald  wieder  aufgegebenen  Versuche,  den  die  erste  Dar- 
stellung der  griechischen  Rhythmik  vom  .1.  1854  bezüglich  der  Ausgleichung 
der  Trochäen  und  Dactylen  gemacht  hatte)  ganz  und  gar  auf  den  Standpunkt 
Apel's,  alle  mit  Trochäen  verbundenen  Daktylen  dreizeitig  messend.  In  der 
zweiten  Auflage  1868  nahm  sie  für  die  daktylo-epitritischen  Metra  einen  dem 
Vossis<hen  ähnlichen  Standpunkt  ein,  indem  sie  den  Trochäus  dieses  Metrtuns 
als  einen  vierzeitigen  mit  dem  Dactylus  gleichgrossen  Versfuss  ansah.  Doch 
vermied  sie  sowohl  die  Vossische  wie  die  Apcl'sche  Sylbenmessung,  indem  sie 

J  3  0  statt  Vossens  J. 

J\    »s   statt  Apel's  !"T1 

0       0       0  0'0  0 

statuirte,  mit  Rücksieht  auf  den  von  Aristoxenus  über  das  Sylbenmass  aus- 
gesprochenen Satz,  dem  weder  Voss,  noch  Apel,  noch  Boeekh  gerecht  gewor- 
den war. 

Wenn  wir  die  Sy Iben  der  gemischten  (und  episynthetiseheu)  Metra  weder 
wie  Voss  noch  wie  Apel  messen  dürfen,  weil  beiderlei  Messung  dem  Satze  des 
Aristoxenus.  dass  die  Länge  stets  das  Doppeitc  der  Kürze  sei, 

mit  Ausnahme  der  a*at;  des  rov>;  fto-foe  und,  wie  aus  den  Xotirungen 

des  Mesomedes  tolgt,  der  Katalexis-Sylbe 


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IL  4.  Takt-Schema. 


119 


widerstreite,  sondern  dass  wir  uns  die  beiden  Ausnahmen  abgerechnet  ganz 
an  die  Sylbenmessung  Hcphacstions  halten  müssen,  kehren  wir  da  nicht  auf 
den  Standpunkt  vor  Voss  und  Apel  zurück?  Leugnen  wir  da  nicht  geradezu 
für  die  meisten  Metra  der  Alten  den  Rhythmus? 

Diese  Frag«*  steht  mit  der  anderen  in  unmittelbarem  Zusammenhange: 
wie  verfährt  der  moderne  Khythmopoios,  wenn  er  solche  Metra  wie  die  [xixtA 
u.  drtaiivOera  zu  melodisiren  hat?  Denn  von  dem  rhythmischen  Gefühle  der  Mo- 
dernen gehen  Voss.  Apel,  Lehre  und  alle  Übrigen  aus,  mit  Ausnahme  des  ein- 
zigen Boeckh  in  seinen  Metra  Pindari. 

Der  moderne  Componist  macht  freilich  den  Trochäen«  und  den  Daktylus 
genau  zu  denselben  Versfüssen,  entweder  alle  zu  vierzeitigen  Daktylen  oder 
alte  zu  dreiseitigen  Trochaeen.  Und  wie  in  der  Vocalmnsik,  ebenso  macht  er 
es  auch  in  der  Instrumentalmusik,  immer  dieselben  Versfüsse  bis  zum  Eintritt 
eines  Taktwechsels  inne  haltend. 

Ausnahmen  von  dieser  Gleichheit  der  auf  einander  folgenden  Versfüsse 
(ungenau  nennt  man  sie  Taktgleichheit  i  sind  selten  genug.  Denn  es  kommt 
vor,  dass  unter  geraden  vielseitigen  Versfüssen  des  Melos  unter  Festhaltung 
des  vierzeitige«  Megethos  auch  dreitbeilig  ungerade  Versfüsse  vorkommen, 
welche  als  Triolen  notirt  werden.  Hiernach  habe  ich  Griech.  Metrik  1868  §  616 
das  Melos  rhythmisirt,  welches  ieh  nach  einer  Melodie  des  Mesomedes  für  Pind. 
ol.  3  benutzt  habe: 


Auch  hier  ist  das  Aristoxenische  Sylbengesetz  gewahrt 

Ganz  vereinzelt  ist  es,  dass  ein  Componist  auch  der  Taktschreibung  nach 
vierzeitige  Daktylen  und  dreizeitige  Trochaeen  zu  einem  Kolon  oder  einer 
Periode  verbindet.  Aber  auch  dies  kommt  vor.  Und  zwar  bei  keinem  ge- 
ringeren als  J.  S.  Bach,  aus  dessen  Rhythmopoeie  ja  mehr  als  aus  allen  übrigen 
für  die  griechische  Metrik  zu  lernen  ist. 

Die  Tetrapodieen  seines  D  •  Dur  Praeludium  im  wnhltemp.  Clav.  2,5  sind 
theils  iambische, 

theils  daktylische 

J.       ^   £   >w        J.  ^  s>  X 

Beide  verbindet  er  zu  einer  IVriode,  welche  wir  nach  antiker  Nomencla- 
tur  ein  episynthetisches  Tetrametron  S.  135  zu  neuneu  haben: 

Durch  eine  den  beiden  Tetrapodiecu  gemeinsame  Taktvorzeichnung 

12 


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120 


Aristoxeuus  rhythmische  Elemente  §  60. 


12 

in  der  das  Vorzeichen  C  sich  auf  die  daktylische,    "  auf  die  troehaeische  (iam- 

o 

bische)  Tetrapodie  bezieht,  zeigt  Bach  an,  dass  die  daktylische  Tetra]xxlie  (C) 
dieselbe  Zeifrlauer  wie  die  iambische  (^)  hat.  Ein  jeder  einigermasscn  er- 
fahrene Ciavierspieler  wird  dies  in  so  ungewöhnlicher  Takteehreibung  gehal- 
tene Praeludium  ohne  Schwierigkeit,  selbst  ohne  viel  zu  reflectiren,  richtig  vor- 
tragen können:  er  wird  die  gleiche  Zeitgrösse  beider  tetrapodisehen  Takte, 
genau  wie  Bach  es  vorschreibt,  das  eine  Mal  in  vier  daktylische,  das  andere 
Mal  in  vier  troehaeische  (iambische)  Versfüsse  so  eintheilen,  dass  auf  den  dak- 
tylischen Versfuss  genau  die  nämliche  Zeitdauer  wie  auf  den  iambischen  kommt. 

Lassen  wir  aus  dem  Bach'schen  Praeludium  alles  Ungriechische  (die  hal- 
birten  Chronoi  protoi),  auch  den  Vortakt  (musikal.  Rhythm.  seit  Bach  §182  ff.) 
zur  Seite  und  machen  wir  die  Bachsche  Periode  durch  Einführung  gemischter 
Zeiten  (oben  §  14.  15)  der  griechischen  conformer,  auch  wenn  das  Bachsche 
Melos  dadurch  verlieren  sollte,  so  lauten  jene  Perioden: 


£2: 


i 


8 


t»  r   ■ — r— q 


0 


.11. 


Wie  diese  beiden  Perioden  geschrieben  sind,  so  halten  sie  vollständig  und 
in  allen  Stücken  das  Aristoxenische  Sylbengesetz  fest.  Obwohl  nicht  jede  Kürze 
der  Kürze,  nicht  jede  Länge  der  Länge  gleich  ist  (die  des  Jambus  nicht  der 

des  Daktylus  gleich  ist,  denn  die  iambische  Kürze  ist  =  £   die  daktylische 

Kürze  o  £  angesetzt),  so  ist  doch  die  Länge  immer  das  Doppelte  der  Kürze, 
mit  Ausnahme  der  katalektischen  Längen;  die  4 -zeitigen  Längen  der  unteren 
Stimme  in  den  daktylischen  Kola  sind  s-ovosioi  fxeUove;  und  als  solche  dikata- 
Iektische  Dipodieen. 

Sn  wie  in  dem  Bachschen  Praeludium  werden  wir  uns  auch  für  das  grie- 
chische Melos  die  rhythmische  Sylbenbeschaffenheit  aller  Metra,  in  denen  3-zei- 
tige  mit  4 -zeitigen  Versfüssen  vereint  sind,  zu  denken  haben.  Denn  es  giebt 
keine  andere  Khythmisirung.  in  welcher  sie  dem  Aristoxenischcn  Sylbengesetze 
entsprechen  würden.  Wir  können  das,  wenn  wir  wollen,  einen  Taktwechsel 
der  Versfüsse  nennen,  aber  es  ist  ein  Taktwechsel,  welcher  nur  den  ).«S«p;  zo- 


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II.  4.  Tukt.-Scheina.  ■  121 


ouw;  der  verschiedenen  Versfüsse  verändert,  doch  ihre  Zeitgrös*e  gleich  sein 
lässt.  Wir  können  uns  an  einen  solchen  Taktwechsel  leicht  gewöhnen,  wie 
denn  das  Nachsehe  Präludium  einen  überaus  fasslichen  Khvthinus  einhält,  mit 
welchem  wie  gesagt  jeder  Clavierspieler  leicht  fertig  wird  und  von  dorn  man 
sich,  wenn  man  ihn  einmal  gehört  hat,  kaum  denken  mag,  dass  er  anders  sein 
könne.  In  dci  Czernysehcn  Ausgabe  des  wohlt.  Clav,  ist  er  freilich  verändert, 
ungefähr  so,  wie  sich  Apel  die  gemischten  Metrader  Alten  denkt.  Aus  der 
Vergieichung  des  Hachschen  Original-Rhythmus  mit  dem  umgeformten  Rhyth- 
mus bei  Oerny  lässt  sieh  sofort  erkennen,  dass  der  letztere  nichts  als  Trivia- 
lität ist.  Man  hat,  um  Apels  und  Voss'  Messungen  gegen  Aristoxenus  aufrecht 
zu  erhaltm,  eingewandt:  „Leugnen  wir  die  für  den  Trochacus  durch  Aristoxe- 
nus in  Abrede  gestellte  Messung  J.J,  so  machen  wir  die  grichische  Tonkunst 
zu  der  allerlangweiligsten,  die  gedacht  werden  kann."  Das  heisse  „den  Rhyth- 
mus in  spanische  Stiefel  einschnüren.'4  Unseren  Chorsängern  und  Dirigenten 
mögen  die  Aristoxenischen  v/i^a-a  fremder  sein  als  die  modernen  und  im 
vorliegenden  Falle  der  £y9|x£;  xotiA;  des  Bachscheu  Originales,  aber  langweili- 
ger ist  die  Czeroysehe  Umformung,  eine  entschiedene  Verballhornisiruug  des 
originellen  Bachsehen  Rhythmus.  Mehr  als  moderne  Gesangchöre  sind  Pindars 
Sänger  daran  gewöhnt,  „Acopuu  'fcu^dv  £vap|xo?ai  zeolX«»44.  Für  diese  konnten 
die  „Acüpia  irioi/.a"  nicht  spanische  Stiefel  sein. 

Es  wird  von  Interesse  sein,  die  bei  Bach  wiedergefundene  Aristoxcnische 
Sylbenmessung  auch  nach  den  sonstigen  Ueberlieferungen  der  Aristoxenischen 
Rhythmik  zu  controlliren. 

Die  Aristoxcnische  Rhythmik  behandelte  die  Vereinigung  daktylischer 
und  trochaeischer  Versfüsse  in  dem  Abschnitte  von  den  -ooixd  c/r^ata.  Die 
Ausführung  desselben  fehlt  uns.  Erhalten  ist  uns  die  Definition:  S/Vati  oe 
fttatpspojot  ol  rAoa  äXX^).«Jv,  8xav  -ri  a>rd  fxfpT)  toü  vjWj  [le^iftou;  ja-J)  cuaa'jro; 
(oyrjfiaTtaÖ^)  vgl.  oben  §  28.  Das  Bachsche  Praeludium  muss  uns  die  fehlende 
Ausführung  der  Definition  ersetzen.  Dasselbe  Zeit  -  Megethos  zerlegt  sich  in 
dem  daktylischen  C-Kolon  in  die  gleiche  Vierzahl  gleich  grosser  uip^  (Vers- 

12 

fiisse)  wie  in  dem  iambischen     -Kolou;  aber  ein  jedes  jxspo;  ist  in  dem  C-Takte 

12 

auf  eine  andere  Weise  als  in  dem  gleich  grossen      -Takte  geformt,  dort  ist 

8 

dasselbe  ein  Daktylus,  hier  ein  Jambus. 

Femer  verweist  die  Aristoxenische  Rhythmik  auf  den  die  nootx'x  o/i^i-* 
darstellenden  Abschnitt  in  der  Lehre  vom  /p4vc;  r.pAto;  §  12.  „°fh  U  toottom 
Xfyiexoi  toDtov  t.  ata&^oi;,  cpavepöv  eoroi  i-i  tä>v  zootxtbv  ay  T]|xdTa>v".  Was  die 
syTjtxata  zoStxa  mit  dem  yp'ivo«  rpä»to<  zu  thun  haben,  ergiebt  sich  in  Ermange- 
lung der  Aristoxenischen  Ausführung  aas  unserem  Bachschen  Beispiele,  wo 
der  Chronos  protos  in  dem  iambischen  Kolon  einen  anderen  Zeitwerth  als  in 

dem  daktylischen  hat.   Dort  ist  der  yp<Svo;  zpörro;  von  Bach  als  ^ ,  hier  als 


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122  •         Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  61. 

£  angesetzt,  ohne  das«  natürlich  der  iambische  xp"Wo;  ttoAto;  das  Doppelte  des 
daktylischen  ist.  Wie  ihn  jedesmal  unsere  ata&TjOi;  zu  nehmen  hat,  ist  nach 
Bachs  Beispiele  fasslich  genug. 

Wir  besitzen  nun  noch  ein  Aristoxenisches  Fragment  über  die  Schemata 
podika  in  seiner  dritten  Harmonik  §  9.  Mit  den  Worten  „rcdXiv  i\  toi;  rapl 
|>-j»fioj;  rcoUd  xoiaüd'  ipöfxcv  fiv<5|Aeva"  verweist  er  geradezu  auf  einen  uns  nicht 
mehr  erhaltenen  Abschnitt  seiner  rhythmischen  Stoicheia: 

§  61.  Man  muss  wissen,  dass  es  die  Wissenschaft  der  Musik 
zugleich  mit  Constantem  und  Variabelem  zu  thun  hat  .  .  .  Auch  in 
der  Rhythmik  sehen  wir  Vieles  von  dieser  Art.  So  ist  das  Ver- 
hältniss,  nach  welchem  die  Rhythmengeschlechter  verschieden  sind, 
ein  constantes,  während  die  Taktgrössen  in  Folge  des  Agoge  va- 
riabel sind.  Und  während  die  Megethe  constant  sind,  sind  die 
Takte  variabel:  dasselbe  Megethos  z.  B.  das  6-zeitige  bildet  einen 
(ionischen)  Einzeltakt  und  eine  (trochaeische)  Dipodie. 

Offenbar  beziehen  sich  aucli  die  Unterschiede  der  Diairesen 
und  der  Schemata  auf  ein  constantes  Megethos.  Allgemein  ge- 
sprochen: Die  Rhythmopoeie  erfordert  viele  und  mannigfache  Be- 
wegungen, die  Takte  dagegen,  mit  den  denen  wir  die  Rhythmen 
bezeichnen,  einfache  und  immer  die  nämlichen  Bewegungen. 

Die  Scldussworte  dieses  Satzes  waren  schon  §  59  Gegenstand  der  Be- 
sprechung. 

Was  in  diesem  Paragraphen  (in  der  Stelle  der  dritten  Harmonik )  vorangeht, 
davon  bezieht  sich  der  letzte  Satz  auf  die  xaxd  Siaipcatv  otatpopd:  xal  xwv  f«- 
Yeftwv  jxev<5vrajv  dviuoiot  Y'-Yvovrai  ol  tt*5oe;,  xal  xo  aoxo  (ae^eSo; . . .  ,  übereinstimmend 
mit  der  von  Aristoxenus  gegebenen  Definition  dieser  oieupopd  §  27  (S.  108).  Der 
vorausgehende  erste  Satz  muss  sich  demnach  auf  die  x«txd  a/jp«  Sta^opä  be- 
ziehen: xai  jjlevovto;  xoü  Mfoy  xaft  ßv  Stcuptstai  xd  fivr, ,  xd  pe-ji^  xivttxat  xdiv 
7ro5dbv,  3id  x^v  rfti  d^a^f,;  oivautv. 

Auch  diese  Worte  werden  durch  das  Beispiel  Bachs  vollständig  erläutert: 
Alle  iambischeu  ztäti  behalten  dort  ihren  zootxo;  (afxßixö;,  alle  dakty- 

lischen ihren  Xvp«  tt^ixq;  «axxu).tx<; ;  aber  während  der  nofcntd;  der  t*v7j 
^uftfjuxd  constant  bleibt,  ist  das  Zeit-Megethos  variabel.  Denn  der  Zeitumfang 
des  (4-zeitigen)  daktylischen  ist  bei  Bach  dem  Zeitumfange  des  (3-zeitigen) 
iambischeu  Versfusses  als  gleich  angewiesen.  Und  zwar  geschieht  diese 
Oleichstellung  der  Zeitgrösse  nach  Aristoxenus,  wie  wir  hier  er- 
fahren, durch  die  dy«^  d.  i.  das  Tempo. 

Von  der  dy«?^  spricht  Aristoxenus  in  seinem  Aufsatze  :«pt  xoO  rpAxou 
yp6*>'j  (vgl.  vermischte  Tischgespräche).  Kr  sagt:  "Üxt  ffefaep  tlolv  exdoxou  x&v 


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II.  4.  Takt-Schema. 


123 


bvftp&v  d^TOYott  dretpoi,  dneipoi  eWtai  xal  ol  irpebxot  y  p<Svoi.  „Wenn  da»  Tempo  eines 
jeden  der  Rhythmen  unbestimmt  ist,  so  werden  auch  die  Chronoi  protoi  desselben 
unbestimmt  sein".  To  Vavrrö  oe  oufxßVjaeToi  xal  irepl  xo-jc  xpio-/)fAOv$  (die  aus  drei 
Chronoi  protoi  bestehenden  iambischen  Versfusse)  xal  repl  xoy;  xfixpao^AOuc 
(die  aus  4  Chronoi  protoi  bestehenden  daktylischen).  .  .  .  Ka&ÖXoy  oe  votjx£ov 
o;  av  X^cpfriQ  xdrv  &'j&fj.div  5fA.oiov  eItcciv  4  xpoyalo;  iirl  rfjaof  xivos  dfmyfiz  xt&elc 
drtipot  exelvcov  rp<6xmv  sva  xiva  Xfyi>exat  ei;  i'jxov.  „Wenn  man  z.  B.  den  Tro- 
t-haeus  in  einem  bestimmten  Tempo  nimmt,  so  wird  man  auch  einen  der  an 
flieh  unbestimmten  Chronoi  protoi  in  einem  bestimmten  Zeitwerthe  nehmen." 
So  setzt  auch  Bach  in  jenem  Praeludium  den  Chronos  protos  des  Trochaeus 

12 

(Jambus)  als  £  an  (im  —  -  Takte) ,  während  er  für  den  Chronos  protos  des 
Daktylus       (im  C-Takte)  angesetzt  hat. 

Es  möge  hier  auch  noch  seinen  Platz  finden,  was  Aristidcs  in  seiner 
Rhythmik  (wohl  auf  Grundlage  des  Aristoxenus)  über  die  ifm^  berichtet: 

'A-fiuy^  oe  toxi  j>vd|Aix-?j  ypovojv  xdyo;  tJ  ßpaouxtj«  otov  oxav  xu>v  Xö-ytuv  otw^o- 
(jLEvoav  ou;  ol  8£s£t;  -oioüvxot  zpo;  xd;  dpasi;,  ota^optu;  exdaxou  ypövou  xd  fAef£ftT] 
TTpo^Epa>(xeda.    Aristid.  p.  42  Meib.  und  weiterhin: 

McxaßoX^  hl  £axi  p^jftjxtxVj  d>.Xola>3i;  ^  i-^m-jf^  Unter  den  einzelnen 

xf.orot  xf,;  (ie-ro[^o).fJ;  ist  dann  von  Aristides  an  erster  Stelle  die  nexaßoX^  xax' 
dymi+fi  genannt .  an  zweiter  erst  die  fiexa^X-f)  xaxd  Xoyov  ttooixov.  Die  Reihen- 
folge  wäre  wohl  »He  umgekehrte,  würde  nicht  die  ficta^oXf)  xax'  dfmii^  die  häu- 
figere sein. 

Hiermit  müssen  wir  sagen: 

Dem  zeitlichen  Megethos  nach  werden  nach  Aristoxenus  (und  Aristides) 
die  daktylischen  und  trochaeisehen  Versfusse  gleich  grosser  durch  ihr  Schema 
verschiedener  Kola  einander  gleich  gestellt  durch  die  fieta-io).?i  d^tu^f,;  d.  i. 
durch  Veränderung  des  Tempos,  in  erster  Instanz  durch  Veränderung  der 
dein  Chronos  protos  anzuweisenden  xayjxV);  oder  ßpaoyxT,;. 

Boeckh  war  auf  dein  richtigen  Wege,  als  er  Apels  modernisirende  Mes- 
sung, die  er  in  seiner  ersten  Arbeit  auf  Pindar  angewandt  hatte,  späterhin 
ganz  und  gar  verwarf  und  bloss  aus  dem  rhythmischen  Berichte  der  Alten 
Aufschluß»  erhalten  zu  können  glaubte:  „Superest  igitur  ut  servatis  rationibus 
numerisve  immutata  sint  tempora,  quod  fieri  vidimus  duetu  rhythmico,  quam 
Graeci  vocant  ifm-f^s."  Metr.  Piml.  p.  104.  Doch  gebrach  es  ihm  bis  zu 
Ende  seiner  metrischen  Arbeiten  au  einem  sorgfältigen  Eingehen  auf  Aristo- 
xenus, dessen  Satz  über  die  Sylbenzeiten  ihm  bei  seiner  Pindar-Arbeit  nicht 
kümmerte.  Auch  konnte  er  sich  von  Apels  Einfiuss  nicht  ganz  frei  machen, 
denn  dessen  kyklischer  Daktylus  spielt  bei  Boeckh's  späterer  Messung  noch 


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124 


Aristoxenus  rhythmisch«  Elemente  §  fil. 


immer  «in«  grosse  Roll«.  Es  kam  hinzu,  dass  Boeckh  in  Aristoxenus  Inter- 
pretation bezüglich  des  yopeioc  0X070;  einen  niemals  von  ihm  erkannten  Irr- 
thum sich  hatte  zu  Schulden  kommen  lassen.  Daher  «lenn  zur  Grössenbestim- 
mung  der  indischen  Sylben  jene  wunderlichen  Bruchzahlen  mit  dem  Zahler 
7  und  5,  „cui  rite  exsequendae  ipse  Apollo  impar  sit;<  G.  Hermann  „de  epi- 
tritis  doriis  dissertatio  1H24  opusc.  II.  105,  de  metrorum  quorundain  mensura 
rhythmica  dissertatio  1815  II,  83.  Aber  alle  Anerkennung  dem  Ingenium 
Boeckh's,  dass  er  die  Gleichstellung  der  Versfüsse  durch  dqaifT],  wenn  auch 
gewissermaßen  nur  als  Axiom  aussprach! 


Obwohl  A.  Boeckh  die  Erklärung  giebt,  dass  nach  der  Aussage  des  da- 
mals lebenden  Berliner  Musiker  Grönland  ein  musikalischer  Vortrag  die  von  ihm 
(Boeckh)  angegebenen  Sylben messuugen  ausführen  könne  (Pind.  II  praefat), 
so  war  doch  das  Verfahren  der  antiken  rje^öve;  (Chordirigenten)  ein  viel, 
viel  einfacheres,  als  es  nach  Boeckh's  Zahleu  nothwendig  gewesen  seiu  müsste. 
Lassen  wir  den  antiken  fjcpcuv  die  S.  120  angegebenen  Bach'schen  Perioden 
naeh  Aristoxenus  Vorschrift  dirigiren.  Er  wird  jede  der  Bach'scheu  Tetra- 
podieen  als  einen  tcoj;  ojvöero;  fassen,  er  wird  einem  jeden  tio-j;  4  ypovot 
zoöixoi  geben  in  folgender  Reihenfolge: 

avtu  yp.  ,  xotoj  yp.  ,  a-vtu  yp.  ,  y.äxw  yp. 
a'poi;     ,  t^ai3i;        ,  apoi;      ,  ^dat;. 

Auf  den  vierten  Chronos  d.  i.  die  zweite  jidot;  kommt  der  stärkste  Haupt- 
ictus,  auf  den  zweiten  Chronos  (d.  i.  die  erste  ^äot;)  kommt  der  weniger  starke 
Hauptictus,  auf  die  2  übrigen  Chronoi,  niimlich  den  ersten  (die  erste  ipot;) 
und  den  dritten  (die  zweite  apoi;)  kommen  Nebenictus.  Jeder  ypoVi;  ttooixö; 
ist  ein  Versfuss,  in  «1er  einen  Tetra])odie  ein  3-zeitiger  trochaeischer  (jambischer), 
in  der  anderen  ein  4-zeitig«r  daktylischer  Versfuss.  Der  rjepiüjv  hat  dem 
Chore  die  4  ypoVn  7:001x0t  je  nach  ihrer  verschiedenen  Dynamik  als  y  po'vot  mit 
Hauptictus  oder  mit  Nebenictus  zu  markiren.  Wie  er  das  gethan,  ist  uns  nicht 
speciell  überliefert.  Nehmen  wir  deshalb  an,  er  habe  das  Markiren  wie  der 
modern«  Dirig«nt  ausgeführt,  nämlich  durch  verschiedenartige  Bewegungen  des 
ganzen  Armes:  von  rechts  nach  links,  von  unten  nach  oben,  von  links  nach 
rechts,  von  oben  nach  unten;  weiteres  Ausholen  des  Annes  bezeichnet«  den 
Hauptictus. 

Ausser  den  auf  die  4  ypovot  7:001x0t  kommenden  Hauptbewegtingen  hatte 
er  nach  Aristoxenus  auch  noch  die  ypovot  puttfAozoua;  töiot  zur  Bestimmung  des 
einem  jeden  der  Versfüsse  zukommenden  Rhythmus  anzugeben.  Der  moderne 
Dirigent  führt  dies  durch  Nebenbewegungen  des  Unterarmes  aus,  die  sich 
jedesmal  an  die  Hauptbewegungen  des  Oberarmes  ansdiliessen.  Nach  Aristo- 
xenus waren  diese  Nebenbewegungen  so  nothwendig  wie  die  Hauptbewegungen. 
Ihre  Zahl  ist  das  Doppelte  oder  auch  das  Vielfache  (also  mindestens  das  Drei- 


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II.  4.  Takt-Schema. 


125 


fache,  vielleicht  auch  das  Vierfache)  von  der  Zahl  der  Hauptbewegungen. 
Es  muss  also  vorgekommen  »ein,  dass  eventuell  auf  jeden  Chrouos  protoa  eine 
Nebeubewegung  des  Dirigenten  kam.  „Tempora  animo  metiuntur  et  pedum  et 
digitorum  ictu  intervalla  signant  quibusdam  notis  at(|ue  acstimant,  quot  breves 
<  =  rptuTotic  y pövou;)  illud  spatium  habeat  .  .  .  nam  «T^ctov  tempus  est  uniun." 
t^uintil.  iust.  9,4,51.  Also  angenommen,  dass  der  einzelne  Chrouos  protos  als 
Chrono»  Rhythmopoiias  idioa  zu  markiren  war,  erhielt  der  in  einein  trochaei- 
schen  .Kusse  bestehende  Chronos  pudikos  tlroi,  der  in  einem  daktylischen  be- 
stehende Chrouos  podikos  vier  Chronoi  Uhythmopoiias  idioi. 

Die  drei  Chronoi  protoi  des  in  einem  Trochaeua  bestehenden  Chronos 
podikos  taktirte  der  Chor-Hegemon  in  einer  langsameren  Agoge,   die  vier 
Chronoi  protoi  der  daktylischen  in  einer  rascheren  Agoge,  wobei  er  nach  seinem 
rhytlunischen  Gefühle  (nach  seiner  viz\htiiz)  abmass,  dass  die  drei  chronoi  protoi 
d<-s  einen  Chrono«  podikos  zusammen  genau  dasselbe  Zeit-Megethos  erhielten, 
wi»-  die  vier  Chronoi  protoi  des  anderen.  Der  modferne  Dirigent  hält  bloss  bei 
ein« -m  langsamen  Tempo  die  Nebenbewegungen  (yp«5voi  pyftfAOTtoita;  Üotoi)  anzu- 
geben für  uöthig.    Der  antike  Dirigent  hatte,  wie  <«s  scheint,  viel  häufiger  als 
der  moderne  auch  die  y_p«5voi  pj&pioTOtla;  auzugebi-n,  denn  Ariatoxenus  sagt  : 
zi;  ',i  h  otupoSuevo;  cl;  izleito  dpiÖf*ov  xal  ei;  ikdrem  Siaiperrat  Psell.  frg.  10, 
was  am  einfachsten  und  natürlichsten  zu  interpretiren  ist:    Ein  jeder  Takt, 
welcher  taktirt  wird,  wird  in  eine  grössere  Zahl  (von  ypovoi  f&ioi)  und  in  eine 
kleinere  Zahl  (von  yo»tai  ttoSixoi)  zerlegt.  Denn  die  jxi/jr,,  welche  der  Tjeutbv 
am  häufigsten  zu  taktiren  hatte  und  die  des  genauen  Taktirens  nicht  entbehren 
konnten,  waren  die;  in  episynthetischen  und  gemischten  Metren  gehaltenen:  die 
Pindarischen  Meie  g«'hörten  ohne  Ausnahme  in  diese  Kategorie  und  die  meisten 
Cantica  der  Tragoedie  nicht  minder.    Hier  war  für  den  Tjejjubv  das  ötaipetollat 
r.'.hi  in  yp«5vot  ttooixo'i  und  in  yp6>«t  pjH[Aoroila;  gleich  unerlässlich ,  einerlei  ob 
das  Tempo  ein  langsameres  oder  ein  rascheres  war. 

Die  aus  Bach  herbeigezogenen  Periodeu  würden  naeh  der  Terminologie 
Hephaestions  nicht  zu  den  fjirpa  fiotti,  sondern  zu  den  i-tsuvöexot  gehören,  da 
ein  jedes  Kolon  entweder  ein  iambisebes  oder  ein  daktylisches  xiftapöv  ist  und 
die  Ungleichheit  der  Schemas  nur  darin  besteht,  dass  iambisebes  und  dakty- 
lisches Kolon  mit  einander  zu  einem  jx^Tpov  reTpapetpov  vereint  sind.  Aber 
auch  die  {jirpa  «jux-ra  können  bezüglich  der  Sylbenbeschatteuheit  nicht  anders 
als  die  i~t<z'j^t-n  gemessen  werden ,  denn  es  lässt  sich  keine  andere  Messung 
denken,  welche  nicht  dem  Aristoxenischcn  Sylbengesetze  widerspräche.  Eälsch- 
lich  vermutheteu  wir  früher,  dass  sich  beide  Arten  von  Metra,  die  epiaynthe- 
tischi  n  und  die  gemischten,  auch  durch  Verschiedenheit  des  Rhythmus  unter- 
scheiden müssten.  Ein  Unterschied  ist  freilich  vorhanden,  aber  er  besteht  in 
der  Verschiedenheit  der  Accentuation,  wel«  he  bei  den  episynthetischen  Metra 
vorwiegend  eine  hesychastisehe ,  bei  den  gemischteu  eine  diastaltische  ist.  Die 
Sylbendauer  ist  dieselbe:  jeder  trochaeische  Versfuss  bleibt  ein  trochaeischer, 
jeder  daktylische  ein  daktylischer,  bloss  der  Zeitdauer  nach  werden  die  ver- 


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126 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente  §  61. 


Bchiedenen  Versrusse  durch  die  p.tT*$o)A\  d^m^i  einander  gleichgestellt.  Die 
tetrapodischeu  Compositioncn  kann  man  durch  das  Vorzeichen  eines  puöfto;  *oi*>; 

ihrem  Rhythmus  nach  aufs  Genaueste  bestimmen.  Oder  auch  so,  dass  man 
die  Tetrapodie  in  zwei  dipodische  r.tätz  zerfallt,  «leren  jedem  man  das  dipo- 
dischc  Vorzeichen  des  jbttpo;  xoivö; 

giebt.  Tripodische  Compositioncn  in  den  gemischten  Metren  zu  bezeichnen, 
wird  man  wenig  Gelegenheit  finden.  Wo  es  beim  Taktwechsel  vorkommen 
sollte,  wird  alsdann  das  Vorzeichen  des  pjttp.os  xotvS;  folgendes  sein 

3  9 

4  8" 

Indem  man  sich  eines  dieser  den  p-j%o;  xotvo;  angebenden  Taktvorzeichen 
zu  einem  metrischen  Schema,  welches  Mischungen  dreizeitiger  und  vierzeitiger 
Verefüsse  tuthält,  hinzudenkt,  reicht  das  blosse  Schema  besser  als  alle  mo- 
dernen Notenzeichen  zur  genauen  Bestimmung  des  Rhythmus  aus.  Mail  braucht 
höchstens  nur  noch  die  Accente  der  einzelnen  Verstösse  anzugeben.  Dann 
versteht  sich  alles  übrige  von  selbst,  auch  die  mehr  als  zweizeitige  Länge,  die 
ja  lediglich  der  leicht  erkennbaren  Katalexis  angehört.  Es  dürfte  die  Zeit  ge- 
kommen sein,  um  einzusehen,  dass  die  durch  Voss  und  Apel  beliebt  gewordene 
Umschreibung  der  antiken  Versschemata  in  moderne  Notenwerthe  eine  blosse 
Spielerei  ist,  ein  Dilettantiren,  das  die  wahre  wissenschaftliche  Einsicht  in  den 
Sachverhalt,  wie  er  nun  einmal  ist,  nur  erschwert,  aber  nicht  im  Mindesten 
erleichtert. 

Als  Beispiel  eines  gemischten  Metrons  diene  Find.  Ol.  1  atroph. 

1.  'AfiiOTV»  [i.ev  uöujp,  ö  6e  |  /pvaö;  aittou.evov  irüp, 

2.  äte  oia-p^rti  [  vvätI  pefavoßoe  Ifyy*  7t/o6xou, 

3.  et  o'acH)  i  fapiev  |  eVjtai  tplXov  Tjtop,  |  u.7]*.eV  dXloi»  sv.«Snei 

4.  dXXo  Ua/.zv<iT£po^  h         |  pa  (poewöv  aarpov  dp^-  |  ja<x;  oV  aiöepoi, 

5.  jaTjO     )).-ju.r{a;  d^va  |  ^ipxepov  auoctoo^tv, 

6.  <58«n  h  7toX>ia-o;  uu-vo;  äficpißotXXcTot, 

7.  co^öjv  pt^Tieoat  xe/.aoetv 

8.  Kpovoy  -aio  £;  defvedv  ixeuiv/j;, 

9.  fidxatpav  fl£piovo;  ea-dav. 

3.  j.^  j.  ^  j.^  ±        I  i^i  /  l^^x^x^z 

4.  ±^x^-l^^j.^>  |  z^x^x^"wz  I  -i  ^  z  ^  x 

6.  ^  Z  ±^  s 


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II.  4.  Takt  Schema. 


127 


7.  ^-i^z^^vi 

8.  ^  —  ±\jj.u±^\j^j. 

9.  ^\j\^j_\jjm^>j_ 

Ein  aus  3  Trochaeen  bestehendes  Kolon  heisst  nach  der  Terminologie 
Hephacstions  (s.  unten  S.  131)  ein  brarhykatalektisches  Pimetron,  d.  i.  ein 
Kolon  aus  2  Dipodieen,  in  welchem  der  letzte  Versfuss  nicht  durch  Sylbcn 
auagedrückt  ist 

—  w  —  _ 

Dipodie.  Dipodie. 

Wir  müssen  auch  Kolon  2  a  und  4  c  £xt  oiarcpliret  und  -pa;  HC  öU8£po; 
unter  diese  Kategorie  zählen,  d.  h.  in  ihnen  nicht  tripodische  Kola,  sondern 
tetrapodische  Kola,  am  Ende  mit  einer  Pause  erkennen.  Alle  übrigen  Kola 
der  Strophe  sind  klar  genug  und  bedürfen  kaum  einer  anderen  Erläuterung, 
als  dass  der  Anfangsfuss  der  drei  letzten  Kola: 

Kprfvou 
(iaxoi-, 

wie  der  Anfangsversfuss  in  dem  Musikbeispiele  des  Anonymus  §  104  oben 
S.  44  zu  fassen  ist,  in  gleicher  Weise  auch  der  Anfangsfuss  des  Kola  la: 

"Apt-. 


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128  Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


Wie  im  Wasser  die  reinste  Kraft,  wie  von  köstlichem  Kleinod 


nichts  so  begehrt  wie  Gold,       welches  das  nächtliche  Dunkel  erleuchtet : 


An  dem  weiten  Himmels  ■  zel  -  te  glänzt  so  mild  kein  an-de-rer  Stern 


wie  die   Sonne  strahlt, 


r — " 

r 

• 

e 

fr  -ß 

^-r  t> — r—  < 

r 

i 

uyj- — i 

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II.  4.  Takt-Schema. 


129 


und  kein  andrer  Sieg   so   herrlich  glänzt  wie  der  Sieg  Olym  -  pi  -  aa : 


J 


irr 
j 


— i — • — •  •  •—(—•-' 


von    dannen  der  viel  -  er  -  sehnte    Hymnus  auf  sich  schwingt 


4^  j  rn 

=n  x  reif 

—  i  ■ 


i  ;  in  i 


durch  der 


Wei  -  sen  Kunst,  wenn  mit  Ge    -  sang 


f  jag 


-J-J— f 


55E 


Kro-nos   Sohn  zu    prei  -  sen    wir   dem    gastlichen  Heerd 


X 


r 

i 


5: 


I      N     i  3 

• — • — • — • — — \— 


des  glück 


sc  -  Ii  -  gen  Freundes     Hi  •  e  •  ro  nahn. 
J  *  J_«i— 4- 


I 


5 


I 


Ariit 


Melik  u.  Rhythmik. 


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130 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


Die  ungemischten,  gemischten  und  episynthetischen  Metra 

nach  Hephaestion. 

Nach  Hephaestion  besteht  für  die  VersfÜsse  ein  vierfaches  Genos,  von 
denen  ein  jedes  mindestens  ein  zweifaches  Eidos  hat.  Die  vier  Gene  unter- 
scheiden sich  durch  die  Anzahl  der  Chronoi  protoi  des  Versfusses,  die  Eide 
(Unterarten)  durch  dasjenige,  was  Aristoxenus  „Antithesis"  nennt.  Ais  oberste 
Kategorie  erhebt  sich  über  den  vier  Gene  noch  diejenige  der  zweifachen  Anti- 
patheia,  genannt  die  erste  und  die  zweite  Antipatheia  (primäre  und  secundäre 
VersfÜsse). 

A.  Primäre  VersfÜsse,  V.  der  ersten  Antipatheia. 

I.  Genos  der  3  zeitigen  VersfÜsse: 

1.  Erstes  Eidos:  3 zeitige  Trochaeen, 

2.  Zweites  Eidos:  3 zeitige  Jamben. 

II.  Genos  der  4zeitigen  VersfÜsse: 

1.  Erstes  Eidos:  4 zeitige  Daktylen, 

2.  Zweites  Eidos:  4 zeitige  Anapaeste. 

B.  Secundäre  VersfÜsse,  V.  der  zweiten  Antipatheia. 

III.  Genos  der  özeitigen  VersfÜsse: 

Paeone,  Bakchien. 

IV.  Genos  der  Özeitigen  VersfÜsse: 

Jonici  a  majore,  Jonici  a  minore,  Choriamben.  Heliodor  und  nach 
ihm  auch  H.  statuirt  noch  ein  Eidos  der  Antispaste  s.  u. 

A.  Metra  der  ersten  Antipatheia. 

Ungemischte  Synartetika. 

Ein  Metron,  dessen  VersfÜsse  ein  und  demselben  Eidos  angehören,  heilst 
ein  Metron  monoeides,  d.  i.  Metron  desselben  Eidos,  gleichförmiges  Metron, 
auch  Metron  katharon  (d.  i.  ungemischt). 

Rücksichtlieh  seines  Auslautes  ist  ein  Metron: 

akatalektisch,  wenn  das  Megethos  eines  jeden  Versfusses  vollständig 
durch  die  Lexis  (Sylben)  ausgedrückt  ist,  z.  B.  das  trochaeische  Dimetron 

_w  -v-u  | 

Koci/,  T.it  07,07  dvo/.^o;, 
katalektisch,  wenn  ein  Theil  des  auslautenden  Versfusses  fehlt 

_  W  _  sJ      _  V-/  _  I 

'  •         v  J 


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H.  4.  Takt-Schema.  131 
brachykatalektiseh,  wenn  dem  Auslaute  ein  ganzer  Versfuss  fehlt 

—  \J  —  w     —  ö  | 

>  /      v  > 

Bei  den  unvollständigen  Metren  findet  entweder  eine  Pause  statt  (dies 
überliefert  Arisüdes  p.  40  M.),  oder  es  tritt  wie  in  den  Hymnen  des  Mesomedes  S.  19 
für  die  letzten  Sylbcu  eine  die  Zweizeitigkeit  überschreitende  Verlängerung  ein. 

Ungemischte  Asynarteta. 

Eine  Katalexis  kann  aber  nicht  bloss  im  Auslaute,  sondern  auch  im  In- 
laute des  Metrons  stattfinden.  Ein  solches  Metron  wird  von  Hephaestion  ein 
asynartetisches  genannt,  und  zwar,  wenn  die  Füsse  desselben  demselben 
Eidos  angehören,  asynartetisches  monoeides  (kathar6n).  Ist  ein  solches 
Metron  im  Außlaute  katalektisch ,  so  hat  es  zwei  Katalexen,  eine  inlautende 
uud  eine  auslautende  und  heisst  daher  dikatalektisch  Heph.  16,14.  15  z.B. 
das  elegische  Metron,  durch  doppelte  Katalexis  aus  dem  heroischen  entwickelt: 

Nt|t'oec  oi  Mo'j<tqc  |  o6x  d^vovro,  ©IXot. 
das  dikatalektische  Tetrametron  trochaikon  (jedes  Kolon  brachykatalektiseh): 

V  '       v  /         v  /       v  / 

Aeüpo  Srpxs  Motoai  |  yp6ocov  Xurotaat. 
das  dikatalektische  Tetrametron  iambikon  (jedes  Kolon  katalektisch): 

—  J.  ^  1     ^    ±    1   \  —  1  ^  1     ^    ±    JE.  | 

Findet  dagegen  eine  inlautende  Katalexis  in  einem  akatalektisch  aus- 
lautendem  Metron  statt,  so  heisst  es  „prokatalektisch"  (welches  vorn,  aber 
nicht  hinten  eine  Katalexis  hat),  z.  B.  das  prokatalektische  Tetrametron 
trochaikon: 

/  w  _i  ±  x  I   i^i1-1     J.  ^  J.  ^  I 

£ori  (xot  xaXd  -die  |  ypuo£oiaiv  dv#£|xotaiv 

Die  inlautende  Katalexis  kann  auch  so  fallen,  dass  das  erste  Kolon  eines 
asynartetischen  Metron  einem  anderen  Genos  als  das  zweite  angehört;  dann 
kann  man  dasselbe  nicht  mehr  monoeides  nennen,  sondern  dürfte  höchstens 
monogenes  sagen  (dasselbe  Genos,  aber  verschiedene  Eide).  Aber  der  Terminus 
„asynartetisches  monogenes*'  ist  bei  den  Alten  ungebräuchlich.  Man  nennt 
ein  Metrum  der  in  Rede  stehenden  Bildung  ein  asynartetisches  antipath£s 
der  ersten  Antipatheia  z.  B.  das  iambische  Dimetron  mit  einer  inlauten- 
den Katalexis: 

-ivi-i^i  |  i  w^ujr  vi  Heph.  15,  9, 
A^uT^po;  drfvfj;  %a\  K<5pfj;  |  t^v  ravtjY'Jpiv  oißrov  | 

9' 


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UJ2 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


^1^1^  j.^s  |  1^1^11  Heph.  15,  10, 
'E«}k>;  tjviy1  i-wJTa;  l  i$£Xifi.'iev  doTTjp. 

Rückblick:  Besteht  da«  Kolon  aus  Versfüssen  desselben  Eidos,  so  heisst 
es  katharon  oder  monocides,  und  zwar  synartetikon  (der  Name  nur  bei  La- 
teinern „concxum"),  wenn  es  keine  inlautende  Katalexis  hat 

—  \J  —  V>  _  ^  _  O 


asynarteton  monoeides,  wenn  es  bei  Versfüssen  desselben  Genos  eine 
inlautende  Katalexis  hat 

—  \y  —     _  ^/  — 

_        W  _      —  ^  W  —  , 

asynarteton  antipathes  erster  Antipatheia,  wenn  durch  die  inlautende 
Katalexis  aus  dem  Kolon  monoeides  verschiedene  Versfüsse  desselben  Genos 
entstanden  sind: 

\j  —    —       _  ^  — 

v_/v-/_s>/W—    —  ^  v-/  — 

Gemischte  Metra  synartetika  der  ersten  Antipatheia. 

Hat  das  Kolon  Versfüsse  verschiedener  Gene  zu  seinen  Bestandteilen, 
so  nennt  man  das  eine  Mischung  und  das  Kolon  selber  ein  gemischtes.  Ins- 
besondere sind  es  die  Versfüsse  der  ersten  Antipatheia.  die  3 zeitigen  und  die 
4  zeitigen,  welche  eine  Mischimg  mit  einander  eingehen.  Die  Art  der  Mischung 
ist  hier  eine  zweifache: 

1.  Das  Kolon  hat  mehrere  auf  einander  folgende  4  zeitige  Füsse:  mehrere 
Daktylen  oder  mehrere  Anapaeste.  Dann  hoisst  es  gemischtes  Daktylikon 
oder  gemischtes  Anapaistikon,  beide  mit  Gesammtuamen  Logaoidikon: 

s^^jl^^i^s^  logaoidisches  Daktylikon, 
^•^s^^i^x^j.  logaoidisches  Anapaistikon. 

Geht  aber  der  dreizeitige  Fuss  mehreren  vierzeitigen  voraus,  so  wird  für  das 
Kolon  von  Hcphaestion  der  Name  aeolischen  Daktylikon  gebraucht 

i  ^  ^  i  ^  w/  x  a«  olisches  Daktylikon; 

analog  kommt  bei  Tricha  p.  279  W .  auch  der  Name  aeolisches  Anapaistikon  vor, 
während  Aristides  p.  51  Meib.  beide  Arten  der  Mischung,  die  mit  anlautendem 
Trochaeus  (bei  folgenden  Daktylen)  und  mit  anlautendem  Jambus  (bei  folgen- 
den Anapaesten)  logaoidisches  Daktylikon  und  logaoidisches  Anapaistikon  zu 
nennen  scheint. 

2.  Soweit  ist  die  Theorie  der  Metriker  einfach  genug.  Wenn  aber  durch 
die  Mischung  nur  Ein  4 zeitiger  Fuss  mit  mehreren  3 zeitigen  vereint  ist,  so 


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II.  4.  Takt-Schema. 


133 


wird  die  Theorie,  wenigste!»  bei  Hephaestion,  complicirter.   In  den  aus  dem 
älteren  Systeme  Varros  und  Caesius  Bassus  fliessenden  Darstellungen  begegnen  • 
wir  zwar  auch  eiuer  Auflassung,  nach  welcher  Mischungen  dieser  Art  nach 
4 zeitigen  und  3 zeitigen  Füssen  gemessen  werden  vgl.  die  Metrik. 

Aber  nach  dem  durch  Heliodor  zur  Geltung  gekommenen  Systeme  (dein 
auch  Hephaestion  sich  angeschlossen),  werden  solche  Mischungen  nach  6syl- 
bigen  Versfussen  gemessen:  dem  Jonicus  a  majore,  Jouicus  a  minore,  Choriam- 
bus und  Antispast,  wobei  für  die  Jonici  eine  Licenz  statuirt  wird,  welche  sie 
im  Gebrauche  der  ungemischten  Metra  nicht  haben;  analog  auch  für  den  zu 
ungemischten  Metren  überhaupt  nicht  verwandten  Antispast: 

für  -~>  w  die  Licenz  ^  -  ^  ^ 

für  ^  ^  die  Licenz  s->  <w  —  ^ 

für  w  w  die  Licenz  Z  Z  . 

Indem  man  diese  Licenzen  statuirte,  hatte  man  eine  ausreichende  Nomenelatur 
für  alle  Mischungen  mit  nur  Kinem  4 zeitigen  Fusse:  doch  müssen  wir  wohl 
bedenken,  dass  es  sich  bei  Heliodor  und  Hephaestion  nicht  mehr  um  die  rhyth- 
mische Bedeutung  der  Versfüsse,  sondern  bloss  um  das  Sylbeuschema  handelt. 

In  der  folgenden  Uebersicht  der  Mischungen  mit  nur  Kinem  vierzeitigen 
Fussc  unterscheiden  wir  die  thetischeu  und  die  anakrusischeu  Mischungen:  in 
jenen  beginnt  das  Kolon  mit  einer  Thesis,  in  diesen  mit  einer  Anakrusis.  Zur 
leichteren  rhythmischen  Orientirung  scheiden  wir,  wie  es  in  unserer  Musik  ge- 
schieht, die  Anakrusis  von  dem  Folgenden  ab  und  gewinnen  dann  daktylische 
Versfüsse  statt  anapat-stischcr.  So  erhalten  wir  eine  übersichtliche  Nomenelatur: 

Thetische  Mischungen: 

1.  Choriambikon        j.  w  ^  x  w  j.  ^  i 

2.  Antispastikon        ^.Z  ±^>  ^  j. 

3.  Kpichoriambikou    x^s^s  ^^i 

Anakrusische  Mischungen: 

1.  Jonikon  apo  meizouos  Zj.^^z^i^s 

2.  Epionikon  ap'  elassonos  Zs^i^^s^j. 

 / 

3.  Kpiouikon  apo  meizouos  Z  i  w  s  Z  j.  ^  w  j. . 

D.h.:  Mischungen  Eines  Daktylus  mit  3zeitigen  Versfüssen,  des  Daktylus 
an  1.  oder  2.  oder  3.  Stelle,  entweder  ohne  vorausgehende  Anakrusis  (in  den 
thetischen  Mischungen)  oder  mit  vorausgehender  Anakrusis  (üi  den  auakrusi- 
achen  Mischungen). 

Jede  durch  die  Vorsatzsylbe  „epi"  gekennzeichnete  Mischung  \  Kpichoriam- 
bikou, Kpiouikon  ap'  elassonos  und  apo  meizouos)  ist  nach  Hephaestion  eine 
,,kat'  autipatheian  muis",  jede  der  drei  anderen  eine  „kata  syinpatheian  mbds", 
nach  dem  von  den  alten  Metrikern  aufgestellten  Grundsätze: 


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134 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


Beide  Jonici  sind  mit  dem  Ditrochaeus  verwandt,  mit  dem  Diiambus 
nicht  verwandt. 

Umgekehrt  ist  Choriambus  und  Antiapast  mit  Düambus  verwandt,  mit 
Ditrochaeus  nicht  verwandt. 

Dieser  Grundsatz  hat  seine  Richtigkeit  für  die  ionischen  Versfüsse,  sofern 
diese  Bestandteile  wirklicher  ionischer  Rhythmen  sind :  aber  er  ist  durchaus 
äusserlich  in  dem  von  den  Alten  statuirten  Jonicus  der  daktylisch-trochaeischen 
Mischungen,  ebenso  hat  er  für  Choriamb  und  Antiapast  gar  keine  Geltung. 
Nichtsdestoweniger  machen  die  Metriker  diesen  Grundsatz  zum  Eintheilunga- 
Principe  für  die  gemischten  Kola,  indem  sie  dieselben  in  Kola  homoioeide  und 
Kola  antipathe  unterscheiden.  Die  Logaoidischen  Daktylika  und  Anapaistika 
werden  von  den  Metrikern  unter  die  Klasse  der  homoioeide  Metra  gezählt.  Die 
Classification  der  homoioeidü  und  antipathö  (kata  sympatheian  und  kat'  anti- 
patheian  mikta)  wird  schwerlich  früher  als  seit  Hcliodor  datiren.  Mit  der  Ein- 
teilung in  Verafüssc  der  ersten  und  der  zweiten  Antipatheia  haben  diese  kat' 
antipatheian  mikta  sichtlich  nichts  zu  thun. 

Verliert  in  den  Mischungen  der  ersten  Antipatheia  der  hier  von  den  Me- 
trikern statuirte  6sylbige  Versfuss  die  ursprüngliche  rhythmische  Bedeutung, 
so  gilt  ein  Gleiches  auch  für  die  hier  von  den  Metrikern  aufgestellte  Theorie 
der  Apothesen  (des  Auslautes).  Was  dem  Rhythmus  nach  katalektischer  Aus- 
gang ist,  wird  hier  als  akatalektiseher  gefasst;  der  dem  Rhythmus  nach  brachy- 
katalektische  Ausgang  heisst  bei  Hephaestion  katalektisch;  der  dem  Rhythmus 
nach  katalektische  heisst  bei  Hephaestion  brachykatalek tisch.  Die  Logaöden 
dagegen  werden  bei  Hephaestion  bezüglich  ihrer  Apothesis  dem  genauen  rhyth- 
mischen Werke  nach  benannt: 

akatalekt. 


»  

—  V-/  ^ 

—  \J  Sj 

—  \J 

_  w  ^ 

-  SJ  — 

\J  — 

—  ^  \J 

—  \J  \-> 

—  \J 

-  \J  w 

<-  _ 

_  ^  _  w 

—J  >*.  ' 

[hyperkatal] 

katalckt. 
[akatalekt] 

brachykatalekt. 
[katalektisch]. 


Gerade  so  wie  bei  den  logaödischen  Daktylika  härten  die  Theoretiker 
auch  bei  den  Choriambika  die  Apothesis  benennen  müssen. 


Asynartetische  Mischungen. 

Wie  Hephaestion  zwei  Arten  d<r  Mischungen  unterscheidet,  homoioeide 
und  antipathe  (d.  i.  kata  sympatheian  mikta  und  kat'  antipatheian  mikta),  so 
nimmt  er  auch  für  die  Asynarteten  eine  Klasse  der  homoioeide  und  eine  Klasse 
der  antipathö  an.  Auch  als  Asynarteten  haben  die  letztereSi  (die  antipathe)  nichts 
mit  dein  Unterschiede  der  Versfüsse  erster  und  zweiter  Antipatheia  zu  thun. 


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H.  4.  Takt-Schema. 


135 


Hat  ein  metron  homoioeides  und  antipathes  eine  inlautende  Katatelexis, 
so  ist  es  ein  Asynarteten  homoioeides  und  Asynarteten  antipathes.  Der  Unter- 
schied beider  Arten  von  Mischungen  ist  selbstverständlich  bei  den  Asynarteten 
eben  so  ftusserlich  und  bedeutungslos,  wie  bei  den  Synartetika. 

Da  sich  die  Apothesen  der  gemischten  Kola  in  der  Nomenclatur  der  Me- 
triker verschoben  haben,  so  muss  diese  falsche  Benennung  natürlich  auch  bei 
den  gemischten  Asynarteten  sich  geltend  machen.   Das  Metron  Priapeion 

j.  —  j.    ^  s  ^  i  |  j.  —  i  ^  ^  s  j.  Heph.  10, 
■fjptcTfjaa  jjteN  itploy  |  Xezroy  ptxp&v  droxXa; 

sollt«,  da  sein  erstes  Kolon  seiner  wahren  rhythmischen  Beschaffenheit  nach 
ein  katalektisches  ist,  ein  dikatalcktisches  Asynarteton  sein,  aber  die  Metriker 
sehen  das  erste  Kolon  als  ein  akatalek tische«  an  (vgl.  oben  S.  134)  und  so  wird 
das  Priapeion  in  die  Klasse  der  nicht  asynartetischen  Metra  gezählt. 
Dagegen  die  M«*tra 

j.  ^ ^  j.  ^  i  ^  |  x        j.  ^  j.  ±  Heph.  15,  17, 
5X£te  -fajj.ßp£,  aoi  fisv  |  5i|  fapiov,  (öc  apao 

und 

J.^  L  wv-»  J.  ±    |   J.^  £\J^ 

avopec,  np<5ay  e-e  tövvojv  |   £;ejpT]p.aTt  xawp,  Heph.  15,  14 

werden  in  die  Klasse  der  dikatalektischen  Asynartete  gezählt  (Heph.  15,  14), 
denn  beide  Kola  gelten  den  Metrikern  als  katalektische  (sie  sind  eigentlich 
brachykatalektisch ). 

Dagegen  werden  die  Verbindungen  eine«  choriambischen  Dimetrons  mit 
einem  trochaikon  zu  den  Asynarteten  gezählt  Heph.  15,  12,  13 

j.^^i^i^>±  |  ±  ^  j.  ^  j.  j. 
tov  fiupoTtotöv  fyVV  I  ^tparriv  et  xojx^oci 

XUUjr^I^i    |    J_<~>  £\J  ± 

Eüic  xwoo/arr  ava;  |  yotp'  l^aix'  'Kxfpavrlor,; 

Da  hier  der  Choriamb  mit  den  (im  zweiten  Kolon  folgenden)  Trochaeen 
verbunden  ist,  so  gehören  die  beiden  nach  Hephaestiou  in  die  Klasse  der  kat' 
antipatheian  mikta.  Aber  weshalb  heissen  sie  Asynarteta?  Wohl  nur  deshalb, 
weil  hier  dieselbe  iambisch-trochaeische  Aufeinanderfolge 

_  _    W    _  _ 

wie  in 

fveor  'AroXXtuv  tüj  yopvi'  rf,;  Xupr,;  dxoja>. 

Episynthetische  Metra. 

Während  bei  einer  Mischung  in  ein-  und  demselben  Kolon  3-zeitige  und 
4-zeitige  Versfüsse  vereint  sind,  sind  bei  einer  Episynthesis  die  zu  einem  Metron 
verbundenen  Kola  ein  jedes  ungemischt ,  das  eine  aus  3-zeitigen,  das  andere  aus 
4 -zeitigen  Versfüssen.  Beispiele  episynthetischer  Metra  nach  Hephaestiou  15, 1  —7. 


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136 


Aristoxenu8  rhythmische  Elemente. 


Nr.  1.  Z/j.^^j.^^j.~\±^jj.^>j.Z< 
EpaOfxovtÖTj  XapiXac  |  ypf,fj.d  toi  f«Xotov. 
e'joai|xov'  £tixt£  os  n^TTjp  |  Ixpluiv  ^ö^pr,«;. 
Nr.  2.  x^^z  —  —  z^^'i^^lz^z^^w 
OGx  £tV  ö|j.ö>;  ttdXXet;  draXöv  yp<ia,  |  xdp^CTat  fdp  7(5rr 
xal  ,3^330;  opsor*  o-jcnaHtdXovc  |  oioc  f(v  Tjjif,;. 
Nr.  3.  —  ^  ^/  -  ^  v>  —  _  |  _  ^  _  ^  —  w  — 

dX).d  [V  ö  XustfAeXy,;,  a>  j  'raupe,  odfivxrat  zofto;. 
Nr.  4.  —  ^  ^  —  w      -  —  |  -  ^  —  _ 

TH  p  ttt  AtNopi^Yi;  tüi  |  Tuppaxyo 
Tdp(a£va  XajATtpd  x£ar  £v  |  jAjpnv^tu. 
Nr.  5.  —  —  ^  —  -  |  —  w  ^  —  \j  ^  — 

-päixov  jxr;  eüjVjv-  !  Xov  fUfjiev  ojoavtav. 
Nr.  G.  —  |_v^__ 

yatpe  -aXato^oviuv  dvo^iov  Seativ  cvXXcqe  ravros^mv. 

Nr.  7.  —  —  w__j_wv-/_v^^  

fi;  /.al  rj-el;  dp<"»  -eXiv.ei  -A/xxo  £av8dv  'AÖdvav. 

Es  ist  möglich,  dass  in  diesen  episynthetischen  Metren  auch  je  zwei  der 
sich  durch  Verschiedenheit  der  Versfüsse  scharf  abscheidenden  Bestandtheile  ein 
einheitliches  Kolon  gebildet  haben,  z.  B.  in  Nr  4  ein  pentapodisches  Kolon, 
ehenBo  in  Nr.  5.  Analog  auch  in  Nr.  6  und  7.  Immerhin  aber  lassen  sich  die 
Bestandtheile  auch  als  selbstständige  Kola  fassen. 

Hephaestion  rechnet  sämmtliche  Episyntheta  unter  die  Klasse  der  asyn- 
artetischen  Metra.  Die  Asynarteta  der  beideu  übrigen  Kategorieen,  die  unge- 
mischten und  gemischten,  waren  sämmtlich  solche,  welche  im  Inlaute  eine 
Katalexis  oder  Braehvkatalexis  hatten.  Dies  weisst  darauf  hin,  dass  auch  die 
dritte  Kategorie,  die  Episyntheta,  da  sie  Asynarteta  genannt  werden,  eine  inlau- 
tende Katalexis  oder  Braehvkatalexis  haben,  also  z.  B.  Nr.  1 : 

Nr.  3  eine  inlautende  Brachykatalrxis: 
ebenso  Nr.  4: 

Nur  eines  der  von  Hephaestion  aufgeführten  Episyntheta  scheint  im  In- 
laute keine  Katalexis  zu  haben,  nämlich  Nr.  2,  vielleicht  auch  Nr.  5. 

B.  Metra  der  zweiten  Antipatheia. 

I.  Metra  6-zeitiger  Versfüsse: 

Ionika  apo  meizonos  jl  —  w  ^  ±  -  (  — ) 
"HpTjv  TtOTe  <paoiv  Heph.  11 
T(;  rijy  u&pbjv  U|aö>v. 


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IL  4.  Takt-Schema. 


137 


Ionika  ap'  elassonos  ^  \j  ±  —  \j  ^  j.  (  —  ) 

Tioe  Mmjcu  xpovcire-Xot  Heph.  12 
2t/.eXö;  xojjl<|;6;  dvf,p. 

Choiiambika  -      ^  z  -  ^  -  j.  - 

Aeinä  (tev  ojv,  oetvd  tapäsaet  Oed.  R.  483. 

Ueber  die  Accentuatiou  und  den  Gebrauch  der  ungemischten  6-zeitigen 
Choriambika  s.  oben  S.  74.  Am  häufigsten  Bind  die  Ionika  ap'  elassonos,  sel- 
tener die  Ionika  apo  meizonos;  die  Cliorianibika  als  ungemischte  Kola  6-zeitiger 
Versfüsse  kommen  nur  isolirt  unter  anderen  Kola  des  ionischen  Rhythmus  vor, 
niemals  in  continuirlicher  Rhythmopoeic,  s.  a.  O. 

Unter  die  6-zeitigen  Verstösse  (ionischer  Rhythmus)  werden  die  gleich 
grossen  Ditrochaeeu  eingemischt: 

Tic  r^v  uopbjv  jfitüv  I  tyfyrj-  Ifai  riwiv  Heph.  11 
 ±  —  — 

Der  Ionikos  apo  meizonos  wird  mit  <len  Ditrochaecn  so  gemischt,  dass 
statt  seiner  wie  Hephaestion  sagt,  ein  fünfzehiger  Paion  tritos  substituirt  und  da- 
rauf folgend  ein  Kpitritog  deuteros  angenommen  wird  S.  71.  Man  nennt  diese 
Art  der  Mischung  mif  einem  eigenen  Terminus  ,.Anaklasis",  das  Kolon  in  wel- 
chem dieselbe  vorkommt  ein  ..anaklomenon" 

AtA  [aoi  Havctv  y^voit  *  o'i  ydp  *n 
^  ^  2  ^  —  \j  j.  —  \s       ±  — 

V  .        y  .'        ^_   / 

Nach  dem  Schema  dieser  gemischten  Ionika  fasste  man  <lie  oben  S.  182 
angeführten  Mischungen  der  ersten  Antipatheia  als  gemischte  Ionika  oder  Epio- 
nika  ap'  elassonos,  indem  man  auch  für  diese  die  Freiheit  der  Substitution 
eines  5-zeitigeu  Paion  mit  folgendem  Epitritos  deuteros  annahm  d.  h.  die  eine 
Länge  des  Ionikos  ap'  elassonos  werde  in  die  Kürze  umgewandelt 

Unter  Annahme  derselben  Freiheit,  die  erste  Länge  des  Ionikos  mit  der 
Kürze  zu  vertauschen,  führte  man  nun  auch  die  anakrusisch  anlautenden 
Mischuugen  der  ersten  Antipatheia  auf  gemischte  Ionika  apo  ineizoncs  zurück 
(  vgl.  oben  S.  133.) 

Wie  man  die  anakrusisch  anlautenden  Mischungen  der  ersten  Antipatheia 
als  Ionika  und  Epionika  schematisirte ,  so  wandte  man  auf  die  thetisch  anlau- 
tenden das  Schema  des  Choriamb  an  und  nannte  sie  gemischte  Choriambika 
und  Epichoriambika, 

Auch  die  thetisch  anlautenden  Mischungen ,  welche  an  zweiter  Stelle  den 
Daktylus  hatten,  wurden  in  dem  von  Varro  vertretenen  Systeme  ab  Jonika 
gemessen: 

•/aip'  u»  /pvoöxepai;,  ^(Jax-ra,  xt/iuv 
±  —  l  1^1  — 

indem  der  anlautende  Spondeus  zusammen  mit  der  Lünge  des  ersten  Daktylus 
als  Molossus  gefasst  wurde.   Man  ging  also,  indem  man  das  mit  einem  Molos- 


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138 


Aristoxcnus  rhythmische  Elemente. 


Bus  anlautende  ionische  Schema  auf  die  trochaeisch- daktylischen  Mischungen 
übertrug,  von  der  spondeischen  Form  der  von  Hermann  sogenannten  Basis  aus 
und  musste  dann  für  die  trochaeische,  iambische  oder  pyrrhichische  Form  der- 
selben die  Licenz  des  Wechsels  des  Molossus  —  —  —  mit  den  Versfüssen 
—  u  —  und  ^  und  ^  w  —  als  Gesetz  annehmen  (d.  h.  der  Molossus  wech- 
selt mit  dem  Creticus,  dem  Bakchius,  dem  Anapaest) 

j.  —  j.  x  ^  J. 

x  1 

V  ' 

s  / 

Mit  dieser  Varronischen  Messung  kam  man,  wenn  man  anders  die  Vere- 
füsse  nur  dem  äusseriichen  Sylbcnschema  nach,  nicht  dem  rhytlunischcn  Werthe 
nach  zu  bestimmen  sich  begnügen  wollte,  ebenso  gut  und  besser  aus,  als  wenn 
man  für  die  vorstehenden  Kola  die  antispastische  Messung  anuahm.  Heliodor, 
der  die  antispastische  Messung  aufbrachte,  hat  sich  damit  um  die  Theorie  der 
Metrik  schlecht  verdient  gemacht  Handelt  es  sich  bloss  um  eine  Nomenclatur 
des  Sylbenschcmas,  nicht  um  den  Khythmus,  so  darf  man  die  choriambische, 
epichoriambische,  ionische,  epiouische  Messung  der  betreffenden  Kola  bequem 
beibehalten.  Aber  mit  Heliodors  antispastischer  Messung  ist  es  anders:  sie  ist 
nicht  bequem ,  sondern  möglichst  unbequem ,  da  sie  in  vielen  Fällen  mit  den 
Caesuren  in  Widerspruch  steht,  z.  B. 

T)XÖe;  ix  irepdxrov  |  ^äc,  eXetpavxlvav.  k 

Heliodors  Erfindung  der  antispastischen  Messung  hat  Hephaestiou  zum 
Schaden  der  metrischen  Theorie  adoptirt:  sie  muss  aus  ihr  wieder  entfernt 
werden,  wie  dies  schon  G.  Hermann  und  ihm  folgend  Boeckh  gethan  hat.  Den  von 
Varro  gebrauchten  Terminus  ionisch  für  das  schlechte  Heliodorische  Antispastikon 
wollen  wir  nicht  wieder  einführen,  doch  werden  wir  für  diese  Mischung  den  Termi- 
nus „Glykoneische  Mischung"  anwenden  dürfen,  vom  glykoncischen  Dimetron  bis 
zum  glykoneischen  Trimetron,  und  wollen  nicht  minder  für  die  glykoneische,  wie 
die  choriambische,  epichoriambische,  epionische  und  ionische  Mixis  die  Apothesis- 
Terminologie Hephaestions  nachdem  S.  134  Angegebenen  berichtigen.  Auch  He- 
phaest.  16  wird  ,,Glykoneionu  in  einem  weiteren  Sinne  (für  die  polyschema- 
tistisch  mit  dem  Glykoneion  zu  vertauschenden  Schemata  z.  B.  das  Epichoriam- 
bikon) gebraucht.  Doch  stehen  wir  vou  unserem  früheren  Vorschlage  ab,  von 
einem  ersten,  zweiten,  dritten  Glykoneion  im  Sinne  des  Epichoriambikon,  Anti- 
spastikon  und  Epichoriambikon  Hephaestions  zu  reden.  Wir  behalten  Hephae- 
stions „Choriambikon  und  Epichoriambikon"  bei,  ebenso  auch  das  Epionikon 
apo  meizonos  und  ap'  elassonos.  Das  in  dieselbe  Kategorie  gehörende  Jonikon 
„tnikton"  kennzeichnet  sich  durch  diesen  Zusatz  als  eine  Mischung  der  ersten 
Antipatheia,  da  wir  für  die  wirkliche  rhythmische  Mischung  des  6 zeitigen  Jo- 
nikus  mit  dem  6zeitigeu  Ditrochaeus  (der  zweiten  Antipatheia  angehörig)  den 


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IL  4.  Takt-Schema. 


139 


von  den  Metrikern  überlieferten  Terminus  Jonikon  „auaklomcnon"  in  Anspruch 
nehmen. 

II.  Metra  5-zeitiger  Versfüsse. 

Das  ganze  Genos  nennt  Hephaestion  das  paeonische,  welches  3  Eide  habe : 
das  kretische  j.  ^  —  j.  ^  —  oder  —  w  j.  —  \J  j. 
das  bakcheische  ^  ±  —  o  ±  — 

das  palimbakcheische  ±  —  ^  j.  —  ^  oder  —  x  ^  —  ±  ^ 
Das  kretische  soll  nach  ihm  tauglich  zur  Melopoeie  sein,  die  beiden  an- 
dern nicht.  Das  palimbakcheische  kommt  freilich  sehr  selten  vor,  das  bak- 
cheische  ist  häufig  genug,  denn  die  Dochmien  können  nach  Aristoxeuus  nichts 
anderes  als  katalektische  bakcheische  Dimetra  sein  (s.  S.  46.  47),  während  sie 
Hephaestion  (mit  Heliodor)  als  antispastische  Metra  ansieht,  eine  Auffassung, 
die  gerade  so  viel  werth  ist,  wie  die  antispastische  Auffassung  der  Glykoneien. 


Wir  halten  das  Hepbaestioneischc  System  der  Metrik,  mit  Ausnahme  aller 
von  ihm  aus  Heliodor  adoptirten  antispastischen  Messungen  für  durchaus  ge- 
rechtfertigt, speciell  die  Hephaestioneischen  Sylbenmessungen,  dass  jede  Kürze 
eine  eiuzeitige,  jede  Läuge  eine  zweizeitige  ist. 

Die  eine  Ausnahme  erleidet  dies  Sylbengesctz  in  der  Katalexis,  in 
welcher  wie  Aristidcs  sagt,  eine  Pause  eintritt,  oder  wie  wir  aus  den  notirten 
Hymnen  des  Mesomedes  wissen,  die  Katalexis-Sylbe  eine  Verlängerung  über 
die  Zweizeitigkeit  hinaus  erleidet. 

Wie  gross  die  Pause  oder  die  Verlängerung  sein  muss,  wissen  wir  jedes- 
mal genau.  Aber  ob  Pause  oder  ob  Verlängerung  eintritt,  wissen  wir  im  ein- 
zelnen Falle  nicht  genau,  ist  für  uns,  die  wir  doch  das  antike  Melos  nicht  aus- 
zuführen haben,  auch  gleichgültig.  Die  einzigen  Uebelstände  bei  Hephaestion 
bezüglich  der  Katalexis  sind  die  beiden  folgenden: 

1.  Bei  den  gemischten  Daktylo-Trochaeeu  sind  die  Hephacstiouischen 
Apothesis- Bestimmungen  nur  für  die  Logaöden  richtig,  für  die  anderen  Mi- 
schungen unrichtig,  indem  hier  eine  bestimmte  Verschiebung  derselben  statt 
gefunden  hat:  das  dem  Rhythmus  nach  akatalektischc  wird  „hyperkatalektisch", 
das  katalektische  wird  „akatalektisch",  das  brachykatalektische  wird  ,,katalek- 
tisch"  genannt 

2.  für  die  inlautende  Katalexis  der  4  zeitigen  und  3  zeitigen  findet  bei 
Hephaestion  stets  eine  Verwechslung  der  katalektisch-daktylischen  Dipodie  mit 
dem  das  gleiche  Sylbenschema  darbietenden  Choriambus  statt: 

i        i    j.^^  i  |  j.        i  ^  ±  ^>  j. 
enthalt  nach  Hephaestion  auch  in  dem  anlautenden  Kolon  zwei  „6  zeitige" 
Choriamben,  obwohl  dasselbe  ein  dikatalektischcs  Dimetron  daktylikon  ist 
Der  wirkliche  Choriambus  ist  ein  6  zeitiger  Versfuss  (Hephaest  3)  und  er- 
scheint als  solcher  im  Vereine  mit  ionischen  Rhythmopoiien  (vgl.  oben  S.  74); 


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140  Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


was  Hephaestion  einen  Choriainb  nennt,  ist  entweder  eine  katalektisch-dakty- 
lische  Dipodie  und  hat  dann  einschliesslich  der  Pause  ein  8  zeitiges  Megethos, 
oder  der  Choriamb  Hephaestions  ist  metrischer  Bestandteil  eines  Kolons  wie 

V  J      V  / 

eine  Auffassung  die,  wie  schon  Boeckh  sah,  dem  Rhythmus  so  wenig  wie  mög- 
lich Rechnung  tragt,  die  man  sich  aber  immerhin  für  die  Nomenclatur  gefallen 
lassen  kann,  wenn  es  sich  darum  handelt,  nur  das  betreffende  Sylbeuschema 
zu  bestimmen.  Auch  dieser  Choriambus  muss  ein  6  zeitiges  Sylbeusehema  dar- 
stellen, da  die  Kürze  eine  einzeitige,  die  Länge  das  Doppelte  derselben  ist. 

Aehnlich  wie  \ lephaestion ,  wenn  er  katalektisch  -  daktylische  Dipodieen 
mit  Choriamben  verwechselt,  macht  es  Heliodor,  wenn  er  fünfzeitig  paeoniwhe 
Cretiei  für  6  zeitige  „Baseis"  mit  einer  Pause  erklart.  Sehol.  ad  Hephacst.  c.  13. 

Die  zweite  Ausnahme  erleidet  die  Hephaestionische  Regel,  dass  die 
Kürze  1  zeitig,  die  Länge  2zeitig  sei,  in  den  unter  die  Troclmeen  oder  die  .Jamben 
eingemischten  Epitriteu,  welche  Hephaestion  für  7 zeitig  erklärt,  dem  Aristoxe- 
nischen  Berichte  gemäss  aber  nur  ߣ  zeitig  sein  können. 

Die  einfachen,  zusammengesetzten  und  gemischten 
Rhythmen  nach  Aristides  Qnintilianns. 

Wo  sich  Aristides  in  seiner  Darstellung  der  Rhythmik  des  Wortes  -r»j; 
zur  Bezeichnung  des  Verstosses  oder  des  Kolons  bedient  ,  da  schöpft  er  aus 
einer  Darstellung,  welche  der  Aristoxenus  möglichst  verwandt  ist  (aus  dem 
Auszuge,  welchen  einer  der  bei  Ptolemacus  u.a.  sogenannten  Aristoxeneer  aus 
dem  Werke  des  Meisters  gemacht  hatte);  wo  dagegen  Aristides  zur  Bezeich- 
nung der  beiden  Begriffe  das  Wort  puÖu';;  gebraucht,  da  ist  seine  Quelle  eine 
andere.  Wenigstens  ist  der  Gebrauch  der  beiden  Worte  das  fast  regelmässige 
Kriterium  für  die  Unterscheid ung  der  beiden  Quellen.  Die  zweite  Quelle  (B) 
bezeichnet  Aristides  durch:  ,,0l  O'jtiTrX^xovTE;  r?j  fiexpix-Tj  öempla  rept  ji'ji)- 
p.ä>v",  die  andere,  auf  Aristoxenus  zurückgehende  Quelle  (A)  heisst  bei  ihm 
Ol  youplCovre;". 

Nach  dem  Berichte  der  Quelle  B  theilt  Aristides  die  Rhythmen  in  ein- 
fache  |  unzusammengesetzte),  in  zusammengesetzte,  in  gemischte  Rhythmen. 

I.  Einfache  oder  unzusammengesetzte  Rhythmen  sind  diejenigen, 
welche  Einem  Rhythmengesehlechte  folgen,  z.  B.  die  vierzeitigen 

—  \J  \J 

II.  Zusammengesetzte  Rhythmen  sind  diejenigen,  welche  zwei  oder 
mehreren  Rhythmengeschlechteu  folgen;  sie  sind  entweder 

1.  zusammengesetzt  kata  syzygian  aus  zwei  einfachen  und  un- 
gleichen Versfüssen,  z.  B.  die  aus  zwei  daktylischen  Versfüssen  zusammen- 
gesetzten 


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II.  4.  Takt-Schema.  141 

* 

 ,         Jonikos  apo  mcizonos, 

 Jonikos  ap'  elassonos ; 

die  aus  zwei  Versfüssen  des  iambisch»-n  Rhythmengesehlechtes  zusammenge- 
setzten 

^  — ,  —  w  erster  Bakcheios, 
—  ^,  ^—  zweiter  Bakcheio». 

2.  Zusammengesetzt  kata  periodon  aus  mehr  als  zwei  Versfüßen 
zusammengesetzt,  z.  H.  die  aus  3  Versfüssen 

-v./,   Prosodiakos  Rhythmos, 

aus  4  Versfiissen 

w-,  ow,  _v_/,  Prosodiakos  Rhythmos, 

«ler  aus  2  Syzygieen 

 o^/,  Prosodik6s  Rhythmos; 

ferner  die  zusammengesetzten  12 zeitigen  Rhythmen: 

a)  Rhythmen  aus  1  Jambus  und  3  Trochaeen: 

w  \y  —  \j  -  \y  Trochaios  ap'  iatnbu 

—  —  ^>  —  ^  —  Trochaios  apo  bakcheiu, 

—  \j  —  \^>^  \^  Bakcheios  ap'  iambu, 

—  \>  —  ^  —  Jambos  epitritos. 

b)  Rhythmen  aus  1  Troeharus  und  3  .Jamben: 
_v^v»/_n^_v^_  Jambos  apo  trochaiu, 

w  Jambos  apo  bakcheiu, 

^  —  ^  ^  ^  —  Bakcheios  ap'  iambu, 

w  —  w  _  ^  v-/  Trochaios  epitritos. 

ci  Rhythmen  aus  2  Trochaeen  und  2  Jamben: 

^ -  ^  einfacher  (erster)  Bakcheios  ap'  iambu, 

_v_/_v_/w_^_  einfacher  (zweiter)  Bakcheios  apo  trochaiu, 

^  v^-^w-  mesos  Trocliaios, 

_^r^_w  w  mesos  Jambos  'IWhaios. 

In  dieser  befremdlichen  Nomonclatur  erklärt  sich  die  Bezeichnung  „Bach- 
cheios"  aus  den  vorhergehenden  Benennungen  des  Choriambus  und  Antispast. 
Die  ganze  Anschaung,  die  dieser  Messung  nach  zweisi  lbigen  Versfüsseu  zu 
Grunde  liegt,  hat  schliesslich  die  Hephaestionische  Messung  nach  4sylbigen 
Versfüssen  zu  ihrer  Voraussetzung,  die  man  in  dieser  Messung  des  Aristides 
in  je  zwei  2sylbige  Versfüsse  getheilt  hat.  Auch  bei  den  Metrikern  kommt 
theilweise  etwas  älinlichcs  vor. 

3.  Gemischte  Rhythmen  sind  nach  Aristides  solche,  welche  bald  in 
Chronoi,  bald  in  Rhythmoi  aufgelöst  werden,  wie  die  6  zeitigen.  Aristides  zählt 
derselben  sechs  auf: 

—    -  w  aus  einem  Trochacus  als  Thesis  und  einem  Trochaeus  als  Areis, 
s-  _    —  Jambus  als  Thesis,  Jambus  als  Arsis, 


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142 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


_  w  ^  _  Trochaeus  als  Thesis,  Jambus  als  Arsis, 

^  ^  Jambus  als  Thesis,  Trochaeus  als  Arsis, 

-Z  —  Z  Troch.  alog.  als  Thesis,  Troch.  alog.  als  Arsis, 
Z  -  Z  -  Jamb.  alog.  als  Thesis,  Jamb.  alog.  als  Arsis, 

Die  Bestandteile  dieser  Dipodieen  sind  also  entweder  Chronoi  d.  i.  Thesis 
und  Arsis,  oder  Versfusse.  Im  ersteren  Falle  sind  sie  „in  Chronoi  aufgelöst" 
(das  ist  der  Fall  bei  der  Hephaestioneisehen  Messung  nach  4sylbigeu  Vers- 
füssen) und  bei  Aristides  drittem  Prosodiakos;  im  zweiten  Falle  sind  sie  „in 
Versfusse  aufgelöst"  (das  ist  der  Fall  in  den  12zeitigen  Perioden  des  Aristides). 

Gemischt  im  Sinne  des  Aristides  ist  also  dasjenige,  was  bei  Hephaestion 
xoivi;  heisst,  vgl.  dessen  xotvd  xarä  oy£otv:  was  auf  zwei  verschiedene  Arten 
in  Strophen  getheilt  werden  kann  —  mit  einem  Worte:  was  eine  zweifache 
Auffassung  zulässt. 

Zusammengesetzt  im  Sinne  des  Aristides  ist  dasjenige,  was  bei  Hephae- 
stion gemischt  heisst. 

Unzusa  minengesetzt  oder  einfach  im  Gebrauche  des  Aristides  wird  vou 
Hephaestion  xaftapöv  oder  ijAoioeioe;  genannt. 


In  dem  zweiten  Buche  des  Aristides  wird  das  Ethos  der  Rhythmen  be- 
schrieben p.  i>7  —  100  Meibom.  Hier  heisst  es  von  den  zusammengesetzten 
Rhythmen : 

Die  zusammengesetzten  Rhythmen  sind  leidenschaftlicher, 
weil  meistenthcils  die  (einfachen)  Rhythmen,  aus  denen  sie  be- 
stehen, sich  als  ungerade  ergeben, 

Gerade  (daktylische)  Rhythmen  bilden  die  Bestandteile  der  zusammen- 
gesetzten Joniker  (welche  nach  Aristides  Erklärung  aus  Pyrrhichius  und 
Spondeus  bestehen),  ungerade  (iambische  und  trochaeische)  Rhythmen 
bilden  die  Bestandtheilc  der  12zeitigen  kata  periodon  zusammengesetzten 
Rhythmen. 

und  viele  Aufregung  dadurch  zeigen,  dass  nicht  einmal  die  Mege- 
thos-Zahl,  welche  in  den  Versfüssen  enthalten  ist,  dieselbe  Ord- 
nung bewahrt,  sondern  bald  mit  der  Länge  anlautet,  mit  der 
Kürze  auslautet  oder  umgekehrt,  bald  von  der  Thesis,  bald  vou 
der  Arsis  aus  die  Periode  ausführt; 
z.  B.  die  3 zeitigen  Versfusse: 

bald  w-,  -  ^,  —  -  <~s 
bald  v_/_,  w— ,  w  _. 

In  einem  höheren  Grade  noch  haben  diesen  Eindruck  die  aus 
mehr  als  zwei  Rhythmen  bestehenden,  denn  grösser  noch  ist 
hier  die  Anomalie.  Deshalb  bringen  sie,  wenn  sie  mannigfaltige 
Körperbewegungen  veranlassen,  die  Seele  in  nicht  geringe  Un- 


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II.  4.  Takt-Schema. 


143 


ruhe.  Die  bei  einem  Rhy  thmengeschlechte  beharrenden  verur- 
sachen geringere  Bewegung,  die  in  andere  Rhy thmengeschlechter 
übergehenden  ziehen  die  Seele  bei  jeder  Aenderung  in  heftige 
Mitleidenschaft,  zwingen  sie  zu  folgen  und  der  Mannigfaltigkeit 
conform  zu  werden. 

Deshalb  sind  unter  den  Bewegungen  der  Arterien  diejenigen, 
welche  dasselbe  Eidos  bewahren,  doch  bezüglich  der  Zeitdauer 
einen  kleinen  Unterschied  machen  zwar  unruhig,  aber  nicht  ge- 
fährlich. Diejenigen  freilich,  welche  bedeutend  in  den  Zeiten 
wechseln  und  gar  die  Taktarten  verändern,  verursachen  Furcht 
und  Schrecken. 

Auch  wer  beim  Gehen  gehörig  lange  und  gleiche  Schritte 
im  Spondcustakte  macht,  der  wird  Ehrbarkeit  und  Männlichkeit 
verrathen;  wer  gehörig  lange  aber  ungerade  Schritte  macht  im  Tro- 
chaeen- und  Paconen-Taktc,  der  zeigt  sich  feuriger  als  sich  ziemt; 
wer  kurze  und  ungerade  Schritte  geht,  nach  der  Weise  irratio- 
naler Rhythmen,  der  wird  sich  als  gänzlich  schlaff  erweisen;  wer 
ganz  kleine  Schritte  im  Pyrrhichius-Takte  geht,  der  erscheint 
niedrig  und  unedel;  wer  ohne  Ordnung  bald  diese  bald  jene  Arten 
von  Schritten  macht,  erscheint  nicht  recht  bei  Sinnen  und  geistes- 
verwirrt 


Das  Recurriren  des  Aristides  auf  die  Rhythmen  des  Pulsschlages  und 
des  Gehens  lässt  keinen  Zweifel,  dass  er  auch  bei  den  vorher  von  ihm  nach 
ihrer  Chronos-protos-Zahl  bestimmten  Rhythmen  an  wirklich  rhythmische  Mes- 
sungen denkt;  der  betreffende  roy;  jaixto«,  den  er  als  egaoTjtio«  hinstellt,  soll 
in  Wirklichkeit  das  Mass  von  6  Chronoi  protoi  haben: 

6 


3  3 

der  betreffende  12  zeitige  Rhythmus  soll  das  Mass  haben 

12 

,  —  ■  v 

Z^,'  ^SZ1         ^  • 

3  Y  3 

Aristides  verfährt  darin  genau  wie  Hephaestion,  dass  er  jede  Kürze  als 
1  zeitig,  jede  Lange  als  2 zeitig  fasst,  und  dass  er  ebenso  wenig  wie  dieser  die 
durch  die  Katalexis  verursachte  Zeitdauer  bei  Keinen  Gcsammtzahlcn  in  Mit- 
reehnung  bringt.  Dem  Aristides  ist  es  gerade  so  Ernst  damit  wie  dem  He- 
phaestion, dass  die  Sylbenmessungen  buchstäblich  genau  genommen  werden 
sollen,  wenn  dieser  lehrt,  dass  das  Epiehoriambikon  (12zeitige  Rhythmus  des 
Aristides.)  zu  messen  sei 


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144 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


 /   

6  6 
Choriamb.  Diamb. 
Der  ganze  Unterschied  zwischen  beiden  besteht  darin,  dass  Hephaestion 
nach  6  zeitigen  4sylbigen  Versfussen  eintlieilt,  Aristidea  dagegen  den  4sylbigen 
Versfuss  halbirt  und  daraus  zwei  2sylbige  3  zeitige  Füsse  erhalt.  Bei  dem  einen 
haben  diese  Messungen  so  wenig  wie  bei  dem  anderen  mit  rhythmischen  Ab- 
schnitten der  betreffenden  Kolons  zu  thun. 

Auch  mit  dem  zweizeitigen  Versfusse  ist  es  dem  Aristides  Ernst:  im  Jonieus 

z\ü>  ZZ 

und  im  Prosodiakos 

^-f 

3        2        3  3 

wo  Hephaestion  misst: 


^  .  -  > 


5  6 

Dass  man  zu  irgend  einer  Zeit  in  dieser  Weise  die  Rhythmen  taktirt 
habe,  wollen  wir  nicht  behaupten;  aber  die  Theorie  (bei  Aristides  die  Theorie 
derjenigen,  welche  Metrik  und  Rhythmik  verbanden)  lehrte  es  so  und  verstaud 
unter  Rhythmen  im  Allgemeinen  genau  dasselbe,  was  wir  Takte  (einfache  oder 
zusammengesetzte)  nennen.  Eben  diese  Rhythmen  hat  Aristides  im  Sinne, 
wenn  er  im  zweiten  Buche  von  dem  Ethos  der  einfachen  und  zusammenge- 
setzten Rhythmen  die  oben  angeführten  Erörterungen  vortragt.  Die  im  Eidos 
wechselnden  Rhythmen  sind  eben  jene  12  zeitigen 

eben  diese  Rhythmen  tund  es,  welche  je  nach  dem  geringeren  oder  grösseren 
Wechsel  der  einfachen  Verstösse,  aus  denen  sie  bestehen,  „die  Seele  in  nicht 
geringe  Unruhe  bringen  und  bei  jeder  Aenderung  in  heftige  Mitleidenschaft 
ziehen»"  Baiungart  hat  zwar  Recht,  dass  sich  die  Darstellung  des  Aristides 
mitunter  in  einer  nicht  sehr  klaren  Phraseologie  bewegt*),  aber  für  die  vorlie- 
gende Stelle  vom  Taktwechscl  haben  wir  keinen  Grund  dem  Aristides  nicht  zu 
glauben,  dass  die  Griechen  so  gefühlt  haben.  Es  stimmt  das  gar  zu  sehr  mit  den 
von  G.  Hennann  aus  dem  Inhalte  der  Pindarischen  Oden  gemachten  Beobachtun- 
gen von  der  grösseren  Ruhe  der  im  episynthetischen  Metrum,  mit  der  grösseren 
Bewegung  und  Leidenschaftlichkeit  der  im  gemischten  Metrum  gehaltenen  Ge- 
sänge.  Den  fein  fühlenden  Sinn  der  Griechen  afficirte  ein  gemischtes  Metrum 


*)  Vgl.  Baumgart  p.  XXIV  des  mehrfach  citirten  Programms:  „Zuletzt 
wird  hier  (beim  Trochaeos  semantos)  Aristides  vor  lauter  Gefühl  so  unklar  im 
Ausdruck,  dass  man  denken  könnte 


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II.  4.  Takt-Schema. 


145 


\S  \J  \J  ~  \J  —        _  ^  _  v_/  \^  

anders  als  ein  episynthetisches 

 _  \s  w  _  . 

In  «lern  gemischten  Metrum  fand  in  der  That  ein  Wechsel  des  Rhythmus 
und  der  Versfüss«!  fühlbarer  statt  als  im  episynthetischen ,  wenn  gleich  die 
Versfüsse  anders  gefasst  w  erden  müssen,  als  Aristides  und  Hephaestion,  mecha- 
nisch das  Sylbenschcma  berücksichtigend,  sie  angeben.  Dem  Maasstabe  un- 
serer modernen  rhythmischen  Theorie  und  auch  der  Theorie  des  Aristoxenus 
kommen  wir  näher,  wenn  wir  in  dem  gemischten  nicht  weniger  wie  in  dem 
episynthetischen  Metrum  4  zeitige  daktylische  und  3  zeitige  trochaeische  Vers- 
füsse absondern,  die  zwar  dem  Zeitinegethos  einander  genau  gleich  sind,  aber 
durch  die  Taktart  »ich  von  einander  unterscheiden-,  denn  die  3 zeitigen  sind 
immer  ungerade  Versfüsse,  mit  diplasischer  Gliederung,  die  gleich  grossen  4  zei- 
tigen sind  imir.er  gerade  Versfüsse  mit  daktylischer  Gliederung.  Schon  das 
"Vorwalten  der  Szeitigen  Versfüsse  mit  diplasischer  Gliederung  macht  die  ge- 
mischten Kola  bewegter,  wie  Aristides  98  M.  sagt:  -aÖTjTtxcfcxepol  t£  riat  TtJ)  xata 
tö  irXetorov  ?ou;  i\  u>v  cj^eWrai  p^Dfxojc  h  dvw6r/)Ti  OeoipetsÖat.  Das  sagt  Ari- 
stides von  den  „^jftpol  ouvfoToi",  welche  genau  dasselbe  sind  wie  die  gemischten 
Kola  des  Hephaestion. 


Die  „Sjllabae  longig  longiores"  and  „brevibus  brevioreB" 
nach  Dionysius  und  den  Metrikern. 

„Dass  die  Kürze  eine  einzeitige,  die  Länge  eine  zweizeitige  Sylbe  ist, 
«las  wissen  auch  die  Knaben"  sagt  Fabius  Quintiiianus  nach  Aristoxenus.  Das 
ist  auch  die  Lelire  des  Hepliaestioneischcn  Encheiridion.  Aber  es  gab  auch 
Lehrbücher,  in  welchen  der  Satz  von  einer  Kürze,  welche  kürzer  als  die  Kürze 
sei,  von  einer  Länge,  welche  länger  als  die  Lange  sei,  ausgesprochen  war, 
vermuthlich  auch  in  einem  der  umfangreicheren  Werke  des  Hephaestion.  Die 
älteste  der  uns  erhalteneu  Quellen,  welche  jenen  Satz  überliefert,  ist  die  Schrift 
des  Dionysius  de  compositione  verbomm;  die  zweite  sind  Longins  l'rolegomcna 
zu  dem  Encheiridion  Hcphaestions;  dann  wird  dasselbe  von  lateinischen  Me- 
trikern, Marius  Victorinus  und  Diomedes  berichtet,  fast  überall  mit  nahezu 
denselben  Worten,  so  dass  eine  gemeinsame  Quelle  (Aristoxenus V) ,  aus  der 
auch  schon  Dionysius  geschöpft  hat,  zu  Grunde  liegen  muss: 

Die  Rhythmik  und  Musik  verändert  den  Zeitwerth  der  Sylben  durch  Ver- 
kürzung und  Verlängerung,  so  dass  die  Kürzen  tmd  die  Längen  in  ein- 
ander übergehen:  oft  macht  der  Rhythmus  die  Kürze  zur  Länge,  die 
Länge  zur  Kürze,  es  giebt  syllabac  „brevibus  breviores"  und  syllabae 
„longis  longiores",  (Kürzen,  die  kürzer  als  die  Kürze,  und  Längen,  die 
länger  als  die  Länge  sind). 

Ariatoxenui,  Melik  u.  Rhythmik.  10 


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140 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


Dies  ist  der  Inhalt  der  Stellen,  die  wir  weiter  unten  (S.  149.  150)  im  Ein- 
zelnen aufzuführen  haben.  Zunächst  wollen  wir  die  verschiedenen  Sylben,  die  hier 
genannt  sind,  an  dem  oben  herbeigezogenen  l*raeludium  Bachs,  welches  als  das 
Beispiel  zu  dem  Sylbengesetze  des  Aristoxenus  gelten  muss,  nachweisen.  Denn 
alle  die  jetzt  in  Rede  stehenden  Angaben  über  die  Sylbendauer  halten  sich 
durchaus  innerhalb  der  Grundregel  des  Aristoxenus. 

Die  Bachsche  Compositum,  deren  Chronoi  mit  Aristoxenus  Forderung 
übereinkommen,  hat  eine  Verzeichnung ,  welche  zwei  verschiedenen  Takten, 

12 

a)  dem  C- Takte  (daktylische  Tetrapodie)  und  b)  dem  ~  -  Takte  (trochaeische 
Tetrapodie)  gemeinsam  ist. 

a)  Gehen  wir  von  dem  Vorzeichen  des  C- Taktes  aus  (der  Tetrapodie 
aus  vier  4 zeitigen  Füssen),  dann  ist  die  Kürze  des  Daktylus  als  Chronos 
protos  aufzufassen  und  als  rhythmische  Maasseinheit  =  1  anzusetzen.  Die  Kürze 
des  Trochaeus  ist  alsdann  das  *3 -fache  des  Chrom«  protos  (—  V;s  Chr.  pr.i 


\_/  ^    \J  — 


n  ii  n  n  u  n  n  n  n 


4 

4 


12 

b)  Gehen  wir  von  dem  Taktvorzeichen  -—  aus  (der  Tetrapodie  aus  vi«-r 

ö 

3 zeitigen  Füssen),  dann  ist  die  Kürze  des  Trochaeus  als  Chronos  protos 
aufzufassen  und  als  Einheit  i  —  1)  anzusetzen;  die  Kürze  des  Daktylus  ist  dann 
s .4  des  Chr.  pr. 


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II.  4.  Takt-Schema. 


147 


:< 


3 


S 


3 


Hiermit  haben  wir  Material,  um  die  verschiedenen  Zeitgrössen,  von  denen 
unsere  Quellen  reden,  im  Einzelnen  nachzuweisen. 

Syllabae  longis  longiores,  Sylben,  welche  länger  als  die  Länge  sind. 
Dies  sind  zunächst  die  Sylben  der  Katalexis:  in  a)  die  vierzeitige  Länge  der 
daktylischen  Katalexis,  in  b)  die  3 zeitige  Länge  der  trochaeischen  Katalexis. 
Ferner  ausserhalb  der  Ktttalexis  (im  Inlaute  de*  Kolons):  in  a)  ist  die  Länge 
der  Trochaeus  =  2*/„  dir  des  Daktylus  =  2;  in  b)  ist  die  Länge  des  Trochaeus 
=  2,  während  die  des  Daktylus  nicht  grösser  als  1  '/*  ist. 

Rechnen  wir  noch  die  vom  Anonym.  Bellerm.  §  1.  83  aufgeführte  5  zeitige 
Länge  hinzu,  deren  Verwendung  wir  leider  nicht  genau  kennen,  so  sind  das 
die  sämmtliehen  sieben  Längenwerthe ,  welche  in  der  Melopoeie  der  Griechen 
vorkommen  können : 

-  5 -zeitig  (?)     -  2-'  a zeitig. 
1  4 -zeitig         —  21  i  zeitig. 
3 -zeitig  -  2 zeitig. 

-  1"  .zeitig. 

Die  letztere  hat  zugleich  die  Funktion  als  leichter  Takttheil  des  irrationalen 
Trochaeus. 

Das  sind  Längen,  die  wir  auch  in  der  modernen  .^^lsik  hören  können, 
denn  wir  finden  sie  (bi*  auf  die  b  zeitige)  in  jener  Compositum  des  grossen 
Meister  Bach,  welche  genau  dem  Aristoxenischen  Gesetze  über  die  Sylbenwerthe 
d«  r  griechischen  Musik  entspricht.  Jeder  andere  Längeuwcrth  würde  dem 
Aristoxenischen  Sylbeugesetze  widerstreiten  (man  mache  die  Probe!). 

Syllabae  brevibus  breviores,  Sylben,  welche  kürzer  als  die  Kürze 
sind.  In  a)  ist  die  Kürze  des  Trochaeus  eine  l'/3 zeitige;  die  (kürzere)  Kürze  des 
Daktylus  eine  1  zeitige,  in  b)  ist  die  Kürze  des  Trochaeus  eine  1  zeitige,  die  kürzere 
Kürze  deB  Daktylus  eine  :14  zeitige:  denn  die  vier  Kürzen  des  vierzeitigen  (dak- 
tylischen) Fusses  nehincn  denselben  Zeitwerth  ein,  wie  die  drei  Kürzen  des 
dreizeitigeu  (trochaeischen  Fusses). 

Drei  ihrer  Zeitdauer  nach  verschiedene  Kürzen  sind  es  also,  welche  in 
der  griechishen  Musik  vorkommen  können : 

^  1  '/s  zeitig. 
■>j  1  zeitig. 
v>  3 '4  zeitig. 

Für  mehr  als  diese  drei  lüsst  das  Sy  Ibengesetz  des  Aristoxeues  keinen  Raum: 
man  statuire  irgend  eine  andere,  es  wird  dieselbe,  welcher  Grösse  sie  auch 
sei,  dem  Aristoxenischen  Gesetze  widerstreiten. 

10* 


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148 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


Trotz  ihrer  dreifach  verschiedenen  Dauer  bleibt  hier  die  Kürze  in  jedem  ihrer 
Werthe  Chronos  protos.  Es  geschieht,  wie  Aristoxenus  in  der  dritten  Harmonik 
sagt,  „otd  t^v  rf(;  i^iaft^  ojvaaiv,"  wenn  die  als  Chronos  protos  fungirende  Sylbe 
bald  eine  1  zeitige,  bald  eine  1V3 zeitige,  bald  eine  ^zeitige  ist;  wenn  mit  Einem 
Worte  im  Schema  des  zusammengesetzten  Taktes  die  einzelnen  Verefüsse,  aus 
denen  er  besteht,  ihr  jedesmaliges  Rhythmengeschleeht  constant  festhalten, 
während  die  Zeitdauer  derselben  variabel  ist.  Das  ist  der  Grund,  weshalb 
Aristoxenus  in  seinem  Abschnitte  von  Chronos  protos  §  11  auf  den  Abschnitt 
vom  Taktecheina  verweist:  ,"0v  öc  tp^Trov  X^et«  toütov  (töv  ypovov  TTp&Tov) 
■f]  alaörjou,  sotvEpiv  eOTai  £ni  täv  tto&ix&v  oyrnid?wv". 

Auch  in  dem  nach  Aristoxenus  Sylbengesctae  rhythmisirten  Präludium 
ßaehs  ist  der  Chronos  protos  in  den  daktylischen  Versfüssen  (des  C-Taktes) 

•     «v  12 
als    *  ,  in  den  trochaeischen  (des  g  Taktes)  als   #N  angesetzt.  Natürlich  soll 

der  als    £    angesetzte  Chronos  protos  nicht  doppelt  so  gross  sein  wie  der  als 

0  angesetzte.  Vielmehr  ist  durch  das  Vorzeichen  des  pt>fyi.o;  xoivö;  genau 
angegeben,  dass 

wemi  man    *  als  Chronos  protos  fasst,  dass  dann  f  =  —  Chr.  pr., 

wenn  man  f  als  Chronos  protos  fasst,  dass  dann  #^  =      Chr.  pr. 

Noch  zwei  andere  Wertlie  der  Kürze  sind  übrig,  aber  einer  Kürze,  jlie 
nicht  die  Function  des  Chronos  protos  hat: 

w  2  zeitig 
l'/jj  zeitig 

Das  ist  die  Doppelkürze,  welche  bei  den  Aeolischeu  Lyrikern  als  Anfangs- 
fuss eines  gemischten  Kolons  steht,  isodynamiach  mit  dem  Spondeus,  Trochaeus, 
Jambus.  Hephaest.  c.  7. 

"Kpoc  oVjte  pk*6  Xuoi|aeX^;  Sovel 
fXuxözixpov  d(xdLyexov  tfpTrsxov. 
"Atöi,  ool  S^pLiBcv  ja&v  d7rf,yfttT0 
tppovciooTjv,  ItX  ©"AvipofA^Scrv  iz&Tfi 

12 

Bei  dem  Vorzeichen  des  ^uSfiö;  xotvo;  C  -  -  sind  die  vierfach  verschiedenen 

Aufangsfüsse  dieser  4  Kola  zu  messen: 

"Epo;  V  fXux6  'AtOt  cpocrioo. 

\j  —  w  o  —  w  —  — 

J  J        J  .N        J  J 

Es  ist  kaum  anders  möglich,  als  dass  der  pyrrhichische  Anfangsfusg  des 

:ieolisch-daktylischen  Tetrametrons  (2  dipod.  Basen  =  4  mouop.  B.>,  dasselbe 

Maas«  wie  der  spondeischc  gehabt  hat;  bei  der  Messung  nach  dem  Vorzeichen  C: 

—   

2  2  2  2 


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IV.  Takt-Schema.  149 
12 

bei  der  Messung  nach  dem  Vorzeichen  — - : 

ö 

\j  ^/  —  — 

ii.  ii' 

Dies  muss  derjenige  Fall  sein,  welchen  Dionysius  in  der  gleich  anzufüh- 
renden Stelle  im  Auge  hat,  wenn  er  sagt:  p.cTaßdXXoo3w  aÜTd;  aeioüaai  xal 
ai^ovaai,  Aare  roXXdxt;  eu  Td  ivdvrta  pteTayoupeiv,  und  desssen  Longin  mit  den 
Worten  gedenkt:  rcoXXdxt;  yoüv  xal  tön  ßpay!>v  irotst  (Aaxp4v.  Hatte  der  Be- 
richterstatter, dem  Dionysius  und  Longin  hier  folgen,  den  Alcaeus  und  die 
Sappho  zu  seiner  Lieblingslectüre  und  seinem  Lieblingsstudium  gemacht,  wie 
dies  Hephaestion  in  seinem  Encheiridion  entschieden  gethan  hat,  so  ist  der 
Ausdruck  xoXXdxt;,  den  Marius  Vietorinus  ungenau  durch  plerumque  wieder- 
giebt  (vgl  unten),  in  seinem  vollen  Rechte,  denn  dort  waren  ja  die  pyrrhichi- 
scheu  Anfangsfüsse  der  Kola  häufig  genug. 

Wir  lassen  nunmehr  die  ihrem  Inhalte  nach  bereits  erläuterten  Stellen 
auch  ihrem  Wortlaute  nach  folgen: 

Dionys.  Hai.  de  comp.  verb.  11. 

'H  jiiv  -eC?)  Xs;t;  «vjSenö;  out  ovdjxaTO;  oute  £r,}Jt.aTo;  ßtd£ETat  toj;  ypövou; 
oioe  jjLtTaTlÄTiOiv,  dXX  ota;  T.apt'O.rffe  tt|  tpuaet  Td;  ot>XXa£d;  tc£;  ts  paxpd;  xal 
ßpa^Eta;,  xotauTa;  «pXdrrei.  'II  og  f>y&{jux^  xat  (loyaix-fj  fiETaßdXXouatv  a&Ti; 
[xctojsat  xai  oj;ouoat,  &ote  roXXdxi;  e{;  tos  ivdvria  txETa/mpetv.  O^äp  Tat;  auX- 
Xaßat;  d-cu8uvouoi  toj;  ypdvob«,  dXXd  toi;  ypövot;  Ta;  ouX&aßeU. 

„Die  Prosarede  nimmt  die  Sylbenquantität  sowohl  beim  Nomen  wie  beim 
Verbnm,  wie  sie  durch  die  Sprache  an  sich  gegeben  ist,  ohne  die  Längen  und 
Kürzen  in  ein  aus  ihrer  sprachlichen  Natur  nicht  folgendes  rhythmisches  Maass 
hineinzuzwängen.  Die  indische  Poesie  aber  bestimmt  die  Sylben  nach  rhyth- 
mischen Chronoi  d.  i.  nach  Zeitmaansen,  welche  aus  dem  Begriff  des  Rhyth- 
mus folgen;  sie  verändert  die  natürliche  Prosodic  der  Längen  und  der  Kürzen, 
indem  sie  diese  bald  über  die  Prosodie  des  Sprechens  hinaus  ausdehnt,  bald 
verringert,  oft  sogar  in  das  Gegentheil  übergehen  lässt." 

Lougin  prol.  Hephaest.  §  6. 

"En  toIvjv  Siac£p£t  ^uÖjxoO  tö  (AtTpov,  -Jj  tö  {jl£v  (Airpov  reitrjY^Ta;  £yet  toü; 
yp<5voy;,  (xaxpÄv  te  xat  f*pa/6v  .  .  .,  6  oe  jw&pö;  tb;  ßotiXETat  2Xxei  tov;  y^poVj'j;, 
roXXdxt;  -p-iv  xal  töv  flpa/uv  ttoui  jAaxpoY 

„E»  unterscheidet  sich  das  Metron  (der  Recitations-Poesie)  dadurch  von 
dem  Rhythmus  (der  melisehcn  Poesie),  dass  jener  feste  Zeitgröaseu  hat,  eine 
lange  und  eine  kurze  .  .  .,  der  Rhythmus  dagegen  nach  Ermessen  die  Zeiten 
verlangsamt,  oft  auch  die  Kürze  zur  Länge  macht." 

Marius  Victor. 

Differt  autem  rhythmus  a  metro,  quod  metrum  certo  numero  syllabarum 
vel  pedum  finitum  est,  rhythmus  autem  ut  volet  protrahit  tempora,  ita  ut  breve 
tempus  plerumque  longum  efficiat,  longum  contrahat. 

Diomedea  p.  468  Keil. 


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150 


Aristoxcnus  rhythmische  Elemente. 


Rhythmi  certa  dimensione  temporum  tenninantur  et  pro  nostro  arbitrio 
nunc  brevius  artari,  nunc  longius  provehi  possunt 
Mar.  Victor,  p.  49  Gaisf. 

Inter  metricos  et  musicos  propter  spacia  temporum  quac  syllabis  com- 
prehenduntur  nun  parva  dissensio  est.  Nam  musici :  non  omnes  inter  se  longas 
aut  brcves  pari  mensura  consistere,  si  quidem  et  brevi  breviorcm  et  longa 
longiorem  dicant  posse  syllabam  fieri.  Metrici  autem:  prout  cujusque  syllabae 
longitudo  et  brevitas  fuerit,  ita  temporum  spacia  detiniri,  neqiie  brevi  brevio- 
rem  aut  longa  longiorem  quam  natura  in  syllabarum  enuntiatioue  protulerit 
posse  aliquam  reperiri. 

Ad  haec  musici  qui  temporum  arbitrio  syllabas  committunt  in  rhythmicis 
lnodulationibus  aut  lyricis  cantionibus  per  circuitum  longius  extentae  pronun- 
tiationis  tarn  longis  longiores  quam  rursus  per  correptionem  breviores  brevibus 
proferunt. 


Von  den  sieben  Abschnitten  der  speciellen  Taktlehre,  welche  Aristoxenus 
in  der  einleitenden  kurzen  allgemeinen  Taktlehre  ankündigt,  nämlich  1)  Takt- 
Megcthos,  2)  Taktart,  3)  rationale  und  irrationale  Takte,  4)  einfache  und  zu- 
sammengesetzte Takte,  5)  Diairesis  im  Takttheile,  6)  Schemata  der  Takte, 
7)  Antithesis  der  Takttheile  (Taktordnung)  hat  sieh  in  unseren  rhythmischen 
Stoicheia  nur  die  Auaführung  der  ersten  und  der  zweiten,  und  auch  von  letzterer 
nur  der  Anfang  erhalten.  Doch  genügte  die  gewissenhafte  Verwendung  ver- 
einzelter Fragmente  bei  Psellus  uud  anderen  nicht  bloss  um  die  beiden  ersten 
Abschnitte  wieder  vollständig  herzustellen,  sondern  auch  um  in  den  Besitz  der 
wesentlichsten  Punkte  aus  der  Lehre  von  der  Takt-Diairesis  und  dem  Takt- 
Schema  zu  gelangen.  Gestehen  wir,  das«  uns  diese  ganze  Restitution  der  Ari- 
stoxenischen  Taktlehre  nimmermehr  ohne  die  Parallele  aus  der  Instrumental- 
Musik  des  grossen  Bach  hätte  gelingen  können.  Der  Vergleich  der  jetzigen 
Bearbeitung  der  Aristoxenischen  Rhythmik  mit  unseren  früheren  (1854,  1861, 
1807),  in  denen  wir  die  Bachsehen  Parallelen  nicht  herbeiziehen  konnten,  wird 
hierüber  keinen  Zweifel  lassen:  die  Aristoxenische  Rhythmik  war  nur  mit  Hülfe 
der  Baehschen  zu  verstehen. 

Ausser  den  vier  genannten  Abschnitten  der  Taktlehre  hat  dieser  Theil 
der  Aristoxenischen  Rhythmik  auch  noch  die  drei  übrigen:  irrationale  und 
rationale  Takte  — ,  einfache  und  zusammengesetzte  Takte  — ,  Antithesis  der 
Takttheile  besprochen,  mag  das  nun  in  längeren  Abschnitten  oder  in  kürzeren 
wie  bei  den  Taktarteu  der  continuirlichen  Rhytlunopoeie  geschehen  sein.  Ob- 
wohl uns  von  diesen  zusammenhängenden  Besprechungen  nicht  das  Mindeste 
vorliegt,  macheu  wir  dennoch  den  Versuch  das  Hauptsächlichste  zu  restituiren. 


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II.  5.  Irrationale  Takte. 


151 


5.  IRRATIONALE  TAKTE. 

In  der  Definition  der  sieben  Taktunterschiede  §  24  der  Aristoxenischen 
Rhythmik  heisst  es: 

Die  irrationalen  Takte  unterscheiden  sich  dadurch  von  den  rationalen, 
dass  das  Verhältniss  des  leichten  Takttheiles  zum  schweren  kein  rationales  ist. 

Rationale  Verhältnisse  sind  diejenigen,  welche  einem  der  in  der  vw/ifi  puö- 
(jiozoua  vorkommenden  Xöfot  ■noSwot  entsprechen:  2  :  1,  2  :  2,  2  :  3.  Irrational 
diejenigen,  in  welchen  sich  das  Megethos  der  beiden  Chronoi  podikoi  nicht 
durch  ganze  Zahlen,  sondern  nur  durch  Bruchzahlen  ausdrücken  lässt,  wie  beim 
Trochaios  alogos,  dessen  Basis  eine  2 zeitige,  dessen  Arsis  eine  1'/, zeitige  ist. 
Dies  ist  von  Aristoxenus  in  der  Einleitung  seiner  Taktlehre,  wo  er  den  Logos 
ptxiikös  und  im  Gegensatze  dazu  die  Alogia  auseinandersetzt,  eingehend  er- 
örtert worden  §  19.  20. 

Nach  jeuer  Definition  der  sieben  Taktunterschiedc  aber  giebt  es  nicht 
Einen  aXoTo;  ttou;,  sondern  es  müssen  mehrere  dXoyot  rotes;  vorhanden  sein. 
Auch  nach  Aristides'  Definition  der  Taktunterschiede  p.  34  Meib.  giebt  es 
mehrere  iXo^oi  ttooc;,  ebenso  wie  es  melirere  pTj-ol  roioe;  giebt.    Es  heisst  dort: 

TerapTT)  tj  tüjv  fa-iwn  o>v  £yoj*e>  x6v  lAyn  eteeiv  rfj;  dpoetu;  rpi;  t?jv  8£atv 
xal  (tüiv)  dX^aiv  ms  oix  ly&fxev  oioXoy  xiv  [tov  a6xov]  xuiv  ypovtxtüv  jjiepüiv 

el-etv  Tcpö;  dXXTjXi. 

Unter  den  mehreren  irrationalen  darf  man  nicht  die  beiden  durch  An tithesis 
der  Takttheile  sieh  unterscheidenden  irrationalen  Takte  von  3VS  zeitigem  Mege- 
thos verstehen,  den  irrationalen  Trochaeus  und  den  irrationalen  Iambus,  weil 
dieser  Unterschied  in  der  siebenten  und  letzten  Sta^opd  des  Aristoxenus  und 
des  Aristides  begriffen  ist. 

Irrationale  Takte  von  einem  grösseren  Megethos  als  dem  3  V2  zeitigen 
würden  dagegen  nicht  unter  die  öwpopd  x-axd  y£v>;  gehören,  denn  bei  der  oia- 
epopd  xaza  y^vo;  sind  es  die  l^oi  ro&ixoi,  wodurch  sich  die  Takte  unterscheiden, 
aber  nicht  die  dXoYiat.  Es  ist  ganz  allgemein  zu  nelunen,  was  Aristoxenus 
§  19  sagt:   "Esrai  tj  dXoY^o  |A£-a;j  o-io  Yvuuptfxwv  tt*  alaMpti  und  §  20 

tj  fjii^  XT;*^Ö£ioa  tön  dpoetuv  oüx  Istat  o6jAfjL£tpo;  [idsei. 

Nach  Aristides  p.  42  Meibom  giebt  es  sowohl  eine  jjieTaßoX^  ix  foxo« 
ei;  oXoyov,  wie  eine  fjLET-a-JoX^  1%  i\6-(vj  et;  dko-pn. 

Im  §  19  und  20  giebt  Aristoxenus  nur  ein  vorläufiges  Beispiel  der  dXoY^ci 
am  yopelo;  dXoYo;.  In  der  specielleu  Darstellung  der  Taktlehre,  welche  von 
den  r.6ln  aloyA  handelt,  wird  er  auch  die  übrigen  irrationalen  Taktgrössen 
behandelt  haben. 

"Wie  er  dies  auch  gethan,  er  muss  es  der  §  19  und  20  gegebenen  Er- 
klärung analog  gemacht  haben:  xVjv  (xev  jidstv  totjv  xot;  djjupordpot;  tyuiv,  rJjv  oe 
dpciv  (xioov  piiYeöo;  i/o-jans  töv  dpoetuv.  Das  würde  der  Theorie  nach  fol- 
gende rAlti  ergeben. 


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152  Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


Ilou;  t&pwrai  Xo-f«;»: 

Xpovtxd  fjiprj: 

llou;  ujptrcai  dXtrfla: 

Xopeto;  pr^TÖ;  Tpiffrjfjio; 

2  +  1. 

yopeioc  dXofos. 

• 

AdxxuXos  pr(xö;  TeTpcb?]|j.oc 

2  +  2* 
2+2. 

2  +  2* 

2  +  3. 

  _ .  

2  +  3| 

SdxrjXo;  0X070;. 

1 

'loovixi;  £ir)76;  e;dar)|j.oc              2  +  4. 

i 

Für  die  das  Verhältniss  der  Takttheile  angebenden  Zahlen  müssen  wir 
das  von  Aristidcs  bei  der  otot'fopd  töv  ^tjtäv  xal  täv  4X6?  tuv  gebrauchte  allge- 
meinere Wort  ypovtxd  [xiprj  wählen,  denn  ypdvoi  rco&txol  bezieht  sich  wie  Xiyot 
Ttootxoi  zunächst  nur  auf  die  rationalen,  nicht  auf  die  irrationalen  Takte. 

Während  der  aXo^oc  yopelo;  in  der  Metrik  als  ein  für  den  Trochaeus 
stellvertretender  Spondeus  sich  darstellt,  würde  ein  den  Daktylus  stellvertreten- 
der Versfuss  —  w  _  als  iXo^o;  SdxruXo;  aufzufassen  sein  wie  er  vorkommt 
z.  B.  in  dem  Archilocheischen  Metron 

Kai  ß-/i<jaa;  <>p£(uv  QueftaiitdXo'j;  |  olo;  tjn  irz  ^ßr,; 

Die  antike  Irrationalität  hat  ihre  hauptsächlichste  Stelle  am  Ende  eines  Kolons. 
Ich  führe  aus  meiner  musikalischen  Rhythmik  folgende  Erläuterung  an  (S. 132): 

„Wenn  der  Vortragende  ein  Musikstück,  dessen  Kola  ohne  Pausen  an 
einander  schlicssen,  zum  klaren  rhythmischen  Ausdruck  bringen  will,  so  ge- 
nügt in  manchen  Füllen  kein  Aufheben  des  für  den  Inlaut  des  Kolons  ein- 
gehaltenen Legatn's;  der  Vortragende  wird  den  Trieb  haben,  den  Werth  der 
Schlussnote  des  Kolons  zu  verkürzen,  er  wird  spielen  als  ob  ein  •  darüber 
gesetzt  sei.  Für  gewisse  Compositionen  wird  dies  Abstossen  der  Schlussnot** 
am  Ende  des  Legatos  nicht  unzweckmäßig  sein.  Aber  wenn  man  die  unter 
dem  Punkte  stehende  Note  allzukurz  abschlägt,  so  macht  das  bei  öfterer  Wieder- 
kehr den  Eindruck  des  Kecken  und  Muthwilligen,  des  Komischen  und  Frivolen, 
und  daher  wird  das  Abstossen,  wenn  man  nicht  gerade  den  angegebenen  Ein- 
druck hervorbringen  will,  zur  Seite  zu  lassen  sein.  Ein  anderer  Weg,  die  End- 
note des  Kolons  als  solche  klar  hervorzuheben,  besteht  nicht  in  der  Verkür- 
zung, sondern  umgekehrt  in  der  Verlängerung  der  Note  am   Schlüsse  des 


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II.  5.  Irrationale  Takte. 


153 


Legates  oder  vor  Wiederbeginn  des  ueuen  Legates.  Wohlverstanden  nicht 
eine  Verlängerung,  welche  die  durch  die  verlängerte  Note  hervorgerufene 
Ueberschreit  ung  des  rhythmischen  Werthes  durch  Verkürzung  einer  anderen 
Note  auszugleichen  sucht  (Chrysander  in  der  Anzeige  m.  Systemes  der  griech. 
Rhythmik  1866  in  seinen  Jahrbüchern),  sondern  eine  wirkliehe  Verlängerung 
des  rhythmischen  Werthes,  etwa  so: 

^F»^F  ^P^F^F^F         ^F^FP^»      PJ^P^PPJ  w  *  ™  ™^F  ^P^F^PPJ  ^P^F^P ^F        ^P^P^P^P  T0?  • 

»   -     .-  .  .   < 

oder  was  dasselbe  ist: 

J5  «55  J5  JB  }  >  :  E  J3  «33  JE  .M 1 

Diesen  zweiten  Weg  haben  die  Griechen  eingeschlagen.  Sie  nennen  das  irra- 
tionale Verlängerung. 

Auch  in  der  modernen  Musik  giebt  es  eine  das  strenge  rhythmische 
Maas*  übersehreitende  Verlängerung  am  Ende  der  Kola.  Sic  findet  statt  im 
protestantischen  Chorale  und  wird  hier  in  der  Notenschrift  durch  die  Fermate 
bezeichnet.  Der  Schlusston  soll  „länger"  ausgehalten  werden.  Um  wie  viel 
länger,  das  hängt  von  dem  Belieben  der  Singenden  oder  des  dirigirenden  Orga- 
nisten ab.  Gewöhnlich  wird  der  unter  der  Fermate  stehende  Sehlusstou  des 
Kolons  so  sehr  verlängert,  dass  die  zusammengehörenden  rhythmischen  Glieder 
auseinander  gerenkt  werden,  dass  sich  der  Organist  sogar  Zeit  nehmen  kann, 
zwischen  den  beiden  Kola  unter  der  Fermate  noch  ein  kleines  Zwischenspiel 
anzubringen,  da*s  der  rhythmische  Zusammenhang  der  Kola  zur  Periode  auf- 
hört. Wohl  manchem  ist  durch  diese  hässliche  Unsitte  die  Freude  am  Chorale 
verdorben,  daher  mau  vielfach  die  Fermaten  gänzlich  verbannt  und  die  soge- 
nannten „rhythmischen"  Choräle  eingeführt  hat,  in  denen  jeder  Ton  genau  in 
dem  Zeitwerthe,  in  welchem  er  geschrieben  ist,  gesungen  wird. 

Die  Bach'sche  Musik  freilich  wird  sich  die  alten  Fermaten-Choräle  nicht 
nehmen  und  statt  ihrer  die  „rhythmischen"  Choräle  nicht  octroyren  lassen. 
Denn  sowohl  in  den  Cantaten  wie  in  den  Passionen  hat  Bach  selber  die  Fer- 
maten zu  seinen  Noten  hinzugefügt: 


» 

Ach  wie  flüch-tig, 

ach  wie  nich-tig 

sind  der  Menschen  Sa  -  chen. 

AI  -  les,    al  -  les  was  wir   sc  -  hen,  das  muss  fal  -  len  und  ver-  ge-hen. 


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154 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


wer  Gott  fürcht't  bleibt  e  -  wig  ste-heu. 


Wäre  diese  Melodie  in  troehaeischem  statt  in  daktylischem  Rhythmus 
gesetzt,  so  Wirde  sie  genau  folgendem  trochaeischen  Metrum  der  Alten  ent- 
sprechen : 

Die  Irrationalität  findet  im  ersten  Kolon  zweimal  (am  Ende  jeder  Dipodie  i.  in 
in  den  übrigen  Kola  je  nur  einmal  (am  Ende  der  letzten  Dipodie)  statt 

Die  durch  die  Fermaten  angedeuteten  Ketardirungen  des  strengen  Rhyth- 
mus würden  nach  der  Angabe  des  Aristoxenus  folgendermaasseu  auszuführen  sein  : 


r— '  'F  ^- 


3sö 


Die  Retardation  um  einen  ganzen  Chrono»  protos,  d.  i  ein  Achtel,  würde 
den  Griechen  schon  zu  laug  sein, 


AI  -  les,  al  -  les   was  wir   se  -  hen 


Denn  bei  einer  derartig« in  Retardation  (um  einen  ganzen  Chronos  protos) 
würde  der  erste  Versfuss  „alles*4  zwar  ein  4 zeitiger  (daktylischer),  der  zweite 
„alles'4  aber  ein  5  zeitiger  (paeonischer  I  sein.  Ebenso  „was  wir"  ein  4 zeitiger 
Spondeus,  „sehen"  ein  5  zeitiger  Versfuss.  Deshalb  sagt  Aristoxenus:  „dXvjict 
toictjtt,,  welche  einen  Takt  bestimmen  kann,  >>;s>  Xöytuv  dvd  jiisov  l<s-\lt.  Der 
irrationale  Daktylus  steht  gerade  in  der  Mitte  zwischen  dem  rationalen  (4  zeitigen) 
Daktylus  und  dem  rationalen  1 5 zeitigen!  Paeon.  Würde  man  die  irrationale 
Verlängerung  des  4  zeitigen  Versfusses  auf  einen  ganzen  Chronos  protos  (statt 
eines  halben)  ausdehnen,  so  lägen  „ö-jöfxoi  pe?at3rf>i).ovTc;  et;  Irepa  *ihrt"  vor, 
von  denen  es  bei  Aristides  p.  99  heisst:  „;Wu>;  dvtttXxojoi  zip  l'->'/+p  exüot^ 
^ta-iopä,  r.ardzta^'A  ?£  /.'A  ojAieijoUat  tt;  TroixtXfot  xa-Mvcrpcd^ovre;'',  6ie  seien 
denjenigen  Arterien-Bewegungen  gleich  „*l  fjÖTj  Xlav  TraoaXXdTTGjoat  toi;  ypivoi; 
t,  /.ai  7d  Y*vr,  ueraßd/./.'/jS'/t  «po-jepai  te  eist  xcii  d).£8pif>t".  Die  Verlängerung 
um  einen  ganzen  Chronos  protos  würde  zwar  auch  den  rhythmischen  Abschnitt 


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II.  5.  Irrationale  Takte.  155 

inarkiren,  aber  das  wäre  eine  Verlängerung  über  die  griechische  Maasshaltig- 
keit  hinaus:  die  Verlängerung  um  bloss  einen  halben  Chronos  protos  bedingt 
keinen  rhythmischen  Wechsel  der  Versfüsse,  die  4  zeitigen  daktylischen  werden 
durch  sie  niemals  zu  5  zeitigen  paeonischen. 

Wie  maasslos  aber  sind  nun  erst  die  Fermaten  unseres  Chorals !  Sie  haben 
unstreitig  denselben  Zweck  wie  die  dlt/fla  der  Griechen,  sie  sollen  das  Ende 
der  rhythmischen  Glieder,  das  Ende  der  Kola  zur  klaren  Anschauung  bringen, 
—  ein  Bedürfniss,  welches  in  der  modernen  Metropoeie  so  lebendig  gefühlt 
wurde,  dass  es  hier  zu  der  rhythmischen  Form  des  Reimes  führte.  Es  liegt 
also  der  Choralfennatfe  etwas  recht  Vernünftiges,  ein  rhythmisches  Moment  von 
wesentlicher  Bedeutung  zu  Grunde.  Aber  die  Verlängerung  der  Fermaten 
wird  in  unserem  Choralgesauge  so  sehr  übertrieben,  dass  man  zwar  recht 
deutlich  die  Kola-Enden  hört,  dafür  nun  aber  der  Zusammenhang  der  Kola  zur 
Periode  für  unser  Ohr  verloren  geht:  um  das  Gute,  welches  durch  die  Ver- 
längerung erreicht  wird,  die  Fasslichkeit  der  Kola-Grenzen,  muss  man  etwas 
sehr  schlechtes,  die  Zerstückelung  der  Perioden  in  den  Kauf  nehmen.  Die 
Griechen,  welche  schon  eine  fictardatiou  der  Kola-Grenzen  um  einen  ganzen 
Chronos  protos  mit  den  gesundheitsgefährlichen  und  verderblichen  Verzoge- 
rungen beim  Pulsschlage  verglichen,  würden  unsere  Dehnung  der  Choralfer- 
maten einen  Wahnsinn  nennen.  Aber  wir  dürfen,  wie  man  sagt,  nicht  das 
Kind  mit  dem  Bade  ausschütten.  Wir  dürfen  das  rhythmisch  Gute,  das  zur 
Klarheit  des  Kola- Verhältnisses  dienende,  welches  in  dem  Fermaten-Choräle 
liegt,  nicht  ganz  und  gar  wegwerfen,  indem  wir  den  sogenannteu  rhythmischen 
Choral  an  dessen  Stelle  setzen,  der  aber  eigentlich  kein  rhythmischer  ist,  son- 
dern sich  stabil  an  den  geschriebenen  Noteuwerthen  halt.  Es  ist  gar  manches 
in  den  geschriebenen  Noten  nicht  zu  lesen,  was  doch  darin  enthalten  ist,  z.  B.  in 
Bach's  instrumentalen  Compositiouen  nicht,  der  (ausser  dem  Takt  Vorzeichen) 
niemals  eine  Andeutung  für  den  Rhythmus  hinzugefügt  hat.  So  müssten  auch 
in  dem  Chorale  die  Fermaten  eingehalten  werden,  selbst  wenn  sie  nicht  ge- 
schrieben wären.  Aber  die  maasslose  Verlängerung,  welche  die  Perioden  aus- 
einander rcisst,  muss  aufhören.  Wir  müssen  die  Choralfermate  im  Sinne  des 
Aristoxenus  interpretiren  und  ausführen,  wie  wir  es  oben  bei  dem  Bach'sclien 
Chorale  „Ach  wie  flüchtig"  versucht  haben. 

Auch  ausser  der  Choralmusik  giebt  es  noch  manche  Musik,  für  welche 
die  irrationalen  Verläugerungen  des  Aristoxenus  mit  grossem  Nutzen  für  Klar- 
heit und  Fasslichkeit  der  Compositiou  ausgeführt  werden  könnten.  Zwai  nicht 
jede  verträgt  sie,  ebenso  wie  auf  klassischem  Bodeti  die  trochaeischeu  Cantic.a 
des  Aesehyleischen  Chores  sie  ferne  von  sich  halten.  Aber  man  wird  sie  z.  B. 
in  der  E-dur  Fuge  des  wohlt.  Clav.  2,  4  schwerlich  entbehren  können,  wenn 
diese  wumlerbare  Compositum  im  richtigen  Ausdrucke  zu  Gehör  gebracht  werden 
soll  (Allg.  Theor.  d.  Rh.  2(J8),  nicht  als  „unbehagliche  Fuge",  wie  sie  sogar  der 
grosse  Bach- Verehrer  Carl  van  Bruyck  („Technische  und  aesthetische  Analysen 
des  wohlt.  Clav. )  praedicirt.  Ich  setze  die  letzte  Periode  der  Fuge  in  ihrer  richtigen 


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156 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


rhythmischen  Phrasirung  hierher,  indem  ich  nicht  da«  Fermatenzeichen  7,  son- 
dern die  Umkehrung  desselben  C  zur  Andeutung  der  Aristoxenischen  d).o-{ii 
anwende,  dagegen  das  Baeh'sehe  Zeichen  7  am  Ende  des  Ganzen  beinhalte. 


T  , 


I  w 

I  2. 


m 


crrsr. 


ptu  cresc. 


^  Ol 


•  — «  '  


\ 


2  3 


Formen  wir  den  bei  Bach  vorliegenden  daktylischen  lanapaestischen)  Rhyth- 
mus in  einen  trochaeischen  mit  Trochaioi  alogoi  um,  so  würde  der  Periode 
folgendes  metrische  Schema  der  Griechen  entsprechen: 

mehr  freilich  noch  folgendes  iambische  Schema,  in  welchem  di«*  durch  1  b<  - 
zeichneten  Retardinmgen  sich  in  den  iambisehen  Anakrusen  hörbar  machen 
würden  (jedesmal  hinter  di  r  mit  7  bezeichneten  Anakrusis): 

Auch  die  Griechen  begossen  in  ihrer  Notenschrift  ein  rhythmisches  Zeichen 
für  die  dXo-fia: 

X   Z   ~  GZ   Z      N    l    l  |  M   Z   [    <bC  p  M  <b  C  ; 


au  -  p7j  5s    aÄv    i^'    dX  -  a£  -  ojv     ifi-d;   op£  -  va;  oov  •  e   i  -  xa» 


Das  Zeichen  ~  hinter  der  auf  der  ersten  Sylbe  „au-"  stehenden  Note 
(des  Cod.  Neapolit,  wofür  der  Cod.  M.  das  Zeichen  |  hat),  kann  keine  andere 
Bedeutung  haben  als  deren  irrationale  Verlängerung  zu  markiren.  Auch  schon 
Bellennann  erkennt  darin  das  Zeichen  für  „den  langen  durch  Dehnung 
oder  stärkeres  Ansingen  auszudrückenden   Auftakt."    Fr.  Bellcrmann  die 


i 


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n.  6.  Einfache  u.  zusammengesetzte  Takte.  7.  Antithesis  der  Takttheile.  1 57 


Hymnen  des  Dionysius  und  Mesomedes  §  64.  Dieselbe  Markirung  der  Irratio- 
nalität auch  in  den  Instrumental -Beispielen  des  Anonymus  Bellermann  §  97 
vgl.  oben  S.  44. 


6.  EINFACHE  UND  ZUSAMMENGESETZTE  TAKTE. 

Die  von  Aristoxenus  in  der  Einleitung  zur  Taktlchre  gegebene  Definition 
dieses  Unterschiedes  haben  wir  S.  28.  29  unter  Berücksichtigung  der  bisher 
in  unserer  modernen  Musiktheorie  üblichen  Unterscheidung  von  einfachen  und 
zusammengesetzten  Takten  besprochen.  Es  ist  dies  der  Punkt,  welcher  die 
hohen  Vorzüge  der  Aristoxenischcn  Taktlehre  vor  der  vulgären  modernen  am 
überzeugendsten  und  sofort  erkennen  lnsst.  Vgl.  Musikalisches  Wochenblatt 
18M  No.  85—  87:  Ernst  „Eine  neue  Theorie  der  musikalischen  Rhythmik"; 
Musikwelt  1881  No.  37-38,  „Alte  und  neue  Rhythmik"  von  Dr.  Felix  Vogt; 
Deutsche  Litteratur-Zeitung  No.  18  „Westphals  allgemeine  Theorie  des  musi- 
kalischen Rhythmus  seit  J.  Seb.  Bach"  von  H.  Bellermann.  Die  Opposition, 
welche  vor  einem  Decennium  gegen  die  Aristoxenische  Theorie  von  einfachen 
und  zusammengesetzten  Takten  und  überhaupt  gegen  die  Aristoxenische  Rhyth- 
mik zu  Gunsten  der  vulgären  rhythmischen  Theorie  bei  Lobe  und  anderen  er- 
hoben wurde  von  Dr.  Schucht  in  der  Kahntschen  Musikzeitschrift  (bei  Gelegen- 
heit meiner  Elemente  des  musikalischen  Rhythmus  1871)  scheint  jetzt,  wie  es 
nicht  anders  sein  konnte,  verstummt  zu  sein. 

Von  der  dem  Unterschiede  der  einfachen  und  zusammengesetzten  Takte 
gewidmeten  Ausführung  in  der  speciellcn  Taktlehre  des  Aristoxenus  ist  uns 
nicht  Ein  Satz  verblieben.  Aber  es  beruht  in  der  Eigentümlichkeit  der  Aristo- 
xenischen Rhythmen-Darstellung,  dass  trotzdem  gerade  dessen  Theorie  der  ein- 
fachen und  zusammengesetzten  Takte  uns  vollständig  klar  vorliegt. 


7.  ANTITHESIS  DER  TAKTTHEILE. 

Was  Aristoxenus'  allgemeine  Definition  der  Taktunterschiede  darüber  an- 
gegeben, ist  8. 31 — 32  besprochen.  Schon  dort  ist  darauf  hingedeutet,  dass  dieser 
Unterschied  der  Antithesis  nicht  bloss  für  die  einfachen  Takte,  sondern  was  noch 
viel  wichtiger  ist,  auch  für  die  zusammengesetzten  Takte  besteht.  Es  ist  diese 
Verschiedenheit  der  Antithesis  der  Takttheile  in  den  zusammengesetzten  Tak- 
ten dasselbe,  was  ich  in  der  „Allgemeinen  Theorie  des  musikalischen  Rhyth- 
mus seit  Bach"  im  Anschlüsse  an  Aristoxenus  die  verschiedenen  „Taktord- 
nungen  des  dipodischen,  tetrapodischen  und  tripodischen  Taktes"  genannt  habe. 
Wie  dies  von  Aristoxenus  aufgefasst  wird,  erhellt  aus  demjenigen,  was  wir 
von  seiner  Darstellung  der  Diairceis  in  Chronoi  podikoi  wissen.  So  dürfen  wir 
getrost  behaupten,  dass  wir  die  Aristoxenische  Lehre  von  der  Antithesis  in 


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158 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


allen  wesentlichen  Punkten  genau  kennen,  trotzdem  uns  von  der  speciellen  Be- 
sprechung, welche  Aristoxenus  diesem  Gegenstande  in  den  rhythmischen  Stoi- 
cheia  gewidmet  hatte,  nichts  verblieben  ist. 


Dass  mit  der  Taktlehre  die  Rhythmik  des  Aristoxenus  nicht  abgeschlossen 
war,  ersehen  wir  aus  der  Rhythmik  des  Aristides  Quintiiianus,  welche,  wie 
wir  mehrfach  bemerken  mussten,  als  Hauptquclle  zwar  nicht  unmittelbar  Ari- 
stoxenus' rhythmische  Stoicheia,  wohl  aber  eine  Schrift  über  den  Rhythmus 
zu  Grunde  legte,  welche  dem  Aristoxenischen  Werke  so  ähnlich  wie  möglieh, 
vermutlich  ein  Auszug  war,  welchen  ein  uns  dem  Namen  naeh  unbekannter 
Aristoxeueer  aus  dem  Werke  des  Meisters  gemacht  hat.  Bei  Aristides  sind  die 
Haupttheile  der  Rhythmik  folgende  p.  32  Meib.: 

\Uptj  oe  ^jttptx-i;;  navie    .    oiaXot|x3avou.6v  fdp 
I.  — epl  zpoutwv  ypov«ov, 

II.  TTCpl  7EV&V  TTOOtXÜIV, 

III.  -epi  dfai^i  jj-jibtixf); 

IV.  repl  fjLETa^oXwv, 

V.  zepl  p-j&jioroilac. 

Für  den  ersten  dieser  sieben  Abschnitte  hat  Aristides  den  Titel  nach  dem 
Anfange  gewählt,  sonst  hätte  er  ihn  nennen  müssen  „Zeiten  des  Rhythmus 
und  des  Rhvthmizomenon",  genau  so  wie  wir  den  eisten  der  Aristoxenischen 
Abschnitte  seinem  Inhalo  naeh  benennen  mussten.  Denn  trotzdem,  dass  dem 
Aristides  in  diesem  Abschnitte  der  Aristoxenischen  Darstellung  gegenüber  ei- 
niges eigenthümlich  ist  (dass  der  Chronos  protos  „Semeion*'  genannt,  die  Ver- 
gleichungen  mit  der  Geometrie  u.  s.  w.  u.  s.  w.),  wird  kaum  ein  Zweifel  ge- 
stattet sein,  dass  dem  Aristides  hier  die  Doctrin  des  Aristoxenus  vorgelegen; 
möglich  auch,  dass,  wo  Aristides  ausführlicher  als  Aristoxenus  ist,  hier  in  der 
handschriftlichen  lleberlieferung  des  letzteren  ein  Ausfall  stattgefunden  hat. 

Der  zweite  Abschnitt  der  Aristideischeu  Rhythmik  ist,  wenigstens  im  An- 
fang, ein  getreuer  Reflex  der  Aristoxenischen  „Taktlehre"  —  die  sieben  Tnkt- 
unterschiede  genau  in  der  Aristoxenischen  Reihenfolge.  Naeh  der  Aufzählung 
und  kurzen  Definition  der  sieben  Taktunterschiede  bespricht  Aristides  zuerst 
die  Taktarten,  dann  die  Takt-Megethe.  Dabei  verdient  hervorgehoben  zu 
werden,  dass  beide,  Aristides  wie  Aristoxenus,  in  der  Reihenfolge  dieser  beiden 
Abschnitte  sieh  eine  Licenz  von  der  unmittelbar  vorhergehenden  Ankündigung 
der  sieben  Taktverschiedenheiten  verstatten,  denn  zuerst  sollte  vom  Takt-Me- 
gethos  und  erst  zweitens  von  den  Taktarten  die  Rede  sein.  Selbstverständlich 
ist  diese  wunderliche  Ucbereinstimmung  zwischen  beiden  nicht  anders  zu  er- 
klären, als  dass  der  eine  von  ihnen  die  Darstellung  des  andern  benutzt  hat. 

Welche  Quelle  von  Aristides  in  der  Takt-Lehre  noch  ausser  der  Aristo- 
xenischen benutzt  ist,  ist  früher  S.  140  besprochen.    Diese  Benutzung  einer 


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III.  Tempo. 


159 


nicht  -Aristoxenischen  Quelle  findet  statt  p.  32—40  Meib.  Dann  kehrt  Aristi- 
dea  zu  seiner  früheren  Quelle  zurück,  die  freilich  hier  wiederum  von  der  Dar- 
stellung der  Aristoxenischen  Stoicheia  abweicht,  aber  dem  Wesen  nach  durch- 
aus auf  Aristoxcnischer  Doctrin  ruht.  Es  lag  dem  Aristidcs,  wie  gesagt,  mittel- 
bar oder  unmittelbar  jener  uniarbeitende  Auszug  vor,  welchen  ein  uns  unbe- 
kannter Aristoxeneer  aus  dem  Werke  des  Meisters  gemacht  hat 

Nun  folgen  hinter  der  Taktlehre  der  dritte,  vierte  und  fünfte  von  den 
Abschnitten  der  Aristideischen  Abschnitte,  welche  wie  der  erste  und  der  zweite 
in  der  Aristoxenischen  Rhythmik  ihr  Urbild  haben,  wenn  uns  aueb  jegliches 
Kriterium  fehlt,  um  zu  entscheiden  was  etwa  Aristides  nicht  aus  Aristoxeims 
geschöpft  hat. 


HL 
TEMPO. 

('A^toy^  p-j8u.ua,) 

Darüber  schreibt  Aristides:  „Rhythmische  Agoge  ist  Schnelligkeit  oder 
Langsamkeit  der  Zeiten,  z.  B.  wenn  wir  unter  Festhalrung  der  Verhältnisse, 
in  welchen  die  Thesen  zu  den  Arsen  stehen,  die  Megethe  einer  jeden  Zeit  ver- 
schieden erseheinen  lassen.  Die  beste  Agogc  der  rhythmischen  Emphasis  ist 
ein  mittlerer  Abstand  der  Thesen  und  der  Arsen." 

Der  Schlusssatz  ist  dunkel  genug.  Es  könnte  scheinen,  als  ob  hie/  unter 
Thesen  und  Arsen  etwas  Aehulichcs  zu  verstehen  sei,  wie  man  in  der  Metrik 
da*  Wort  Hebungen  und  Senkungen  von  betonten  und  unbetonten  Silben  zu 
gebrauehen  pflegt.  Aber  in  diesem  Sinne  fasst  die  Aristoxenische  Rhythmik 
das  Wort  Arsen  und  Thesen  entschieden  nicht,  vielmehr  gebraucht  er  diese 
Termini  genau  in  demselben  Sinne  wie  unsere  Musik  leichte  Takttheilc  und 
schwere  Takttheile.  Das  Wesentliche  derselben  ist,  dass  sie  ein  bestimmtes  Me- 
gettyos,  eine  bestimmte  Zeitdauer  haben,  dass  sie  bestimmte  messbare  Bestand- 
teile des  Takt-Megethos,  sowohl  einfacher  wie  zusammengesetzter  Takte  sind, 
im  letzteren  Falle  also  den  Umfang  eines  ganzen  Versfusses  haben.  Die  ac- 
centuirten  Silbe  oder  der  accenttragende  Ton  wird  also  immer  nur  den  Beginn 
des  betreffenden  rhythmischen  Takttheiles  bezeichnen  können,  aber  nicht  den 
ganzen  Taktthcil  selber. 

Es  verschlägt  hierbei  nichts,  dass  Aristoxcuus  §  58 b  „exri  pvöjAö;  piv  oj- 
«rrjfid  Tt  aypicifievov  ix  tu>v  ttoSixüiv  y  pivwv  d>v  6  fjisv  dipaeio;,  h  hi  (jäaetu;,  h  U 
ZXo'j  roWc"  die  Ausdrücke  Arsis  und  Basis  nur  auf  den  unzusammengesetzten 
Takt,  nicht  auf  den  zusammengesetzten  bezieht,  denn  auch  die  Arsis  und  die 
Basis  des  einfacheu  Taktes  oder  Versfusses  muss  nicht  minder  wie  die  des  zu- 
sammengesetzten Taktes,  in  welchem  sie  den  Umfang  eines  ganzen  Versfusses 
hat,  ein  ganz  bestimmtes  messbares  Zeitmegethos  haben,  wie  dies  ja  Aristoxeuus 


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Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


an  dieser  Stelle  ausdrücklich  ausspricht.  Wiederholen  wir  also  unser  Geständ- 
niss,  dass  wir  den  Schlussatz  der  Aristideischen  Stelle  von  der  dfto^  nicht 
verstehen,  mag  er  nun  aus  Aristoxenus  oder  anders  wo  geschöpft  sein. 

Eine  zweite  Stelle  über  die  Agoge  findet  sich  bei  Aristides  in  dessen 
zweitem  Buche  (über  das  Ethos  der  Rhythmen)  p.  99.  100  Meib. :  „Ferner  sind 
von  den  Rhythmen  diejenigen  von  schnellerer  Agoge  warm  und  thatkräftig, 
die  Rhythmen  von  langsamer  und  zögernder  Agoge  (nach) gelassen  und  ruhig.4' 
Diese  letztere  Bemerkung  sagt  das  nämliche,  was  wir  in  unserer  modernen 
Musik  bei  einem  schnelleren  und  einem  langsameren  Tempo  fühlen,  wird  aber 
schwerlich  aus  der  Aristoxenischen  Rhythmik  entlehnt  sein,  eher  aus  einem 
rhythmischen  Werke  des  jüngeren  Dionysius  von  Halikarnass  (vgl.  oben). 

In  demjenigen,  was  uns  von  dem  rhythmischen  Stoicheia  des  Aristoxenus 
vorliegt,  findet  sich  die  d^u)^,  nirgends  erwähnt,  wohl  aber  in  seinem  Aufsätze 
repi  ypdvoy  rpcuTou  nach  unserem  Vermuthcn  einem  Theile  der  vermischten 
Tischgespräche,  unter  denen  man  in  dieser  unserer  Ausgabe  die  betreffende 
Stelle  nachsehe. 

Ferner  wird  von  Aristoxenus  die  ä-jw(i\  in  seiner  dritten  Harmonik  be- 
rührt. Ihr  zu  Folge  muss  von  der  Agoge  in  der  Aristoxenischen  Rhythmik 
im  Abschnitte  Takt-Schema  die  Rede  gewesen  sein.    Man  sehe  denselben. 

Noch  wollen  wir  nicht  unerwähnt  lassen,  dass  unter  unseren  Quellen  der 
Rhythmik  das  Fragmentum  Parisinum  das  Wort  d^ui^  in  einem  anderen  Sinne 
als  Aristoxenus,  nicht  vom  Tempo  sondern  von  der  aü;t(oi;  to->  tüiv  ttooäv  [xe- 
■flüo'jz  gebraucht,  worüber  oben  II.  2  b.  Was  hier  im  Fragmentum  Parisinum 
Thatsäfhlichcs  berichtet  wird,  stammt  zweifellos  aus  Aristoxenus,  doch  nicht 
unmittelbar,  sondern  aus  einer  ähnlichen  Schrift  wie  derjenigen,  aus  welcher 
Aristides  Quintiiianus  seine  Aristoxenea  überkommen  hat.  Hierbei  entziehen 
sich  uns  imu  alle  Vermuthungen;  es  wird  wohl  niemals  zu  sagen  sein,  wer 
derjenige  war,  welcher  das  Wort  ayia^  zuerst  im  Sinne  des  Fragmentum  Pa- 
risinum angewandt  hat. 


IV. 

■ 

RHYTHMEN  WECHSEL. 

(Me-ajioXf)  pybfMXTj). 

* 

Dass  Aristides  auch  den  vierten  und  den  fünften  Theil  der  Rhythmik 
nicht  minder  wie  den  ersten  und  zweiten  aus  der  Schrift  eines  Aristoxeneers 
excerpirt  habe,  dafür  lässt  sich  die  Analogie  geltend  machen,  welche  Aristoxe- 
nus zwischen  der  Rhythmik  und  der  dritten  Harmonik  bezüglich  der  Anord- 
nung des  Gegenstandes  befolgt  hat.  Denn  auch  seine  dritte  Harmonik  schliefst 
Aristoxenus  mit  analogen  Theilen,  wie  Aristides  die  Rhythmik:  fiErafioMj  und 
jxe'/.OTroila,  analog  der  Aristideischen  jxtTa^oXfj  pufyMvtf,  und  puftpoTrotla. 


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IV.  Rhythmeuwechsel.  V.  Rhythtnopoeie. 


Von  der  ersteren  schreibt  Aristides  p.  42  Meib.:  „rhythmische  Metabole 
ist  Aenderung  in  den  Rhythmen  oder  dem  Tempo.  Die  Metabolai  geschehen 
auf  zwölf  Arten: 

nach  dem  Tempo, 

nach  dem  Taktverhältniss, 

wenn  man  aus  einem  in  eines  übergeht, 
oder  aus  einem  in  mehrere, 

oder  aus  einem  einfachen  in  einen  gemischten  Takt, 
oder  aus  einem  gemischten  in  einen  gemischten, 
oder  aus  einem  rationalen  in  einen  irrationalen, 
oder  aus  einem  irrationalen  in  einen  rationalen, 
oder  in  einen  durch  Antithesis  verschiedenen  Takt." 
Die  Handschriften  schwanken  zwischen  der  Lesart  „zwölf  Arten"  u.  „vier- 
sehn Arten".  Aber  zu  Folge  demjenigen,  was  Aristides  im  Einzelnen  aufrührt, 
sind  es  weder  zwölf  noch  vierzehn,  sondern  nur  acht  verschiedene  Arten.  Die 
griechische  Rhythmik  vom  Jahre  1854  macht  den  Versuch,  die  Zahlenvcrsclüeden- 
heiten  auszugleichen.  Wir  verweisen  darauf  zurück.   Nur  der  Curiosität  wegen 
verweisen  wir  auf  die  Interpretation  der  Aristideischcn  Rhythmeuwechsel, 
welche  Herr  von  Drieberg  vom  gänzlich  modernen  Musikstandpunkte  aus  (ohne 
sich  um  Aristides  Worte  zu  kümmern)  versucht  hat. 

Dass  Aristides  hier  nicht  au«  der  eigenen  Schrift  des  Aristoxenus  excer- 
pirt,  verräth  der  Terminus  „Uebergang  aus  unzusammeugesetztem  in  gemisch- 
ten Takt  u.  s.  w.".  Die  Quelle  ist  wahrscheinlich  die  von  Aristides  p.  40  Meib. 
angegebene,  also  eine  gute  Quelle,  auch  wenn  dieselbe  vom  zweizeitigen  Takte 
ausgeht.  Ihre  Angaben  sind  deshalb  beachtenswerth,  insbesondere  fordert  der 
Uebergang  aus  rinem  rationalen  in  den  irrationalen  Takt  und  aus 
einem  irrationalen  in  «'inen  irrationalen  die  Wissenschaft  der  griechi- 
schen Metrik  zu  angestrengtem  Nachdenken  auf.  Dass  unter  den  Arten  der 
Metabole  zuerst  die  Aenderungen  des  Tempo  und  erst  in  zweiter  Linie 
die  Aenderungen  des  Taktverhältnisses  genannt  sind,  dafür  ist  in  unserem 
Abschnitte  vom  Taktschema  eine  Erklärung  gegeben  worden. 


V. 

RHYTHMOPOEIE. 

Die  beim  vorausgehenden  Theile  angeim-rkte  Analogie  zwischen  der  An- 
ordnung der  Aristideischen  Rhythmik  und  der  auf  Aristoxenus  zurückgehenden 
Harmonik  (desselben  Aristides,  des  l'seudo-Euklides  u.  s.  w.)  wird  in  diesem 
letzten  Theile  noch  auffalliger.  Denn  die  Rhythmopoeie  ist  wie  Aristides  selbst 

zu  bemerken  für  nötliig  halt,  genau  bo  wie  die  Mclopoeie  in  die  Lepsis,  Chre- 
Ariitoxanut,  Melik  u.  Rhythmik.  U 


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162 


Aristoxenus  rhythmische  Elemente. 


sis  und  Mixis  getheilt,  und  ebenso  sind  die  drei  Arten  der  Rhythniopoeie  ge- 
nau dieselben  wie  die  der  Melopoeie.  Nur  Aristoxenus  kann  es  »ein,  von  dem 
diese  so  überaus  gleichförmige  Gliederung  der  Rhythmik  und  der  Harmonik 
herrülirt. 

Was  Aristides  von  der  Eintheilung  der  Rhythmo}>oeie  in  Lepsis,  Chresis 
und  Mixis  excerpirt,  ist  zu  dürftig,  als  dass  es  für  unsere  Kenntniss  der  alten 
Rhythmik  forderlich,  ja  auch  nur  durchweg  verstandlich  sein  könnte.  Boeckh 
hat  hier  eine  Umstellung  im  Aristideischen  Texte  vorgenommen,  durch  welche 
das  Verst&ndmss  nicht  gefördert  wird,  daher  wir  nicht  näher  auf  tue  eingehen. 
Aber  welche  hohe  Wichtigkeit  enthält  die  noch  kürzere  Notiz  über  den  systol- 
ischen, diastaltischen,  besyebastischen  Tropos  der  Rhy  thmopoeie !  Sie  muss  uns 
ein  heller  Leitstern  »ein,  nicht  bloss  in  der  grichisehen  Rhythmik  mui  Metrik, 
sondern  auch  in  der  modernen  Rhythmik.  Einfache  Termini,  mit  denen  so  ausser- 
ordentlich viel  gesagt  ist!  Nur  der  wissenschaftliche  Gehst  der  Griechen  hat  sieb 
dieselben  errungen.  Ohne  Bedenken  dürfen  wir  sie  auch  für  die  moderne  Musik 
adoptiren*).  Wir  haben  das  besondere  Glück,  dass  gerade  für  den  Unterschied 
der  drei  Tropoi  Rhythmopoiias  uns  weitere  Aufschlüsse  durch  die  Harmonik 
des  Aristides  und  Pseudo-Euklid  zu  Theil  werden.  Wir  haben  dieselben  schon 
oben  im  Abschnitte  von  der  Diairesis  in  Takttheile  für  die  rhythmische  Aceen- 
tuation  zu  verwerthen  gesucht.  Ob  sie  noch  eine  andere  Bedeutung  haben, 
lassen  wir  unentschieden. 


*)  F.  Vogt,  Musik.  Welt  1881  No.  H8  S.  436  b. 


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ARISTOXENUS 

THEORIE  DES  MELOS. 


■ 


11* 


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» 


DIE  DBEI  SCHBIFTEN  ÜBEB  DAS  MEL08. 

Es  handelt  sich  in  den  drei  harmonischen  Büchern  des  Ari- 
stoxenus  hauptsächlich  um  die  Ton-Scalen  der  in  der  klassischen 
Griechenzeit  gebräuchlichen  enharmonischen,  chromatischen  und 
diatonischen  Musik.  Der  Verfasser  stellt  sich  die  Aufgabe,  die 
Ordnung,  welche  in  diesen  griechischen  Tonleitern  besteht  (sie  sind 
von  denen  .der  heutigen  abendländischen  Musik  abweichend  genug), 
in  ihrer  Vernünftigkeit  und  Notwendigkeit  nachzuweisen.  Die  von 
ihm  angewandte  Methode  der  Darstellung  ist  nicht  wie  bei  uns  die 
mathematisch-akustische.  Diese  wird  auch  schon  in  der  Harmonik  des 
Ptolemaeus  angewandt  und  ist  auch  dem  Aristoxenus  (oben  S.  68) 
nachweislich  nicht  unbekannt.  Aber  Aristoxenus  verschmäht  sie;  in 
der  That  war  die  Akustik  der  Alten  noch  nicht  so  weit  gekommen, 
dass  man  mit  ihrer  Hülfe  die  Tonleitern  einigermassen  ausreichend 
hätte  entwickeln  können.  Auch  bei  Ptolemaeus  ist  die  Form  der 
mathematischen  Deduktion  noch  nicht  die  arithmetische,  die  hier 
der  Sache  nach  allein  anwendbar  sein  würde,  sondern  die  geome- 
trische. Und  so  ist  auch  bei  Aristoxenus  die  Methode  der  Beweis- 
führung vorzugsweise  der  in  den  geometrischen  Elementen  des  Eu- 
klid augewandten  äusserst  ähnlich*). 


*)  Euklide«  Geometrie  ist  freilich  früher  als  Aristoxenus  Harmonik  ge- 
schrieben. Aber  Proklus  in  seinem  Commentare  zu  Euklid  giebt  werthvolle 
Notizen  über  Euklids  Vorgänger.  Unter  ihnen  haben  wir  das  Muster  zu 
suchen,  dem  Aristoxenus  seine  geometrische  Methode  in  der  Darstellung  der 
Harmonik  entlehnt  hat 


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ICH 


Aristoxenufl  Schriften  über  das  Melos. 


Die  in  den  Tonleitern  liegende  Ordnung,  welche  die  Voraus- 
setzung, gewisserinaassen  den  Stoff  der  musischen  Kunst  bildet,  nennt 
Aristoxenus  Herinosmenon  (^pjxosfxsvov),  die  diesen  Gegenstand  be- 
•  handelnde  Disciplin  gmonJin]  tzboI  tou  rp;ioa{isvou  oder  auch  mit 
dem  auf  denselben  Stamm  zurückgehenden  Worte  apjAovtxrJ. 

In  Meiboms  Ausgabe  führen  die  drei  harnionischen  Bücher  auf 
Grund  der  von  ihm  benutzten  Handschriften  folgende  Titel: 

'ApWTofcsWJ  dtp(J.GVtxä)V  UTOiycttUV    upttitov  (A'). 

oeuxepov  (B  '). 

Tptrov  (r'i. 

Meibom  hält  sie  für  die  drei  continuirlieh  fortlaufenden  Bücher 
ein  und  desselben,  höchstens  am  Ende  etwas  defecten  Werkes. 
Boeckh  schein^  derselben  Ansicht  zu  sein.  Aber  sie  ist  unrichtig, 
denn  von  den  Einleitungen  abgesehen  enthalten  die  zwei  letzten 
Bücher  B'  und  U  zusammen  denselben  Stoff,  der  schon  im  ersten 
Buche  A'  enthalten  ist,,  genau  in  derselben  Ordnung,  bloss  die  Dar- 
stellung ist  versclueden. 

Die  beiderseitigen  Einleitungen  des  Buches  A'  und  des  Buches 
B'  sind  sachlich  verschiedenen  Inhalts;  sie  haben  im  Einzelnen 
nichts  mit  einander  gemein,  als  dass  sie  beide  den  Inhalt  und  Zweck 
der  harmonischen  Wissenschaft  im  Allgemeinen  in  gleicher 
Weise  definiren.  Auch  gegen  Ende  des  Buches  B'  erscheint  eine 
Partie  §  66  —  69,  welche  in  A'  keine  Parallele  hat.  Im  Uebri- 
gen  ist  Alles  dasjenige,  was  in  B'  auf  das  Prooimion  folgt  und  nach 
jener  aparten  Partie  im  Buche  P'  fortgesetzt  wird,  der  genaue 
Doppelgänger  der  im  Buche  A'  hinter  dem  Prooimion  gegebenen 
Darstellung.  Wo  diese  dem  Buche  V'  parallele  Darstellung  des 
Buches  B'  beginnt,  ist  dies  im  Buche  B'  in  dem  Codex  des 
Zosimus  von  der  Hand  b  durch  den  Marginalzusatz  „'Apyr"  ange- 
merkt; derselbe  Marginalzusatz  findet  sich  auch  in  Par.  d,  auch 
wohl  noch  in  anderen  Handschriften.  Von  hier  an  ist  der  Paralle- 
lismus zwischen  A'  und  B'  T'  so  entschiedene  Thatsache,  dass  wir 
in  der  vorliegenden  Ausgabe  die  entsprechenden  Paragraphen  mit 
denselben  entsprechenden  Zahlen  haben  numeriren  können.  Was 
den  Umfang  der  beiden  Parallcldarstellungeu  in  A'  und  B'  T  be- 
trifft, so  fehlen  in  B'  die  §§  25 — 44  des  Buches  A',  dagegen  geht 
die  in  B'  Y'  enthaltene  Darstellung  weit  über  die  Grenze  der  in  A' 


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Inhalt  von  Hannon.  A'  und  B*  V. 


167 


gegebenen  Darstellung  hinaus,  obwohl  sie  auch  in  B'  V  am  Ende 
abgebrochen  ist.  Ich  skizzire  in  dem  Folgenden  den  Parallel-ln- 
halt  der  drei  über  die  Harmonik  handelnden  Bücher,  indem  ich 
ausser  den  §§  auch  den  Inhalt  der  umfassenderen  mit  römischen 
Zahlen  numerirten  Abschnitte  angebe. 


Buch  A  . 

Prooimion  A  §  1—24.  Darin  das 
Inhaltsverzeichniss  §  4  ff. 

I.  Continuirliehe  und  discontinuir- 
lichc  Bewegung  der  Stimme  (A 

§  25-281. 

II.  Aufsteigen,  Absteigen,  Höhe, 
Tiefe,  Tonstufe  |A  §  20—30). 

III.  Grösste  und  kleinste  Kutfernung 
zwischen  Hohem  u.  Tiefem  (A 
§  33-35). 

IV.  Definition  von  Ton,  Intervall 
und  System  und  Einteilung  der- 
selben i  A  §  36—41). 

V.  Allgem.  Unterschied  des  musikal. 
Mdos  von  den  übrigen  Arten 
des  Melos  iA  §  42-44i. 

VI.  Die  drei  Arten  des  musikalischen 
Melos:  diatonisches,  chromati- 
tisches.  enharmonisches  |  A  §45). 


VII.  Die  symphnnisehen  Intervalle  (A 

§  46-48). 

VIII.  Der  Ganzton  und  seine  Theile 
(A  §49). 

IX.  Die  Unterschiede  der  Tonge- 
»chlechter  und  wie  sie  entstehen 
(  A  §  50 1: 

a)  die  Bewegungsriiumc  der  Li- 
chanos  und  Parhypate  (  A  §  51 
—53). 

b)  die  Tongeschlechter  im  Ein- 
zelnen und  die    Chroai  (A 

§  54-5«). 


Buch  B'  u.  r. 

Prooimion  B  §  1  ff.,  durchaus 
verschieden  von  <lein  Prooimion 
des  Buches  A'. 


VI.  Genos  diatonon,  chromatikon, 
enhai-monikon  B  §  45. 


VII.  Die  symphonischen  Intervalle  (B 
§  46— 4mi. 

VHI.  Der  Ganzton  und  seine  Theile 
(Ii  §  491. 

IX.  Die  Unterschiede  der  Tonge- 
schlechter und  wie  sie  entstehen 
(B  §  50): 

a)  die  Bewegungsriiume  der  Li- 
chauos  und  Parhypate  B  §  51 
—53, 

b)  die  Tongeschlechter  im  Ein- 
zelnen und  die  Chroai  (B 
§  54-56). 


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168 


Aristoxenus  Schriften  über  das  Melos. 


c)  die  beiden  unteren  Tetra- 
chord-Intervalle  (A  §  57.  58). 

X*  Ueber  die  Intervallfolge  auf  der  j 
Scala  im  Allgemein.  { A  59 — 61).  j 

XI.  Die  einfachen  und  zusammenge- 
setzten Intervalle.  Fehlt  gänz- 
lich. 


XII.  Die  emmelischen  Zusammensetz- 
ungen der  Intervalle.  Von  diesem 
Abschnitte  sind  im  Buche  A 
nur  wenige  zusammenhangslose 
Sätze  erhalten. 


c)  die  beiden 

chord-IntervaUe  (B  §  57.  58). 

X.  Ueber  die  Intervallfolge  auf  der 
Scala  im  Allgemein.  (B  §  59 — 61). 

XI.  Die  einfachen  und  zusammenge- 
setzten Intervalle. 
Von  diesem  Absclinitte  der  An- 
fang nicht  überliefert  Erhalten 
bloss  ein  Theil:  ,.  Bestimmung 
der  diaphonischen  Intervalle 
durch  die  symphonischen"  §  62 
—69,  welche  in  den  Handschrif- 
ten hinter  §  71  ihre  Stelle  be- 
kommen haben. 

XII.  Die  emmelischen  Zusammensetz- 
ungen der  Intervalle,  dargestellt 
in  achtundzwanzig  Problemen. 
Probl.  1  und  2  als  Axiome  (B 
§  70.  71). 

[Einschaltung  der  Partie  über  das 
Bestimmen  der  Intervalle  durch 
die  Symphonieen  62 — 69.  Eine 
Verlegung  der  Blätter  der  Hand- 
schrift.] 

Probl.  3-6  (r  §  72-78.) 

Aufeinanderfolge  gleicher  Inter- 
valle: Probl.  7—13  (r  §  79—85). 

Aufeinanderfolge  ungleicher  In- 
tervalle :  Probl.  1 4— 1 8  (P  86—90). 

Die  unmittelbaren  Nachbar- 
intervalle eines  jeden  Intervalle» 
Probl.  19—26  (r  §  91-105). 

Das  Diatonon  hat  2  oder  3  oder 
4  Intervallgrössen  zu  Bestand- 
teilen, das  Chroma  und  Enhar- 
harmonikon  deren  3oder4.  Probl. 
27.  28.  i.r  §  106.  107). 

XIII.  Die  Schemata  der  Systeme  (T 
§  108.  109),  unvollständig. 


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Inhalt  von  Harm.  A'  und  B'  P. 


169 


Dass  ein  Schriftsteller  dieselbe  Disciplin  zweimal  in  verschie- 
denen Werken  behandelt,  und  zwar  in  derselben  Reihenfolge  der 
Abschnitte  und  gar  der  Paragraphen,  das  ist  ganz  und  gar  nicht 
auffallend.  Aber  das  dergleichen  in  ein  und  demselben  Werke  ge- 
schehe, dergestalt,  dass  das  im  ersten  Theile  dargestellte  noch  ein- 
mal mit  anderen  Worten  im  zweiten  und  dritten  Theile  dargestellt 
würde,  das  wäre  durchaus  unerhört.  Es  kann  keinem  Zweifel  unter- 
liegen, dass  die  beiden  parallelen  Darstellungen  des  nämlichen  In- 
haltes nicht  verschiedene  Bücher  desselben  Werkes  sind,  sondern 
dass  sie  verschiedene  Werke  bilden.  Wir  haben  in  den  drei  har- 
monischen Büchern  des  Aristoxenus  nicht  Eine  Harmonik,  sondern 
um  dies  sogleich  aus  den  folgenden  Erörterungen  zu  anticipiren,  drei 
verschiedene  Darstellungen  der  Harmonik. 

Die  Paralleldarstellung  im  ersten  Buche  einschliesslich  des 
Prooimions  ist  die  erste  Harmonik  des  Aristoxenus. 

Die  Parallcldarstellung  des  zweiten  und  dritten  Buches  von  der 
in  den  Handschriften  enthaltenen  Mariginalzusehrift  Äpjpj  an  ist  die 
zweite  Harmonik  des  Aristoxenus. 

Die  im  zweiten  Buche  enthaltene  Anfangs-Partie  ist  das  Prooi- 
mion  einer  dritten  Harmonik  des  Aristoxenus. 

Keine  der  drei  Aristoxenisehen  Darstellungen  der  Harmonik  be- 
sitzen wir  vollständig.  Aus  der  ersten  Harmonik  liegt  uns  die  An- 
fangspartie vor,  aus  der  zweiten  die  Mitte,  zum  Theile  das  nämliche, 
wie  aus  der  ersten;  aus  der  dritten  Harmonik  besitzen  wir  nur 
das  Prooimion. 

Meine  grieclusche  Harmonik  1863  S.  41  (1867  S.  37)  hatte 
noch  nicht  erkannt,  dass  das  Prooimion  des  zweiten  Buches  als 
Fragment  eines  dritten  Werkes  abzutrennen  sei.  Sie  nahm  an,  dass 
die  drei  harmonischen  Bücher  z  w  e  i  verschiedenen  Werken  des  Ari- 
stoxenus angehören,  und  erst  im  weiteren  Verlaufe  der  handschrift- 
lichen Ueberliefening  die  bei  Meibom  ihnen  vindicirten  Titel  erhal- 
ten haben  müssten.  Die  Titel  der  Meibom'schen  Handschriften  seien 
zwar  auch  schon  dem  fünften  nach-christlicheii  Jahrhunderte  be- 
kannt, denn  Proclus  im  Commentare  zu  Piatos  Timaeus  3  p.  192 
citire  das  erste  Buch  als  irpeüro;  tt,;  apjiovixTj;  Tretyeiuioscu;. 

Aber  der  Musiker  Klaudius  Diuymus  aus  der  Zeit  Nero's,  (dem 
Aristoxenus  noch  um  400  Jahre  näher  als  Proclus  stehend)  citire 


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170 


Aristoxenus  Schriften  über  das  Molos. 


das  Prooiinion  des  jetzt  so  genannten  Buches  B  noch  als  -po- 
ofjitov  toO  TTptufrou  tujv  apfiovtxtov  oTov/£ttuv,  (bei  Porphyr,  ad  Ptolem. 


p.  211)  und  Porphyrius  selber  aus  der  Zeit  des  Diocletian  oitire 
eine  Stelle  aus  B  als  irpÄto;  twv  apjiovt/wv  arot/eitov  Porphyr,  ad 
Ptolem.  p.  297.  Dagegen  führe  dei-selbe  Porphyrius  das  bei  Mei- 
bom sogenannte  erste  Buch  A  §  34  als  rowro;  Trspi  apyöw  an. 
Ausserdem  berichte  Porphyr,  ad  Ptolem.  p.  258,  Aristoxenus  sei 
von  einigen  seiner  Nachfolger  deshalb  getadelt  worden,  weil  er  seine 
oroiysta  apjAovua  nicht  mit  der  Lehre  vom  Tone,  sondern  mit  den 
Tongeschlechtern  begonnen  habe;  hieraus  folge,  dass  auch  bei  diesen 
„Nachfolgern  des  Aristoxenus"  das  bei  Meibom  sogenannte  zweite 
Buch  der  Stoicheia  den  Anfang  der  Stoicheia  gebildet  habe,  dass 
dagegen  das  bei  Meibom  sogenannte  erste  Buch  der  Stoicheia  nicht 
den  Titel  der  apjxovixa  rroi/sia  geführt  haben  könne.  „Denn  jenen 
Tadel  konnten  sie  nur  dann  aussprechen,  wenn  in  den  ihnen  vor- 
liegenden Exemplaren  das  jetzt  sogenannte  ßißX.  B  den  Anfang 
bildete;  in  der  That  fängt  nämlich  Aristoxenus  in  dieser  seine  Dar- 
stellung der  harnionischen  Elemente  mit  den  Tongeschleehtem  an 
und  erklärt,  dass  es  nicht  nftthig  sei  über  die  Natur  des  Tones  zu 
reden.  Wäre  damals  A  zu  den  atoi/*ia  appovr/a  gezählt  worden, 
so  hätte  der  Tadel  nicht  gemacht  werden  können,  denn  A  $  36  be- 
ginnt die  Harmonik  mit  dem  Tone,  also  gerade  so  wie  jene  Nach- 
folger des  Aristoxenus  es  für  passend  halten. 


Dieses  Resultat,  zu  welchem  ich  in  der  griechischen  Harmonik 
d.  J.  1803  gelangte,  hat  seitdem  eine  willkommene  Bestätigung  er- 
halten durch  die  Veröffentlichung  der  von  Manjuard  und  Studemund 
herbeigezogenen  Aristoxenus-HandschrinVn  ( 1 8f J9). 

In  dem  Cod.  Yenetus,  dem  ältesten  von  allen,  führt  das  zweite 
Buch  in  der  Unterschrift  nicht  wie  bei  Meibom  den  Titel  'A.  apfxo- 
vi/uiv  37<H/euuv  ß',  sondern  wie  bei  Porphyrius  A.  3tor/euov  apjiovt- 
xtov  a,  und  ebenso  das  dritte  nicht  den  Tittel  'A.  aroi/etu»  •{ ,  sondern 


Handschriften  des 


Didyinius  und  Porphyrius: 


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Ueberlieferte  Titel. 


171 


W.  yrotyeuov  otpixovuojv  ß'.  Zwar  ist  in  der  Handschrift  in  jenes  a' 
ein  ß'  hineincorrigirt  und  ebenso  in  jenes  ,3'  ein  /,  aber  a  und  ,3', 
nicht  |5t'  und  7'  sind  die  Lesarten  der  prima  manus. 

In  der  Ueberschrift  des  zweiten  Buches  ist  zwar  im  Venet.  wie 
hei  Meibom  der  Titel  'A.  apjxovixow  ,3',  aber  die  secunda  manus  hat 
die  Lesart  A.  apfiovixtov  oroi/sttov  a  angemerkt. 

Dem  ersten  Buche  Marquard's  giebt  der  cod.  Venetus  in  der 
Ueberselirift  den  Titel  A.  irpo  tu>v  apjxovixwv  aroi/Etiov  und  ahnlieh 
der  cod.  Barberinus  A.  7:00  tcuv  app.ovtxu>v  irpirov.  Die  Unterschrift 
des  Buches  lautet  im  Venetus  A.  to  irpirov  Tror/ctov:  eine  secunda 
manus,  die  zugleich  oroiysiov  in  aTot^e'-wv  corrigirt,  schreibt  über 
-ocütov  die  Lesart  upo  twv  — ,  also: 

Apurr'^vou  z?>  Trpi  T<öv  «rroiyclrov  rpuJrov. 

Die  Uebereinstimmung  mit  Didyraus  und  Porphyrius  lässt  keinen 
Zweifel,  dass  die  im  Venetus  erhaltene  Variante 

'Apioro;£vo'j  oroiysüov  dofjiovix'üv  a'  .  .  .  ß' 

an  Stelle  des  Meibom'schen:  / 

'ApioroSdvo-j  arotyEtcuv  dpuowxujv  3'  .  .  .  / 

die  alte  Lesart  ist,  und  eben  dies  führt  zu  der  Ueberzeugung,  dass 
auch  das  nicht  bloss  durch  den  Venetus,  sondern  auch  durch  den 
Barberinus,  wohl  auch  noch  durch  andere  Handschrilten  an  Stelle 
des  Meibom'schen 

Aptrro;fvoy  «pfiovixöiv  ototyeUuv  a 
überlieferte 

auf  alter  Tradition  beruht.  Dieser  Titel  ist  zwar  ein  anderer  als 
der  von  Porphyrius  überlieferte 

'Api3T0;£wj  äp|AOvtx«iv  dpywv  a, 

immerhin  aber  rührt  er  aus  einer  Zeit,  in  welcher  man  noch  wusste, 
dass  das  betreffende  Buch  nicht  zu  den  oxoi/sTa  aptxovixa  gehörte. 
Der  Titel  ist  augenscheinlich  durch  die  Aufeinanderfolge  der  Aristo- 
xenisehen  Bücher  in  der  Handschrift  veranlasst.  Man  hatte  zwei 
Bücher  rcor/sia  apfiovixa  des  Aristoxenus,  ihnen  ging  noch  ein 
anderes  voraus  „das  den  harmonischen  Stoicheia  vorausgehende" 
„to  ro6  twv  3rot/eto)v  otpfiovixuiv",  ein  ähnlicher  Titel  wie  tinter  den 
Werken  von  Aristoxenus  Lehrer  Aristoteles  der  Titel: 

„rd  pe-rd  -rd  ^uatxd"  d.  i, 

„das  auf  die  dxpdaot;  <?j<3\xit  folgende". 


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172 


Aristoxenus  Schriften  über  das  Melos. 


Meine  im  Jahre  1863  in  der  ersten  Auflage  der  Harmonik  über  das  Ver- 
hältniss  der  3  Aristoxenischen  Bücher  der  Harmonik  veröffentlichte  Conjectur, 
deren  Bestätigung  durch  die  Handschriften  der  Marquard' scheu  Ausgabe  1869 
ich  im  unmittelbar  Voranstehenden  registriren  musste,  habe  ich  in  der  zweiten 
Auflage  der  Harmonik  1867  unverändert  wieder  abdrucken  lassen,  da  damals 
nur  Ptolemaeus  eine  neue  Durcharbeitung  erhalten  konnte;  doch  finde  ich  in 
meinem  Exemplare  der  ersten  Auflage  zu  S.  47  (vor  dem  letzten  Absätze)  fol- 
genden Manuscript-Zusatz,  den  ich  damals  für  den  Wiederabdruck  niederschrieb, 
aber  während  des  Druckes  zurückzog,  weil  ich  mir  wohl  bewusst  war,  dass 
damit  die  Aristoxcnische  Frage  nicht  erledigt  sein  würde,  und  schon  damals 
die  Hoffnung  hatte,  dass  ich  dem  Aristoxenus  noch  eine  umfassende  Arbeit 
widmen  würde  (eine  Hoffnung,  die  nun  freilich  erst  durch  die  vorliegende  Aus- 
gabe sich  realisirt).  Jenef  in  dem  Jahre  1866  niedergeschriebene  Zusatz  lautet: 
„Soweit  die  erste  im  Sommer  1863  veröffentlichte  Ausgabe  der  griechischen 
„Harmonik.  Gleichzeitig  erschien  eine  Dissertation  von  Herrn  Marquard  über 
„die  harmonischen  Bücher  des  Aristoxenus,  in  welchem  derselbe  ebenfalls  zu 
„dem  Resultate  gelangte,  dass  von  den  drei  die  Harmonik  behandelnden  Bücher 
„des  Aristoxenus  das  erste  einem  ganz  anderen  Werke  als  das  zweite  und 
„dritte  angehöre.  Auch  wird  darin  die  Acchtheit  des  einen  dieser  beiden 
„oder  beider  Werke  angezweifelt. 

„Nicht  lange  nachher  e: schien  der  Grundriss  der  griechischen  Litteratur 
„von  Theodor  Bergk  in  «lern  Nachtrage  zu  Ersch  und  Grubers  Encyclopaedie, 
„wo  S.  446  folgendes  ausgesprochen  ist:  „Von  den  3  Büchern  der  Harmonik 
„ist  übrigens  das  erste  ganz  zu  trennen.  Es  bildet  dies  Buch  den  Anfang  einer 
„selbständigen  Schrift  Ttepl  dpy  wv,  und  erst  mit  dem  zweiten  Buche  beginnt  die 
„Darstellung  der  Harmonik." 

„Das  Verhältniss  der  beiden  denselben  Gegenstand  behandelnden  Schriften 
„lässt  sich  noch  bestimmter  als  es  in  der  ersten  Auflage  geschehen  ist  folgen- 
„dermaassen  auffassen.  Beide  Werke  sind  unmittelbar  aus  den  Vorlesungen, 
„welche  Aristoxenus  über  Harmonik  gehalten  hat  hervorgegangen ,  das  erste 
„aus  einer  früheren,  das  zweite  aus  einer  spateren  Vorlesung  über  denselben 
„Gegenstand.  Die  spätere  dieser  Vorlesungen  ist  vielleicht  nicht  von  Ari- 
stoxenus herausgegeben,  sondern  von  einem  der  dieselbe  nachschreibenden  Zu- 
„hörer,  deren  Persönlichkeit  mehrere  male  in  der  entschiedensten  Weise  in 
„den  Znsammenhang  des  von  Aristoxenus  Vorgetragenen  hineintritt. 

„Was  die  erste  Vorlesung  über  die  Wfcai  äpfiavtxüiv  sagt  (£v  tot;  ffizpooBev), 
„braucht  man  von  keiner  besonderen  Schrift  zu  verstehen,  sondern  es  kann 
„sich  dasselbe  auch  auf  einen  früheren  Theil  derselben  Vorlesung  beziehen." 


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Die  verschiedenen  Darstellungen  der  Harmonik 
als  Aristoxenische  Vorlesungen. 

Die  eben  mitgetheilten ,  zu  Halle  im  Jahre  66  niedergeschriebenen  Be- 
merkungen über  die  Entstehung  der  Aristoxenisehen  Schriften  als  Vorlesungen 
sollten  nach  ursprünglicher  Absicht  in  die  zweite  Auflage  der  griechischen 
Harmonik  aufgenommen  werden.  In  der  Hoffnung,  dem  Aristoxenus  dereinst 
eine  umfassendere  Arbeit  zu  widmen,  habe  ich,  wie  gesagt,  damals  den  Ab- 
druck der  Bemerkungen  unterdrückt.  Auch  jetzt,  wo  ich  nicht  mehr  wie  da- 
mals nur  zwei,  sondern  drei  verschiedene  Darstellungen  der  Aristoxenischen 
Harmonik  annehme,  muss  ich  die  Entstehung  aus  Vorlesungen  festhalten. 

Für  die  erste  Harmonik  findet  sieh  ein  deutliches  Indicium  dieser  Ent- 
stehung im  §  38  bei  der  Definition  des  Systemes: 

„Doch  muss  der  Zuhörer  jede  der  gegebenen  Begriffsbestimmungen  ent- 
gegenkommend aufzufassen  versuchen,  ohne  sich  dabei  zu  kümmern,  ob  die 
„gegebene  Definition  vollständig  oder  zu  allgemein  sei;  er  muss  den  guten 
„Willen  haben,  aiv  ihrer  Bedeutung  nach  einzusehen,  muss  denken,  für  den 
„Zweck  des  Lernens  sei  sie  ausreichend,  wenn  sie  in  das  Verständniss  dessen, 
„was  hier  gesagt  wird,  einzuführen  vermag.  Denn  nicht  leicht  lässt  sich  über 
„das  zum  Eingange  Gehörige  etwas  sagen,  was  nicht  angegriffen  werden  könnte 
„und  eine  vollständig  ausreichende  Erklärung  enthielte.  Am  wenigsten  ist  dies 
„bei  den  drei  vorliegenden  Punkten:  „Ton,  Intervall,  System"  der  Fall." 

Das  ist  eine  Entschuldigung  des  Aristoxenus,  die  er  ganz  unzweifelhaft 
in  einer  mündlichen  Vorlesung,  in  der  Anwesenheit  seiner  Zuhörer  gemacht  hat. 

In  der  zweiten  Harmonik  ist  es  die  Stelle  von  den  Bewegungsräumen 
der  Licbano8  und  der  Parhypate  §  53b.  c.  d.  e,  aus  welcher  hervorgeht,  dase 
die  hier  vorgetragenen  Punkte  Aristoxenus  nicht  bloss  vor  seinen  Zuhörern 
erörtert,  sondern  auch  unmittelbar  durch  einen  seiner  Zuhörer  zu  dieser  Erör- 
terung veranlasst  ist,  —  er  ist  während  der  Vorlesung  von  einem  Zuhörer  in- 
terpellirt  worden: 

„Hier  warf  nun  einer  der  Zuhörer  die  Frage  auf,  wie  es  komme,  dass, 
„wenn  irgend  eines  der  unmittelbar  unter  der  Mese  liegenden  Intervalle,  wie  gross 


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174 


Aristoxenus  Schriften  Uber  das  Melos. 


„es  auch  sei,  gesetzt  werde,  dass  dann  stets  der  tiefere  Ton  desselben  Lichanos 
„heisse?  Denn  warum  sollen  die  Mese  und  Paramese  u.  s.  w.  stets  ein  und 
„dasselbe  Intervall  begrenzen,  zwischen  der  Mese  und  Lichanos  aber  bald  ein 
„kleineres,  bald  ein  grösseres  System  angenommen  werden?  Besser  sei  es,  den 
„Namen  der  Töne  zu  ändern  u.  s.  w.".  Alle  Achtung  vor  dem  Scharfsinne 
des  alt-Athenischen  Zuhörers  aus  der  Vorlesung  des  Aristoxenus,  der  bezüg- 
lich der  Intervall-Nomenclatur  das  durchaus  gerechtfertigt«;  Verlangen  hat,  dass 
bestimmte  constante  Intervall-Grössen  auch  bestimmte  constante  Namen  haben 
sollten.  Ja,  gleiche  Thatsachen,  gleiche  Benennungen!  Der  alte  Zuhörer  des 
Aristoxenus  hatte  ganz  Recht.  So  hätte  es  in  der  Musik  der  alten  Hellenen 
sein  müssen,  wie  es  ja  auch  in  der  unserigen  nicht  anders  ist.  Leider  aber 
hatte  das  historische  Festhalten  an  den  alten  Tetrachorden  jene  höchst  eigen- 
tümliche von  der  unserigen  so  abweichende  Intervallen-Noinenclatur  nun  ein- 
mal hervorgerufen  und  Aristoxenus  ist  eonservativ  genug,  um  das  einmal  Her- 
gebrachte auch  hier  in  Schutz  zu  nehmen:  Wenn  die  gleichen  Namen  auch 
nicht  gleiche  Thatsachen  bezeichnen,  so  bezeichnen  sie  doch  wenigstens  ahn- 
liche Eindrücke  des  Kthos,  und  auch  diesen  Aehnlichkeiten  müsse  Rechnung 
getragen  werden.  Wir  merken  wohl,  es  kostet  dem  Aristoxenus  alle  Mühe, 
um  die  bestehenden  Thatsachen  gegenüber  den  gar  nicht  ungerechtfertigten 
Einwendungen  des  intelligenten  neuerungssüchtigen  Zuhörers  zu  schützen. 

Li  der  vorher  angeführten  Stellt;  der  ersten  Harmonik  (das  waren  die 
Vorlesungen  über  Harmonik  aus  einem  der  früheren  Semester!  setzt  Aristoxe- 
nus bei  seinen  Zuhörern  den  guten  Willen  voraus,  sich  vorläufig  mit  seinen 
Definitionen  zufrieden  zu  stellen,  auch  wenn  sie  vorerst  an  der  nöthigen  Voll- 
ständigkeit noch  dieses  oder  jenes  zu  wünschen  lassen  sollten.  Hier  in  der 
Wiederholung  desselben  Collegs  in  einem  späteren  Semester  wird  Aristoxenus 
bereits  von  seiner  Zuhörerschaft  interpellirt :  der  rein  didaktische  Vortrag  geht 
in  ein  Colloquium  über. 

Genau  so  wird  Aristoxenus  in  der  zweiten  Harmonik  §  72  interpcllirt: 

„Jetzt  war  einer  von  den  Zuhörern  bezüglich  der  Intervall-Folge  in  Zwei- 
„fel,  zunächst  im  Allgemeinen,  worin  die  Aufeinanderfolge  bestehe,  dann  ob 
,,sie  bloss  auf  Eine  oder  auf  mehrere  Arten  vor  sich  gehen  könne,  endlich  ob 
„beides,  die  Synemma  und  die  Diezeugmena  eine  Aufeinanderfolge  sei.  Hierauf 
„pflegten  folgende  Auseinandersetzungen  gegeben  zu  werden 

Auch  hier  hat  Aristoxenus  sich  viele  Mühe  zu  geben,  um  den  Einwenden 
des  Zuhörers  gehörig  zu  begegnen.  Es  liegt  am  Tage,  dass  wir  an  dieser  Stelle 
nicht  die  Worte  eines  Aristoxenischen  Collegienheftes ,  nicht  die  Wort«;  einer 
noch  zu  haltenden  Vorlesung  vor  uns  haben.  Die  Worte  können,  wie  sie  hier 
vorliegen,  erst  nach  der  mündlich  gehaltenen  Vorlesung  niedergeschrieben  sein. 
Und  zwar  besagt  das  Imperfectum:  „etwa  folgende  Auseinandersetzungen  pfleg- 
ten gegeben  zu  werden",  dass  Aristoxenus  dies  nicht  unmittelbar  nach  der  Vor- 
lesung, sondern  geraume  Zeit  nachdem  er  die  in  Rede  stehende  Vorlesung 
mehrmals  (in  verschiedenen  Semestern)  gehalten  hatte. 


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Hervorgegangen  aus  Vorlesungen. 


175 


Noch  einige  andere  Stellen  der  zweiten  Harmonik  würden  sieh  durch 
Annahme  von  Interpellationen,  welche  Aristoxenus  durch  seine  Zuhörerschaft 
erfahren,  erklären  lassen:  nämlich 
§  75  (viertes  Problem): 

„Auch  in  Beziehung  auf  dieses  Problem  findet  eine  Irrung  Htatt,  bezüg- 
lich des  Unistandes,  dass  ein  unzusaininengesetztes  Intervall  von  der- 
„selben  Grösse  sein  könne,  wie  das  zusammengesetzte  eines  anderen 
„Tongeschlechtes" 
und  §  7S  (sechstes  Problem): 

„Es  ist  gewöhnlich,  dass  einige  auch  bei  diesem  Probleme  einen  Anstoss 
„nehmen,  nämlich  diesen,  weshalb  hier  „höchstens"  hinzugefügt  und  aus 
„welchem  Grunde  nicht  einfach  gezeigt  ist,  dass  jedes  Tongcschlecht 
„aus  so  viel  einfachen  Intervallen,  wie  in  der  Quinte  enthalten  sind, 
„besteht    Diesen  wird  entgegnet,  dass  u.  s.  w.". 

Doch  lassen  sich  diese  beiden  Stellen  auch  anders  erklären.  Die  drei 
vorher  angeführten  Stellen  dagegen  reden  von  den  Zuhörern  zu  ausdrücklich,  als 
dass  man  darüber  Zweifel  hegen  könnte,  da*«  die  erste  und  zweite  Harmonik 
des  Aristoxenus  aus  Vorlesungen  hervorgegangen  sind,  und  zwar  ist  die  zweite 
Harmonik  entschieden  erst  nach  der  Zeit,  wo  Aristoxenus  die  Vorlesung  ge- 
halten, ausgearbeitet  worden. 

Dass  auch  die  dritte  Harmonik  des  Aristoxenus  aus  Vorlesungen  hervor- 
gegangen ist,  darüber  haben  wir  zwar  keine  so  direkten  Zeugnisse  wie  für  die 
erste  und  zweite  Harmonik.  Aber  auch  für  sie  wird  der  gleiche  Ursprung  wie 
für  die  erste  und  zweite  Harmonik  überaus  wahrscheinlich.  Denn  der  Anfang 
des  Prooimions,  des  einzigen  Restes  dieser  dritten  Harmonik  §  1 ,  in  welchem 
der  Verfasser  von  der  Eigentümlichkeit  der  Vorlesungen  Piatos  und  Aristo- 
teles redet,  erklärt  sich  am  natürlichsten,  wenn  auch  diese  dritte  Harmonik 
des  Aristoxenus  ursprünglich  als  eine  Vorlesung  gehalten  war. 

Hoffen  wir,  dass  diese  Nachweisungen  dj-s  Ursprunges  der  drei  ähnlichen 
Werke  des  Aristoxenus  dazu  beitragen  werden,  auch  den  Ursprung  der  ver- 
schiedenen über  denselben  Gegenstund  handelnden  Werke  des  Lehrers  Aristo- 
teles aufzuhellen. 


Erst  nachdem  ich  zur  zweiten  Auflage  meiner  Harmonik  den  Zusatz  nieder- 
geschrieben, dass  die  harmonischen  Schriften  des  Aristoxenus  aus  mündlichen 
Vorlesungen  hervorgegangen  sind,  las  ich  1868  die  das  Datum  dieses  Jahres 
tragende  Ausgabe  der  harmonischen  Fragmente  des  Aristoxenus  von  Marquardt 
Im  Schlüsse  der  Arbeit  S.  390  heisst  es  dort:  „Es  ergiebt  sich  als  unzweifel- 
haft das  Resultat,  dass  wir  weder  die  dp/ai  noch  die  oxoiyeia  des  Aristoxenus 
„auch  nur  annähernd  in  der  Gestalt  vor  uns  haben,  wie  sie  von  Aristoxenus 
„abgefasst  sind,  dass  wir  vielmehr  im  Buche  A'  und  ebenso  auch  im  Buche  B'  V 


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■ 


176  Aristoxenus  Schriften  über  das  Melos. 

„Excerpte  (statt  der  dpyai  und  arotyeta)  zu  erblicken  haben,  und  zwar  Excerpte» 
„welche  nicht  einmal  aus  ein  und  demselben,  sondern  offenbar  aus  verschiedenen 
„Büchern  des  Aristoxenus  gezogen  sind." 

„Hierbei  jedoch  tritt  noch  ein  eigentümlicher  Umstand  zu  Tage,  welcher 
„die  Lösung  der  Frage  erheblich  erschwert.  Sind  nämlich  die  beiden  Theile 
„ganz  abgesondert  von  einander  gemachte  Sammlungen,  wie  ist  es  zu  erklären, 
„dass  sie  in  der  ganzen  Auswahl  der  Anordnung,  ja  selbst  in  einzelnen  Wen- 
dungen eine  so  höchst  auffallende  Aehnlichkcit  zeigen  (nur  mit  Ausschluss  der 
„letzten  Abschnitte  B'  P  von  §  62  an)?  Sind  die  beiden  Sammlungen  von 
„verschiedenen  Leuten  aus  vereclüedenen  Werken  des  Aristoxenus  gemacht, 
„warum  zeigen  sie  so  wenig  individuelle  Verschiedenheit?  In  meiner  Disser- 
tation habe  ich  diese  Erscheinung  dadurch  zu  erklären  versucht,  dass  ich  einen 
„einzigen  Excerpter  annahm,  welcher  zu  irgend  einem  Zwecke  beide  Sammlungen 
„gemacht  habe.  Diese  Erklärung  wird  sich  nicht  halten  lassen ,  gerade  weil 
„der  Zweck  so  ganz  räthselhaft  ist." 

Vielmehr  sind  die  beiden  so  ähnlichen  „Excerptsammlungen",  welche  Mar- 
quard  hier  vor  sich  zu  haben  vermeint,  die  genuinen  Reste  der  ersten  und  der 
zweiten  Aristoxenischen  Harmonik,  weit  weniger  durch  Auslassungen,  Umstel- 
lungen und  Zusätzen  depravirt,  als  wie  an  sich  erwartet  werden  könnte. 

Marquard  fährt  fort:  „Ich  bin  daher,  zuerst  durch  Einwände  Studemunds 
„aufmerksam  gemacht,  einen  Schritt  weiter  gegangeu  und  zu  der  Ansicht  ge- 
„laugt.  dass  wir  allerdings  die  Machwerke  zweier  Excerptoren  haben,  die  Aehu- 
„lichkeit  aber,  welche  einein  Zufall  sclüechterdings  nicht  zugeschrieben  werden 
„kann,  ihren  Grund  in  dein  gemeinsamen  Original  hat,  welches  selbst  schon 
„eine  Compilation  aus  verschiedenen  Werken  des  Aristoxenus  war,  so  dass 
„wir  überhaupt  nicht  unmittelbar  aus  diesem  gezogene  Excerpte  besitzen  und 
„den  vorhandenen  Resten  in  der  That  nur  der  Name  „Fragmente"  gegeben 
„werden  darf.  Dieses  Resultat  würde  für  uns  sehr  niederschlagend  sein,  wenu 
„uns  nicht  der  Inhalt  der  einzelnen  Partieen  wenigstens  zum  grössten  Theil 
„dafür  bürgte,  dass  wir  es  doch  überwiegend  mit  wirklich  Aristoxenischen  Au- 
fhaltungen und  auch  wohl  Ausdrücken  zu  thun  haben.  Von  welcher  Be- 
schaffenheit nun  jenes  gemeinsame  Original  war,  kann  man  sich  nach  diesen 
„doppelten  Ecerpten  ungefähr  vorstellen.  Aus  verschiedenen  Werken  geschöpft, 
„in  denen  die  gleichen  Gegenstände  auf  eine  mindestens  der  Form  nach  ver- 
schiedene Weise  behandelt  waren,  musste  es  eine  Gestalt  gewinnen,  welche 
„neben  einer  fast  vollkommenen  Uebereinstimmung  in  der  Sache  manche  Ver- 
schiedenheiten in  Behandlung  und  Darstellung  zeigte. 

„Dass  unter  Quellen  dieses  gemeinsamen  Originals  die  Grundzüge  (ipyat) 
„und  die  Elemente  (a-ot/eia)  einen  hervorragenden  Platz  eingenommen  haben, 
„liegt  wohl  in  der  Natur  der  Sache,  aber  auch  andere  sind  herbeigezogen  wor- 
„den  und  unter  diesen  ganz  sicher  Collegienhefte.  An  solche  hatte  ich  früher 
„auch  gedacht;  Studemund  ist  der  Meinung,  dass  sie  Hauptquelle  gewesen 
„seien,  allein  dafür  finde  ich  keinen  rechten  Grund,  wohl  aber  ist  mir  un- 


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Hervorgegangen  aus  Vorlesungen. 


177 


„zweifelhaft  geworden,  dass  alle  jene  Partieen,  in  welchen  die  oben  besproche- 
nen auffallenden  Tempora  der  Vergangenheit  erscheinen*!,  aus  solchen  Heften 
„genommen  sind,  wird  es  doch  durch  den  Ausdruck  "H87)  o£  xt;  ^TtöprjoE  t&v 
„dxotxSvrcuv  fast  geradezu  gesagt  Uebrigens  scheint  jenes  Original  für  immer 
„verloren  zu  sein." 

Die  hier  von  Marquard  herangezogene  Stelle  des  Aristoxenus  ist  dieselbe, 
welche  wir  oben  S.  174  ausfuhrlich  erklärt  haben.  Wie  unser  Vorgänger  be- 
züglich den  Ausdruck  „fast  geradezu44  gebrauchen  kann,  ist  mir  unerfindlich. 
Berichtet  doch  Aristoxenus  geradezu  in  einer  absolut  nicht  misszuverstehenden 

*)  Marquard  meint  hier  folgende  Stellen  der  zweiten  Harmonik: 

§  52c:  lipo;  69)  rauta  totoÜTOi  £X£y&T)Oav  Xöfot  .  .  . 

§  73:   *H6t)  Ik  xt?  "f)7TÖ{>Tj;e  to»v  dxouovraw  .  .  . 

§  73:    Hp6;  3e  touto  toioütoi  Ulfo-rzo  h'tfoi  ... 

§  97:   "H5tj  hl  ttoi  xai  toüto  tg  -p^Xrjfia  rcapiaye  nXdvirjv  .  .  . 

§  98:    llpös  o9)  xauta  uptüTOv  pisv  iX^/Jh)  .  .  . 

§  108:  "lUtj  tl  ti;  ^rdpTjOe  otd  r(  oüx  av  xai  xauxa  rd  y^vtj  Ix  060  do'jvft^Touv. 

In  allen  diesen  Stellen  heisst  es,  dass  bei  diesem  oder  jenem  Satze  des 
Aristoxenus  irgend  ein  Anstoss  genommen  worden  sei,  zum  Theil  mit  dem  aus- 
drücklichen Bemerken,  dass  dies  von  einem  der  Zuhörer  geschehen,  und  ferner 
wird  dann  mitgetheilt,  was  Aristoxenus  darauf  erwidert  habe  oder  zu  erwidern 
pflegte  oder  was  darauf  zu  erwidern  sei.  Wir  unterschreiben,  was  Marquard 
S.  388,  wo  er  diese  Stelle  anführt,  bemerkt:  „So  erörtert  Niemand  die  An- 
sichten der  Gegner,  so  erzählt  vielmehr  der,  welcher  bei  Unterhaltungen,  Vor- 
lesungen u.  dgl.  über  den  Gegenstand  zugegen  gewesen  ist  und  nach  der  Hand 
darüber  referirt."  S.  391,  wo  Marquard  mittheilt  durch  Studemuud  daran  er- 
innert zu  sein,  dass  „Collegienhefte  die  Hauptquelle  gewesen  seien44,  meint  er, 
daas  jene  Stellen  aus  solchen  Heften  genommen  sind.  Vielmehr  muss  man 
sagen,  daas  in  jenen  Stellen  Berichte  aus  den  Vorlesungen  des  Aristoxenus 
gegeben  sind,  sofern  sie  aus  dem  Gange  des  didaktischen  Vortrages  in  eine 
Art  von  Disputatorimn  übergegangen  sind  und  zwar  Berichte  von  einem,  welcher 
bei  den  Vorlesungen  zugegen  war.  Das  kann  ein  Zuhörer  gewesen  sein,  es 
kann  aber  auch  Aristoxenus  selber  in  einer  Schrift,  welche  er  nach  Abhaltung 
der  Vorleaungen  niedergeschrieben,  deu  Bericht  gegeben  haben,  dass  und  wie 
er  damals  von  seinen  Zuhörern  interpcllirt  worden  sei.  Eine  solche  Schrift 
kann  man  nicht  gut  Collegienheft  nennen,  sondern  ein  aus  einer  Vorlesung 
entstandenes  Buch,  die  spätere  Ausarbeitung  einer  früher  gehaltenen  Vorlesung. 
Doch  gilt  dies  nur  für  die  zweite  Harmonik  des  Aristoxenus ;  die  erste  Har- 
monik kann  dagegen  recht  gut  ein  „Collegienheft"  sein,  zum  Gebrauche  für 
eine  zu  haltende  Vorlesung  niedergeschrieben.  Ebenso  auch  die  dritte  Har- 
monik, wenn  uns  anders  das  Prooimion,  wie  es  doch  deu  Anschein  hat,  er- 
mächtigt, auch  hier  eine  Beziehung  zu  der  Docenten-Thütigkeit  des  Aristoxe- 

uns  anzunehmen. 

Artitoienui,  Mellk  u.  Rhythmik.  12 


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178 


Aristoxenus  Schriften  über  das  Melos. 


Darstellung,  dass  ihn  einer  »einer  Zuhörer  intcrpellirt  und  was  er  selber  da- 
rauf geantwortet  habe.  Schon  ganz  abgesehen  von  allem  sachlichen  Inhalte, 
ist  das  eine  überaus  interessante  Notiz:  Der  Bericht  eines  alt-athenischen  Do- 
centen,  wie  es  ihm  in  einer  seiner  Vorlesungen  einem  intelligenten  Zuhörer 
gegenüber  (fast  möchte  man  ihn  einen  genialen  nennen)  ergangen  ist,  und  wie 
der  didaktische  Vortrag  zu  einer  Art  von  Colloquium  wurde.  Ich  kann  aber 
nicht  einsehen,  wie  jene  Stelle  aus  einem  Collegienhefte,  (so  versichert  Mar- 
quard)  genommen  sein  könne.  Vielmehr  ist  es  eine  schriftliche  Darstellung 
des  betreffenden  Docenten,  niedergeschrieben  zu  einer  Zeit,  wo  er  die  Vor- 
lesung, über  die  er  berichtet,  bereits  gehalten.  Oder  soll  die  betreffende 
Stelle  als  eine  Randbemerkung  gefasst  werden,  in  welcher  ein  nachschrei- 
bender Zuhörer  die  den  Zusammenhang  des  Vortrages  unterbrechende  Zwi- 
schenunterhaltung  eines  anderen  Zuhörers  mit  Aristoxenus  nachgeschrieben 
hat?  Das  erstere  ist  überaus  wahrscheinlich,  das  zweite  gar  nicht  Marquard 
scheint  absichtlich  zu  unterlassen  des  Näheren  zu  erklären,  wie  er  sich  den 
Zusammenhang  mit  dem  Aristoxenischen  Collegienheften  denkt  Studemund, 
sagt  er,  sei  der  Meinung,  dass  sie  Hauptquclle  gewesen  seien.  Darf  ieh  mir 
eine  Conjectur  erlauben,  so  hat  Marquard  von  dem,  was  ihm  Studemund 
mitgctheilt,  etwas  vergessen.  Denn  Studemund  wird  dem  Herrn  Marquard 
nicht  verschwiegen  haben,  dass  er  ihm  meine  Meinung  berichte,  dass  ich  zu 
Halle  im  Oktober  1866  im  Studirzimmer  des  leider  vor  kurzem  verstorbenen 
Professor  Theodor  Bergk,  diesem  meinem  alten  Lehrer  und  meinem  jungen 
Freunde  Wilhelm  Studemund,  von  den  Vorlesungen,  welche  Aristoxenus  zu 
Athen  über  Harmonik  gehalten,  in  freundschaftlicher  Unterhaltung  Mitthei- 
lung machte.  Ich  erinnere  mich  deutlich,  dass  dieser  unser  Unterhalrungs- 
gegenstand  den  beiden  Herren  Studemund  und  Bergk  damals  ganz  neu  war. 
Selbstverständlich  gereicht  es  mir  zur  Freude,  dass  jenes  Lrgebniss  meiner 
Studien,  die  harmonischen  Schriften  des  Aristoxenus  seien  aus  Vorlesungen 
hervorgegangen,  sowohl  Studemunds  wie  Marquards  Beifall  gefunden  hat. 


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Lücke  und  verlegtes  Blatt 
in  der  handschriftlichen  Ueberlieferung  von  B'  Schloss. 

Die  Citate  „ra  iv  apxi"  um'  » arot/ela". 

Ich  freuo  mich  auch  bezüglich  dos  Schlusses  von  B'  wenigsten«  theilweise 
mit  Marquard  übereinstimmen  zti  können.  Es  handelt  sich  um  die  Abschnitte, 
welche  im  Prooimion  der  ersten  Harmonik  folgendermaassen  skizzirt  werden: 

X  §  13.  „Weiter  haben  wir  von  der  Aufeinanderfolge  der  Intervalle  auf 
den  Systemen  anzugeben,  was  darunter  zu  verstehen  ist  und  wie  sie  darin 
entsteht." 

XI  §  14.  ..Hierauf  muss  zuerst  von  den  unzusammengesetzteu  Intervallen 
gesprochen  werden,  dann  von  den  zusammengesetzten.44 

XU  §  15.  „Wenn  wir  uns  aber  mit  den  zusammengesetzten  befassen,  so 
müssen  wir,  da  diese  zugleich  Systeme  sind,  auch  über  die  Zusammensetzung 
der  unzusammengesetzten  Intervalle  zu  handeln  im  Stande  sein." 

Der  Abschnitt  X  soll  also  die  Intervallenfolge  auf  der  Seala  im  Allge- 
meinen besprechen. 

Die  specielle  Ausführung  dieses  Abschnittes  liegt  sowohl  in  der  ersten 
wir  in  der  zweiten  Harmonik  vor. 

In  der  ernten  heilst  es  §  59:  „Die  unmittelbare  Aufeinanderfolge  der 
Intervalle  genau  zu  definiren  ist  im  Anfange  gar  nicht  leicht,  doch  muss  man 
versuchen,  sie  im  Umrisse  anzugeben.*' 

In  der  zweiten  Harmonik  §  59  heisst  es:  „Hierauf  ist  über  die  Aufeinander- 
folge der  Intervalle  zu  handeln,  indem  wir  zunächst  die  Art  und  Weise  an- 
deuten, in  welcher  die  Aufeinanderfolge  zu  definiren  ist." 

In  beiden  Darstellungen  der  Harmonik  geht  dieser  Abschnitt  X  über  ei- 
nige sehr  allgemeine  Gesichtspunkte,  welche  die  Methode  der  Untersuchung 
darlegen,  nicht  hinaus.  Offenbar  soll  weiterhin  noch  ein  Abschnitt  folgen, 
welcher  der  genauen  Darstellung  der  Intervall-Aufeinanderfolge  gewidmet  ist. 

Ausführlich  und  nahezu  vollständig  ist  dieser  Abschnitt  in  der  zweiten 
Harmonik  —  nur  sehr  fragmentarisch  und  abgekürzt  in  der  ersten  Harmonik 
—  erhalten.  In  der  zweiten  Harmonik  beginnt  er  §  70:  „Es  wird  nun  der  erste 
und  notwendigste  von  den  Punkten,  welche  sich  auf  die  emmelischen  Zu- 
sammensetzungen der  Intervalle  beziehen,  zu  bestimmen  sein."  Mit  diesen 
Worten  beginnt  die  Reihenfolge  der  28  Probleme,  welche  diese  Lehre  ausführen. 

12* 


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180  Aristoxenus  Schriften  über  das  Melos. 

Der  Abschnitt  X,  welcher  die  Intervall-Aufeinanderfolge  im  Allgemeinen 
definirt  (§59—61),  geht  in  der  zweiten  Ilarmouik  der  handschriftlichen  Ueber- 
lieferung  demjenigen  Abschnitte,  welcher  die  Intervall-Aufeinanderfolge  aus- 
führlich in  28  Problemata  darstellt,  unmittelbar  voraus.  Marquard  bemerkt 
S.  387  darüber  folgendes:  „Es  ist  zu  Consta tiren,  dass  ein  directer  Zusammen- 
hang zwischen  den  beiden  Abschnitten  nicht  stattfindet.  Aristoxenus  hat  im 
„ersten  der  beiden  Abschnitt«'  allerdings  von  Dingen  gehandelt,  welche  wir,  in 
„aller  Breite  ausgeführt,  im  zweiten  derselben  finden;  aber  gerade  dies  ist  ein 
„klarer  Beweis,  dass  diese  Abschnitte  nicht  unmittelbar  aufeinander  gefolgt 
„sind.  Denn  welchen  Sinn  hatte  es,  einen  Gegenstand  ganz  kurz  in  der  Haupt- 
sache zu  berühren  und  die  ausführliche  Behandlung  auf  später  zu  verweisen, 
„wenn  diese  unmittelbar  folgen  sollte?  Ausserdem  sagt  Aristoxemis  (§61),  die 
„genaue  Auseinandersetzung  über  die  Folge  der  Intervalle  lasse  sich  erst 
„geben,  wenn  die  Zusammensetzungen  der  Intervalle  erörtert  worden  sind. 
„Mau  erwartet  demgemäss  die  Behandlung  der  Punkte  in  jener  Reihenfolge 
„Aber  wiederum  (vgl.  S.  192)  entspricht  die  Ausführung  nicht  der  Ankündi- 
„gung."  Soweit  stimme  ich  meinem  Vorgänger  durchaus  und  vollständig  bei. 
Nicht  aber  den  Folgerungen,  die  er  aus  seiner  richtigen  Deduktion  zieht.  „Es 
„muss  zweifelhaft  erscheinen,  ob  die  beiden  Abschnitte  überhaupt  in  einem 
„und  demselben  Werke  gestanden  haben.*' 

Für  die  in  Rede  stehenden  Abschiütte  ist  das  Inhaltsverzeichnis  des 
Prooimious  intakt,  die  Ausführung  lückenhaft.  Denn  in  der  Ausführung  §  61 
sagt  Aristoxenus:  „Die  genaue  Erörterung  der  Aufeüianderfolge  ist  nicht  leicht 
„zu  geben,  bevor  die  Zusammensetzungen  der  Intervalle  erörtert  worden  sind." 
Genau  so  wollte  Aristoxemis  es  halten  auch  zufolge  dem  Inhaltsverzeichnisse  des 
Prooimious,  welches  zwar  der  ersten  Harmonik  angehört,  aber  dieselbe  Geltung 
auch  für  die  zweite  wie  für  die  erste  Harmonik  hat  (vgl.  oben). 

Dem  Prooimion  gemäss  will  nämlich  Aristoxcnus  handeln: 
X.  Ueber  die  Intervallfolge  im  Allgemeinen. 

XI.  Ueber  die  unzusamuiengcsctzteu  und  dann  über  die  zusammenge- 
setzten Intervalle. 

XII.  lieber  die  Zusammensetzung  der  unzusammengesetzten  Intervalle,  d.  i. 

ihre  Reihenfolge  auf  der  Scala. 
Das  stimmt  mit  jenen  Worten  des  §  61  überein,  dass,  um  die  Aufeinander- 
folge zu  erörtern,  vorher  die  Zusammensetzungen  der  Intervalle  erörtert  sein 
müssen. 

Ueber  die  Intervalle  „im  Allgemeinen"  (xaft'  5Xov>)  will  Aristoxenus  laut 
des  Prooimious  §  7  im  IV.  Abschnitt  sprechen.  Wir  besitzen  diesen  Abschiütt 
§  37  ff.  Doch  soll  dies  nach  Aristoxenus  §  38  nur  eine  vorläufige  Erörterung 
sein:  er  könne  dort  die  Sache  nicht  hinreichend  und  ausführlich  auseinander- 
setzen, der  Zuhörer  dürfe  das  noch  nicht  erwarten,  er  müsse  den  guten  Willen 
haben,  sich  vorläufig  an  den  Definitionen  genügen  zu  lassen.  Dann  giebt  Ari- 
stoxenus §  39  von  den  Unterschieden  der  Intervalle  vorläufig  fünf  an:   1.  den 


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Lücke  und  verlegtes  Blatt  von  B'  Schluss.  181 

Unterschied  nach  dem  Megethos,  2.  symphonische  und  diaphonische  Intervalle, 
3.  unzusammengesotzte  und  zusammengesetzte ,  4.  Unterschiede  nach  den  Ton- 
geschlechtern, 5.  rationale  und  irrationale  Intervalle.  Die  übrigen  Intervall- 
Einteilungen  aufzuführen  sei  für  jetzt  nicht  nöthig.  Ebenso  ist  auch  §  40.  41 
die  Eintheüung  der  Systeme  nur  eine  vorläufige.  „In  dem  Folgenden  wird 
alles  genauer  gezeigt  werden/' 

So  geht  auch  aus  dem  Abschnitte  IV.  hervor,  dass  der  dort  gegebenen 
vorläufigen  Erörterung  der  Intervalle  und  Systeme  im  weiteren  Verlaufe  der 
Harmonik  eine  näher  eingehende  Darstellung  folgen  soll. 

Die  versprochene  genaue  Erörterung  der  Intervalle  sind  eben  die  auf 
Abschnitt  X  folgenden:  Abschnitt  XI  („zuerst  über  die  unzusammengesetzten, 
dann  über  die  zusammengesetzten  Intervalle" )  und  Abschnitt  XII  („Zusammen- 
setzung der  unzusam  mengesetzten  Intervalle  auf  der  Scala"). 

Der  Abschnitt  X  ist  erhalten.  Der  Abschnitt  XII  ist  ebenfalls  erhalten. 
Der  Abschnitt  XI  fehlt.  Die  Handschrift  hat  statt  des  Abschnittes  XI  eine  Lücke. 

Doch  nicht  der  ganze  Abschnitt  XI  ist  in  der  handschriftlichen  Ueber- 
lieferung  ausgefallen.  Ein  Theil  davon  ist  erhalten,  doch  hat  derselbe  seinen 
ursprünglichen  Platz  geändert:  es  hat  die  Verlegung  eines  Blattes,  enthaltend 
1  Columne  und  4  Zeilen  der  Meibom.  Ausg.,  vom  Ende  in  die  Mitte  des  Bu- 
ches stattgefunden. 

Das  fragliche  Blatt,  welches  aus  der  speciellen  Intervallen-Lchre  (aus 
Abschnitt  XI)  übrig  geblieben  ist  und  vor  den  28  Problemata  (Abschnitt  XII) 
stehen  sollte,  hat  zu  seinem  Inhalte  eine  „über  die  Bestimmung  der  dia- 
phouischen  Intervalle  durch  die  symphonischen"  handelnde  Partie,  welche 
sich  nunmehr  in  dem  Prototypon  unserer  Handschriften  zwischen  das  zweite 
und  dritte  Problem .  eingedrängt  hat  und  somit  den  Schluss  des  Buches  B' 
(bei  Meib.)  bildet.  Als  Aristoxenus  seine  zweite  Harmonik  niederschreibt,  da 
redet  er  so  (in  §  72),  als  ob  dem  3.  Probleme  unmittelbar  vorher  das  l.  und  2. 
Problem  vorausgehe.  Das  3.  Problem  lautet  nämlich  (§  72):  „Die  aufeinander- 
folgenden Tetraeborde  sind  entweder  verbunden  oder  getrennt.  Verbindung 
heisse  es,  wenn  zwei  in  der  Scala  aufeinanderfolgende  Tetrachorde,  welch«'  dem 
Schema  nach  analog  sind,  in  der  Mitte  einen  Ton  geineinsam  haben.  Tren- 
nung heisse  es,  wenn  zwischen  zwei  in  der  Scala  aufeinanderfolgenden  analog 
gebildeten  Tetraeborden  ein  Ganztoii  in  der  Mitte  steht."  Beweis:  „Dass  bei 
benachbarten  Tetrachorden  eines  von  beiden  (Verbindung  oder  Trennung)  statt- 
finden muss,  ergiebt  sich  aus  dem  Vorliegenden  avepöv  ix  tiüv  u-oxeiuivojv." 
Mit  dein  Letzteren  sind  eben  die  Probleme  1  und  2  gemeint  Es  können  also 
diese  damals,  als  Aristoxenus  diese  Partie  niederschrieb,  von  dem  Probleme  3 
nicht  durch  den  Abschnitt  über  die  Bestimmung  der  diaphonischen 
Intervalle  durch  die  symphonischen  getrennt  gewesen  sein;  in  dem 
Originale  muss  sich  Probl.  3  continnirlich  an  Probl.  1  und  2  angeschlossen  haben. 

Auch  Marquard  <S.  386)  weiss,  dass  die  „Bestimmung  der  diaphonischen 
Intervalle  durch  die  symphonischen"  an  einem  verkehrten  Platze  steht.  „Ein 


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182 


Aristoxenus  Schriften  über  das  Melos. 


Zusammenhang  mit  dem  Vorhergehenden  ist  in  keiner  Weise  vorhanden/' 
Das»  das  Einschiebsel  an  seinem  falschen  Platze  aus  der  den  28  Problemata 
unmittelbar  vorausgehenden  Intcrvallen-Lehre  (Abschnitt  XI)  hereingekommen 
ist,  sagt  Marquard  freilich  nicht,  vielmehr  hat  er  sich  „die  völlige  Gewissheit 
verschafft,  dass  wir  es  hier  mit  Stücken  zu  thun  haben,  welche  den  Stoicheia 
(Elementen)  ganz  fremd  sind."  Marq.  S.  386.  „Sie  enthalten  Dinge,  welche 
mit  der  Harmonik  nur  in  sehr  entferntem  Zusammenhange  stehen,  eigentlich 
nur  technische  oder  praktische  Kunstgriffe  lehren"  (ebendas.). 

Diese  Gewissheit  (Marquard  ist  völlig  überzeugt)  ist  nicht  auf  bessere 
Gründe  gestützt  als  seine  Ucbcrzeugung,  dass  fast  sämmtliche  Ueberreste 
der  Aristoxenischen  Harmonik  nicht  von  Aristoxenus  geschrieben,  sondern  dass 
sie  von  verschiedenen  Byzantinern  aus  verschiedenen  Schriften  (darunter  auch 
Aristoxenische)  compilirt  sind. 

Aus  der  Bestimmung  der  diaphonischen  Intervalle  durch  die  symphoni- 
schen, sagt  Aristoxenus  §  66,  lasse  sich  die  Richtigkeit  der  von  ihm  in*  der 
„Arche"  gemachten  Angabe  prüfen,  dass  die  Quarte  aus  zwei  Ganztönen  und 
einem  Halbtone  besteht.  Diese  vorläufige  Angabe  findet  sich  sowohl  in  der 
ersten  wie  in  der  zweiten  Harmonik :  nämlich 

Erste  Harmonik  X.   Unterschied  der  Tongeschlechter. 

§  54.  „Auf  welche  Weise  untersucht  werden  muss,  ob  die  Quarte  mit 
„einem  der  kleineren  Intervalle  gemessen  wird,  oder  ob  sie  allen  commensurabel 
„oder  incommensurabel  ist,  pflege  ich  bei  der  Bestimmung  der  Intervalle  durch 
„die  Symphonien  zu  sagen  (£v  toi«  oid  oupuptuvte;  Xa^avo^Uvot;  X^txat);  da  aber 
„der  Augenschein  ergiebt,  dass  sie  aus  zwei  Ganztönen  und  einem  Halbtone 
,besteht,  so  möge  zunächst  dieser  Umfang  für  die  Quarte  fest  gehalten  we  rden." 
„(yicoxsioftiD  toüto  dv  etvat  tö  jx^efto;)." 

Wir  sind  fast  gezwungen  diese  Stelle  in  Beziehung  zu  setzen  mit  dem 
unter  den  28  Problemata  stehenden  Einschiebsel  über  die  „oiaa-djfxaxa  öuvatd 
XTjtpJHjvai  otd  aupepama;,"  in  welchem  es  heisst  §66:  .»Il^Tepov  o  öpftä»;  u7r<5xci~ai 
iv  dpyjjj  tö  otd  reaadparv  oyo  x«5va>v  xai  r^loeo;  xerrd  t<5vÖc  töv  Tpörrav  i^exdoettv 
dv  xt;  dxpifJ&araTa." 

Zweite  Harmonik  VIII.    Der  Ganzton  und  seine  Theile. 

§  4H.  „Ganzton  ist  dasjenige  Intervall,  um  welches  die  Quinte  grösser 
„als  die  Quarte  ist.  Die  Quarte  aber  besteht  aus  zwei  Ganztönen  und  einein 
„Halbtone". 

Trotz  dieser  ausdrücklichen  Citate  in  dem  frühereu  Theile  der  Aristoxe- 
nischen Harmonik  hat  sich  Marquard  „die  völlige  Gewissheit  verschaffen  kön- 
nen," dass  wir  es  bei  jenen  in  den  früheren  Theilen  der  Harmonik  von  Ari- 
stoxenus selber  citirten  Partieen  von  der  Bestimmung  der  diaphonischen  durch 
die  nyinphonischcn  Intervalle  mit  „Stucken  zu  thun  haben,  welche  den  Stoi- 
cheia ganz  fremd  sind,"  „dass  dort  Dinge  enthalten  sind,  welche  mit  der  Har- 
monik nur  in  sehr  entfernten  Zusammenhange  stehen." 


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Die  Ueberschriften  xd  iv  ipy-jj  und  vzwyeXa. 


183 


Den  Ausdruck  „Stoicheia"  gebraucht  Aristoxenus  selber  in  der  ersten 
Harmonik  §  61  (X  Abschnitt  über  die  Intervallen- Folge  auf  der  Scala  im  All- 
gemeinen).  Er  schlieset  diesen  Abschnitt  mit  den  Worten: 

„Auf  welche  Webe  nun  der  Aufeinanderfolge  nachzuforschen  ist,  ist  aus 
„dem  Vorstehenden  klar.  Wie  sie  aber  vor  sich  geht  uud  welches  Intervall 
„zu  einem  anderen  hinzugesetzt  oder  nicht  hinzugesetzt  wird,  das  wird  in  den 
„Stoicheia  gezeigt  werden." 

Also  der  Abschnitt  X,  welcher  die  Intervallenfolge  auf  der  Scala  im  Allge- 
gemeinen  bespricht,  welcher  (wie  Aristoxenus  §  59  sagt)  die  unmittelbare  Aufei- 
nanderfolge der  Intervalle  nur  im  Umrisse  anzugeben  versucht,  dieser  Abschnitt 
gehört  noch  nicht  zu  den  Stoicheia.  Denn  erst  die  nähere  Ausführung  dieses 
Abschnittes  ist  os,  welche  Aristoxenus  in  den  Stoicheia  geben  will.  Demnach 
gehören  die  die  Intervallenfolge  speciell  ausführenden  28  Problemata  den  Stoi- 
cheia an.  In  der  ersten  Harmonik  liegen  von  diesen  Problemata  nur  einige 
unzusammenhängende  fragmentarische  Satze  vor.  In  der  zweiten  Harmonik 
sind  dieselben  nahezu  vollständig  erhalten  (  von  §  70  an  „Es  wird  nun  der  erste 
und  notwendigste  von  den  Punkten,  welche  sich  auf  die  emmclischen  Zu- 
sammensetzungen der  Intervalle  beziehen,  zu  bestimmen  sein").  Dieser  ganze 
Abschnitt  XII  der  zweiten  Harmonik  (nicht  minder  auch  die  fragmentarische 
Paralleldarstellung  der  ersten  Harmonik)  gehört  nach  Arigtoxeuua'  Selbst- 
Citate  zu  den  Stoicheia. 

Aber  der  Abschnitt  X  (der  ersten  und  zweiten  Harmonik),  wohin  wird 
dieser,  wenn  er  nach  Aristoxenus'  Erklärung  von  den  Stoicheia  ausgeschlossen 
werden  muss,  zu  rechnen  sein? 

Auch  hierüber  giebt  Aristoxenus  selber  die  nöthige  Auskunft.  Er  beginnt 
jenen  Abschnitt  §  5U  mit  den  Worten: 

„Die  unmittelbare  Aufeinandefolge  der  Intervalle  zu  bestimmen,  ist  in 
„der  dpy-?j  gar  nicht  leicht;  man  muss  versuchen,  sie  im  Umrisse  au- 
„zugeben." 

Also  die  dpyi\  giebt  den  betreffenden  Gegenstand  im  Umrisse  an,  die 
orot^eia  sollen  zeigen,  wie  die  in  der  dpy^j  im  Umrisse  angedeutete  Aufeinander- 
folge der  Intervalle  im  speciellen  vor  sich  geht,  .  .  .  welches  Intervall  nach 
einem  jeden  Intervalle  gesetzt  oder  nicht  gesetzt  wird. 

Den  in  der  „dpx*j"  in>  Umrisse  angegebenen  Gegenstand  führen  die 
„ototXela"  in  den  Einzelheiten  aus. 

In  allem,  was  uns  von  den  harmonischen  Schriften  des  Aristoxenus  ver- 
blieben ist,  werden  die  Stoicheia  nur  dieses  einzige  Mal  (erste  Harmonik  §  59) 
erwähnt 

Die  dp/*,  wird  öfter  genannt  z.  B.: 

Erste  Harmonik.  IV.  Abschnitt:  Ton,  Intervall,  System:  allgemeine 
•  Definition  und  Eintheilung. 


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184 


Aristoxenus  Schriften  über  das  Melos. 


§  38.  „Der  Zuhörer  muss  jede  der  angegebenen  Begriffsbestimmungen 
entgegenkommend  aufzufassen  versuchen,  ohne  sieh  dabei  zu  kümmern,  ob  die 
gegebene  Definition  vollständig  oder  ob  sie  zu  allgemein  sei,  er  muss  vielmehr 
den  guten  Willen  haben,  sie  ihrer  Bedeutung  nach  einzusehen;  muss  denken, 
sie  sei  ausreichend  für  den  Zweck  des  Lernens,  wenn  sie  nur  in  das  Verständ- 
niss  dessen,  was  hier  gesagt  wird,  einzuführen  vermag.  Denn  nicht  leicht  lässt 
sich  über  das  dem  Eingänge  Angehörige  (rd  h  dpy/jj)  etwas  sagen,  was  nicht 
angegriffen  werden  könnte,  sondern  eine  vollständig  ausreichende  Erklärung 
enthielte;  am  wenigsten  ist  dies  bei  den  drei  vorliegenden  Punkten  Ton,  Inter- 
vall, System  der  Fall. 

Wo  in  Meiboms  Buche  B  nach  dem  Prooimion  der  dritten  Aristoxenischen  « 
Harmonik  die  darauf  folgende  anfangslose  zweite  Harmonik  beginnt  (mit  Ab- 
schnitt VI:  den  „drei  Tongeschlechtern")  steht  am  Rande  die  Zuschrift  'A&/t4 
vergl.  S.  166.  Schon  in  der  dem  Zosimus  vorliegenden  Handschrift  stand  dies 
Margiuale,  denn  es  findet  sich  auch  in  solchen  Handschriften,  die  nicht  aus 
dem  alten  Venetus  geflossen  sind.  Die  Randglosse  kann  nicht  die  Bedeutung 
haben,  dass  der  nebenstehende  Text  „  den  Anfang"  eines  neuen  Buches  bilde, 
denn  es  ist  ein  neues  anf  augsloses  Buch,  welches  an  dieser  Stelle  folgt, 
(die  ersten  fünf  Abschnitte  mit  dem  ihnen  vorausgegangenen  Prooimion  sind 
in  den  Handschriften  nicht  überliefert).  Wir  haben  das  Marginale  daher  nicht 
sowohl  durch  „Anfang"  als  vielmehr  durch  „Eingang**  oder  „Eingangs- Partie" 
zu  übersetzen,  es  ist  ein  Rest  der  alten  Ueberschrift  ,,-zi  h  <£p/^j".  In  dem 
Inhaltsverzeichnisse  des  Prooimions  ist  zwar  nicht  angegeben,  dass  eine  Reihe 
von  Kapiteln  als  Eingangs-Partie  gefasst  werde,  aber  aus  den  von  uns  im  Vor- 
ausgehenden angegebenen  Stellen  des  Aristoxenus  folgt  mit  Gewissheit,  dass 
er  eine  Anzahl  von  Abschnitten  als  eine  die  betreffenden  Gegenstände  im  Um- 
risse darstellende  Eingangs- Partie  angesehen  wissen  will,  welche  von  der  später 
folgenden,  die  betreffenden  Gegenstände  specieller  darlegenden  Partie  abzu- 
trennen sei.  Rührt  auch  jenes  Marginale  nicht  von  der  eigenen  Hand  des 
Aristoxenus  her,  so  ist  es  doch  sicher  in  dem  Sinne  des  Aristoxenus  etwa  von 
einem  die  Vorlesung  des  Meisters  herausgebenden  Zuhörer  richtig  als  Ueber- 
schrift hinzugefügt,  wenn  gleich  es  in  der  uns  überkommenen  des  Anfangs 
ermangelnden  Handschrift  nicht  an  der  richtigen  Stell»*  steht.  Der  Abschn.  VI 
„vorläufige  Aufzählung  der  drei  Tongcschleehter"  gehört  zwar  seinerseits  auch 
in  die  „Eingangs-Partie"  (~i  <£p/flK  aber  diese  Ueberschrift  „tä  ty'/Z" 
wird  in  der  alten  noch  unverkürzten  Handschrift  der  zweiten  Harmonik  nicht 
vor  dem  Abschn.  VI,  sondern  etwa  vor  Absehn.  I  „Topische  Bewegung  der 
Stimme"  oder  gar  vor  dem  Prooinuon  gestanden  haben  und  aus  dem  im  übrigen 
nicht  erhaltenen  Anfange  der  zweiten  Harmonik  zurückgeblieben  sein,  bis  es 
dann  im  Codex  des  Zosiinus  an  den  Rand  verdrängt  ist. 

Der  Titel,  unter  welchem  Aristoxenus  die  auf  die  „Eingangs-Partie"  fol- 
genden Abschnitte  der  speciellcren  Ausführung  begreift,  der  Titel  „I/rotycla" 
wird  wie  gesagt  in  den  harmonischen  Schriften  des  Aristoxenus  vom  Autor 


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Die  Ueberschriften  ?d  h  dpy  ft  und  aror/ela.  185 

mir  einmal  citirt,  aber  er  gebraucht  ihn  als  Citat  in  seiner  Rhythmik.  Dort 
nämlich  sagt  er  §  21  bei  der  Erörterung  der  rhythmischen  Irrationalität: 

„Wie  ich  in  den  diastematischen  Stoicheia  dasjenige  als  etwas  der 
Natur  des  Melos  nach  Bestimmbares  gefasst  habe  .  .  .  ,  dagegen  das- 
jenige als  etwas  bloss  den  Zahlenverhältnissen  nach  Bestimmbares, 
...  so  soll  ganz  analog  das  Rationale  und  auch  Irrationale  in  der 
Rhythmik  genommen  werden." 

Die  Stelle  der  Harmonik,  worin  das  aus  seiner  Intervallen-Lehre  ange- 
führte. Citat  zu  lesen  war,  ist  uns  in  den  Harmonik- Handschriften  nicht  fiber- 
liefert. Sie  muss  in  dem  Abschn.  XI:  ..Von  den  einfachen,  dann  von  den  zu- 
sammengesetzten Intervallen  gestanden"  haben,  jenem  Abschnitte,  von  welchem 
nur  der  Snhluss:  „das  Bestimmen  der  diaphonischen  durch  die  symphonischen 
Intervalle"  in  der  zweiten  Harmonik  erhalten  ist.  Wo  Aristoxenus  im  „Umrisse" 
von  den  Intervallen  spricht  §  38,  das  gehört  nach  seiner  Aussage  nach  der 
„Eingangs-Partie'4,  also  noch  nicht  den  „Stoicheia"  an,  doch  verweist  er  an  jener 
Stelle  auf  die  im  weiteren  Verlaufe  seiner  Harmonik  folgende  spccielle  Aus- 
führung der  Intervalle. 

Eben  diese  uns  fehlende  speeielle  Ausfülirung  der  Intervallen-Lehre  (Ab- 
schnitt XI)  ist  es,  welche  Aristoxenus  in  der  Rhythmik  als  „diastcinatische 
Stoicheia"  citirt.  Der  Zusatz  „diastematische"  setzt  voraus,  dass  der  die  spe- 
eielle Lehre  von  den  Systemen  darstellende  Abschn.  XIII,  von  dem  uns  nur 
die  beiden  ersten  Paragraphen  erhalten  sind,  im  Sinne  des  Aristoxenus  als 
systematische  Stoicheia  zu  benennen  seien  würde. 

Wollte  man  in  der  ersten  Harmonik  §  61: 

„Wie  die  Aufeinanderfolge  der  Intervalle  vor  sich  geht,  und  welches 
Intervall  zu  einem  anderen  hinzugesetzt  oder  nicht  gesetzt  wird,  das 
wird  in  dem  Stoicheia  gezeigt  werden" 
statt  „Stoicheia"  mit  der  Einschaltung  eines  Wortes  „diastematische  Stoicheia" 
lesen,  so  würde  damit  zwar  der  Sinn  des  Aristoxenus  getroffen  sein.  Aber 
wenn  Aristoxenus  in  dem  Citate  der  Rhythmik  „diastematische  Stoicheia" 
sagt,  so  folgt  daraus  keineswegs,  das  Aristoxenus  auch  in  der  ersten  Harmonik 
§  61  zu  „Stoicheia"  denselben  Zusatz  „diastematisch"  hinzugefügt  haben  muss. 
Vielmehr  gehören  alle  auf  §  61  folgenden  Abschnitte  zu  den  Stoicheia  im  Sinne 
des  Aristoxenus;  die  nächstfolgenden  zwei  Abschnitte  sind  die  von  den  Inter- 
vallen handelnden  „diastematischen  Stoicheia";  der  alsdann  weiterhin  folgende 
Abschnitt,  welcher  die  Systeme  eingehend  (nicht  wie  Absehn.  IV  im  Umrisse) 
bespricht,  würde  nach  Aristoxenischer  Analogie  die  „systematischen  Stoicheia" 
sein. 

Wenn  Aristoxenus  diejenigen  Partieen  der  Harmonik,  welehe  die  betref- 
fendrn  Gegenstände  nicht  wie  die  „Eingangs-Partiecn"  im  Umrisse  behandeln, 
sondern  im  Speciellen  ausführen,  als  Stoicheia  bezeichnet,  so  wird  er  zur  Wahl 
dieses  Ausdruckes  durch  die  „geometrischen  Stoicheia"  der  Vorgänger  Euklids 
bewogen  sein  (vergl.  oben  S.  165).  Entschieden  thut  sich  Aristoxenus,  der  frühere 


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180 


Aristoxenus  Schriften  über  das  Melos. 


Schüler  der  Pythagoräer,  auf  die  geometrische  Methode,  welche  er  für  seine 
Darstellung  der  Harmonik  anwendet,  gar  viel  zu  Gute.  Das  sehen  wir  aus  dem 
Abschn.  XII  mit  seinen  28  Lehrsätzen  in  der  Form  geometrischer  Axiome  und 
Probleme;  das  sehen  wir  ferner  aus  dem  Schlüsse  des  Prooimions  seiner  dritten 
Harmonik.  Für  die  ersten  Anfänge  seiner  Wissenschaft  erlaubt  er  sich  frei- 
lich nicht  mit  seinen  Zuhörern  sogleich  den  Weg  der  geometrischen  Stoicheia 
zu  betreten,  da  niuss  er,  um  verstanden  zu  werden,  die  betreffenden  Gegen- 
stände erst  nach  ihren  Umrissen  vortragen.  Das  sind  die  Eiugangs-Particen 
seiner  Doctrin,  ?a  iv  dpyjQ-  Erst  nach  dieser  einleitenden  Verständigung  darf 
Aristoxenus  es  wagen,  seinen  Zuhörern  die  Gegenstände  in  der  nöthigen  Voll- 
ständigkeit, an  welcher  nichts  vermisst  werde  (vgl.  §  38),  in  strictcr  mathema- 
tischer Beweisführung  vorzutragen.  Von  da  an  sind  seine  harmonischen  Er- 
örterungen „Stoicheia",  so  gut  wie  die  geometrischen  Stoicheia  der  alten  Vor- 
gänger des  Euklides,  welche  wohl  unmittelbar  auf  die  Schule  des  Pythagoras 
zurückgehen.  In  dem  reichhaltigen  Commentare  des  Proklus  zu  den  geome- 
trischen Stoicheia  des  Euklid  erfahren  wir  viel  einzelnes  auch  über  die  Vor- 
gänger des  Euklides,  ihre  Abweichungen  in  der  Methode  und  in  der  Nomen- 
clatur,  z.  B.  bezüglich  der  Axiomata  und  Theoremata;  wir  erfahren  auch  dies, 
dass  die  geometrischen  Stoicheia  des  Euklid  keineswegs  eine  Original- Leistung, 
sondern  ein  zusammenfassendes  Compendium  sind. 

Subsumiren  wir  schliesslich  die  18  Abschnitte  der  beiden  ersten  harmo- 
nischen Schriften  des  Aristoxenus,  welche  das  Prooimion  aufführt,  unter  die 
von  Aristoxenus  im  Verlaufe  der  Vorlesungen  geinachten  zwei  Hauptabthei- 
lungen : 

A.  Tot  Iv  dpxi- 

Prooimion  vgl.  S.  184. 
I.  Topische  Bewegung  der  Stimme  (vgl.  S.  184). 
II.  Absteigen,  Aufsteigen,  Tiefe,  Höhe,  Tonstufe. 

III.  Ob  unendlicher  oder  endlicher  Abstand  zwischen  Hohem  und  Tiefem? 

IV.  Vorläufige  Definition  und  Eintheilung  von  Ton,  Intervall,  System 

(vgl.  §  38). 

V.  Vorläufige  Scheidung  der  Arten  des  Melos. 

VI.  Drei  Arten  des  musikalischen  Melos  im  Umrisse  (vgl.  Marginale 
zu  B  §  45:  doy+i). 
VII.  Die  symphonischen  Intervalle. 

VIII.  Ganzton  -  Intervall  und  seine  emmelischen  Theilc  (vgl.  B  §  49  mit 
§  66  S.  182). 

IX.  Worauf  die  drei  Tongeschlechter  beruhen  (vgl  A  §  54  mit  B  §  66 
S.  182). 

X.  Die  Aufeinanderfolge  der  Intervalle  auf  der  Scala  im  Umrisse  an- 
gedeutet (vgl.  A  59). 


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Die  Ueberschriften  t<x  h  dpxfi  »nid  srot/cta.  187 


B.  Itot^eta. 

XI.  Die  r  infachen  und  zusammengesetzten  Intervalle  (vgl.  rh.  §  21). 
XII.  Die  emmelische  Zusammensetzung  der  einfachen  (vgl.  A  61). 

XIII.  Die  Systeme. 

XIV.  Die  Mischung  der  Tongeschlcchter. 

XV.  Die  Töne  der  Scala. 

XVI.  Die  verschiedenen  Stimmlagen  (Stimmregionen). 
XVII.  Die  Trauspositions-Scalen. 

XVIII.  Die  Metabole. 

Soviel  wir  von  der  dritten  Harmonik  des  Aristoxenus  aus  dem  von  ihr 
allein  erhaltenen  Prooimion  ersehen  können,  ao  enthielt  dieselbe  keine  vorläufig 
instruirenden  Abschnitte,  keine  „ti  h  flUv^g",  sondern  bestand  lediglich  aus 
„OTOiycta." 

Jetzt  dürften  Vir  im  Stande  sein,  die  Citate  der  Imrmoniacheu  Schriften 
des  Aristoxenus  bei  Kiaudius  Didymos,  Porphyrius  zu  verstehen:  wo  die  erste 
Harmonik  als  rcepl  dfr/röv  citirt  wird,  da  ist  dies  nicht  als  Titel  des  Werkes 
anzusehen,  sondern  gilt  von  der  Eingangs -Partie  desselben.  Wo  das  „Prooi- 
mion der  Stoicheia"  citirt  ist,  da  ist  die  dritte  Harmonik  gemeint,  die  ja,  wie 
uns  wahrscheinlich  wurde,  keine  einleitenden,  nur  die  Umrisse  gebenden  Ab- 
schnitte enthielt.  An  Stelle  des  von  Aristoxenus  selber  herrührenden  rd  dv 
*PX!j  8t<*nl  Uberschrift  im  Venetus  u.  a.  der  dem  Sinne  nach  ganz  gleiche 
Aufdruck  xd  tzoo  x<öv  oroe/ettav. 


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Erste  Harmonik  des  Aristoxenus. 


Sie  ist  eine  durch  Lücken,  Umstellungen  und  Zusätze  mehrfach 
Versehrte,  aber  dennoch  im  Ganzen  gut  erhaltene  und  trefflich  zu- 
sammenhängende Darstellung  der  Harmonik  als  der  ersten  und 
fundamentalen  Disciplin  unter  den  theoretischen  Disciplinen  der 
Wissenschaft  vom  uiXo;,  d.  i.  der  tonischen  Seite  der  Musik  im 
Gegensatze  zur  rhythmischen.  Die  Schrift  beginnt  anknüpfend 
an  frühere  Auseinandersetzungen  des  Aristoxenus  über  das  jieXo? 
mit  einem  Prooimion,  in  welchem  Aristoxenus  den  Begriff  der  von 
ihm  als  Harmonik  bezeichneten  Disciplin  und  eine  Uebersicht  der 
einzelnen  im  folgenden  zu  behandelnden  Abschnitte  giebt.  Die  auf 
das  Prooimion  folgende  Ausführung  nennt  folgende  10  Abschnitte 
(von  ungleicher  Ausdehnung): 

I.  Die  contiuuirlieke  und  die  discontinuirliche  Bewegung 

der  Stimme  (beim  Sprechen  und  beim  Singen). 
II.  Aufsteigen,  Absteigen,  Höhe,  Tiefe,  Tonstufe. 

III.  Ist  die  grösste  und  die  kleinste  Entfernung  zwischen 
Hohem  und  Tiefem  eine  unbegrenzte  oder  eine  begrenzte? 

IV.  Definition  von  Ton,  Intervall,  System;  vorläufige  Ein- 
theilung  der  Intervalle  und  Systeme. 

V.  Das  musikalische  Melos. 

VI.  Die  drei  Arten  des  musikalischen  Melos  (das  diatonische, 

chromatische,  enharmonische). 
VII.  Die  symphonischen  Intervalle. 
VIII.  Der  Ganzton  und  seine  Theile. 
IX.  Die  Unterschiede  der  drei  Tongeschlechtcr. 
X.  Die  Folge  der  Intervalle  im  Allgemeinen. 

Soweit  der  gut  und  im  continuirlichen  Zusammenhange  über- 
lieferte Theil  dieses  Buches.  Dem  Inhaltsverzeichnisse  des  Prooi- 
mions  gemäss  will  Aristoxenus  nach  dem  zehnten  noch  folgende 
acht  Abschnitte  ausführen: 


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Nach  Marquard  ein  Byzantinisches  Machwerk.  189 


XI.  Die  einfachen  und  die  zusammengesetzten  Intervalle. 

XII.  Die  Zusammensetzung  der  einfachen. 

XIII.  Die  Systeme. 

XIV.  Die  Mischung  der  Taktgeschlechter. 
XV.  Die  Scala-Töne. 

XVI.  Die  Stimmlagen. 

XVII.  Die  Transpo8ition8-Scalen. 

XVIII.  Die  Metabole. 

Aus  dem  XII.  Abschnitte,  der  nach  Aristoxenus'  gelegentlicher 
Andeutung  einer  der  wichtigsten  und  umfassendsten  der  ganzen  Har- 
monik sein  soll,  finden  sich  in  unserem  Buche  einige  wenige  un- 
zusammenhängende Sätze.  Von  den  übrigen  Abschnitten  ist  darin 
gar  nichts  erhalten. 


Die  Verdächtigung  des  Baches  als  eines  Byzantinischen 

Falsifikates. 

• 

Die  Schädigungen,  welche  der  Text  des  Buches  in  der  handschriftlichen 
Ueberlieferang  erlitten  hat,  sind  unter  Anwendung  der  einfachsten  Mittel  der 
Kritik  säinmtlich  zu  entdecken  und  zum  Theile  zu  heilen.  Es  gehört  fast  in 
da*  Gebiet  der  incredibilia,  was  der  neueste  Herausgeber  und  Erklärer  Paul 
Marquard  aus  dem  Buehe  bezüglich  der  Aufdeckung  seines  Zusammenhanges 
und  bezüglich  der  Frage  höherer  Kritik  gemacht  hat.  Dass  Marquard  das 
Buch  seinem  ,,hochverehrten  Lehrer  Friedrich  Ritsehl  in  dankbarster  Gesinnung 
gewidmet"  hat,  wird  sich  dieser  haben  gefallen  lassen  müssen. 

Den  Hauptanstoss  nimmt  Marquard  daran,  dass  die  Reihenfolge  der  in  dem 
Prooimion  angekündigten  Abschnitte  in  der  Ausführnng  eine  andere  ist,  als  sie  im 
Prooimion  angekündigt  war.  S.  371:  ,,Kam  dein  Aristoxenus  während  der  Aus- 
„führung  der  Gedanke,  dass  diese  Anordnung  und  die  Aufnahme  dieser  Capitel 
„besser  sei  als  die  in  der  Disposition  angekündigten,  so  musste  er  die  Dispo- 
sition ändern.  Es  ist  einfach  lächerlich,  eine  Disposition  vorauszuschicken 
„und  sich  nachher  nicht  nach  ihr  zu  richten;  sie  würde,  während  ihr  Zweck 
„ist,  den  Leser  zu  Orientiren,  die  gründlichste  Verwirrung  desselben  bewirken, 
„wie  denn  jeder,  welcher  die  Schrift  in  der  jetzigen  Gestalt  zum  ersten  Mal 
„liest,  über  allzugrosse  Uebersichtliehkeit  derselben  nicht  zu  klagen  haben  Wird. 
„So  verfährt  kein  vernünftiger  Schriftsteller,  kaum  einmal  die  deutschen  Ro- 
mantiker, viel  weniger  ein  Schüler  des  Aristoteles.  Will  man  aber  darin 
„eine  Entschuldigung  suchen,  dass  die  dp/*l  eine  der  frühesten  Schriften  des 
„Aristoxenus  sind,  so  kann  man  gewisse  Dinge,  wie  oben  angedeutet  worden, 
„allerdings  auf  Grund  dessen  entschuldigen,  nimmermehr  aber  darf  man  an- 


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19Ü 


Aristoxenus  erste  Harmonik. 


„nehmen,  dass  Aristoxenus  statt  gerade  im  Anfange  sich  rechte  Mühe  zu  geben, 
„seinen  Ruf  durch  solche  Liederlichkeiten  habe  begründen  wollen." 

Marquard  schliesst  aus  dem  Allem:  „Man  kann  dreist  annehmen,  dass  wir 
„diese  ganze  zerfahrene  Behandlung  allein  der  Hand  des  letzten  Redacteurs 
„zu  verdanken  haben,  —  nicht  dem  Autor,  sondern  dem,  welcher  in  das  ihm 
„vorliegende  Material  ohne  Rücksicht  auf  den  Zusammenhang  hineingreift  und 
„sieh  herausholt  was  ihm  gerade  mundet." 

Byzantinische  Gelehrte  pflegen  freilich  mit  älteren  griechischen  Schriften 
genau  in  der  hier  von  Marquard  angegebenen  Weise  zu  verfahren.  Auch 
Aristoxenischen  Schriften  ist  dies  Schicksal  zu  Theil  geworden.  So  hat  es 
Michael  Psellos  nicht  für  einen  Raub  gehalten,  aus  der  uns  handschriftlich 
erhaltenen  Rhythmik  des  Aristoxeuus  ein  Opusculum  zu  fabriciren  unter  dem 
Titel:  MiyrfjX  toü  TeXXoO  TtpoXafußavdfAeva  cU  t7)v  |>'j&{Mx*)v  dictortjp.Tjv.  Dass  es 
keine  eigene  Arbeit  ist,  sondern  aü-coXeSel  mit  völlig  willkürlicher  und  unver- 
ständiger Aeuderung  in  der  Reihenfolge  der  Sätze  abgeschrieben  aus  Aristoxenus, 
den  er  nur  obenhin  im  Eingänge  einmal  erwäluit  —  das  sagt  Michael  Psellus 
mit  keinem  Worte.  Die  ganze  Bedeutung  dieses  Opusculum  besteht  nur  darin, 
dass  die  Rhythmik  des  Aristoxenus  zur  Zeit,  wo  Psellus  sie  so  schamlos  plün- 
derte, noch  etwas  vollständiger  vorlag  als  in  den  auf  uns  gekommenen  Hand- 
schriften, so  das«  wir  dem  Byzantinischen  Freibeuter  noch  immerhin  zu  ei- 
nigem Danke  verpflichtet  sind. 

Von  der  Art  der  rhythmischen  Prolambanomena  des  Psellus  würde  nun 
auch  die  uns  in  den  Handschriften  des  Aristoxenus  als  dessen  erstes  Buch  der 
Harmonik  vorliegende  Schrift  sein,  wenn  anders  die  Meinung  Marquards  die 
richtige  wäre.  Vgl.  Marquard  S.  395.  Ich  glaube  durch  diesen  Vergleich  mit 
Psellus  die  Ansicht  Marquards  genau  getroffen  zu  haben.  Ich  wiederhole  ihr 
gegenüber  die  in  meiner  griechischen  Harmonik  ausgesprochene  Behauptung, 
dass  jenes  den  Namen  des  Aristoxenus  tragende  harmonische  Buch  eben  so  sehr 
ein  achtes  Werk  des  Aristoxenus  ist,  wie  die  den  Namen  des  Aristoxenus  tragende 
Rhythmik. 

Nicht  minder  wie  an  der  Rhythmik  hat  sich  auch  an  der  Aristoxenischen 
ersten  Harmonik  ein  Byzantiner  versucht,  der  aber  seiuen  Namen  nicht  auf  die 
Nachwelt  gebracht  hat.  Wir  besitzen  sein  Fabrikat  unter  dem  Titel  des 
ävtt»vu(jio;  zepl  |aou;ixt^  zum  ersten  Male  herausgegeben  von  Bellermann,  der 
zugleich  das  Verhältnisa  dieses  Traktates  zu  seiner  Aristoxenischen  Quelle  aus- 
führlich besprochen  hat. 

Wer  sich  also  der  Ansicht  Marquards  anschliessen  kann,  der  um*s  an- 
nehmen, dass  aus  einem  Aristoxeniseheu  Buche  ein  Byzantinischer  Anonymus 
durch  principlose  wilde  Umstellung  der  Säty.e  ein  neues  Buch  ähnlich  den 
rhythmischen  Prolambanomena  des  Michael  Psellus  gemacht  habe,  ein  Buch, 
welches  in  den  auf  uns  gekommenen  Handschriften  der  griechischen  Musiker 
den  falschen  Titel  des  Aristoxenischen  dpy  il  öpfiovtxai  oder  tö  -pi  xä>v  oxoiydtuv 
äpfjLcmxäiv  führe. 


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Nach  Marquard  ein  Byzantinisches  Machwerk. 


191 


dass  dann  ferner  aus  diesem  Machwerke  eines  Anonymus  ein  zweiter 
Anonymus  (der  Anonymus  Bellermanns)  durch  fortgesetzte  principlose  wilde  Um- 
stellung und  willkürliche  Auslassung  von  Sätzen  einen  zweiten  Tractat  irepi 
[iwnxffi  gemacht  habe. 

Der  erste  Tractat  würde  ein  direeter,  unmittelbarer  Auszug  aus  Aristo- 
xenus,  der  zweite  ein  indirecter,  ein  Auszug  des  Auszuges  sein. 

So  müseten  wir  nach  Marquard  glauben.  Aber  jener  erste  Auszug  ent- 
halt nach  Marquards  Behauptung  wenigstens  zu  Anfang  noch  rein  Aristoxenisches, 
ohne  Umstellung  der  Sätze.  Dies  ist  nämlich  das  Prooimion  mit  dem  darin 
enthaltenen  Inhaltsverzeichnisse.  Freilich  könne  auch  das  Prooimion  nicht  als 
Theil  des  Aristoxenischen  dpyaX  gelten,  denn  es  seien  Bruchstücke  aus  zwei 
verschiedenen  Aristoxemischen  Werken  darin  contaminirt.  Gerade  in  dem  In- 
haltsverzeichnisse verrathe  sich  die  Fuge  des  Contaminates.  Der  erste  Anfang 
§  1—9  möge  aus  dem  Eingänge  der  dpyaX  hergenommen  sein,  aber  von  da  an, 
von  §  10-23,  habe  der  Excerptor  aus  einem  anderen  Aristoxenischen  Werke 
die  Ankündigung  der  Abschnitte  entlehnt.  Doch  wenn  auch  aus  2  verschie- 
denen Werken  des  Aristoxenus ,  Aristoxenisch  sei  das  ganze  contaminirte 
Prooimion,  ohne  dass  der  Byzantische  Anonymus  daran  seine  die  Sätze  Um- 
stellende und  durcheinander  werfende  Hand  angelegt  habe.  Aber  mit  der  auf 
das  Prooimion  folgenden  Ausführung  der  im  Prooimion  angekündeten  Ab- 
schnitte §  24  beginne  das  Werk  des  Anonymus;  unmöglich  dürfe  man  dies 
für  Aristoxenisch  halten,  da  darin  das  Zusammengehörende  aus  einander  ge- 
trennt, da  der  logische  Zusammenhang  gestört,  da  es  mit  einem  Worte  eines 
Schülers  des  Aristoteles  unwürdig  sei. 

Es  ist  nothwendig  zur  Beurtheilung  der  Marquardschen  Verdächtigung 
die  Reihenfolge  der  im  Prooimion  angekündigten  Abschnitte  mit  der  Reihen- 
folge der  Abschnitte  in  der  auf  das  Prooimion  folgenden  Ausführung  zu  ver- 
gleichen. 


Inhaltsverzeichniss  des 
Prooimion. 

§  4.  Topische  Bewegung  der  Stimme. 


§  5.  Absteigen,  Aufsteigen,  Tiefe, 
Höhe,  Tonstufe. 

§  6.  Abstand  zwischen  Hohem  und 
Tiefem. 


Ausführung. 

I.  Die  Unterschiede  in  der  topi- 
schen Bewegung  der  Stimme  als 
contiuuirliche  (beim  Sprechen) 
u.  discontinuirliclie  ibeim  Singen). 

II.  Absteigen,   Aufsteigen,  Tiefe, 
Höhe,  Tonstufe. 

III.  Ob  die  grösste  und  kleinste  Ent- 
fernung zwischen  Hohem  und 
Tiefem  eine  unbegrenzte  oder 
begrenzte'? 


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192 


Aristoxenus  erste  Harmonik. 


§  7.  Ton 

Definition  des  Intervalle», 
Eintheilung, 

Definition  des  Systemes. 
Eintheilung. 

§  8.  Allgemeine  Andeutung  der  Arten 
des  Melos. 

§  9.  Die  drei  Arten  des  musikalischen 
Melos. 

<§  10  fehlt). 

(§  11  fehlt). 

§  12  Die  Topoi,  auf  denen  die  drei 
Tongeschlechter  beruhen. 

§  13.  Die  Aufeinanderfolge  der  Inter- 
valle anzudeuten. 
(12  iL  13  in  den  Codd.  umgestellt  ). 

§  14.  Die  einfachen  und  zusammen- 
gesetzten Intervalle. 

§  15.  Die  Zusammensetzung  der  unzu- 
sammengesetzten. 


IV.  Definition  des  Tones, 
Definition  des  Intervalle«, 
Definition  des  Systemes, 
Eintheilung  der  Intervalle, 
Eintheilung  der  Systeme. 

V.  Allgemeiner  Unterschied  des  mu- 
sikalischen Melos  von  den  übri- 
gen Arten  des  Melos. 

VI.  Die  drei  Arten  des  musikalischen 
Melos. 

VII.  Die  symphonischen  Intervalle. 

VIII.  Das  Ganzton-Intervall  und  seine 
im  Melos  vorkommenden  Theile. 

IX.  Auf  welche  Weise  die  drei  Ton- 
geschlechter entstehen? 

X.  Die  unmittelbare  Aufeinander- 
folge der  Intervalle  soll  im  Um- 
risse angedeutet  werden. 

XI.  Die  einfachen  und  zusammen- 
gesetzten Intervalle. 

XII.  Die  Zusammensetzung  der  ein- 
fachen. 


Die  Abschnitte  I— VI  sind  genau  so  auch  im  Inhalteverzeichnisse  des 
Prooimion  augegeben,  wenn  man  die  in  der  Handschrift  fehlende  Erwähnung 
des  Tones  §  7  restituirt. 

Von  Abschnitt  VII  an.  sagt  Marquard,  stehe  dagegen  die  Ausführung 
mit  dem  Prooimion  im  Widerspruche.  Auf  VI  solle  nämlich  dem  Prooimion 
gemäss  folgen,  „was  unter  der  Aufeinanderfolge  der  Intervalle  zu  verstehen 
sei?";  statt  dessen  folge  Abschnitt  VII  „die  symphonischen  Intervalle",  welche 
dem  Prooimion  zufolge  §  12  erst  hinter  IX  den  Tongeschlcchtern  folgeu  sollten. 

Die  von  Marquard  hervorgehobenen  Widersprüche  zwischen  Inhaltsver- 
zeichnis» und  Ausführung  in  der  Reihenfolge  der  Abschnitte  sind  vorhanden. 
Jenes  sind  die  kleinereu,  dieses  die  b  'i  weitein  grösseren  Massen.  Marquard 
verlangt,  dass  jene  kleineren  Massen,  von  denen  auf  jeden  Abschnitt  nur 
wenige  Zeilen  kommen,  die  Norm  für  die  Anordnung  der  grösseren  Massen 
abgeben  sollen.  Das  ist  freilich,  wie  Marquard  einsieht  unmöglich.  Das  Um- 
gekehrte würde  möglich  sein,  dass  nämlich  die  kleineren  Massen,  die  nur 
wenig  Zeilen  enthalten,  nach  Massgabe  der  grösseren  Massen  (der  Ausführung) 
sich  ordnen  sollen.    Nach  Marquard  beruhen  die  Diserepanzen  zwischen  Aus- 


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Nach  Marquard  ein  Byzantinisches  Machwerk. 


193 


fuhrung  und  Prooimion  in  der  Ausführung.  Dass  sie  im  Prooimion  liegen  könnten, 
daran  hat  Marquard  nicht  gedacht.  Er  hält  das  Inhaltsvcrzeichniss  des  Pro- 
oimion» in  allen  Stücken  für  intact,  so  sehr  auch  sonst  nach  seiner  Ansicht 
das  Prooimion  von  Mängeln  der  Textesüberlieferung  wimmelt.  Man  hat  nicht 
die  mindeste  Garantie,  eine  lückenlose  Textesüberlieferung  gerade  für  das  I  n  - 
halts  verzeich  niss  des  Prooimions  vorauszusetzen,  mn  so  weuiger,  da  dies 
Inhalts  Verzeichnis  nach  Marquards  Versicherung  ja  aus  zwei  verschiedenen 
Werken  des  Aristoxenes',  den  dpyi\  und  noch  einem  anderen  Werke  com- 
pilirt  ist 

Wollen  wir  jetzt  unsern  Blick  auf  die  einzelnen  Abschnitte  richten,  welche 
im  Prooimion  genannt  sind,  und  auf  diejenigen,  welche  hinter  dem  Prooimion 
ausgeführt  werden !  Alle  elf  Abschnitte  der  Ausführung  sind  auch  im  Inhalts- 
verzeichnisse des  Prooimion  genannt  mit  Ausnahme  des  VII.  und  VIII.  Ein 
dritter  Abschnitt  X  i  §  13 1  ist  im  Prooimion  an  eine  andere  Stelle  gesetzt  als  an 
diejenige,  an  welcher  ihn  die  Ausführung  behandelt.  Die  Annahme  einer  Lücke 
im  Prooimion,  in  welcher  der  Inhalt  der  beiden  Abschnitte  VII  und  VIII  ge- 
nannt war,  etwa: 

§  10.  Sodann  sind  die  symphonischen  Intervalle  näher  zu  behandeln. 
§  11.  Darauf  ist  der  Ganzton-Intervall  zu  definiren  und  in  seine  Theile 
einzutheilen 

und  die  Annahme  einer  einzigen  Umstellung  (der  §§  12  u.  13)  hebt  alle  Disere- 
panzen  zwischen  der  Ausführung  und  dem  Prooimion  auf. 

Dass  nicht  auch  Marquard  diese  Lücke  nebst  der  Umstellung  erkannt  hat, 
dass  er  das  Inhaltsvcrzeichniss  des  Prooimion  durch  und  durch  für  unverletzt 
hält  und  lieber  die  ganze  Ausführung  für  Byzantinisches  Flickwerk  erklärt, 
dazu  bedurfte  es  seiner  ganzen  Voreingenommenheit  gegen  die  Ausführung, 
bei  der  er  „vom  ersten  Durchlesen  her  über  allzugrosse  Deutlichkeit  nicht  zu 
klagen  hatte"  und  die  ihm  auch  späterhin  nicht  klarer  geworden  ist.  Sie  ver- 
führt ihn,  lieber  die  Auslassung  von  ganzen  umfassenden  Abschnitten  im  ver- 
meintlichen Originale  der  Ausführung,  als  einen  Ausfall  von  wenigen  Zeilen 
im  Inhaltsverzeichnisse  zu  statuiren. 

Wo  Marquard  mit  so  einfachen  Mitteln  einer  gesunden  und  besonnenen 
Kritik  ifast  mit  Ilausmittelchen.  wie  Wilhelm  Sigismund  Teuffei  sagen  würde) 
hätte  helfen  können,  thut  er  lieber  das  Ungeheuerliche:  er  erklärt  die  ganze 
Ausführung,  die  ihm  beim  ersten  Durchlesen  nicht  übermässig  klar  gewesen 
sei.  für  das  nach  einem  Aristoxenischen  Originale  angefertigte  Machwerk  eines 
Byzantiners.  Da»  heisst  freilich  ein  drastisches  Mittel  angewendet!  Aber  welch 
leichtsinniges  Fortgeben  altgriechischen  Gutes!  Welche  nicht  zu  revoeirende 
Ungerechtigkeit  in  dem  Vorwurfe  der  Lüderlichkcit,  mit  der  er  die  gewissen- 
hafte Arbeit  des  Aristoxenus  zu  miscreditiren  sucht!  Marquard  gleicht  dem 
thörichten  Manne,  der  ein  werthvolles  solides  Haus,  mit  einigen  alten  kostbaren 
Möbeln  darin  als  Erbtheil  empfängt,  aber  weil  zwei  Zimmer  der  Möbeln  ent- 
behren und  weil  sie  in.  einem  dritten  verkehrt  gestellt  oder  etwas  geschädigt 
Arittoieuai,  Mellk  u.  Rhjthmik.  13 


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11)4 


Aristoxenus  erste  Harmonik. 


sind,  das  werth volle  solide  Hau«,  weil  es  nicht  zu  den  Möbeln  passe,  zu  ver- 
nickten befiehlt.  Denn  was  macht  Marquard  mit  Aristoxenus  anders,  als  dass 
er  dem  Leser  gegenüber  ihn  und  seine  Autorität  vernichtet,  indem  er  ihn  für 
eine  Byzantische  Fälschung  ausgiebt? 

Der  Grund  für  alle  diese  Behauptungen  ist  dem  Herrn  Marquard  angeblich 
die  grosse  Discrepanz,  welche  zwischen  Abschnitt  VII  ff  und  dem  Vorausgehenden 
bestehe.  Es  herrsche  hier  voll«  Zusammcnhangslosigkeit.  Aus  dem  überlieferten 
Texte  geht  hervor,  dass  gerade  das  Umgekehrte  der  Fall  ist,  n;imlich  dass  guter 
Zusammenhang  vorhanden  ist.  In  dem  Vorausgehenden  heisst  es  Abschnitt  III 
§  35:  aA/xd  xdy  er*  etrj  zeoi  to6t(u>  6  Myo;  oux  faafxiioi  ei;  tö  zotpöv,  fctfoep  h 
tüic  ir.ma  toOt  ,lr.io%i'\>'xo%*\  Tteipa-iov,  d.  i.  „Dass  der  Abstand  zwischen  Tiefe  u. 
Höhe,  wenn  wir  die  Stimme  und  da*  Gehör  berücksichtigen,  nicht  unendlich  klein 
oder  unendlich  gross  ist,  ist  also  klar.  Wenn  wir  hierbei  aber  auf  die  Natur 
de*  Melos  an  sich  Rücksicht  nehmen,  dann  wird  es  der  Fall  sein,  dass  die 
Grösse  des  Abstandes  bis  ins  Unendliche  geht.  Aber  vielleicht  ist  es  nicht 
nöthig  für  jetzt  darüber  zu  handeln;  deshalb  soll  in  dem  weiter  Folgen- 
den der  Versuch  gemacht  werden,  dies  zu  untersuchen." 

Wo  ist  der  mit  iu  toi;  ereita  bezeichnete  Abschnitt  zu  suchen?  Es  i*t 
der  Abschnitt  VII,  von  welchem  Marquard  behauptet,  dass  er  von  einem  an- 
deren Verfasser  herrühre  als  das  Vorausgehende.  Dort  heisst  es  nämlich  §  47: 
O'jtcu  fiiv  öjv  tyj*.  eotxcv  eivcd  ti  pifiGTOv  o'j^cuvov  oidsnjpv.  Katd  [xtvvroi  tt(v 
■/j(A6Tlpav  ypfjtnv  (Xiyaj  8  i,|j.S7(ipav  tt)v  te  otd  xfj;  toD  dvftpu>~ov>  ^om,;  Ylv5fA^vriv 
xal  rf,v  oid  tö»v  ^p^avur*)  cpalv£Tot{  ti  |x£Yl9T'iV  eivav  tüiv  *rjfrfa>viuv.  toOto  o  £ot!  tö 
otd  tt£vte  xal  to  ota  £ta  t-so&v,  fi£ypi  ^dp  toj  Tplo  otd  ^ootov  oux  £ti  oiaTclvofiv  etc. 
„So  scheint  es  nun  nach  der  Natur  des  Melos  keine  äusserste  Grenze  für 
„die  Grösse  der  symphonischen  Intervalle  zu  geben.  Jedoch  mit  Rücksicht 
„auf  unsere  Praxis  (ich  nenne  „unsere"  die  durch  die  menschliche  Stimme  und 
„durch  die  Instrumente  gegebene)  giebt  es  augenscheinlich  ein  grösstes  unter 
„den  symphonischen  Intervallen.  Und  zwar  ist  dieses  das  aus  der  Doppeloctave 
„und  der  Quinte  zusammengesetzte  Intervall,  denn  bis  zu  dreiOetaven  können 
„wir  nicht  hinaufsteigen." 

Marquard  scheint  die  Behauptung,  dass  der  Abschnitt  VII  von  einem  an- 
deren Verfasser  als  die  vorausgehenden  ivon  ihm  dem  Aristoxenus  vindicirten) 
herrühre,  nicht  anders  als  in  dem  guten  Glauben  ausgesprochen  zu  haben,  dass 
diejenigen,  welche  diese  Behauptung  lesen,  die  Aristoxenische  Harmonik  selber 
ungelcsen  lassen  würden.  Denn  wer  sie  wirklich  mit  einigem  Nachdenken 
liest,  der  weiss  sofort,  dass  der  Verfasser  des  Abschnittes  VII  und  des  Ab- 
schnittes III  ein  und  derselbe  ist,  dass  wenn  also  Abschnitt  III,  wie  Marquard 
sagt,  Aristoxenisch  ist,  dass  dann  auch  der  Abschnitt  VII  den  Aristoxenus 
ebenfalls  zum  Verfasser  hat.  Dasselbe  wird  man  auch  für  die  weiteren  auf 
VII  folgenden  Abschnitte  finden.  Wir  können  es  unterlassen,  auf  die  betref- 
fenden Stellen  hier  hinzuweisen.  Aus  unserer  Ausgabe  und  erläuternden  Ueber- 
setzuug  ergeben  sie  sich  dem  I^eser  von  selber. 


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Das  Prooimion  nach  Marquard  conglutinirt.  195 


Die  angebliche  Entstehung  des  Prooimion 
ans  der  Conglntination  zweier  Aristoxenischen  Schriften. 

Das  Auffallendeste  in  der  Art  der  Kritik,  welche  Herrn  Marquard  für 
Aristoxenus  beliebt,  ist  dies,  dass  er  das  mit  der  folgenden  Ausführung  nicht 
stimmende  Inhaltsver/eichniss  des  Prooimion,  um  dessentwillen  er  die  ganze 
Ausführung  dem  Aristoxenus  abspricht,  das  auffallendste  —  sage  ich  -  ist 
dies,  dass  er  das  Prooimion  zwar  für  Aristoxenisch  erklärt,  aber  nicht  aus 
Einem  Werke  entnommen,  sondern  aus  zwei  verschiedenen  Werken  des  Ari- 
ßtoxenus  contaminirt  wissen  will.  Wäre  das  wahr,  so  wäre  schwer  zu  begrei- 
fen, weshalb  das  Inhaltsverzeichniss  aus  zwei  Werken  genommen  sei,  die 
erste  Hälfte  aus  einem,  die  zweite  aus  einem  anderen.  Noch  schwerer  aber 
ist  einzusehen,  wie  Marquard  das  für  höhere  Kritik  halten  kann,  wenn  er  aus 
einem  Inhaltsverzeichnisse,  das  aus  zwei  verschiedenen  Aristoxenischen  Werken 
contaminirt  ist,  das  Kriterium  für  die  Authenticität  oder  Nicht- Authentizität 
der  dem  Verzeichnisse  folgenden  Ausführung  entnehmen  zu  können  glaubt  Ja, 
wäre  es  ein  einziges,  in  sich  zusammenhängendes  Inhaltsverzeichnis  eines  ein- 
zigen Aristoxenischen  Werkes,  so  Hesse  sich  nach  demselben  ermessen,  ob  die 
Ausführung  des  Inhaltsverzeichnisses  demselben  Werke  des  Aristoxenus  wie 
das  Inhaltsverzeichniss  angehört  oder  nicht.  Aber  wenn,  wie  Marquard  behaup- 
tet, der  erste  Theil  des  Inhaltsverzeichnisses  einem  anderen  Werke  als  der 
zweite  angehört!  Kann  es  da  noch  massgebend  für  dasjenige  sein,  was  auf 
das  Inhaltsverzeichniss  folgt! 

Doch  hat  es  mit  der  Contaminatiou  des  Inhaltsverzeichnisses  aus  zwei 
Aristoxenischen  Werken  eben  so  wenig  zu  sagen  wie  mit  allen  übrigen  Ergeb- 
nissen der  höhereu  Kritik,  welche  Marquard  an  Aristoxenus  ausübt.  Die  Fuge 
der  Contamination  sei  im  Inhaltsverzeichniss  deutlich  genug  zu  erkennen.  Sie 
finde  sich  in  dem  Satze: 

§  12.  Kit  dnoooTiov  t«;  tüm  ytvüiv  otaifopi;  «ita«  ta;  h  toi;  xwjpivot« 
töiv  «pbo^euv.  Dass  das  ein  dem  Inhalte  nach  durchaus  zusammenhängender 
Satz  ist,  desseh  Wort«',  auch  wenn  ein  handschriftlicher  Fehler  darin  steckt, 
aufs  engste  zusammengehören,  weiss  Marquard  recht  gut  Denn  Marquard 
selber  setzt  in  seinem  exegetischen  Commentare  zu  Ari.stoxeuus  die  von  diesem 
und  anderen  Musikern  sattsam  wiederholte  Lehre  auseinander,  dass  der  Unter- 
schied der  Tongeschlechter  auf  den  sogenannten  veränderlichen  Tönen  der 
Scala  {den  xivo'j|icwi  beruhe.    Der  Proslumbauomenos,  die  Parhypate, 

Hypate,  Mese,  Nete  sind  unveränderlich  lisTujTs;);  Parhypate,  Lichanos,  Trite 
sind  veränderlich:  durch  das  Aufwärts-  und  Abwärtsstimmen  der  letzteren 
wird  die  Verschiedenheit  der  Tongeschlechter  hervorgebracht.  Das  natürlich 
ist  es,  was  in  dem  vorliegenden  Satz«:  des  §  12  kürzlich  angegeben  sein  muss. 

Nun  ist  freilich  in  den  Handschriften  ein  Wort  falsch  Überliefert:  statt 
äi-Kpopa;  aÜTd;  steht  öia^opd;  otjtf^.    Schon  Meibom  weiss,  dass  das  falsch  ist, 

13* 


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196  Aristoxenus  erste  Harmonik. 


weiss  auch,  daas  Stoupopd;  a<kd;  geschrieben  werden  muss.  „Hilft  nichts4',  meint 
Marquard,  „man  muss  den  Satz  zertrennen!''  Er  giebt  den  Text,  wie  wenn 
Meibom  niemals  gelebt  hätte,  und  übersetzt  „Alsdann  sind  die  Unterschiede 
derselben  in  den  beweglichen  Klängen  auseinander  zu  setzen."  Was  „der- 
selben'' bedeuten  soll,  erfährt  man  nicht.  Marquard  setzt  voraus,  aus  dem 
Commentare  werde  es  der  Leser  erfahren.  Da  erfährt  derselbe,  dass  es  gar 
nichts  bedeuten  soll  und  überhaupt  nichts  bedeuten  kann ,  denn  da**  seien  zwei 
unvollständige  Satzfolgen,  so  zu  lesen: 

EtT  diroooriov  tdc  t<"jv  -jeyün  ötatfopd;  -rirf,;  .    .  . 


Td«  £v  toi;  xiwjuivu;  tun  ^Hffmy,  dro&OTiov  Ii  xol  tox  T<5roy;  iv  oT; 
xinoDvtok. 

Hinter  ateffi  (oder  vor  oi»-f(;,  das  wird  nicht  klar)  zeige  sieh  die  Fuge,  die 
aus  der  Contamination  zweier  verschiedenen  aus  zwei  verschiedenen  harmo- 
nischen Werken  des  Aristoxenus  genommenen  Inhaltsverzeichnissen  zurückge- 
blieben sei. 

In  dem  handschriftlich  überiieferten  Texte  fehlt  allerdings  eiu  Wort,  auf 
welches,  man  täv  jevuiv  ^tatfopd;  beziehen  könnte.  Wir  haben  8.  192. 193 

aus  anderen  Gründen  nachgewiesen,  dass  vor  den  Worten  des  §  12  eine  band 
schriftliche  Lücke  vorhanden  ist,  in  welcher  ursprünglich  eine  wie  auch  immer- 
hin gehaltene  Inhaltsanzeige  des  Abschnitte*  VIII  stand,  welcher  in  der  Aus- 
führung §  49  mit  den  Worten  scbliesst: 

xoÄetaöc)  oe  ?ö  jasv  Rdyiotov  oUat;  ivotpfjfivto;  sXi/Iott^  to  K  e/opEvov  Steou 

Das  sind  die  drei  kleineren  Theile  des  Ganztones,  die  dreifachen  eigen- 
artigen Bestandteile  des  enharmonischen ,  chromatischen,  diatonischen  Tonge- 
schlechtes. Darauf  folgt  nun  in  §12:  „Sodann  sind  die  auf  den  veränderlichen 
Scalatönen  beruhenden  Tongeschlechtcr  selber  zu  besprechen":  erst  die  In- 
tervall-Megethe,  auf  denen  sie  beruhen  (§  11),  dann  die  Tongeschlechter 
selber,  das  enharmonische,  chromatische,  diatonische  und  ihre  verschiedenen 
Chroai  (§  12  t.  Das  ist  Alles  im  besten  Zusammenhange  und  die  vermeintliche 
Fuge  der  Contamination,  welche  Marquard  vor  oder  hinter  a-itf,;  erkannt  haben 
will,  ist  vielmehr  ein  längst  von  Meibom  berichtigter  Fehler  der  Handschrift. 
Marquard  weiss  mit  dieser  Berichtigung  Meibom's  nicht  anzufangen,  weil  von 
Meibom  noch  nicht  die  Lücke  §  10  und  11  u.  die  Umstellung  der  §§  12  u.  13 
erkannt  war.  Wir  könnten  uns  auf  jenes  ?i;  t<üv  fevuw  ^ta^opd«  rixd;  als  einen 
evidenten  äusseren  Beweis  für  die  Richtigkeit  unserer  Annahme  der  Lücke 
und  der  Umstellung  S.  193  berufen,  wenn  hier  noch  ein  Beweis  nöthig  wäre. 


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Ihr  Zusammenhang  mit  anderen  Schriften  (Vorlesungen).  197 


Zusammenhang  der  ersten  Harmonik  des  Aristoxenus 
mit  anderen  Schriften  desselben. 

Bezüglich  der  angeblichen  Zweitheiligkeit  des  Inhaltsverzeichnisses  sagt 
Marquard  ferner  noch: 

Das  Inhaltsverzeichniss  beginnt  mit  den  Worten  (§  4). 

Ilpükov  uev  ojv  d;:dvTtuv  rVjv  tf,;  ^tuv^c  xtvy(aiv  otopirrlov  t<7)  pIXXovri  rpay* 
fxarejeaftat  ztpt  [j-eXo-j;  aür^v  tt,v  xatd  tottov. 

Es  schliesst  mit  den  Worten  (§  24): 

Td  fiev  ojv  rfj;  dpjjLovixfj;  xaXwfUvrjC  £ttkjttjat(;  {xe"pTt  -a-itd  te  xi\  ToaaOtd 
£a-:t,  rd;  f  d^tuTipiu  toutojv  TTpa^fiaTela;  t'tteg  £tno[Aev  dpyOfAEvoi  TeXeiOTepovi  ti"^; 
•jnoX^TrrloN  ctvai. 

Im  Anfange  des  Ruches  hatte  Aristoxenus  nämlich  gesagt  (§  1): 

Tx  h  dvoi?£ptu  3aa  ttEtupsrrn  y_puij*£vr}S  f(orj  tf,;  noiTj-ixfj;  te  ayarf^aat 
xai  toi;  to*>i;  o0x£7i  ti'jttj?  £otiv. 

Marquard  denkt  sich,  aus  der  am  Anfange  des  Verzeichnisses  genannten 
r.toX  ptiXo-j;  ^pa^aa-Ttta  stamme  der  erste  Theil  den  Verzeichnisses,  aus  der  am 
Ende  (§  24)  genannten  dopoNixj)  i-izzi^  stamme  der  zweite  Theil.  Und  zwar 
aus  folgendem  Grunde:  „Die  ersten  sechs  Abschnitte  unseres  Buches  (I— VI) 
behandeln  Dinge,  welche  meist  von  der  Art  sind,  dass  sie  in  einer  dpp.ovixrj 
ezts-r^T,. nicht  stehen  konnten,  sie  behandeln  sozusagen  alle  möglichen  Urele- 
mente  der  Musik"  (!>;  in  einer  zEpl  piXo-j;  £i:t3TT((iT(  oder  was  dasselbe  sei,  in 
den  «pyai,  seien  sie  überaus  passend. 

Wie  weiss  Marquard  etwas  darüber,  welcher  Inhalt  für  die  Aristoxcnisehe 
TTEpl  [a£Xov>;  ir.iati^,  und  welcher  Inhalt  für  die  Aristoxenischen  dpyat  passen«! 
oder  unpassend  sei?  Das  von  ihm  hierüber  Angegebene  ist  eben  sosehr  Phan- 
tasie, wie  das  was  er  über  den  Inhalt  der  dptxovtx^  änorfjij.T, ,  in  der  er  eine 
Compositionslehre  erblicken  zu  müssen  glaubt,  angiebt.  Er  bestimmt  die  da- 
hin gehörenden  und  nicht  gehörenden  Dinge  etwa  nach  der  Compositionslehre  von 
Marx  oder  Lobe,  aber  nicht  nach  der  ausdrücklichen,  nicht  misszuverstehenden 
Definition,  welche  Aristoxenus  von  seiner  dpfiOMtx^  r>paf\i.o.xtia  gegeben  hat. 
Aristoxenus  selber  protestirt  wiederholt  dagegen,  dass  die  dpfiovix-f)  eine  Com- 
po*>itioMslehre  sei.  Es  ist  als  ob  er  sich  alle  Mühe  gebe,  den  Missverständnissen 
des  Herrn  Marquard  im  Voraus  zu  begegnen.  Aber  Herr  Marquard  lässt  alle 
diese  Verwarnungen  unbeachtet.  Im  Anfange  unseres  Buches  sagt  der  Ver- 
fasser, dass  die  Harmonik  die  theoretische  Disciplin  sei,  welche  die  ersten  Ele- 
mente des  Melos,  Tonsysteme  und  Tonleitern,  behandele.  Darüber  gehe  die 
Harmonik  nicht  hinaus;  die  Verwendung  der  Tonsysteme  und  Tonleitern  in 
der  Composition  (suwjwi,)  gehöre  einer  anderen  Disciplin  an  (er  meint  die 
ixeXoTOita),  einer  Disciplin  die  nicht  für  die  Anfänger,  sondern  für  die  schon 
weiter  Fortgeschrittenen  bestimmt  sei.  Das  ist  doch  deutlieh  genug.  Dasselbe 
Hagt  er  in  dem  Fragmente  bei  Plutarch  de  musica  34  b :  „Die  Harmonik  vermag 


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198 


Aristoxenus  erste  Harmonik. 


nicht  derjenige  zu  beurthcilen,  welcher  sich  blos  die  Keuntniss  der  Harmonik 
erworben  hat,  sondern  nur  derjenige,  welcher  die  sämmtliehen  Theile  der  Musik 
and  die  Musik  als  Ganzes,  so  wie  auch  die  Verbindung  und  Zusammensetzung 
der  Theile  im  Auge  hat.  Wer  blos  Harmoniker  ist,  der  ist  in  enge  Schranken 
eingeschlossen."  Das  ist  genau  dasselbe,  was  wir  in  der  ersten  Harmonik  §  1 
lesen.  Aus  welchem  Werke  des  Aristoxenus  Plutarch  diese  Stelle  entlehnt 
hat,  wissen  wir  nicht.  Aber  auch  in  seiner  dritten  Harmonik  §  3  wiederholt 
Aristoxenus  das  nämliche:  „Ausser  Harmonik  gehört,  wie  ich  stets  sage, 
noch  vieles  andere  in  das  Gebiet  des  Musikers."  Also  auch  noch  in  anderen 
Schriften  hatte  das  Aristoxenus  häufig  wiederholt  oder  wenigstens  seine  Zu- 
hörer darauf  fort  und  fort  hingewiesen. 

Die  Harmonik  des  Aristoxenus  ist  also  mit  Nichten  eine  Compositions- 
lehre;  das  wissen  wir  aus  seiner  oft  wiederholten  Versicherung.  Marquard  hat 
das  übersehen. 

Und  dass  in  den  „dpyal"  von  allen  möglichen  Urel erneuten  der  Musik 
geredet  worden  sei,  das  hat  Marquard  wohl  nur  aus  dem  Namen  dpyal  ge- 
schlossen. Ebenso  wenig  hat  Marquard  einen  Grund,  die  dpyal  mit  der  repl 
pi£Xou;  imvti^  zu  identificiren. 

Wer  nicht  in  so  grossen  Vorurthcilen  gegen  Aristoxenus  wie  Marquard 
befangen  ist,  der  um  jeden  Preis  die  Aristoxeuus-Schriften  zu  einem  Conglomerat 
Byzantinischer  Excerpte  herabwürdigen  will,  dem  kann  das  Verhältniss,  in  wel- 
chem unser  Buch  zu  der  repl  fiiXoos  rpa^AaTela  oder  repl  fx£).ooc  iriOTTfjpnr;  steht, 
nicht  verborgen  sein.   Aristoxenus  selber  sagt  es  ja  deutlich  genug: 

Die  repl  ptiXou;  irtoTTjpiT]  hat  mehrere  Theile.  Der  erste  Theil  derselben 
ist  die  dp[AONMc?)  rpaYfxarela.  Derselbe  handelt  repl  oucTTjfxdTwv  nal  repl  tovojv 
in  den  XVIII  Abschnitten,  welche  das  Prooimion  des  ersten  Buches  namhaft 
macht  und  von  denen  die  vollständige  Ausführung  der  10  ersten  auf  das  Prooi- 
mion folgt. 

AVas  darüber  hinausgehe,  namentlich  die  Anwendung  der  Systeme  und 
Tonarten  in  der  roir,Tix^  oder  Compositionslehre  gehöre  nicht  mehr  der  Har- 
monik an.   Darüber  wolle  er,  sagt  Aristoxenus,  e*v  toU  xad+jxouoi  yp6voi;  reden. 

Auch  noch  folgende  Stelle  aus  Plutarch.  de  mus.  33,  die  ebenfalls  aus 
Aristoxenus  stammt,  ist  herbeizuziehen:  „Die  Harmonik  behandelt  die  Tonge- 
schlechter, Intervalle,  Systeme,  die  Töne,  die  Tonarten  und  die  Metabole  aus 
einem  Systeme  in  das  andere.  Aber  weiter  erstreckt  sie  sich  nicht,  so  dass 
man  nicht  einmal  suchen  darf,  aus  der  Harmonik  zu  erkennen,  ob  der  Com- 
ponist  die  Tonarten  richtig  angewandt  hat*'. 

Also  ein  fernerer  Theil  der  repl  pi).oug  inoTTjp;^,  ausser  der  dpfxovtx^  ist 
die  ae>.oroila. 

Aber  ausser  der  ap|xovix^  und  |u).oroil?  müssen  noch  mehrere  pip-rj  zu 
der  repl  pi/.oue  imorr^r,  gehört  haben,  da  es  heisst  „t^;  repl  jiiXouc  erurrriixT^ 
ro).  jpiepoO;  ouar^"  (also  mehr  als  zwei,  mindestens  drei  Theile).  Welche  pUpt) 
mögen  dies  gewesen  sein? 


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Ihr  Zusammenhang  mit  anderen  Schriften  (Vorlesungen). 


19!) 


Aristides  de  mus.  führt  als  Disziplinen  oder  Theile  der  musischen  Kunst  auf : 

3  jjilpTj  xeyvixa:  dtp|i.oW..v,  [>j8(jlixöv  und  ,uEtpixöv  (A^po;, 
3  jxepT)  ypTj«ixdf:  [aeXotioiIi,  j)u8|aojroda,  rotr(ot;  (roiTjxtxta  uipo;), 
3  jji^p^  ^ca^eXTixa:  o&favtxov,  «>oixK  ynoxpixtxiv  fjtlpo«,  d.  i.  Instru- 
mente, Gesang,  Action. 

Die  letzteren  nennt  Pollux  4,  57—154,  Aristoxenus  gebraucht  dafür  den  Ge- 
sammtnamen  ip^vela  Plutarch.  mus.  32a;  wenigstens  begreift  er  hiermit  die 
Organ ik  und  die  Odik. 

Von  diesem  [xdp>]  r?j;  jxoysixf,;  kann  die  Rhythmik,  Metrik,  Rhythmopoieia, 
auch  die  Hypokritik  nebst  der  Orchestik  nicht  zu  den  jxlpT)  rfj«  irepl  piXöys 
iTctcrf^T^  gerechnet  sein.  Denn  Aristoxenus  scheidet  Rhythm.  §  13  die  rapt 
Ikikovs,  öewpta  von  der  TiEpl  toj;  ^j8(jloj;  oder  der  pjfl|Mx9)  TTpa^oxEla  ab:  axmp 
iv  ttq  toü  jxdXou;  sp'joei  Te8so>pT)xa{Jicv,  ott  .  .  ovtcu;  uTroX^rciov  eysiv  xal  repl 
wi«  ßuft|Aou;  .  .  .  £zl  te  rrj;  py8(Aixf,;  xp^\xaidai  oioajTtu;  tpapi^.  Wir  Modernen 
drücken  die  beiden  Seiten  der  Musik,  welche  Aristoxenus  mit  (xO.o;  und  ^jÖjjlö; 
bezeichnet,  so  aus,  dass  wir  von  den  tonischen  Elementen  der  Musik  (Melodie, 
Harmonie,  Instrumentation)  und  den  rhythmischen  Elementen  der  Musik  sprechen, 
wofür  wir  auch  die  Termini  Melos  und  Rhythmus  gebrauchen  können.  Der- 
selbe Gegensatz  von  u£Xo;  und  |>j8(io;  findet  sich  auch  Rhythm.  §  21:  &<n:ep 
ov*  £v  tou  5ta«TT,(jiaTixot;  atoiyetot;  tö  jaev  xatcl  p-cXo;  p^tta  ciXr^ftTj  .  .  .,  o'jtoj 
xai      tot;  ^jftjxot;  ü-oXt^t^ov  £"/eiv  to  te  jWjTÄv  xal  tö  iXo-p*. 

Wenn  Spätere  wie  Bacchius  p.  14  Meib.  das  Wort  ;a£Xo;  in  einem  weiteren 
Sinne  gebrauchen:  uiXo;  sm  ix  ^ftöfftuv  &iaoTT,tAiTmv  xat  yp4vu>v 
avYxe((i.£vov,  wenn  bei  Anonym,  p.  29  t-Xeiov  f*£Xoc  die  vollständige  Composition, 
bestehend  aus  u.eX«;j&(a,  p\»ftfjtöc,  Xs;i;  ist,  so  kann  das  auf  die  Interpretation  der 
klaren  nicht  misszuverstehenden  Aristoxenisehen  Stellen  von  keinem  Ein- 
flüsse sein. 

Die  rEpt  jjLeXou;  irtorfy.t.Tj  ergiebt  sich  hiernach  als  eine  aus  mehreren 
Tbeiicn  bestehende  —  sagen  wir  Encyclopaedie  der  Musik  nach  ihrer  tonischen 
Seite  —  im  Gegensatze  zu  der  rhythmischen  Seite  der  Musik.  Dass  in  der 
Aristoxenisehen  rrepl  [jlO.ov»;  ir.i-3Tri[tii  ausser  der  Harmonik  (in  dem  S.  197  an- 
gegebenen Sinne)  auch  die  [AEXorntta  ein  besonderes  ;jiepoc  bildete,  lässt  sich 
mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  aus  Aristoxenus  selber  nachweisen. 

Von  seiner  Behandlung  der  Melopoeie  nämlich  spricht  Aristoxenus  in  der  drit- 
ten Harmonik  §  1 :  Es  sei  nöthig  beim  Beginne  einer  Vorlesung  genau  den  In- 
halt derselben  anzugeben,,  was  Plato  vernachlässigt  ,  Aristoteles  dagegen  stets 
sorgfältig  beobachtet  habe.  Aristoxenus  wolle  es  für  seine  Harmonik  ebenso  wie 
Aristoteles  halten.  Denn  die  einen  unter  den  Zuhörere  versprächen  sich  von 
dieser  Disciplin  zuviel,  als  sei  sie  ausreichend  für  die  gesammte  musikalische 
Bildung.  Einige  glaubten  sogar,  dass  sie  durch  den  Besuch  dieser  Vorlesung 
nicht  nur  Musiker,  sondern  auch  in  ihrem  Charakter  veredelt  würden,  und  zwar 
glauben  sie  das  deshalb,  „weil  wir  in  unseren  Untersuchungen  (über  Melopoeie), 


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200 


i 

Aristoxenus  erste  Harmonik. 


wenn  wir  in  den  einzelnen  Compositionsarten  zu  setzen  versuchten,  zu  erörtern 
pflegten,  dass  die  eine  Compositionsart  nachtheilig,  die  andere  vortheilhaft  auf 
den  Charakter  einwirke,  —  ein  Missvcrständuiss,  bei  welchem  sie  den  vortheil- 
haften  Einfluss,  den  die  Musik  insgesauunt  gewähren  kann,  ganz  und  gar  nicht 
erfasst  haben."  In  <ler  Melopoeie  (denn  diese  ist,  die  liier  gemeint  ist)  zeigt 
sich  Aristoxenus  als  praktischer  Musiker:  er  componirte  in  den  einzelnen  Ton- 
arten, um  Beispiele  der  verschiedenen  durch  sie  bewirkten  Afficirung  des  Ge- 
müthes  zu  geben,  von  der  auch  Aristoteles  am  Schlüsse  seiner  Politik  und 
Plato  in  seinem  Werke  vom  Staate  geschrieben  hat.  AVenn  der  letztere  seine 
Leser  zum  besseren  Verständnisse  des  verschiedenartigen  Charakters  der  Ton- 
arten an  den  praktischen  Musiker  Dämon  verweist,  der  ihnen  das  klar  machen 
könne,  so  setzt  bereits  Plato  eine  Unterweisung  in  der  Melopoeie  voraus,  wie 
sie  späterhin  Aristoxenus  nach  seiner  eigenen  Aussage  gegeben  hat.  Wir 
können  nicht  sagen,  dass  Aristoxenus  an  jener  Stelle  auf  eine  von  ihm  ge- 
schriebene Schrift  über  Melopoeie  hinweise,  sondern  er  redet  so,  als  ob  es  sieh 
um  eine  über  Melopoeie  gehaltene  Vorlesung  handele.  Wir  wissen  nun  freilieh, 
dass  die  römische  Kaiserzeit  mindestens  vier  Bücher  des  Aristoxenus  über  Me- 
lopoeie besass.  Porphyrius  ad  Ptolem.  harm.  p.  298.  Aber  diese  waren  wohl 
nur  der  Ertrag  jener  über  Melopoeie  gehaltenen  Vorlesungen. 

Ausser  der  (xeXoTzoita  gehört  auch  noch  das  öpTfavixöv  uioo;  (Theorie  der 
Instrumente)  und  das  «wotxöv  |i£po;  (Theorie  der  menschliehen  Stimme)  zu  der 
zepl  ixe).o-js  izviTf^.  Der  ersteren  gedenkt  Aristoxenus  in  der  dritten  Har- 
monik §  3. 

Ammonius  s.  v.  xtttapt;  citirt  das  Werk  des  Aristoxenus  tü>  r.toi 
öpY*vtUN"»  Athenaeus  14  p.  634d  „t«  -nept  aulüv  xat  ^pYct^coV  vgl.  635b 
174e;  Athenaeus  14,  634  e  „zpfiTov  -epi  ay)»<bv  -rp^aeiu;". 

Bei  diesen  ihren  vier  jxipTj :  äofi.ovtxr( ,  (leKoiroiia,  4pYavixfjf  moix-r,  kann  die 
rept  (u£Xoi>;  iniarr,}!^  von  Aristoxenus  wohl  als  eine  „roXypLepTj;  ojoa  vtotl  St^pT,- 
|a£vy(  eU  r/.etoj;  t?>£a;",  von  denen  die  äpixovixTj  die  erste  sei,  bezeichnet  werden. 

Auch  auf  eine  der  ersten  Harmonik  vorausgehende  Darstel- 
lung beruft  sich  Aristoxenus.  Er  citirt  diese  seine  frühere  Arbeit  mit  den 
Worten  y)|mv  ft^i^x-xi  tpavepöv  e\  toi;  £fj.7ipooftev  fixe  ^reoxoTTOy|iev  t«;  t&v  äpfto- 
vixdiv  W;a;  (§  3)  „Es  ist  uns  das  im  Vorausgehenden  klar  geworden ,  als  wir 
die  Ansichten  der  Harmoniker  betrachteten."  Ferner  §  16  r.ipi  rfj;  suvfteaecu; 
tt(;  täv  dsuvdittuv  SiasTr^attuv,  ol;  d<xi  xai  ojOTTjtAaaiv  sivat  zo>c  ayfiplalvs'. ,  ol 
z/v6i5T0i  tü>v  äpf*ovt*mv  ojo'  8ti  zpaifaaTC  JTi'iv  igoHovto  •  &fj>.ov  or4{uv  i  *  toi;  ffAirpo- 
o8ev  flfwv*.  „Dass  man  über  die  Zusammensetzung  der  einfachen  Intervalle 
zu  Systemen  handeln  müsse,  haben  die  Meisten  unter  den  Harmonikern  sogar 
uieht  einmal  als  Notwendigkeit  gefühlt.  Das  ist  uns  in  dem  Vorausgehenden 
klar  geworden."  Dann  ferner  über  denselben  Gegenstand  §  18:  'EpaToxXij;  ö' 
ireyelp^aev  dva:woetxTixcö;  s;api8fj.eiM  ed.  xt  fxipo«.  "O-t  o  oüorv  elp^xtv,  dXXd 
rävra  ^eyof,  xal  tü>v  tpaivoulvajv  tt,  ala&Tjaet  StTjudpTTjxe ,  T£»:u'jpT(Tat  ja£v  Ipr.p'j- 
oÖsv  ot  vjxip  xaö'  aOtf.v  i^^äCojxev  ttjv  rp«Y[jiiT£bv  Taix^v.    ..Eratokles  unter- 


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Ihr  Zusammenhang  mit  anderen  Schriften  (Vorlesungen). 


201 


nahm  es,  ohne  Beweisführung  eine  theil weise  Aufzählung  zu  machen.  Dass  er 
aber  Nichts  gesagt,  sondern  Alles  falsch  und  der  unmittelbaren  Erscheinung 
der  Thataachen  widerstrebend,  das  hat  sich  im  Vorausgehenden  gezeigt,  als  wir 
eben  diese  Pragmatie  der  Prüfung  unterzogen."  Seine  im  Vorausgehenden  ge- 
gebene Prüfung  der  Ansichten  der  Harmoniker  nennt  also  Aristoxenus  eine 
Pragmatie,  so  gut  wie  die  Darstellung  der  Harmonik  selber. 

Auch  in  der  uns  vorliegenden  Rhythmik  bezieht  sich  Aristoxenus  mehr- 
fach auf  -cd  £|A7:poo8ev  §  1:  "Ott  (jlev  toO  £>y8f*oy  TiXetou;  etoi  tpuocic  xal  Ttola  ti« 
crit&v  exda-qj  .  .  .  dv  rot;  ffATrpoofte-*  eipr(fi£viv.  Nüv  hi  f,(jLiv  itepl  atkoy  ).ex- 
t£ov  toO  £v  [xojatxTj  Tatrouivoy  J^jHijloO. 

§  2:  "Oti  f*ev  oyv  zepi  toj;  yp<5voy;  doTt  xal  tv  tojtöjv  atoft^oiv,  EtpYjTat  fxsv 
£v  toi;  £[x7:poo86v,  Xcxtc4v  os  xal  -dhv  vyv,  dp/^  ^dp  Tp«5nov  Ti-'«  tt,;  toO 
r.toi  tojc  |>y8[Aoy;  £jrwrf)(ir(;  dotiv  a5rr(. 

§  6:  'Ersio^,  6  jjiev  yptao;  a6to;  au-öv  oü  tiftvei,  xaftdrEp  £v  toi;  £fi-po« 

sftsv  EtrOfJLEV. 

Hier  muss  tx  £[ATrpoo8ev  von  einem  früheren  Buche  der  p^jflfjuxrj  -paf- 
(AaTcia  gesagt  sein,  denn  das  Vorliegende  ist  nicht  der  erste  Anfang  der 
rept  wj;  jb-jftjjLoy;  crior^fATj,  sondern  nur  der  Anfang  eines  einzelnen  Buches 
derselben:  in  dem  diesem  Buche  Vorausgehenden  muss  von  dem  ausserhalb  der 
musischen  Kunst  zu  Erscheinung  kommenden  Rhythmus  die  Rede  gewesen  sein. 

Mit  den  in  der  ersten  Harmonik  erwähnten  ,,-d  £jx-poa8ev"  muss  es  eine 
andere  Bewandniss  haben.  Denn  den  uns  vorliegenden  Anfang  der  ersten 
Harmonik  §  1  bezeichnet  Aristoxenus  selber  als  den  Anfang  der  Harmonik 
§  24:  Td  |xev  ojv  tt);  dppovtxfj;  xaXoyfi£vrrf;  irAS-i^ir^  jjiprj  TotOrd  ts  xal  toaayTa 
istt.  Td;  o'  dvtotipoj  TOyiajv  zoa-fuaxd'ii  drsp  EiropLEv  dp/opevot  T£AEtoT£poy 
tivö;  yro).T(zTdov  elvat.  Also  der  Anfang  der  dpjAOvtxfj  -pa^TEia  kann  Td  £u-po- 
a8ev  nicht  sein.  Es  ist  vielmehr,  wie  Aristoxenus  selber  sagt,  eine  besondere 
die  M*ai  täv  dp;AOvtxö>N  behandelnde  ^p^aTcla.  Dieselbe  scheint  in  einer 
eigenen  Schrift  niedergelegt  gewesen  zu  sein.  Denn  dasjenige,  was  Aristides 
de  inus.  p.  21  aus  den  Diagrammata  der  älteren  Harmoniker  inittheilt,  stimmt 
mit  dem  von  Aristoxenus  Angeführten  (vgl.  S.  200)  und  kann  schwerlich  an- 
derswoher als,  mittelbar  oder  unmittelbar,  aus  Aristoxenus  TrpaYjjiaTela  über  die 
o4;ai  dpfAOvixwv  entlehnt  sein.  Und  doch  citirt  Aristoxenus,  was  er  über  die 
&4;ai  dppwxwv  gesagt,  in  seiner  ersten  Harmonik  als  Td  farpooftcv ! 

Vermuthlich  hielt  Aristoxenus  einen  Cyklus  von  Vorlesungen  über  die  ein- 
zelnen Theile  der  repl  fiiXoy;  irATrf^\trt.  Den  ersten  Theil  bildete  eine  kritische 
Darstellung  dessen,  was  frühere  Schriftsteller  über  Harmonik  gelehrt  oder  ge- 
schrieben hatten.  Dies  ist  die  ^pa^u-atEta  zcpl  Td;  W;a;  dpjAovixwv.  Es  folgt 
als  zweiter  Theil  dieses  Cyklus  die  uns  erhaltene  Vorlesung  nepl  rf};  dp|/.ovtxf); 
xa).oy[AeV(;  rpaYjxaTEia;.  Eine  dritte  Vorlesung  war  die  über  ucXoiroua,  auf  die 
sich  Aristoxenus  in  seinem  Prooimion  zur  dritten  Harmonik  beruft,  und  welche 
den  Musikern  der  römischen  Kaiserzeit  in  4  Büchern  vorlag.  Eine  vierte  und 
fünfte  Vorlesuug  mag  die  über  öprawrf,  und  über  «jiou^  gewesen  sein. 


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202 


Aristoxenus  erste  Harmonik. 


d  tA£f>o;:  Ttepi  W;ac  tipjAOvtxtüv  rrpaY^Teict, 
[Atpo;:  Ttcpl  tö  Tjpjjio3(A£vov  rpaY(xaTew, 
oder  öpjxovixf)  TTpaffiaTeia, 
y'  |>ipo;:  wepl  rf]«  [AEXoTtttls;  7rp5YfAaxe(a, 
o'  pipo;:  xo  zcpl  x&v  ipfaviov, 
(e'  filpo;:  «i&ixov  jiipo;  ?) 

Wenn  Aristoxenus  sagt:  ,,-ct  £|x;:poGShv",  so  ist  damit  nicht  das  gemeint, 
was  dem  betreffenden  Abschnitte  der  Harmonik  vorausgeht,  sondern  das,  was 
in  der  rept  |a£Xou;  irAarr^  dem  dppLovm&v  fji£Xo;  vorausgeht  und  was  eben  mit 
diesem  appovix^  im  nächsten  Zusammenhang  steht,  etwa  als  historische  Ein- 
leitung der  Harmonik. 


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ERSTER  HAUPTTHEIL. 

EINGANGS- ABSCHNITTE. 
Prooimion. 

§  1.  Da  die  Wissenschaft  vom  Melos*)  aus  einer  Anzahl  von 
Theilen  besteht  und  in  mehrere  Disciplinen  zerfällt,  so  muss  eine 
derselben  der  Reihenfolge  nach  die  erste  sein  und  eine  elementare 
Bedeutung  haben.  Diese  ist  die  den  Namen  Harmonik  führende. 
Sie  behandelt  nämlich  die  Theorie  der  Elemente**)  des  Melos,  d.  h. 
dasjenige,  was  sich  auf  die  Theorie  der  Systeme  und  der  Tonscalen 
bezieht.  Nur  dieses,  aber  nichts  weiteres,  darf  man  von  dem  der 
Harmonik  kundigen  als  solchem  voraussetzen,  denn  eben  darin  be- 
steht das  Ziel  (Zweck)  dieser  Disciplin.  Was  da  noch  weiterhin  bei 
der  Verwendung  der  Systeme  und  der  Tonscalen  in  der  Compositum 
ein  Gegenstand  der  theoretischen  Untersuchung  ist  (nämlich  die 
Melopoeie)f)?  gehört  nicht  der  Harmonik,  sondern  derjenigen 
Wissenschaft  an,  welche  die  Harmonik  und  zugleich  die  übrigen 
Disciplinen  umfasst,  die  im  Vereine  mit  einander  die  Theorie  der 
gesammten  Musik  bilden.  Es  ist  dies  der  Inbegriff  dessen,  was 
zum  Wissen  und  Können  (zur  Hexis)  des  Musikers  gehört  ft). 

*)  Marquard  S.  191:  „Hier  ist  das  Wort  jxlXo;  in  seiner  allgemeinsten 
Bedeutung  zu  nehmen :  musikalische  Composition."  Gründlich  falsch.  Ruelle 
verweist  bezüglich  „jiiXo;"  auf  Xotiees  et  Extraita  des  manuscripts  XVI  (1847) 
l'ouvrage  de  M.  A.  J.  H.  Vincent  sur  la  miifique  des  anciens  Grccs  p.  6. 

Das  Wort  ulXo;  im  musikalischen  Sinne  bedeutet  zunächst  und  ursprünglich 
einen  Gesang,  ein  Lied,  ein  in  Tönen  vorgetragenes  Gedicht,  einschliesslich  der 
begleitenden  Instrumeutaltöue;  gleichbedeutend  mit  i<s\ia,  vM^  Denkt  man 
daran,  dass  das  Lied  auch  durch  blosse  Instrumentaltöne  nachgebildet  werden 
kann  (Lied  ohne  Worte),  und  da#s  auch  die  begleitenden  Töne  als  u£Xoc  ge- 
fasst  werden  können,  so  ist  die  Definition  bei  Bacchius  p.  14,  22  vollkommen 
ausreichend:  M£Xo;  .  .  .  U  £x  ^»^(»v  x*\  hiwr^i-vn  %n\  yr/vcov  cv>piei- 
juvov.  Wie  hier  durch  die  Worte  „x*\  yoävuv  angegeben  ist,  bezeichnet  das 
Wort  fiiXo;  in  dieser  seiner  älteren  Bedeutung  das  betreffende  Musikstück 


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204  Aristoxenus  erste  Harmonik  §  1. 

nicht  bloss  nach  seiner  tonalen,  sondern  auch  nach  seiner  rhythmischen  Seite. 
Plato  rcp.  3,  p.  398:  „tö  |aIXo;  ix  tpiö»  sau  orfxeiiAevov ,  Xo^w  (=  X£;eid;)  tc 
x*l  appovia;  xa\  öv8|aoD.  leg.  2  p.  256.    Auch  bei  Aristid.  p.  6,  19;  28,  24. 

Doch  da  in  der  Musik  die  Qualität  (d.  i.  Höhe  und  Tiefe)  der  Töne  das 
Charakteristische  ist  (denn  der  Rhythmus  kommt  auch  in  dein  Recitations-Ge- 
dichtc,  nicht  bloss  in  dem  gesungenen  vor),  so  wird  im  technischen  Gebrauche 
des  Aristoxenus  und  der  sich  an  ihn  schliessenden  Musiker  das  Wort  rxiXoc 
ausschliesslich  auf  die  tonale  Seite  der  Musik,  auf  die  Melodie-  und  Beglei- 
tuugstöne  bezogen  und  dem  pjfttxo;  entgegengesetzt.  Das  man  schon  vor  Ari- 
stoxenus das  Wort  vorzugsweise  auf  das  Tonale  bezog,  zeigt  z.  B.  Horn.  Hymn. 
18,  16: 

tote  o  lanepo;  IxXayev  o«>?» 
\tjoj|jlov  vjx  äv  t^v^e  zapaopafxot  iu  |xeX£e<i3w, 
opvu,  t,t  eapo;  TtoXjavÖio;  £v  rstaXoiaiv, 
Upf(vov  tTrtrpoyiojo'  (ayet  [ieX^ojv  doiof,v. 

und  mehrfach  auch  Pindar. 

In  keinem  anderen  als  diesem  excluBiven  Sinne  wird  das  Wort  durch- 
gängig von  Aristoxenus  gebraucht,  genau  wie  in  der  aus  dem  Musiker  Diony- 
sius dem  jüngeren  (aus  dem  ersten  Buche  -epl  ö[xoior/jTwv)  bei  Porphyr, 
ad  Ptolem.  p.  219  citirten  Stelle:  Ka-i  \xh  ?e  toj;  iptxovtxov»;  fjüa  ayeoöv  xai 
r,  i-j-ZTi  O'ioia  £<m  p-jftjxoü  te  xai  fxeXoy;,  ot;  tö  ö$j  ~a/J  Zoxti  xai  tö  [iapo  £pavj, 
xai  xaö^Xoj  ofj  tö  T,pixoajxevov  xtvr,3ccuv  Ttv&v  aufXfxeTpia  xai  dv  X0701S  dpift|xä>v  ti 
i|x|xeXf,  SiaoTT(fjiaTct  (Analogieen  zwischen  Melos  und  Rhythmus).  Wir  können 
zwar  das,  was  die  Griechen  unter  Melos  verstehen,  durch  Umschreibungen  wieder- 
geben (,. tonale  Seite  der  Musik").  Aber  das  einfachste  ist  es,  hierfür  eben 
das  Fremdwort  „Melos"  zu  entlehnen,  ebenso  wie  wir  den  ..Rhythmus"  in  un- 
serer Sprache  längst  aeclimatisirt  halnm.  In  diesem  Sinne  hat  bereits  R.  Wagner 
das  Wort  Melos  in  Gebrauch  genommen.  Wir  bemerken,  dass  unter 
„Melos"  Alles  gehört,  was  nicht  Sache  des  Rytlunus  ist,  nicht  bloss  die  Melo- 
die, sondern  auch  jegliche  Harmonisinnig. 

Wollen  die  Musik-Schriftsteller  das  Wort  „aeXo;"  in  dem  zuerst  angege- 
benen allgemeinen  älteren  Sinne  gebrauchen,  so  fügen  sie  „-riXetov"  hinzu  d.  i. 
„vollen  Melos",  „dem  auch  der  Rhythmus  nicht  fehlt."  Da  wie  zu  Anfang 
bemerkt  das  Wort  jxsXo;  in  ursprünglicher  Bedeutung  denselben  Sinn  wie  asjjia 
und  vihii  hat,  so  kommt  teXeiov  fxiXo;  genau  mit  demjenigen  überein,  was  bei 
Aristides  p.  32  Meib.  „TcXtia  ip&r/4,  „perfecta  eantilena",  genannt  wird:  fxäXo;, 
pjHfiö;,  Xe;t;  .  .  .  t-jüti  o-juiravra  (xt7Vj[xeva  teXetav  «Äip  rötet,  bei  Mart.  Ca- 
peila p.  190  Meib.  „quac  cuneta  socia  perfectam  faciunt  cantilenam".  Vgl. 
Anonym.  Bellerm.  prior  ij  12  Mo-joixt,  i«Ttv  irAS-zi^  r.t[A  [aeXo;  tö  xdXctov 
ftEa>pT,Ttx^  täv  iv  avTf,  xai  toi;  fxipEotv  a-jTf,;.  "AXXot  öe  o'jtoj;  *E$i«  iJetup^Ttx^ 
-t  xai  zpaxTix^  xai  zoiTjTtxr,  tö>v  sepl  tö  tO.eiov  |x«Xo;.  Movatxö;  os  iflTtv  ö 
£[xretpo;  toü  TcXeioy  [xiXo-j;  xai  oyvdfxevo;  in  dxpt3eia;  tö  irpinov  TT,pf(aat  tc 
xal  xphat. 


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Prooimion. 


205 


Anonym.  Bell,  posterior  §  29  Mouttxr,  iarw  ■  entar/.fxTj  OeroprJTtx'?)  xai 
zpaxTix-f]  fi£Xouc  TeXelou  te  xai  öpYavtxoO.   tJ  (t<I>v)  TipE^vrojv  re  xai 

rpewSvnuv  £v  fjt£Xeai  xai  ^vttjxot;  .  .  .  TeXeiov  ;x£Xo;  ioti  wp.Elixrm  £x  te 
)  £;ca>;  xai  p£Xov;  xai  pj&jxoü.  Fügen  wir  noch  hinzu,  dass  das  blosse  „}x£Xo;u, 
ebenso  wie  (xcXui&a,  Y]puootxsw  bei  Aristoxenus  niemals  im  concreten  Sinne 
von  ausgeführten  Compositionen  zu  verstehen,  niemals  „xat  ^vip-fetav"  zu  fassen 
sei,  sondern  stets  „xard  viva^tv"  von  dem  abstrakten  Tonmateriale,  welches 
der  Künstler  für  seine  Compositionen  benutzt,  aber  für  Aristoxenus  nur  rück- 
sichtlich  seiner  Beschaffenheit  als  Material  ein  wissenschaftliches  Interesse  hat. 
MiXo;,  rxeXtp&ta,  Yj&jxocjxjvov  heisst  bei  Aristoxenus  so  viel  etwa  wie  „Tonleitern". 
In  dem  Sinne  des  Aristoxenus  könnten  wir  auch  die  Scalen,  welche  sich  bei 
Plato  im  Thnaeus  aus  den  Proportionen  des  Demiurgen  ergeben,  ein  p£Xo;, 
tjpjxoofxivov,  eine  (icXiuola  nennen. 

**)  Theorie  der  Elemente  des  Melos,  oio«  tü>v  k^tojv  tö>v  h  txeXet  »ew- 
P^tixtj.  Steht  weder  in  den  Handschriften  noch  in  den  Ausgaben,  wohl  aber 
in  den  mittelbar  aus  Aristoxenus  excerpirenden  Porphyr,  ad  Ptol.  und  Anonym, 
de  mus.  I  u.  II,  nur  das»  statt  zput»7cu\>  t&v  £v  jxiXei  die  Worte  i:p.  t.  iv  fA&ystxif; 
überliefert  sind  (Porphyr.)  Diese  Lücke  hat  auch  Carl  von  Jan  im  Philolog 
XXIX  p.  360  ff.  erkannt. 

t)  Auch  in  dem  Aristoxeuischen  Fragmente  bei  Plut.  de  mus.  33  wird 
die  Mclopoeie  von  den  Theilen  der  Harmonik  aufgeschlossen.  „Die  Harmonik 
nämlich  behandelt  die  Tongeschlechtcr,  Intervalle,  Systeme,  die  Töne,  die  Ton- 
arten und  die  Ucbergänge  aus  einem  System  in  das  andere,  aber  weiter  er- 
streckt sie  sich  nicht,  so  dass  man  nämlich  nicht  einmal  suchen  darf,  aus  der 
Disciplin  der  Harmonik  zu  erkennen,  ob  der  Componist  in  einer  dem  Charak- 
ter der  Tonarten  entsprechenden  Weise  den  Anfang  in  hypodorischer,  oder 
den  Sclduss  in  mixolydischer  oder  dorischer,  oder  die  Mitte  in  hypophrygischer 
oder  phrygischer  Tonart  gesetzt  hat,  denn  auf  derartige  Fragen  geht  die  Dis- 
ciplin der  Harmonik  nicht  ein,  da  sie  die  Bedeutung  des  einer  jeden  Tonart 
eigentümlichen  Charakters  unberücksichtigt  lasst.  Denn  weder  die  Theorie 
des  chromatischen  noch  des  enharmonischen  Tongeschlechtes  giebt  die  Bedeu- 
tung von  deren  eigentümlichen  Charakter  an,  dessen  Erreichung  doch  der  ei- 
gentliche Selbstzweck  der  Composition  ist  und  in  Folge  dessen  die  Coinposition 
in  bestimmter  Weise  auf  uns  einwirkt,  sondern  es  ist  die*  vielmehr  dem  Com- 
ponisteu  anheim  gestellt.  Offenbar  ist  auch  das  Tonsystem  der  harmonischen 
Disciplin  etwas  anderes  als  die  Vocal-  und  Instruinentalstimine  der  in  dem 
Tonsystenie  sich  bewegenden  Melopoeie,  deren  Behandlung  der  Harmonik  nicht 
angehört."  Ist  dies  Fragment  des  Aristoxenus,  in  welchem  er  bezüglich  des 
Umfange*  der  harm.  Disciplin  mit  der  ersten  und  der  dritten  Harmonik  durch- 
aus übereinstimmt,  aus  den  gemischten  Tischgesprächen  des  Aristoxenus  ent- 
lehnt, wie  nach  meiner  Ausgabe  der  Plutarchschen  Schrift  wohl  schwerlich  ein 
Zweifel  sein  kann,  so  sind  auch  die  vermischten  Tischgespräche  noch  vor  de- 


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206 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  2. 


dritten  Harmonik  des  Aristoxenus  geschrieben,  denn  hier  hat  er  abweichend 
von  der  ersten  und  zweiten  Harmonik  und  den  Tischgesprächen  auch  den  Ab- 
schnitt von  der  Melopocie  in  die  Harmonik  aufgenommen.  Wir  ahnen  nicht,  wie 
Aristoxenus  dazu  gekommen  ist ,  im  Fortgange  seiner  wissenschaftlichen  Thätig- 
keit  den  Umfang  der  Harmonik  zu  verändern,  ebenso  wenig,  weshalb  er  die 
in  der  ersten  und  zweiten  Harmonik  mit  so  grosser  Elmphase  behandelte  wich- 
tige Lehre  von  der  continuirlichen  und  discontinuirlichen  Bewegung  der  Stimme, 
die  Definition  des  Tones  u.  s.  w.  aus  der  dritten  Harmonik  ausgeschlossen  hat 
(worüber  schon  die  Alten  klagten  vgl.  obeu  S.  170).  Man  könnte  darauf  kom- 
men, an  dem  Aristoxenischen  Ursprünge  der  dritten  Harmonik  oder  ihres  Prooi- 
mion  zu  zweifeln,  wenn  nicht  gerade  dies  Prooimion  besser  denn  irgend  etwas 
anderes  als  Werk  des  Aristoxenus  bezeugt  wäre. 

tt)  Fast  genauso  Mattheson:  ,,der  vollkommene  Capellmeister  d.i.  gründ- 
liche Anzeige  aller  derjenigen  Sachen,  die  einer  wissen,  können  und  voll- 
kommen inne  haben  muss,  welcher  u.  s.  w." 

§  2.  Was  die  früberen  Bearbeiter  der  Harmonik  betrifft,  so 
ist  es  eine  Tbatsacbe,  dass  sie  Harmoniker  im  eigentlichen  und 
engeren  Sinne  des  Wortes*)  sein  wollen,  (nämlich  Enharmoniker.) 
Denn  bloss  mit  der  Enharmonik  haben  sie  sich  befasst,  die  übrigen 
Tongeschlechter  niemals  in  Erwägung  gezogen.  Zum  Beweise  dessen 
dient,  dass  ja  bei  ihnen  bloss  für  die  Systeme  des  enliarmonischen 
Tongeschlechtes  Diagramme  vorliegen;  für  diatonische  und  chro- 
matische hat  man  sie  nie  bei  ihnen  gefunden.  Und  doch  sollte 
eben  durch  ihre  Diagramme  die  ganze  Ordnung  des  Melos  klar  ge- 
stellt werden.  (Ebenso  ist  es  auch  mit  ihren  sonstigen  Darstel- 
lungen), in  denen  sie  bloss  von  den  oktachordischen  Systemen  der 
Enharmonik  sprachen,  während  über  die  übrigen  Tongeschlechter 
und  die  übrigen  Systeme**)  in  diesen  und  anderen  Tongescblech- 
tern  niemals  einer  von  ihnen  eine  Forschung  angestellt  hat;  viel- 
mehr nehmen  sie  von  dem  dritten***)  Tongeschlechte  der  ganzen 
Musik  einen  einzigen  Abschnitt  vom  Umfange  einer  Oktave  und 
beschränkten  hierauf  ihre  ganze  Wissenschaft. 

*)  Das  Wort  d^oviot  mit  seinen  Ableitungen  dpfiovixöc  und  iva^uovixo;  ist 
zugleich  auch  der  Terminus  technicus  für  eine  der  drei  Hauptgattungen  des 
antiken  Melos,  „das  enharmonische  Tongeschlecht".  Aus  Aristoxenus  i nicht 
bloss  der  vorliegenden,  sondern  noch  anderen  Stellen)  erfahren  wir  die  auf- 
fallende Thatsache,  dass  die  sämmtlichen  Vorgänger  des  Aristoxenus  in  der 
Theorie  der  Melik  nur  jenes  eine,  das  seltenste  Tongcschlecht  herbeigezogen 
und  in  den  Notentabellen  dargestellt,  die  beiden  anderen  dagegen,  das  diato- 


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I'rooimion. 


207 


niscbe  und  das  chromatische  mit  der  in  der  dritten  Harmonik  §  6  angegebenen 
Ausnahme  gar  nicht  berücksichtigt  haben.  Wie  diese  Thatsache  zu  erklären, 
darüber  habe  ich  in  der  griech.  Harmonik  1863  §  4  (1867  S.  29)  eine  Ver- 
muthung  aufgestellt. 

Jene  Vorgänger  des  Aristoxenus  nannten  sich  app.ovtxot.  Aristoxenus  sagt  von 
ihnen  an  der  vorliegenden  Stelle  §  2:  sie  waren  wirklich  nur  dpfjiovtxol  in  dem 
engeren  Sinne  von  Enharmonikoi.  Dem  Aristoxenus,  der  in  vollem  Masse 
die  Gabe  der  Klarheit,  aber  nun  einmal  nicht  die  Gabe  des  Witzes  hat,  muss 
man  dies  als  ein  „salse  dictum"  (griech.  Harm.  a.  a.  O.)  schon  hingehen  lassen. 
Marquard  scheint  vor  „Tojc  jxcv  oiv  ^rpooftcv  das  Vorhandensein  einer  Lücke 
im  Texte  anzudeuten.  Nach  meinem  Ermessen  ist  hier  keine  Lücke.  Denn 
seinen  Zuhörern  gegenüber,  bei  denen  er  nach  §  37  den  guten  Willen  zum 
Verstehen  des  von  ihm  (dem  Docentcn)  Vorgetragenen  voraussetzt,  war  der  hier 
vorliegende  Anfangssatz  des  §  2  verständlich  genug:  war  ihnen  doch  unmittel- 
bar vorher  eine  Auseinandersetzung  der  oö;at  äppiom&v  gegeben  s.  oben  S.  200. 
Was  hier  in  der  Textesüberlieferung  fehlt,  sind  vielmehr  die  auf  „Toi»;  y.ks  o-jv 
£fxrpoo»tv"  folgenden  Worte:  „T^up^vou;  rfj;  ipfAovixfj;  vj^ifaxtv  dXxftf/S 
welche  schon  die  griech.  Harmonik  1863  (1867  S.  20)  aus  Proklus  ad  Plat.  Ti- 
maeum  restituirt  und  auch  Marquard  in  seine  Ausgabe  1868  aufgenommen  hat. 
Eiue  Lücke  scheint  auch  weiterhin  vor  „h  oT;  nepi  oyarrj^aTuiv  ^XTayöpSav 
evapfiovimv  ja«4vov  üe-jov"  stattzufinden,  welche  ich  in  der  Uebersetzuug  dem 
Sinne  nach  ausgefüllt  habe. 

*•)  Die  überlieferte  Lesart  r/r^i-w  muss  zu  a  j<jTT]|x'iTa>v  emendirt  werden. 
Von  den  Systemen  war  das  Oktachord  genannt.  Die  übrigen  sind  das  Hende- 
kachord,  Dodekachord  u.  s.  w.  vgl.  zu  §  41.  Von  diesen  hatten  die  Harmo- 
niker nicht  gesprochen.  Aber  was  die  Schemata  des  von  ihnen  herbeigezoge- 
nen oktachordischen  Systemes  betrifft,  so  hatten  sie  deren  sieben  besprochen 
vgl.  §  18,  das  waren  alle  Schemata,  andere  giebt  es  nicht. 

•**)  Nach  der  handschriftlichen  Uebcrlieferung  würde  es  heisseu:  „von 
der  gesammten  Melodie  (musikalischen  Melos)  des  dritten  Theiles  (oder  Ab- 
schnittes) ein  einziges  Tongeschleeht  von  dem  Umfange  einer  Oktave."  Das 
könnte  nur  das  enharmonische  Tongeschlecht  sein.  Aber  des  dritten  Theiles 
oder  Abschnittes?  M  eibom  glaubt  die  „dunkle"  Stelle  so  erklären  zu  müssen, 
dass  Aristoxenus  unter  dem  dritten  Theile  den  Abschnitt  von  den  Tongeschlech- 
tern verstehe.  Doch  wie  hatte  er  dies  den  dritten  Abschnitt  nennen  sollen  V 
denn  der  Abschnitt  von  den  Tongeschlechtern  ist  bei  ihm  in  der  ersten  Har- 
monik der  sechste  (§9.45),  in  der  dritten  Harmonik  dem  Prooimion  zufolge  der 
erste  (vgl.  dort  §  8).  Marquard:  „Hatten  bloss  das  Melos,  nicht  Rhythmus 
und  Metrum  erörtert".  Dann  würde  Aristoxenus  etwas  überflüssiges,  störendes, 
widersprechendes  und  unrichtiges  gesagt  haben:  überflüssig,  weil  es  von  den 
äpjiovixoi  nach  den  vorhergehenden  Bemerkungen  selbstverständlich  ist,  dass 
sie  sich  zunächst  mit  dem  Melos  (nicht  mit  Rhythmus  und  Metrum  befasst 


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208  Aristoxenus  erste  Harmonik  §  3.  4. 

t 

haben);  störend,  weil  das  so  unklar  und  unverständlich  gesagt  sein  würde,  dass 
Meibom  eine  ganz  andere  Interpretation  als  Marquard  gegeben  hat;  wider- 
sprechend und  unrichtig,  weil  Aristoxenus  in  der  Rhythmik  §  60  (Frg.  1  des  Psellus) 
auch  die  rhythmischen  Ansichten  seiner  Vorgänger  (der  ^aXaio(l)  herbeigezogen 
und  gründlich  widerlegt  hat.  Ruelles  Uebersetzung  wiederholt  die  Meibom  sehe 
Interpretation,  doch  nicht  ohne  bedenklich  darauf  hinzuweisen,  dass  Aristoxenus 
die  Tongeschlechter  nicht  im  dritten,  sondern  im  ersten  Abschnitte  [der  dritten 
Harmonik]  behandelt  habe.  Es  bleibt  nichts  als  die  Annahme  einer  unrichtigen 
Textüberlieferung  übrig,  ein  Fehler,  welcher  durch  Umstellung  der  beiden  auf 
Tptto'j  folgenden  Substantiva  unter  Beibehaltung  der  beiderseitigen  Casus- 
endungen auf  das  leichteste  zu  entfernen  ist. 

§  3.  Dass  sie  aber  auch  selbst  über  diesen  Theil,  auf  den  sie 
sich  beschränken,  so  gut  wie  gar  nichts  erforscht  haben,  ist  uns 
bereits  in  dem  Vorausgehenden,  als  wir  die  Ansichten  der  Harmo- 
niker prüften,  klar  geworden*)  und  wird  uns  noch  klarer  werden, 
wenn  wir  nunmehr  die  einzelnen  Theile  unserer  üisciplin  durch- 
gehen und  ihr  Wesen  erläutern  werden.  Es  wird  sich  nämlich 
zeigen,  dass  sie  von  jenen  Theilen  die  einen  gar  nicht,  die  anderen 
nicht  ausreichend  behandelt  haben.  So  werden  wir  die  Mängel 
unserer  Vorgänger  darlegend  zugleich  einen  Ueberblick  über  das 
Wesen  unserer  Wissenschaft  geben. 

*)  Ueber  die  Ansichten  der  Harmoniker  werden  uns  durch  A.  folgende  Mit- 
theilungen gemacht : 

1.  Lasos  aus  Hermione  in  Argos,  der  bekannte  Dithyramben-  und 
Tragödien  -  Dichter  aus  der  Zeit  des  Pisistratus,  einer  der  Lehrer  des  Findar 
in  der  Technik  der  musischen  Kunst.  Er  war  nach  Suidas  s.  v.  Ado**  (vgl. 
K'jx'/.tooiodoxaXo;)  der  erste,  welcher  über  Theorie  der  Musik  schrieb.  Diese 
Schrift  war  es,  welche  dem  Aristoxenus  in  seinen  M-n  tü>v  dofxovtxuiv  vorlag, 
vgl.  unten  §  4.  Da  Lasos  nicht  den  Unterschied  zwischen  „Singen  und  Sagen", 
zwischen  der  xivr(at;  cpcovfj;  o-jvtyifi  und  ?>iaorrjjj.aTnc?)  erörtert  habe,  so  sei  es  ihm 
passirt,  dass  er  dem  Tone  die  Eigenschaft  der  „Breite"  zugeschrieben  habe. 
Vgl.  S.  221.  Auch  Chamaileon  von  Herakleia  hatte  eine  Schrift  über  ihn 
geschrieben,  Athen  8,  338  b.  Diog.  La.  I,  1,  14. 

2.  Epigonos  aus  Ambrakia,  Bürger  von  Sikyon.  Virtuose,  der  das  nach 
ihm  benannte  vielsaitige  Instrument  erfunden.  Athen  4,  183d;  14.  637  f.  Einige 
der  Epigoneier  hatten  gleich  Lasos  dem  Toue  die  Eigenschaft  der  Breite  viu- 
dicirt,  sagt  Aristoxenus  §  4,  und  zwar  aus  demselben  Grunde  wie  Lasos. 

3.  Eratokles  und  seine  Schule.  Von  ihm  führt  das  Prooimiou  der  ersten 
Harmonik  folgendes  an:  a)  erste  Harm.  §  15:  Das  Melos  scheidet  sich  von  der 


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Prooimion :  Inhaltsaugabe. 


209 


Quarte  aus  nach  oben  zu  und  nach  unten  zu  in  je  zwei  Transpositioussealen. 
Vgl.  die  Anmerkung  zu  §  16.  b)  erste  Harmonik  §  22.  60:  Er  nahm  eine 
Katapyknosis  an  (Scalen  aus  28  enharmonischen  Diesen  für  die  Oktave). 

4.  5.  Pythagoras  aus  Zakynthos  und  Agenor  aus  Mitylene  habe  die 
Transpositionsscalen.  freilich  nicht  vollst« nd ig,  aufgezählt.  Als  sechstes  Vor- 
aristoxenisches  Schulhaupt  nennt  Porphyr,  ad  Ptol.  p.  189  den  Athener  Dämon. 
Aus  jener  Zeit  der  alten  Harmoniker,  wo  man  nur  die  Enharmonik,  nicht  aber 
die  Cbromatik  und  Diatonik  in  den  Diagrammen  behandel,  rührt  die  auffal- 
lende Einrichtung  der  uns  überlieferten  Notentabellen,  dass  keine  andern  als 
nur  die  enharmonischen  Scalen  richtig  notirt  sind,  die  diatonischen  und  chro- 
matischen an  vielen  Stellen  so,  als  ob  es  enhannonische  seien.  G riech.  Rhythm. 
und  Harm.  1867.  S.  448  ff. 

An  einer  Stelle  des  Aristides  p.  21  Meib.  finden  sich  sechs  Notenscalen, 
welche  völlig  nach  Art  jener  Diagrammata  der  alten  Enharmoniker  ausgeführt 
sind:  „Terpa/opiixai  oiaipioei;  ali  xai  ol  zdvu  «oXai^Taxot  trpoc  xa;  äppo- 
vla;  xi/ptjvrat.''  Sie  stellen,  wie  Aristides  sagt,  die  von  Plato  in  der  Repub- 
lik p.  399  recensirten  sechs  Octaveugattungeu  dar  und  sind  als  eine  Art  von 
Commentar  anzusehen,  den  ein  voraristoxcnischer  Musiker  zu  jener  Stelle  des 
Plato  geliefert  hatte  und  den  Aristoxenus  vennuthlich  in  seine  U^n  dpjAovtx«* 
aufgenommen  hat,  von  wo  aus  er  denn  ohne  Zweifel  nach  mehreren  Mittel- 
gliedern in  das  Werk  des  Aristides  gekommen  ist. 


Inhaltsangabe. 

L 

§  4.  Wer  die  Wissenschaft  des  Melos  behandeln  will,  nniss 
zu  allererst  die  topische  Bewegung  der  Stimme  erörtern. 
Dieselbe  ist  eine  zweifache.  Sie  wird  nämlich  ausgeführt  sowohl 
wenn  wir  sprechen,  als  auch  wenn  wir  singen  oder  auf  einem  In- 
strumente spielen  —  denn  augenscheinlich  kommt  in  jeder  dieser 
beiden  Bewegungen  (Sprechen  und  Musiciren)  verschiedene  Tonhöhe 
und  Tontiefe  vor,  und  wenn  dies  der  Fall  ist,  dann  ist  die  Bewe- 
gung eine  topische.    Beides  aber  sind  verschiedene  Vorgänge. 

Worin  dieser  Unterschied  besteht,  ist  noch  von  Niemand  sorg- 
fältig erörtert  worden,  und  doch  ist  es,  wenn  dies  unterbleibt,  nicht 
leicht  das  Wesen  des  Tones  darzulegen,  der  ja,  wenn  man  ihm 
nicht  mit  Lasos  und  einigen  aus  der  Schule  des  Epigonos  thörich- 
ter  Weise  die  Eigenschaft  der  Breite  zuschreiben  will,  etwas  ein- 

ArUtoienai,  Melik  a.  Rhythmik.  14 


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210 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §5  —  9. 


gehender  behandelt  werden  muss.  Wird  dies  letztere  geschehen 
sein,  dann  lässt  sich  bezüglich  vieler  der  folgenden  Punkte  klarer 
urtheilen. 

Dein  Sprachgebrauche  der  Griechen  folgend  (der  zugleich  derjenige  fast 
aller  anderen  Völker  ist)  vindicirt  Aristoxenus  den  Tönen  die  räumlichen  Di- 
mensionen der  Höhe  und  der  Tiefe,  nicht  bloss  den  gesungenen  Tönen,  son- 
dern auch  dem  Sprechen,  bei  welchem  man  ja  höhere  und  tiefere  Accente  unter- 
scheidet (tövo;  t6vo;  fiop6;)-  Singen  uod  Sprechen  sei  dem  allgemeinen 
Substrate  nach  ein  und  dieselbe  ^om, ;  beides  unterscheide  sich  durch  die  ver- 
schiedenartige Bewegung  der  Stimme,  welche  beim  Sprechen  eine  continuirliche, 
beim  Singen  eine  discontinuirliche ,  bei  beidem  aber  eine  topische,  auf  den 
räumlichen  Dimensionen  des  Hohen  und  des  Tiefen  beruhende  Bewegung  sei. 
Der  letzte  Grund  von  Singen  und  Sprechen  liegt  also  nach  Aristoxenus  in 
etwas  Rhythmischem,  der  verschiedenen  Zeitdauer. 

Lasos  und  die  Schule  des  Epigonos  statuirte  für  die  Töne  auch  noch  die 
räumliche  Dimension  der  Breite.  Zu  dieser  von  Aristoxenus  verworfeneu  Auf- 
fassung seien  dieselben  dadurch  verleitet,  dass  sie  dcu  Unterschied  der  con- 
tinuirlichen  und  der  discontinuirlichen  Bewegung  nicht  erfasst  hätten.  Sie 
müssen  also  die  Zeitdauer  des  Tones  als  Dimension  der  Breite  gefasst  haben: 
beim  Singen  seien  die  Töne  „mehr  oder  weniger  breit"  (je  nach  ihrer  Zeit- 
dauer), beim  Sprechen  „schmal". 

IL 

§  5.  Zum  Verständnisse  derselben  ist  ausserdem  eine  Unter- 
suchung über  Absteigen  (avesi;)  und  Aufsteigen  (iirtraaic),  über 
Tiefe  (^apurr^)  und  Höhe  (o;utt(;)  und  über  Tonstufe  (rast;)  und 
über  deren  Unterschiede  nothwendig.  Denn  Niemand  hat  hierüber 
etwas  genügendes  gesagt*);  viel  mehr  wurden  von  diesen  Punkten  die 
einen  gar  nicht  verstanden,  die  anderen  in  unklarer  Weise  aufgefasst. 

*)  Vgl-  §  30:  „Denn  wohl  die  meisten  sagen,  Aufsteigen  und  Höhe,  Ab- 
steigen und  Tiefe  sei  dasselbe.  Es  scheint  nicht  unpassend  nachzuweisen, 
dass  diese  Auffassung  eine  verkehrte  ist". 

III. 

§  6.  Hierauf  ist  zu  besprechen,  ob  der  Abstand  des  Tiefen 
und  Hohen  bis  ins  Unendliche  vergrössert  oder  verkleinert  werden 
kann  oder  nicht,  oder  in  welcher  Beziehung  dies  (Vergrössern  und 
Verkleinern)  möglich  oder  unmöglich  ist. 


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Prooimion:  Inhaltsangabe.  211 


IV. 

§  7.  Ist  (lies  bestimmt  worden,  so  ist  zu  sagen,  worin  der 
Ton*)  besteht;  dann  ist  das  Intervall  (oiaarr^ot)  im  Allgemeinen 
so  weit  dies  nöthig  ist  zu  bestimmen;  darauf  ist  es  einzutheilen, 
nach  so  vielen  Unterschieden  wie  dies  möglich  ist;  sodann  ist  vom 
Systeme  eine  allgemeine  Definition  aufzustellen  und  anzugeben, 
wie  die  Systeme  ihrer  Natur  nach  einzutheilen  sind. 

*)  Vgl.  8.  192. 

V. 

§  8.  Weiterhin  ist  über  das  musikalische  Melos  eine  Andeu- 
tung und  allgemeine  Erklärung  zu  geben,  da  ja  mehrere  Arten  des 
Melos  vorhanden  sind,  unter  dieser  aber  nur  eine  im  Hermosinenon 
und  Melodumenon  *)  vorkommt.  Um  aber  auf  diese  letztere  hinzu- 
führen und  sie  von  den  anderen  zu  sondern,  ist  es  nothwendig  auch 
die  übrigen  zu  berühren. 

*)  Porphyr  ad  Ptolem.  p.  196:  Aiacpipct  -jap  tö  rjpfxoqjtivov  dp|iWac,  £  tö 
dpiÖjiTjTÖv  ipt8|AOÜ,  etvai  fäp  tö  äpirtfATjtöv  dpiöpiöv  £v  üXtq  ^  ojv  SX^,  t6  ße  ^p- 
[xoopifcvov  äppiovtav  iv  {JXiß  ouv  CJXtq  d.  i.  ,,Es  unterscheidet  sich  das  Harmoni- 
sirte  von  der  Harmonie  wie  das  Gezählte  von  der  Zahl;  das  Gezählte  sei  näm- 
lich eine  Zahl  in  Stoff  oder  mit  Stoff  und  das  Harmonierte  eine  Harmonie  in 
Stoff  oder  mit  Stoff'.  Vgl.  Marquard  S.  204.  Also  wie  sich  in  der  Rhythmik 
der  Rhythmus  zum  Rhythmizomeuon  verhält,  so  verhält  sich  in  der  Melik  die 
Harmonie  zum  Hennosmenon. 


Rhythmik 

Melik 

Gestaltetes 
a/T^AaTt^piEvov 

Rhythmizomenon 

Hermosinenon 

Gestalt 

Rhythmus 

i 

Harmonia 

VI. 

§  9.  Nachdem  wir  das  musikalische  Melos  bestimmt  haben, 
so  weit  dies  ohne  auf  das  Einzelne  einzugehen  im  Allgemeinen  und 
im  Umrisse  gestattet  ist,  sind  die  Arten,  in  welche  das  genannte 
musikalische  Melos  zerfallt  (d.  i.  die  Tongeschlechter)  zu  unter- 
scheiden und  von  einander  zu  sondern. 

14* 

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212 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  10 — 16. 


VII. 

§  10.  (Sodann  sind  die  in  dem  zweiten  Unterschiede  der  In- 
tervalle sich  ergebenden  symphonischen  Intervalle  näher  zu 
betrachten.)*) 

*)  Dieser  §  10  ist  in  der  handschriftlichen  Ueberliefermig  ausgefallen. 
Vgl.  oben  S.  192.  193. 

VIII. 

§  11,  (Darauf  ist  eine  Definition  des'  Ganztones  (tovo;) 
zu  geben  und  jeder  der  kleineren  Theile,  in  welche  derselbe 
zerfällt,  aufzuführen.) 

*)  Dieser  §  11  ist  in  der  handschriftlichen  Ueberliefening  ausgefallen. 
Vgl.  oben  S.  192.  193 

IX. 

§  12  Sodann  sind  die  auf  den  veränderlichen  Scalatönen  be- 
ruhenden Tongeschlechter  selber  sowie  auch  die  Topoi,  in  wel- 
chen die  Veränderung  vor  sich  geht,  zu  besprechen.  Alles  dies  hat 
niemals  einer  auch  nur  im  entferntesten  in  Betracht  gezogen,  vielmehr 
müssen  wir  über  alle  diese  Punkte  von  Anfang  an  auseinander- 
setzen, da  wir  ja  nichts,  was  der  Rede  werth,  darüber  bekommen 
haben.*) 

•)  Dieser  §  12  steht  in  den  Handschriften  hinter  §  13.  Vgl.  oben  S.  192. 193. 

X. 

§  13.  Weiter  haben  wir  von  der  Aufeinanderfolge  der  Inter- 
valle (a'jveyeia  xai  to  £$7;;)  auf  den  Systemen  anzugeben,  was  da- 
runter verstanden  werden  soll  und  wie  dieselbe  auf  ihnen  entsteht*) 

*)  Dieser  §  13  steht  in  den  Handschriften  vor  §  12.  Vgl.  oben  S.  192.  193. 

XL 

§  14.  Hierauf  muss  zuerst*)  von  den  unzusammengesetz- 
ten Intervallen  gesprochen  werden,  dann  von  den  zusammen- 
gesetzten. 

*)  Das  hinter  doivöcTov  stehende  zp&Tov  muss  vor  ntpi  Sia<rnr)fiotTa>v  ge- 
stellt werden  wie  in  seinem  Commentar  auch  von  Marquard  geschehen  ist. 


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Prooimion:  Inhaltsangabe. 


213 


xn. 

§  15.  Wenn  wir  uns  aber  mit  den  zusammengesetzten  Interval- 
len befassen,  so  müsseu  wir.  da  diese  zugleich  .Systeme  sind,  auch 
über  die  Zusammensetzung  der  unzusammengesetzten  In- 
tervalle zu  handeln  im  Stande  sein. 

§  16.  Die  meisten  Harmoniker  nun  haben  nicht  einmal  ein- 
gesehen, dass  es  nothwendig  ist,  diese  Zusammensetzung  in  Betracht 
zu  ziehen,  wie  aus  den  früheren  (Vorlesungen)  klar  geworden  ist. 
Yon  den  Eratokleern  aber  ist  nur  dies  bemerkt  worden,  dass  sich 
das  Melos  von  der  Quarte  aus  aufwärts  und  abwärts  nach  der 
Höhe  und  nach  der  Tiefe  hin  zu  einem  zwiefachen  (Melos)  theilt, 
ohne  zu  bestimmen,  ob  dies  von  jeder  Quarte  aus  und  weshalb  es 
der  Fall  ist*),  und  ohne  bei  den  übrigen  Intervallen  zu  untersuchen, 
auf  welche  Weise  das  eine  zum  anderen  gesetzt  werden,  —  auch 
nicht,  ob  eine  feste  Norm  besteht,  nach  welcher  ein  jedes  Intervall 
zum  anderen  hinzugefugt  wird  und  ob  aus  ihnen  auf  die  eine  Weise 
Systeme  gebildet  werden  können,  auf  die  andere  nicht,  oder  aber? 
ob  dies  unbestimmbar  ist.  Denn  über  nichts  von  diesem  Allen  ist 
eine  Erörterung,  weder  mit  noch  oline  Nachweis  gegeben  worden. 
Und  obwohl  in  der  Zusammensetzung  des  Melos  eine  bewunderns- 
werthe  Ordnung  besteht,  so  fehlt  es  nichtsdestoweniger  nicht  an 
solchen,  welche  durch  die  bisherigen  Darsteller  unserer  Disciplin 
veranlasst,  der.  Musik  eine  sehr  grosse  Unordnung  beimessen. 
Zeigt  doch  nichts  von  dem,  was  wir  sonst  sinnlich  wahrnehmen, 
eine  so  grosse  und  so  treffliche  Ordnung,  wie  dies  aus  unserer  Dar- 
stellung selber  sich  ergeben  wird.  Für  jetzt  aber  wollen  wir  die 
weiteren  Abschnitte  aufzählen. 

*)  Aristoxenus  sagt  wörtlich:  „dass  sich  das  Melos  von  der  Quarte  aus 
nach  beiden  Seiten  hin  zweifach  theilt4.',  d.  h.  sowohl  nach  der  Höhe  wie  nach 
der  Tiefe  hin  sich  s  o  theilt,  dass  es  ein  zweifaches  wird. 

Dass  das  Melos  von  einem  Tetrachordc  aus  auf  doppelte  Weise  auf- 
wärts steigt,  kann  dann  vorkommen,  wenn  das  betreffende  Tetrachord  in 
ein  und  derselben  Transpositionsscala  das  eine  Mal  in  dem  Syneminenon-,  das 
andere  Mal  in  dem  Diezeugmenon- Systeme  derselben  genommen  wird;  z.  B. 
vom  Tetrachord  a  b  c  d  steigt  man  aufwärts 


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214  Aristoxenus  erste  Harmonik  §  16.  17. 

im  Tono8  Lydios,  systema  synemmenon. 

ab  c  d  es  f  g  »->■ 

D  <TTg" i  b  c  d'esTg 
im  Tonos  Lydios,  systema  diezeugmenon: 

a  b  c  d  e  f  g 
D  efgabcdefgaesfg. 

Dass  das  Melos  von  einem  Tetrachorde  aus  auf  doppelte  Weise  abwärts 
fortschreitet,  kann  vorkommen,  wenn  das  betreffende  Tetraebord  das  eine 
Mal  in  dem  Synemmenon-Systeme,  das  andere  Mal  in  dem  Diezeugmenon-Sy- 
steme  der  nächst  verwandten  Transpositions-Scala  genommen  wird ;  z.  B.  vom 
Tetrachord  a  b  c  d  steigt  man  abwärts 

im  Tonos  Hypophrygios,  systema  diezeugmenon: 


G  ABcdesfgabcd 
im  Tonos  Lydios,  systema  synemmenon: 

d  efgabcdesf 


Diese  durch  die  Eigentümlichkeit  des  Synemmenon-  und  Diezeugmenon- 
Systcmes  veranlassten  Thatsachen  der  griechischen  Tonscala  sind  es,  welche 
Eratokles  im  Auge  hatte,  wenn  er  sagt:  „das  Melos  theile  sich  von  der  Quarte 
aus  abwärts  und  aufwärts  in  zweifacher  Weise  (zu  zwei  verschiedenen  Trans- 
position8-Scalen,  z.  B.  die  mit  d  beginnende  Moll-Seala  in  eine  ?-  und  in  eine 
??-Scala).  Aristoxenus  sagt,  dass  diese  von  Eratokles  erwähnte  Thatsache 
im  Allgemeinen  richtig  sei,  er  vermisst  nur,  dass  Eratokles  nicht  angegeben 
habe,  ob  es  von  jeder  Quarte  aus  und  weshalb  es  der  Fall  sei.  Es  igt  nicht 
von  jedem  Tetrachorde  aus  der  Fall,  würde  Aristoxenus  sagen,  sondern  nur 
von  dem  durch  die  Hypato  und  die  Mese  Lichanos  eingeschlossenen  Tetrachorde 
aus,  beziehungsweise  dem  durch  Paramesos  und  Nete  diezeugmenon  einge- 
schlossenen Tetrachorde.  Dem  alten  Meibom  („difficilis  est  locus,  quem  diu 
me  torsisse  foteor")  darf  man  es  nicht  zu  hoch  anrechnen,  dass  er  die  Stelle 
interpretirt :  „tetrachordum,  quod  duobus  immobilibus  tonis  continetur,  bifariam 
tantum  secari  posse  cantando, ,  sive  ab  acumine  descendas  ad  gravitatem ,  sive 
contra  a  gravi  accendas  in  acutum.  Po^tquam  enim  in  genere  enarmonio  in 
aeumen  modulatus  fueris  diesin  atque  diesin  i.  e.  duas  wectiones  tetrachordi 
feceris,  impossibile  est  aliam  praeterea  in  eodem  tetrachordo  facere  sectionem. 
Itaque  in  superiorem  stabilem  sonum  incides.  Quacunque  igitur  divisione  se- 
cueris  tetrachordum,  nunquam  plures  intermedia»  facies  sectiones  quam  duas. 
Nec  ullus  ex  antiquis  qui  tono  in  melius  mutandi  studio  generum  divisiones 
sunt  agressi,  plures  legitur  conatus  facere.  Recentiores  tarnen  dictis  suis  hemi- 
toniis  aliud  introduxerunt.  Porro  eadem  est  ratio,  si  ab  accumine  progrediaris 
ad  gravitatem."  Um  so  mehr  hätte  man  von  dem  neuesten  Aristoxenos-Com- 
mentator  erwarten  sollen,  dass  er  die  Stelle  richtig  erklärt,  dass  er  vor  Allem  ge- 


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Prooimion :  Inhaltsangabe. 


215 


merkt  hatte,  dass  hier  von  der  Zusammensetzung  der  einfachen  Intervalle  zu 
einem  Systeme,  aber  nicht  von  der  Theilung  des  Tetrachordes  im  enharm. 
und  Chromat.  Tongeschlechte  die  Rede  sein  soll.  Aber  Marquard  erklärt 
wie  Meibom:  „Dieser  Ausdruck,  dass  von  der  Quarte,  d.  h.  von  den  Grenz- 
klängen der  Quarte  aus  die  harmonische  Fortschreitung  nach  beiden  Seiten 
sich  doppelt  scheidet,  ist  wegen  seiner  Kürze  sehr  dunkel.  Es  ist  nach  dem 
Vorhergehenden  die  Rede  von  der  Zusammensetzung  der  unzusamraengesetzten 
Intervalle,  daher  ist  zu  vermuthen,  dass  hier  jene  doppelte  Fortschreitung  ge- 
roeint ist,  nach  welcher  man  vom  tiefsten  Grenzklange  einer  Quarte  aus  ent- 
weder einen  Ganzton  oder  im  enharinonischen  Geschlechte  eine  grosse,  im 
chromatischen  eine  kleine  Terz,  und  vom  höchsten  aus  entweder  einen  Ganzton 
oder  ein  gedrängtes  System  im  enharmonischen  Geschlechte  von  zwei  Viertel- 
tönen, im  chromatischen  von  zwei  Halbtönen  setzen  kann,  so  dass  man  in  der 
That  sagen  könnte,  die  Fortschreitung  scheide  sich  nach  beiden  Seiten  hin, 
d.  h.  nach  der  Höhe  und  nach  der  Tiefe  zu ,  von  einer  Quarte  aus  doppelt. 
Unvollständig  war  allerdings  die  Angabc,  und  als  solche  bezeichnet  sie  Ari- 
stoxeuus  ja,  da  auf  das  diatonische  Geschlecht  der  Satz  keine  Anwendung  fin- 
det, abgesehen  von  anderen  Umständen,  welche  Aristoxenus  rügt.''  Im  Gegen- 
theil,  die  doppelte  Theilung  des  Melos  von  der  Quarte  an,  welche  Eratokles 
im  Auge  hat,  passt  für  alle  Tongeschlechter,  für  das  diatonische  nicht  minder 
wie  für  das  enharmonische  und  chromatische,  auch  wenn  er  in  der  Weise  der 
älteren  Harmoniker  (vgl.  §  2)  nur  von  dem  enharmonischen  Tongeschlechte  ge- 
redet haben  sollte. 

Viel  besser  Ruelle :  „Meybaura  explique  tres-ingenieusement  cette  phrase  qui 
suivant  son  expression  l'a  torture  longtemps.  Mais  nous  croyons  remplacer  avec 
avantage  son  interpretation  par  une  conjecture  qui  a  recu  d'adhesion  de  M. 
Vincent.  Peut-etre  s'agit-il  ici  d'un  Systeme  heptacorde  compose  de  deux  te- 
tracorde8  conjoints  (vollständig  richtig!  et  dont  le  chant  se  trouve  portag6  en 
deux  par  chacun  des  tetracordes,  c'est-a-dire  deux  tetracordes  conjoint«  dont 
les  differentes  grandeurs  partielles  se  trouvent  chantees  musicalement  ou  si  Ton 
veut  harmonieusement  avec  un  repos  observe  a  la  moiti6  de  cette  corde  de 
gamme,  qui  est  la  mese.u 

XIII. 

§  17.  Wenn  nämlich  gezeigt  worden,  auf  welche  Weise  die 
unzusammengesetzten  Intervalle  mit  einander  zusammengesetzt  wer- 
den, dann  sind  die  aus  ihnen  bestehenden  Systeme  zu  behandeln, 
die  übrigen  nicht  minder  wie  das  vollständige  System  (tsXsiov),  und 
zwar  in  der  Weise,  dass  wir  zeigen,  wie  viele  und  welche  es  sind, 
und  dass  wir  die  aus  dem  verschiedenen  Umfange  folgenden  Unter- 
schiede und  wiederum  bei  jedem  Umfange  die  Verscliiedenheiten 


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21« 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  17—20. 


des  Schemas,  der  Synthesis  und  der  Thesis*)  angeben,  dergestalt 
dass  bei  den  Meloduinena  Nichts,  sei  es  Umfang,  sei  es  Schema 
oder  Synthesis  (oder  Thesis)  ohne  Nachweis  bleibt. 

*)  Der  Ausdruck  „Thesis"  bleibt  in  den  indischen  Bruchstücken  des  Ari- 
stoxenus unerklärt.  Doch  findet  er  sich  auch  im  zweiten  Bruchstücke  §  90: 
Kaxd  fjiev  ouv  xd  p-e^tih)  x&v  oiaax7}u.dxajv  xal  xd;  xdsv  <p8oY7a»v  xdaet;  drceipd  7to>; 
^alvexai  eivai  xd  repl  (xo)  «JtiXo;,  xaxd  xd;  ouvdfiei;  xal  xaxd  xd  el&rj  xal  xaxd 
xd;  ö^oei;  reirepasi^va  xe  xal  xexciY|Aiva.  Die  Verbindung  mit  xaxd  ö-jvdp.et;,  in 
welcher  hier  xaxd  xd;  9£oet;  vorkommt,  deutet  entschieden  darauf  hin,  dass  die 
xaxd  8£otv  und  xaxd  ovvapuv  footAaota  xujv  «8öyy«"vi  welche  bei  Ptolemaeus  vor- 
kommt und  von  der  wir  griech.  Harmonik  1867  §  32  S.  352 — 367  ausführlich 
gehandelt  haben  und  deren  Darstellung  wir  durchaus  aufrecht  erhalten,  trotz 
der  abweichenden  Auffassung  unseres  Vorgängers  Bellermann  und  trotz  der 
Einwände,  welche  unsere  in  der  Harmonik  des  J.  1863  gegebene  Darstellung 
in  dem  Lissaer  Schulprogramme  v.  66  in  dem  Aufsatze  über  Ptolemaeus  erfahren 
hat,  auch  schon  bei  Aristoxenus  vorkam.  Dies  war  uns  in  der  Harmonik  d.  J.  1867 
noch  unbekannt.  Dort  konnten  wir  noch  nicht  mehr  sagen  als  folgendes  S.  353: 
„Die  ganze  Art  und  Weise,  wie  Ptolemaeus  von  der  6vo(xaala  xaxd  Oiatv  redet 
zeigt,  dass  sie  unmöglich  etwas  erst  von  ihm  selber  Erfundenes  ist.  Er  setzt 
dieselbe  vielmehr  als  die  den  Lesern  meines  Buches  bekannte  Ouomasie  voraus, 
und  die  folgenden  Erörterungen  werden  keinen  Zweifel  lassen,  dass  die  von 
Aristoxenus  aussclüiowlich  (!)  reeipirte  «SvofAaafa  xaxd  Sivapiiv  zwar  die  ältere 
ist,  dass  aber  die  sogenannte  thetische  Nomenklatur  schon  eine  geraume  Zeit 
vor  Ptolemaeus  in  der  Praxis  der  ausübenden  Musiker  aufgekommen  war  und 
sich  hier  allmälig  so  befestigt  hatte,  dass  Ptolemaeus  nie  als  die  vulgäre  an- 
sehen durfte."  Schon  die  Aristotelischen  Problemata  setzen  sie,  ohne  freilich 
den  Terminus  A-vouaota  xaxd  0£otv  zu  gebrauchen,  voraus  gr.  Harm.  a.  a.  0.  Um 
so  weniger  darf  es  auffallend  erscheinen,  das»  auch  Aristoxenus  sowohl  die 
<Svouac(a  xaxd  ö£atv  wie  die  xaxd  56vaiav  gekannt  und  in  seinem  ersten  und  zweiten 
Werke  zepl  piXou;  behandelt  hat,  wie  wir  aus  der  jetzt  vorliegenden  Stelle  und 
dem  §  90  der  zweiten  Schrift  ersehen.  Der  Terminus  xaxd  JUotv  und  xaxd  oy- 
vafiiv  wird  wohl  von  Arintoxenus  herrühren. 

§  18.  Mit  diesem  Theile  der  Disciplin  haben  sich  die  übrigen 
ausser  Eratokles  nicht  befasst,  der  ohne  Nachweis  eine  theilweise 
Aufzählung  (der  Systeme)  unternommen  hat.  Dass  er  aber  nichts 
(von  Bedeutung)  gesagt,  sondern  Alles  unrichtig  angegeben  und  mit 
seinem  Wahrnehmungsvermögen  sich  geirrt  hat,  ist  schon  früher, 
als  wir  diesen  Gegenstand  (TtpaYfiaTefa)*)  an  sich  behandelten,  dar- 
gethan  worden.  Denn  man  hat  sich,  wie  wir  in  den  früheren  Vor- 
lesungen [lv  toi;  ejx~po3Öev)  sahen,  nirgends  mit  den  übrigen  Syste- 


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Prooimion:  Inhaltsangabe. 


217 


men  befasst;  bloss  von  Einem  Systeme  und  nur  für  Ein  Tonge- 
schlecht hat  es  Eratokles  unternommen,  sieben**)  Schemata  der 
Oktave  aufzuzählen,  die  er  durch  Umstellung  der  Intervalle  nach- 
wies, ohne  indess  zu  erkennen,  dass  wenn  vorher  nicht  die  Schemata 
der  Quinte  und  der  Quarte***)  dargelegt  worden  und  dann  fer- 
ner, welche  Art  der  Zusammensetzung  es  sei,  nach  welcher  sie 
eramelisch  zusammengesetzt  werden,  dass  ( —  sage  — )  in  einem 
solchen  Falle  sich  herausstellt,  dass  es  mehr  als  sieben  (durch  das 
Schema  verschiedene)  Systeme  giebt.  Doch  haben  wir,  dass  dem 
so  ist,  schon  in  den  früheren  Vorlesungen  ausgefülirt,  und  so  wollen 
wir  dies  jetzt  zur  Seite  liegen  lassen  uud  sofort  die  weiteren  Ab- 
schnitte unserer  Discipliu  angeben. 

*)  Also  die  „oo;ai  äpjxovix&v"  so  gut  eine  -pa^rel*,  wie  das  vorliegende 
„dpfxoxxov  jjipo;." 

■*)  Sieben  Schemata,  wie  auch  weiterhin  in  diesem  §  18  gesagt  wird. 
Deshalb  ist  das  handschriftlich  Ueberlieferte  td  oyr^ara  in  ir.™  vtfpvz*  zu 
ändern. 

***)  Weshalb  zuerst  die  Quinte,  erst  dann  die  Quarte  geuanut? 

XIV. 

§  19.  Sind  die  Systeme  sowohl*)  nach  jedem  der  Tonge- 
schlechter wie  nach  jedem  ihrer  Unterschiede  aufgezählt  worden, 
so  wird,  da  die  Tongeschlechter  unter  sich  gemischt  wer- 
den, zu  untersuchen  sein,  aufweiche  Weise**)  dies  letztere  geschieht. 
Denn  eben  worin  diese  Mischung  besteht,  haben  (die  Früheren***)) 
nicht  eingesehen. 

*)  Die  Lesart  xa\  xaiK  des  Cod.  B.  ist  statt  des  blossen  r.aö'  der  übrigen 
aufzunehmen. 

**)  Vor  wiieitai  ist  zu  ergänzen  xata  Tiva  rp<5~ov  oder  tIvi  xp^nip. 
**•)  KotTatjAenaJHjxtoav  erfordert  nothwendig  ein  Subject,  wie  ol  Tipo  -rjatüv 
oder  dgl. 

XV. 

§  20.  Darauf  folgt  die  Erörterung  der  Scala-Töne,  da  die 
Systeme  für  die  Unterscheidung  derselben  nicht  ausreichen*). 

*)  Hier  stimmt  die  erste  Harmonik  mit  dem  Prooimion  der  dritten  §  14 
in  der  Angabe  des  Grundes  wörtlich  übereiu. 


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218  Aristoxenus  erste  Harmonik  §  19—24. 

XVI. 

§  21.  Jedes  System  wird  auf  einer  bestimmten  Stimmlage 
ausgeführt.  Wenn  nun  auch  das  System*)  an  und  für  sich**)  hier- 
durch***) nicht  verändert  wird,  so  wird  doch  dem  auf  ihm  genom- 
menen Melos  durch  Eigenthtimlichkeit  der  Stimmlage  ein  nicht  un- 
bedeutender, sondern  ein  fast  sehr  grosser  Wechsel  zu  Theil.  Des- 
halb wird  derjenige,  welcher  die  Harmonik  darzustellen  unternimmt, 
so  weit  es  angemessen  ist,  d.  h.  soweit  es  die  natürliche  Beschaffen- 
heit der  Systeme  selber  erheischt,  über  die  Stimmlage  im  Allge- 
meinen und  im  Besonderen  zu  reden  haben. 

*)  Hinter  Xa^ßdvovca;  nicht  T<Sirot>,  sondern  worfjxaToc  hinzustellen. 
**)  Zu  lesen  xad'  auto  nach  Z.,  nicht  mit  den  übrigen  Handschriften 
xa&'  abtbv. 

***)  aüxoü  bei  dem  vorausgehenden  xaö'  avto  überflüssig.  Die  ganze  Stelle 
ist  zu  lesen:  Xajxjäcfoov (toc  toü  3,jQTri\t'x)'zoz  auroü,  fö  fCfvi|*evov  iv  oOt^ 
ia£Xo;  xtX. 

XVII. 

§  22.  Haben  wir  aber  die  Systeme  und  über  die  Eigenthtim- 
lichkeit der  Stimmlagen  gehandelt*),  dann  ist  auch  über  die  Trans- 
positionsscalen  zu  sprechen,  nicht  in  der  Weise,  dass  wir  gleich 
den  Harmonikern  die  Katapyknosis  zu  Grunde  legen. 

Ueber  diesen  Abschnitt  haben  einige  von  den  Harmonikern, 
doch  ohne  ihn  besonders  zu  behandeln  und  nur  um  das  Diagramm 
auf  dem  Wege  der  Katapyknosis  herzustellen,  in  der  Kürze  und 
nach  Zufall  einiges  bemerkt,  über  das  Allgemeine  hat  jedoch  kein 
einziger  gesprochen;  dies  ist  uns  aus  dem  Vorausgehenden  (über 
die  Meinungen  der  Harmoniker)  klar  geworden. 

*)  Hinter  -ztran  oUei^to;  ist  oisXÖ^vra;  einzuschieben. 

XVIII. 

§23.    —    —    —    —    —    —    —    —    —    —    —  — 

Dieser  Theil  der  Lehre  von  der  Metabole,  kurz  zu  sagen,  ist  es, 
der  sich  auf  die  Theorie  des  Melos  bezieht. 

Die  dritte  Harmonik  §  21  will  die  gesammte  Metabole  in  ihrem  ganzen 
Umfange  behandeln;  hier  in  der  ersten  soll  nur  ein  Theil  behandelt  werden, 
vermuthlich  mit  Ausschluss  dessen,  was  sich  auf  die  Mclopoeie  bezieht. 


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I.  Die  topische  Bewegung  der  Stimme,  Singen  und  Sagen.  219 


§  24.  Das  sind  nun  der  Zahl  und  dem  Inhalte  nach  die  ein- 
zelnen Abschnitte  der  sog.  harmonischen  Wissenschaft.  In  Betreff 
der  über  diese  Abschnitte  hinausgehenden  Disciplinen  (S.  202)  ist,  wie 
wir  sagten,  anzunehmen,  dass  sie  die  Sache  eines  schon  weiter 
Fortgeschrittenen  sind.  Heber  diese  nun  ist  in  den  geeigneten  Zei- 
ten zu  sprechen,  welche  und  wie  viele  es  sind  und  worin  ein  jeder 
besteht.    Für  jetzt  versuchen  wir,  die  erste  darzustellen. 

I. 

Die  topische  Bewegung  der  Stimme,  Singen  und  Sagen. 

Topische  und  Schwingungs-Bewegnng  der  Töne. 

Dass  die  Stimme  (Sing-  oder  Instrumentalstimme,  tftuvf)  dhöpumvT,  oder 
öpfavtx-fj)  von  einer  tieferen  zur  höheren  oder  von  einer  höheren  zur  tieferen 
Tonstufe  fortschreitet,  dass  sie  aufwärts  oder  abwärts  sich  bewegt,  dass  sie 
auf-  und  niedersteigt,  dass  sie  zeitweilig  auf  derselben  Tonstufe  beharrt 
oder  stillsteht,  dass  zwei  gleichzeitig  ertönende  Stimmeu  sich  in  Parallelen 
(d.  i.  parallelen  Linien  oder  Abstanden)  bewegen,  dass  sie  in  moto  contrario 
fortschreiten,  .  .  .  das  sind  Termini  und  Anschauungen,  welche  man  so  lauge 
als  es  Musiker  und  Componisten  giebt  festhalten  wird.  Sie  beruhen  auf  der 
Voraussetzung,  dass  die  Töne  durch  die  Dimension  der  Höhe  und  der  Tiefe 
verschieden  sind.  Aristoxenus,  der  zuerst  unter  allen  Theoretikern  des  Mclos 
in  diese  Anschauungen  und  Tennini  Licht  und  Klarheit  gebracht  hat,  nennt 
die  auf  die  Voraussetzung  der  Höhe  und  Tiefe  basirtc  Stimmbewegung 
d.  i.  das  Fortschreiten  nach  der  Höhe  und  Tiefe  zu  „topische  Bewegung 
der  Stimme*',  d.  h.  Bewegung  in  räumlichen  Dimensionen,  zum  Unter- 
schiede von  der  physikalischen  oder  akustischen  Bewegung  des  Tones,  der  zu  - 
folge  die  Klänge  auf  den  Schwingungsverschiedenheiten  der  durch  da«  mensch- 
liche Stimmorgan  oder  die  musikalischen  Instrumente  in  Bewegung  gesetzten 
Luft  beruhen. 

Das  Griechenthum  hat  der  Akustik  einen  grossen  Theil  seines  Denkens 
zugewandt  von  Pythagoras  bis  Klaudius  Ptolemaeus:  die  Namen  Archytas, 
Eratosthencs.  Klaudius  Didymos  bezeichnen  die  zwischen  der  Arbeit  des  Py- 
thagoros  und  des  Ptolemaeus  in  der  Mitte  liegenden  Stationen.  Der  Höhepunkt 
der  akustischen  Forschung  bei  den  Hellenen  lässt  sich  dahin  skizzireu,  dass 
man  den  Unterschied  des  grossen  und  des  kleinen  Gauztones  erkannte  und 
beide  genau  wie  die  Akustik  des  vorigen  Jahrhunderts  auf  die  Schwingungs- 
verhältnisse  8  : 9  und  9 :  10  zurückführte.  Plato  legte  den  bis  zu  seiner  Zeit 
gefundenen  Ergebnissen  der  Akustik  eine  überschwänglichc  Bedeutung  bei,  indem 
er  glaubte,  aus  den  von  Pythagoras  oder  Archytas  entdeckten  akustischen 


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220 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  24.  25. 


Zahlenverbältnlssen  den  Kosmos  construiren  zu  können.  Sein  Vorgang  grift* 
so  tief  in  das  hellenische  Denken  und  Fühlen  ein,  dass  ein  wissenschaftlicher 
Astronom  wie  Aristarch  von  Samos  der  Vergessenheit  anheim  fiel,  dass  die 
astronomischen  Grundanschauungen  des  Ptolemaeus,  die  trotz  der  nüchternen 
Akribie  desselben  innerhalb  der  Platonischen  Vorstellungen  sich  hielten,  bis 
über  das  Mittelalter  hinaus  die  allein  herrschenden  blieben,  und  dass  es  erst 
eines  neuen  Aristarch  von  Samos  in  der  Person  des  Copernicus  von  Thorn 
bedurfte. 

Aristoxenus  ist  mit  den  akustischen  Forschungen  seiner  Zeit  vertraut  (war 
er  doch  in  der  Schule  der  Pythagorccr  aufenvachsen);  auch  seine  Rhythmik 
beweist  das,  indem  er  Analogien  zwischen  den  Verhältniszahlen  der  Rhythmcn- 
geschlechter  und  der  von  den  Pythagoreem  als  solche  anerkannten  symphoni- 
schen Intervalle  zieht.  Aber  sowie  Aristoteles  der  Platonischen  Anwendung 
akustischer  Verhaltnisszahlen  auf  den  Kosmos  widerstrebt,  so  war  auch  Aristo- 
xenus scharfsinnig  und  nüchtern  genug  um  einzusehen,  dass  sich  mit  Hülfe 
der  damaligen  Akustik  nicht  einmal  die  Scalen  des  Melos  construiren  Hessen. 
Er  that  Recht  daran,  die  Coustruction  der  Scala  von  der  topischen  Bewegung  der 
Stimme  aus  auf  geometrischem  Wege  zu  versuchen,  denn  kaum  ist  die  Wissen- 
schaft unserer  Tage  nach  tausenden  von  Jahren  des  physikalischen  Forscheus 
so  weit  gekommen,  dies  auf  dem  arithmetischen  Wege  der  Akustik  zu  errei- 
chen. Aristoxenus  fasste  die  Schwingung«  -  Bewegungen  der  Töne  als  etwas, 
was  der  Physik  angehöre:  mit  der  Musik  als  Kunst  habe  nur  die  topische  Be- 
wegung der  Töne  zu  thun,  denn  weder  die  Wissenschaft  des  Rhythmus  noch 
des  Melos  konnte  durch  die  Akustik  andere  Grundlagen  gewinnen.  Dass  dies 
der  Gedanke  des  Aristoxenus  ist,  ergiebt  sich  deutlich  aus  dem,  was  er  in  dem 
Abschnitte  von  der  topischen  Bewegung  der  Stimme  von  der  bei  „Jenen"  soge- 
nannten Bewegung  sagt,  die  bei  einem  höhereu  Tone  eine  grössere,  bei  einem 
tieferen  eine  geringere  Schnelligkeit  hat.    §  31. 

Singstimme  und  Sprechstimme. 

Gesungenes  und  gesprochenes  Gedieht,  „Singen  und  Sagen"  wie  die  alte 
deutsche  Bezeichnung  lautet,  gehört  beides  der  musischen  Kunst  an.  Beides 
wird  im  Rhythmus  vorgetragen,  das  eine  im  Rhythmus  der  'Li/.r;  Xe;t;,  das  an- 
dere im  Rhythmus  des  Melos.  Worin  besteht  der  Unterschied?  Im  Deutschen 
ist  er  fühlbar  genug.  Er  bezieht  sich  wesentlich  auf  die  Versfüsse.  Kola,  Perio- 
den, Strophen  hat  das  gesprochene  Gedicht  mit  dem  gesungenen  gemeinsam. 
Auch  die  Versfüsse;  aber  bei  diesen  empfinden  wir  den  Unterschied  am  deut- 
liebsten.  Denn  des  Gegensatzes  von  Hebungen  und  Senkungen  der  Versfüsse 
sind  wir  uns  auch  in  der  declamirten  Poesie  bewusst,  aber  es  wird  uns  schwer,  ja 
unmöglich  ein  bestimmtes  Zeitmass  oder  Mass  Verhältnis»  dieser  beiden  rhyth- 
mischen Abschnitte  anzugeben.  Unser  rhythmisches  Gefühl  ist  schon  befrie- 
digt, wenn  das  Kolon  oder  die  Periode  eine  gewisse  Anzahl  vou  Hebungen 
hören  lässt:  wie  lange  oder  wie  kurz  die  Stimme  beim  Aussprechen  derselben 


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I.  Die  topische  Bewegung  der  Stimme,  Singen  und  Sagen.  221 

* 

verweilt,  das  irritirt  uns  nicht;  wir  gestatten  gern  und  sehen  gerade  darin  den 
Vorzug  eines  ausdrucksvollen  Deklamirens,  dass  bei  solchen  Sylben,  welche 
für  den  logischen  Zusammenhang  besonders  bedeutungsvoll  sind,  länger  ver- 
weilt wird,  einerlei  ob  durch  längeres  Aussprechen  oder  durch  Pause.  Und 
an  welchen  Stellen  diese  Pausen  vorkommen,  ob  am  Ende  des  Kolons  oder 
innerhalb  des  Kolous  und  de»  Verafussea,  ist  uns  ebenfalls  einerlei.  In  dem 
Gesänge  aber  ist  die  Zeit- Ausdehnung  der  Hebungen  und  der  Senkungen 
einem  bestimmten  Maasse  unterworfen  und  ebenso  sind  die  hier  vorkommenden 
Pausen  integrirende  Bestandteile  des  Rhythmun.  Also  kurz:  die  rhythmischen 
Accente  sind  den  Versfussen  des  dcclamirten  Gedichtes  mit  dem  gesungenen 
gemeinsam,  aber  im  declamirten  Gedichte  entzieht  sich  die  Zeitdauer  der  Mess- 
barkeit,  während  sich  im  gesungenen  ein  strenges  Zeitmass  erkennen  lässt  So 
ist  es  bei  uns.  Wie  war  es  bei  den  Griechen?  Die  modernen  Griechen  spre- 
chen viel  schneller  als  wir  Deutschen,  sie  gehören  zu  den  schnell  sprechendsten 
aller  Nationen.  Auch  wenn  sie  Gedichte  deklamiren,  wird  man  niemals  dem 
Unterschied  der  Sylbendauer  messen  können.  Daraus  wird  man  aber  wohl 
noch  keinen  Schluss  auf  das  Altgriechische  sich  verstatten  dürfen. 

Nun,  auch  die  alten  Griechen  haben  über  diesen  Punkt  nachgedacht. 
Lägen  uns  die  Schriften  des  alten  Lasos  und  der  Epigoneer  vor  (§  4),  so  würden 
wir  darin  vermuthlich  folgenden  Unterschied  zwischen  deklamirtem  und  ge- 
sungenem Gedichte  angegeben  finden:  Beim  Singen  sind  die  Sylben  breiter, 
beim  Sprechen  schmaler  oder  „ohne  Breite".  Das  ist  aus  der  Mittheilung  des 
Aristoxenus  §  4  zu  folgern.  Aristoxenus  selber  sieht  beides,  Singen  und  Spre- 
chen, als  topische  Bewegung  der  Stimme  au,  denn  auch  beim  Sprechen  kommt 
durch  die  in  der  Sprache  selber  gegebenen  tieferen  und  höheren  Accente  ein 
Aufsteigen  zur  höheren,  ein  Niedersteigen  zur  tieferen  Tonstufe  vor  (Nach 
Dionys,  von  Halikarnas  de  comp,  verbor  wird  bis  zu  einem  Quinten-Inter- 
valle auf-  und  abgestiegen  —  in  unseren  modernen  Sprachen  noch  bis  zu 
grösseren  Intervallen).  Aber  trotzdem  kein  anderer  Forscher  für  das  Singen 
und  Sagen  eine  solche  generelle  Identität  wie  Aristoxenus  angenommen  hat,  so 
beschreibt  dieser  dennoch  den  Eindruck,  welchen  ihm  das  Sagen  gegenüber  dem 
Singen  macht,  in  einer  Weise,  dass  wir  nicht  zweifeln  können,  das  alte  Hel- 
lenenthum  habe  beim  recitirenden  und  melischen  Vortrage  seiner  Poesie  genau 
dieselben  Unterschiede  gemacht,  wie  wir  modernen  Menschen.   Er  berichtet: 

§  25.  Zu  allererst  sind  die  Unterschiede  der  nach  der  Höhe 
und  nach  der  Tiefe  zu  (nach  räumlichen  Dimensionen)  fortschrei- 
tenden Stimme  anzugeben.*)  (Wenn  nämlich  eine  Stimme  von  der 
Tiefe  in  die  Höhe  1  lin aufsteigt ,  oder  von  der  Höhe  in  die  Tiefe 
hinabsteigt,  so  nennen  wir  ihre  Bewegung  eine  topische  (xata  tottov 
xt'vipi;),  da  sie  gewissennassen  einen  Kaum  von  oben  nach  unten, 
oder  von  unten  nach  oben  durchschreitet.f)  Für  jede  Stimme  aber. 


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222 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  25—28. 


die  sich  in  der  angegebenen  Weiseft)  zu  bewegen  vermag,  ist  eine 
zweifache  Art  der  Bewegung  zu  unterscheiden,  die  continuirliche 
und  die  discontinuirlichc  Bewegung. 

*)  Die  Cod  haben  aurfjc  Tfj;  xaxd  t<5tov  xivr)ae<»c  xd;  oiaspopd?.  Was  soll 
hier  aurfjc  bedeuten?  Ich  lialte  es  für  ein  zu  tilgendes  Schreib- Versehen 
Dagegen  wird  wohl  ein  von  xtvf,aea>c  abhängiger  zweiter  Genitiv  nicht  gefehlt 
haben. 

t)  Mit  einziger,  aber  regelmässiger  Ausnahme  der  Polemik  gegen  die 
oo£ai  dp(j.ovtxö>v,  verfahrt  Aristoxeuus  wie  ein  moderner  Schriftsteller,  der  das 
im  Inhaltsverzeichnisse  Gesagte  in  der  Ausführung  als  ungesagt  betrachtet  und 
daher  in  der  Ausführung  noch  einmal  angiebt  Daher  werden  einige  die  xa?d 
TÖr.ov  xlvrjoi;  definirenden  Worte  in  der  Ausführung  nicht  gefehlt  haben. 

tt)  Das  handschriftliche  ai-riv  hinter  töv  elpr^ivov  ist  zu  tilgen.  Mar- 
quard  übersetzt:  „Jede  Stimme  kann  sich  eben  in  der  angegebenen  Weise  be- 
wegen." 

§  26.  In  continuirlicher  Bewegung  durchschreitet  die  Stimme 
einen  Raum  (so  erscheint  es  wenigstens  der  sinnlichen  Wahrneh- 
mung) in  der  Weise,  dass  sie  nirgends  länger  verweilt*),  auch  nicht 
(wenigstens  nicht  nach  dem  Eindrucke  der  Empfindung)  an  den 
Grenzen  (der  einzelnen  Abschnitte),  sondern  continuirlich  bis  zum 
Aufhören  sich  fortbewegt 

In  der  zweiten  Art  der  Bewegung,  der  discontinuirlichen,  scheint 
sie  sich  in  der  entgegengesetzten  Weise  zu  bewegen.  Beim  Fort- 
schreiten nämlich  bleibt  sie  auf  einer  bestimmten  Tonhöhe,  dann 
wieder  auf  einer  anderen.  Und  wenn  sie  dies  ununterbrochen  thut 
—  ich  meine  ununterbrochen  der  Zeit  nach  —  dergestalt  ,  dass  sie 
die  Stellen,  an  welchen  eine  Tonstufe  an  die  andere  grenzt,  unbe- 
merkbar durchschreitet,  auf  den  Tonstufen  selber  aber  verweilt  und 
bloss  diese  vernehmbar  werden  lässt,  so  sagen  wir  von  ihr,  sie  führe 
eine  Melodie  aus  und  befinde  sich  in  discoutinuirlicher  Bewegimg. 

*)  Hinter  tu;  dv  IrrauivT,  ist  vermuthlich  ein     herzustellen,  wel- 

ches der  Abschreiber  leicht  übersehen  konnte. 

§  27.  Beides  aber,  was  wir  hier  als  Bewegung  bezeichnet, 
müssen  wir  in  dem  Sinne  auffassen,  wie  es  sich  unserer  sinnlichen 
Wahrnehmung  gegenüber  darstellt;  ob  es  möglich  oder  unmöglich 
ist,  dass  die  Stimme  sich  (von  einer  Tonstufe  zur  anderen)  bewege 
und  dann  (eine  Zeit  lang)  auf  einer  Tonstufe  verharre,  das  gehört 


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I.  Die  topische  Bewegung  der  Stimme,  Singen  und  Sagen.  223 

einer  anderen  Untersuchung  an*)  und  ist  für  unsere  Wissenschaft 
der  Harmonik  unwesentlich:  wie  es  sich  auch  verhalte,  es  macht 
wenigstens  für  die  Scheidung  der  emmelischen  Bewegung  der  Stimme 
von  der  nicht  emmelischen  dasselbe  aus. 

Kurz,  wenn  die  Bewegung  eine  solche  ist,  dass  sie  den  Ein- 
druck auf  das  Gehör  macht,  als  ob  sie  nirgends  ruhig  verweile,  so 
nennen  wir  dieselbe  eine  continuirliche;  wenn  sie  aber  den  Anschein 
gewährt,  als  ob  sie  an  einer  Stelle  ruhig  verweile,  darauf  einen  Ort 
(von  einer  Tonstufe  zur  anderen)  durcheile,  und  wenn  sie  dies  fort- 
während abwechselnd  bis  zum  Aufhören  zu  thun  scheint,  dann  nen- 
nen wir  diese  Bewegung  eine  discontinuirliche. 

*)  Aristoxenus  verweist  auf  das  erste  Buch  der  Rhythmik,  auf  diejenige 
Partie,  aua  welcher  das  Fragment  6  des  Psellus  stammt  (vgl.  oben  §  4). 

§28.  Die  continuirliche  Bewegung  nun  heisst  bei  uns  Sprechen, 
denn  wenn  wir  uns  mit  einander  unterreden,  dann  macht  die  Stimme 
eine  derartige  topische  Bewegung,  dass  sie  den  Anschein  hervor- 
hebt, als  ob  sie  an  keiner  Stelle  anhalte.  In  der  zweiten  Art  der 
Bewegung,  der  discontinuirlichen,  zeigt  sich  das  entgegengesetzte, 
indem  sie  vielmehr  den  Eindruck  macht,  als  ob  sie  an  bestimmten 
Stellen  ruhig  verweile;  von  demjenigen  aber,  der  dies  zu  thun  scheint, 
sagen  wir  alle  nicht  mehr,  dass  er  spreche,  sondern  dass  er  singe. 

Dem  entsprechend  vermeiden  wir  es,  beim  Reden  die  Stimme 
ruhig  anzuhalten,  wir  müssten  denn  etwa  durch  eine  leidenschaft- 
liche Erregtheit  getrieben  werden,  in  eine  derartige  Bewegung  zu 
verfallen.  Beim  Singen  aber  vermeiden  wir  gerade  umgekehrt  die 
continuirliche  Bewegung  und  suchen  die  Stimme  so  viel  als  möglich 
verweilen  zu  lassen,  denn  je  mehr  wir  jeden  Ton  als  einen  für  sich 
geordneten,  einheitlichen  und  stetigen  zum  Vorschein  kommen  lassen, 
um  so  klarer  wird  das  Melos  von  der  sinnlichen  Wahrnehmung  auf- 
gefasst 

Dass  also  von  beiden  Arten  der  topischen  Bewegung  der  Stimme 
die  continuirliche  als  Sprechen,  die  discontinuirliche  als  Singen  sich 
darstellt,  erhellt,  denke  ich,  aus  dem  Gesagten. 

Es  komme  ihm  vor,  sagt  Aristoxenus,  als  ob  die  Sprechstimme  und  die 
Singstimme,  in  denen  beiden  ja  verschiedene  Tonhöhe  und  Tontiefe  vorhanden 
sei,  sich  dadurch  unterschieden,  dass  beim  Sprechen  die  Sylben  niemals  auhal- 


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224 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  28. 


ten,  sondern  dass  sofort  von  der  einen  Sylbe  zur  anderen  gegangen  werde,  und 
dass  sich  dies  fortwährend  bis  zum  Ende  des  ganzen  Sprechens  wiederhole. 
Beim  Singen  aber  bleiben  die  Sylben  beim  Fortschreiten  auf  bestimmten  Ton- 
höhen stehen.  Uebereinstimmend  hiermit  sagt  Aristoxenus  in  der  Rhythmik 
ap.  Psellum  Fr.  6:  Die  fjtExaßdceu,  die  Uebergänge  von  einer  Sylbe  zur  anderen, 
seien  xptucToi  Sid  apuxpöxtjxa  3>zrttp  opoi  xivec  tfvxe;,  die  Sylben  selber  dagegen 
seien  •p'diptfxot  xaxd  xö  rosÖN  yp6voi.  Also  Aristoxenus'  Ohr  rindet  ein  Zcitmaass 
für  die  Sylben,  aber  nach  der  obigen  Stelle  geschieht  das  nur,  wenn  sie  ge- 
sungen werden;  die  Sylben  der  ouvt/^;  x  formst;  'fomj;,  die  gesprochenen  Syl- 
ben entziehen  sich  ihm  der  Messbarkeit.  Bloss  leidenschaftliche  Erregtheit  könne 
wohl  der  Grund  sein,  dass  auch  beim  Sprechen  in  der  Sylbendauer  etwas  »tä- 
tiges (^p£|Atai)  vorkomme,  sonst  befinden  sich  die  gesprochenen  Sylben  in  einer 
xMjotc  ouve^;,  sind  also  nicht  ptuptfxot  xaxd  xö  rooöv  ypovoi. 

So  lässt  sich  zwar  an  die  gesungene  Poesie  der  Zeit -Maassstab  der  ver- 
schiedenen Versfüsse,  z.  B.  des  vierzeitigen  Daktylus  anlegen,  aber  nicht  an 
die  ^iHj  £|Afj.ETpo«  ).£$t;.  Hier  hört  man  nicht  den  yvtupijio;  -^p^Mo;  xexpdT^ixo;, 
nicht  die  Hon  als  oior^o;,  nicht  die  dpoi;  als  Starke  man  hört  von  dem  Rhyth- 
mus nur  das  Moment  des  rhythmischen  Accentes  und  der  Accentlosigkeit,  die 
Zeitdauer  entzieht  sich  der  Beobachtung.  Im  gesungenen  oaxxyXtxöv  kann  man 
es  genau  zur  atoÖTjutc  kommen  lassen,  dass  die  8£<ju  genau  so  lang  wie  die 
dpoi;  ist.  In  der  Recitations-Poesie  ginge  das  zur  Noth  auch,  aber  eben  nur 
zur  Noth:  es  wird  pedantisch  klingen,  wenn  man  es  versucht,  eben  weil  es 
der  natürlichen  Weise  des  Sprechens,  der  xtvr^ot;  tfaiv?};,  zuwider  ift. 

Denn  etwas  natürliches  ist  es  nicht,  wenn  man  die  Sprechsylbcn ,  die  doch  in 
continuirlichem  Flusse  weiter  gehen,  gewissermassen  aufhalten  und  durch  Zeit- 
maasse  fixiren  will.  Sollte  das  nicht  unnatürlich  erscheinen,  so  inüsste  ein  Grund 
für  die  Einhaltung  bestimmter  Sylbendauer  vorhanden  sein ,  z.  B.  melodrama- 
tischer Vortrag,  gleichzeitige  Begleitung  der  gesprochenen  Worte  durch  Instru- 
mentalmusik, also  immerhin  eine  Art  von  melischem  Vortrage,  denn  nur  im 
Melos  ist  die  bestimmte  messbare  Zeitdauer  der  Sylben  etwas  Natürliches. 

Auch  in  der  Sprech-Sprache  giebt  es  kurze  und  lange  Sylben :  8v  und  xö 
ist  immer  kürzer  als  mv  und  xtj5.  Davon  kann  man  sich  mit  einer  Sekunden- 
uhr leicht  überzeugen;  denn  in  ein  und  derselben  Zeit  lässt  sich  öv  oder  xo  in 
grösserer  Anzahl  wiederholen  als  twv  und  -<;>.  Aber  dass  die  lange  Sprechsylbe 
die  doppelte  Zeitdauer  der  kurzen  habe,  das  ist  nicht  richtig.  Das  Verlmltniss 
1:2  ist  der  Kürze  und  Länge  erst  künstlieh  angewiesen,  als  die  >i;t;  zum  me- 
li sehen  Rhythmizomenon  wurde. 

Die  in  der  Melik  ausgebildeten  rhythmischen  Spraehformen ,  die  Metra, 
sind  dann  auch  für  die  lil^  >i;i;  beibehalten  worden.  Auch  in  der  reeitirten 
Poesie,  die  sich  vom  Melos  emaneipirt  hatte,  mussteu  die  Versfüsse  wahrnehm- 
bar gemacht  werden.  Vor  allem  behielt  man  die  rhythmische  Accentuation 
der  Versfüsse  aus  der  indischen  Rhythmik  für  die  Recitation  bei.    Mit  den 


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I.  Die  topische  Bewegung  der  Stimme,  Singen  und  Sagen.  225 


Zeitm nassen  war  es  etwas  anderes.  Zwar  fand  der  ^povoc  Ttp&xo;  in  seiner  Ei- 
genschaft als  untheilbarer  Zeitwerth  in  der  kurzen  Sylbe  seinen  natürlichen 
Ausdruck,  denn  die  Sylben  der  ouve-^c  xlvijotc  «povfj;,  die  nach  Aristozenus 
überhaupt  keine  messbare  Dauer  haben,  sind  jedenfalls  untheilbare  Zeitwerthe. 
Aber  wie  verhält  es  sich  in  der  tyxki\  l pjxexpo«  Ufa  mit  der  langen  Sylbe  ?  Eine 
Silbe  noch  einmal  so  lang  als  eine  andere  auszuhalten,  ist  im  leidenschafts- 
losen Sprechen  gegen  die  Natur  der  oro^c  xlvrjoi;  «puivfjc;  man  kann  es  zwar, 
aber  wer  so  spricht,  der  spricht  unnatürlich,  pedantisch,  lächerlich.  Die  lange 
Sylbe  wird  auch  im  Verse  immer  etwas  länger  gesprochen  als  die  kurze,  ohne 
aber  bis  zur  strengen  Zweizeitigkeit  ausgedehnt  zu  werden.  Sie  ist  kürzer  als 
die  SloTjfAoc  paxpd,  als  die  rhythmische  Länge  des  Melos.  Eine  solche  Sylbe,  welche 
länger  ist  als  die  kurze  und  doch  kürzer  ist  als  die  fcloTjfio«  piaxpd,  kommt  auch 
in  der  aus  dem  Melos  entlehnten  Theorie  des  Rhythmus  vor.  Sie  erscheint 
z.  B.  in  dem  /opetoe  0X0705  als  sog.  iXo-foc  dva>  ypovo;  vgl.  S.  26. 

Die  kyklischen  Versfüsse. 

Die  mit  der  rhythmischen  Theorie  keineswegs  unbekannte  Theorie  der 
Rhetorik  verfiel  auf  diese  iXo^oc  fxaxpd  der  Rhythmiker,  wenn  es  galt,  für  die 
Lunge  des  Daktylus  beim  Recitiren  einen  Zeitwerth  anzugeben.  Es  geschah 
das,  wie  man  für  die  Rhetorik  auch  von  tcöocc,  von  xd>Xa,  von  rccploooi  sprach. 
Thrasymachus  von  Chalcedon  (Suidas  s.  h.  v.)  hatte  zuerst  diese  Kategorieen  aus 
der  Rhythmik  auf  die  Rhetorik  übertragen.  Aus  einer  solchen  älteren  x£^vtj 
p^xoptxfj  scheint  Dionysius  entlehnt  zu  haben,  was  er  de  comp.  verb.  17  sagt: 

'0  oi  drcö  (laxpök  dpy6\itvoz,  X^»v  6t  i;  xd;  ßpa^ciac,  SdxxuXos  j*iv  xaXci- 
Tat  ...  01  jxlvxoi  jtuftpixol  xo6xou  xoü  tw>6ö«  tJ)v  fxaxpdv  ßpa^ox£pav  elval  «paci  Tfjc 
xcXtta«  (i.  e.  xfjs  6io-f)fi.oy  piaxpäc),  oix  f^ovtec  &e  elrcelv  itöocp,  xaXoüotv  aix-fjv  £Xofov. 

Und  an  einer  anderen  Stelle  de  comp.  verb.  20  bei  Gelegenheit  des  Verses 

A-J&ec  Ircstxa  n£6ovic  xuXtvSexo  Xäa«  dvato^;: 

0&x*  «UYXOTaxexuXiorat  x«j>  ßdpu  xffc  :i£xpa«  ^  x&v  ovojidxaiv  ouv&coi«;  . .  . 
Erttd'  i*xaxalo«xa  ovXXafifiiv  ouoäv  iv  tu»  axl/tp,  &£xa  ja£v  slot  ßpa^rfat  ouXXaßal, 
erxd  hi  pvövai  piaxpal  xal  ou&'  auxal  x£Xctot  .  d^dfxt)  ouv  xatcoitdo*«  xal  owr£X- 
Xcoftai  x-Jjv  ?ppdoiv,  ttq  ßpayuxrjxi  xeöv  ouXXaß&v  itpeXxopUvtjv  .  .  .  °0  hi  pdXtoxa  xröv 
aXXav  8au[xdCetv  d$iov,  {tudpot  o&6el;  xäiv  (laxprä»  ot  tpoaiv  i^ouai  irlitxeiv  cU  f*i- 
xpov  ^pt}»^  .  .  .  ipiaxafjipuxxai  x«y  oxty<p  irX-Jjv  iid  xfj;  TcXcurfjc,  oi  &i  dXXoi  xdv 
xcs  elol  tdxTj\ot  xal  outot  *ys  i?apa6c6ca>7pi£va{  f^ovtt;  xdc  dX^you«  Aare  (iL-/)  «oXi» 
ota^ipctv  iviou;  xä»v  xpo-^atcwv  (so  dass  Einige  diese  Daktylen  nicht  viel  von  den 
Trochaeen  unterscheiden  oder:  dass  nach  Einigen  der  Unterschied  zwischen 
diesen  Daktylen  und  den  Trochäen  nicht  gross  ist).  06(£v  t6  dvr«:pdxxov 
ivdv  cVcpo^ov  xal  itcpupcpf)  xal  xaxappioyoav  eivat  x-fjv  eppdatv  ix  xoiojtobv  ou^- 

XCXpOX7]|A£vT)-V  f>l>Ö(Jl&V. 

Im  unmittelbaren  Fortgange  der  zuerst  angeführten  Stelle  sagt  dieselbe 

rhetorische  Schrift: 

Arlitoxeaus.  Mdlk  a.  Rhythmik.  15 


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226 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  28.  29. 


"E?epov  6e  dvrloTpo?<h  Tiva  to6t<j>  p'J&fJ.«»,  8;  dzö  ?a»v  [ipayet&v  dp;dfttx>; 
tfjv  iXo^ov  TcXeuta,  toütov  y^nptaavre;  drc&  twv  dvaTraioxwv  (sc.  TeXcituv)  xuxXov 
xaXoöot,  irapdleiYH-a  aOxoy  «pipovrec  tokSvBc 

xiyytni  rA'tM  u^IttjXo;  xatd  -yäv. 

Weshalb  man  diesen  Anapaest,  die  Antithesis  des  mit  verkürzter  Länge 
gesprocheneu  Daktylus,  „x6xXo;"  nannte  (G.  Hermann  liest  x6xXio«),  scheint 
mit  den  vorher  angeführten  Worten  evTpoyov  xat  TtepKpepfj  xal  xatopp£ouoav  th 
Nat  -rfjv  <pp<£atv  ix  tow6tojv  oufxexpoTTjijivYjv  ^uftfiSv  zusammenzuhängen.  Solche 
Daktylen  und  Anapaeste  mit  verkürzter  Länge  haben  nichts  von  dem  Steifen 
und  Pedantischen  des  nach  genauem  Zeitmaasse  sich  abmühenden  Scandirens, 
sondern  erscheinen  als  fliessende  und  abgerundete  Versfüsse;  xuxXo;  ist  wie 
in  xuxXo;  Tteputöou  (Abgerundetheit  der  Periode)  gebraucht. 

Die  kyklischen  Versfüsse  gehören  der  Deklamation  an. 

G.  Hermann  bezog  diese  „kyklischen"  Füssc  auf  alle  daktylischen  Hexa- 
meter des  Epos  im  Allgemeinen.  Wir  sind  damit,  vom.  Standpunkte  Hermanns 
aus,  der  stets  zunächst  an  die  tUXV)  £jjt(jL£Tpo;  X££i;,  nicht  an  die  Versfüsse  des 
Melos  denkt,  vollkommen  einverstanden.  Soll  ein  Hexametron  der  Recitations- 
Poesie  in  Noten  aufgedrückt  werden,  so  wird  sich  Aristoxenus  dem  wider- 
setzen, ist  es  doch  die  ouvey^s  xlvr^ai;  ywWfi,  in  welcher  es  keine  fjpejjilot,  keine 
xatd  tö  ttoG&v  f'viuptptot  ypövot  giebt!  Annähern«  1  aber  wird  man  dem  Rhythmus 
des  Recitations-Hexametrons  immerhin  durch  folgende  Notirung  nahe  kommen : 


±  \J  v-y 

L  — 

1  c  1 

c  i 

S  - 

Das  sind  genau  die  roo*;,  wie  die  Berichterstatter,  welche  Dionysius  ex- 
cerpirt,  sie  sich  denken.  Gleich  grosse  Versfüsse,  „gleichbleibende"  Takte  sind 
das  freilich  nicht!  Man  kann  diese  Noten  nicht  mit  den  Fingern  als  Takte 
des  7£vo;  loov  mit  gleich  langer  8£oi;  und  ipoi;  taktiren.  Aber  solche  Takte 
kommen  nach  Aristoxenus1  nicht  misszuverstehender  Auseinandersetzung  ja 
auch  nicht  der  ouvey-Tjc  xlvrjai;  epeuv-r);,  nicht  der  <jnXf)  IfxjjLCTpo;  X££i;  zu.  „Oratio 
non  deseendit  ad  strepitum  digitorum"  sagt  Fabius  Quintilian.  Uobereinstiui- 
mend  Atil.  Fortunat  p.  2689  metrum  sine  psalmate  prolatum  proprietatem  suam 
servat,  rhythmus  antem  nuuquam  sine  psalmate  valebit.  So  sprechen  die  Me- 
triker von  dem  recitirten  vom  Melos  einancipirten  Metrum  im  Gegensätze  zu 
dem  nielischen  Metrum,  welches  sie  Rhythmus  nennen.  Aristoxenus  bezieht 
sich  in  seiner  Rhythmik  nur  auf  diesen  strengeren,  die  yp<5voi  genau  einhalten- 
den Rhythmus  des  uiXo;,  dessen  Gesetze  in  freierer  Form  auf  die  Recitatious- 


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II.  Aufsteigen,  Absteigen,  Höhe,  Tiefe,  Tonstufe. 


227 


Poesie  übertragen  werden.  Seine  rhythmische  Theorie  weiss  daher  nichts  von 
kyklischen  Versfüssen,  worin  ich  gern  dem  Herrn  Brill  beipflichte. 

Ich  gestehe,  dass  ich  geirrt  habe,  wenn  ich  früher  mit  Apel  im  Gegen- 
sätze zu  G.  Hermann  den  kyklischen  Takt  des  Dionysius  in  die  stren- 
geren Gesetze  des  melischen  Rhythmus  Eingang  verstatten  zu  müssen  glaubte. 
Um  so  mehr  aber  sind  die  von  Brill  und  Lehrs  acceptirten  Messungen  J.  H. 
Voss'  und  Meisners  abzuweisen,  nach  denen  etwa  Mendelssohn  oder  irgend  ein 
anderer  unserer  Musiker  die  antiken  Dichtertexte  melodisiren  kann,  von  denen 
uns  aber  mit  keinem  Worte  überliefert  ist,  dass  die  antiken  Dichter  selber  so 
rhythmisirt  haben  (vielmehr  ist  uns  etwas  ganz  anderes  überliefert  vgl.  S.  1 14  ff.) 
und  nach  denen  noch  weniger  die  betreffenden  Texte  recitirend  vorgetragen 
werden  können,  wenn  der  Vortrag  nicht  ein  gezwungener,  unnatürlicher,  pedan- 
tischer, lächerlicher  sein  soll.  Nach  Aristoxenus  ist  die  Sprech-Stimme  ausser 
Stande,  die  Sylben  als  -^pepiat  xatd  *ri  rooiv  yp<ivoy  tt;  alatWjsei  yv<£»pi{xoi  vor- 
tragen zu  können,  das  kann  bloss  die  Sing-Sthnmc. 

II. 

Aufsteigen,  Absteigen,  Höhe,  Tiefe,  Tonstufe. 

Vgl.  Prooim.  §  5. 

§  29.  Da  sich  ergeben,  dass  die  Stimme  beim  Singen  das  Auf- 
und  Absteigen  unvermerkt  zu  vollziehen,  die  Tonstufen  selber  aber 
vernehmbar  erklingen  zu  lassen  hat  (—  hat  sie  doch  den  Raum  des 
Intervalle8,  welchen  sie  ab-  und  aufsteigend  durchmisst,  gleichsam 
im  Verborgenen  zu  durchlaufen,  dagegen  die  aneinander  grenzenden 
Töne  deutlich  und  voll  zur  Erscheinung  kommen  zu  lassen  — ),  da 
sich  dies  ergeben  hat,  so  wird  nunmehr  vom  Aul-  und  Absteigen 
von  Höhe  und  Tiefe  und  von  der  Tonstufe  die  Rede  sein 

Das  Aufsteigen  (£7^031;)  ist  die  discontinuirliche  Bewegung*) 
der  Stimme  von  einem  tieferen  zu  einem  höheren  Orte;  das  Ab- 
steigen (avesi;)  die  Bewegung  von  einem  höheren  zu  einem  tieferen; 
Höhe  (ofcuTT,;)  ist  das  Resultat  des  Aufsteigens,  Tiefe  ([tapoTr,;)  das 
Resultat  des  Absteigens. 

*)  Hinter  xtvrjoi;  rr);  «pravi^  steht  in  den  Codd.  noch  das  Wort  ouvtyjf,;. 
Das  Gegentheil  Sioarr^aTtx^j  würde  richtiger,  freilieh  überflüssig  sein.  Der 
Docentenvortrag  des  Aristoxenus,  der  in  seiner  peinliehen  Gewissenhaftigkeit 
stets  besorgt  ist,  es  möchte  von  seinem  Vortrage  den  Zuhörern  etwas  entgangen 
sein,  erklärt  die  vorhergehende  Parenthese,  die  allerdings  im  vorigen  Kapitel 

15* 


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228  Ariatoxenus  erste  Harmonik  29— 31. 

Gesagtes  noch  einmal  sagt,  aber  deshalb  nicht  mit  Marq.  S.  367  für  eine  In- 
terpolation zu  halten  ist. 

§  30.  Dass  wir  hiermit  vier  Begriffe  und  nicht  zwei  gesetzt 
haben,  mag  dem  oberflächlichen  Beobachter  vielleicht  widersinnig 
erscheinen,  denn  wohl  die  meisten  sagen,  dass  Aufsteigen  und  Höhe, 
Absteigen  und  Tiefe  dasselbe  sei.  Es  erscheint  der  Nachweis  nicht 
unpassend,  dass  diese  Auffassung  eine  verkehrte  ist.*) 

Versuchen  wir  den  Vorgang  selber  ins  Auge  fassend  uns  klar 
zu  machen,  was  wir  eigentlich  thun,  wenn  wir  beim  Stimmen  eines 
Instrumentes  die  Saiten  hinunterlassen  oder  hinaufziehen.  Wer  der 
Instrumente  nicht  ganz  unkundig  ist,  der  weiss,  dass  wir  die  Saiten 
beim  Hinaufspannen  auf  eine  höhere,  beim  Hinunterlassen  auf  eine 
tiefere  Tonstufe  bringen.  In  der  Zeit  nun,  während  deren  wir  eine 
Saite  auf  eine  höhere  Tonstufe  versetzen,  kann  doch  unmöglich 
schon  die  Höhe,  welche  durch  das  Aufsteigen  entstehen  soll,  vor- 
handen sein;  dann  erst  wird  die  Höhe  vorhanden  sein,  wenn  das 
Hinaufstimmen  zur  gewünschten  Höhe  geführt  hat  und  die  Saite 
nun  fest  steht  und  nicht  mehr  bewegt  wird;  dies  aber  wird  ein- 
treten, wenn  das  Hinaufstimmen  aufgehört  hat  und  nicht  mehr  fort- 
dauert, denn  es  ist  nicht  möglich,  dass  die  Saite  zugleich  verändert 
wird  und  fest  steht  Dasselbe  werden  wir  auch  vom  Absteigen  und 
der  Tiefe  sagen,  nur  dass  hier  die  umgehrten  Richtungen  stattfinden. 

Aus  dem  Gesagten  ergiebt  sich,  dass  das  Absteigen  sich  von 
der  Tontiefe  unterscheidet  und  zwar  in  derselben  Weise  wie  Ursache 
und  Folge ;  in  gleicher  Weise  ist  auch  das  Aufsteigen  von  der  Höhe 
verschieden. 

*l  Vgl.  Prooimion  §  5. 

§  31.  Dass  das  Aufsteigen  mit  der  Höhe,  das  Absteigen  mit 
der  Tiefe  nicht  identisch  ist,  ist,  denke  ich,  aus  dem  Vorausgehenden 
klar  geworden.  Dass  nun  aber  auch  das  fünfte*),  nämlich  die  Ton- 
stufe, von  jedem  der  genannten  Begriffe  verschieden  ist,  wollen  wir 
einzusehen  versuchen. 

Was  wir  unter  Tonstufe  (raai;)  verstehen,  ist  etwa  dasselbe, 
wie  Verweilen  und  Feststehen  der  Stimme.  Dabei  sollen  uns  die 
Meinungen  derer  nicht  irre  machen,  welche  die  Töne  auf  Bewegun- 


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II.  Aufsteigen,  Absteigen,  Höhe,  Tiefe,  Tonstufe.  229 

gen**)  zurückführen  und  die  Behauptung  aufstellen,  die  Stimme 
sei  ganz  und  gar  eine  Bewegung,  während  es  uns  passiren  werde, 
dass  wir  sagen  müssten,  es  könnne  bei  der  Bewegung  (in  unserem 
Siime)  Yorkommeu,  dass  sie  keine  Bewegung,  sondern  ein  Ruhen 
und  Stehenbleiben  sei.  Wir  unsererseits  nämlich  dürfen  getrost 
die  Tonstufe  auch  so  definiren,  dass  wir  sagen,  sie  sei  eine  gleich- 
bleibende oder  identische  Bewegung  oder  weichen  bezeichnenderen 
Ausdruck  man  hier  ausfindig  machen  möchte.  Denn  auch  dann 
werden  wir  nichts  desto  weniger  sagen,  die  Stimme  stehe  in  dem 
Augenblicke,  wo  sie  laut  der  Deklaration  unserer  sinnlichen  Em- 
pfindung weder  in  die  Höhe  noch  in  die  Tiefe  geht,  und  thun  danu 
nichts  anderes,  als  diesem  Zustande  der  Stimme  einen  Namen  zu 
geben.  In  der  That  aber  wird  dies  (nänilich  das  Stehen),  wie  es 
der  Augenschein  lehrt,  beim  Singen  von  der  Stimme  ausgeführt, 
denn  sie  bewegt  sich,  wenn  sie  ein  anderes  Intervall  zum  Vorschein 
kommen  lassen  will;  sie  steht,  wenn  sie  den  Ton  angiebt. 

Wenn  nun  die  Stimme  das  ausfuhrt,  was  wir  Bewegung  nennen 
(verschieden  von  der  bei  Jenen  so  genannten  Bewegung,  die  bei 
einem  höheren  Tone  eine  grössere,  bei  dem  tieferen  eine  geringere 
Schnelligkeit  hat)  und  wenn  sich  die  Stimme  dann  wieder  in  dem 
Zustande  befindet,  den  wir  Ruhe  nennen,  so  wird  das  nicht  anstössig 
sein.  Es  ist  somit  klar,  was  wir  unter  Bewegung  und  Ruhe  der 
Stimme  und  was  Jene  unter  Bewegung  der  Stimme  verstehen.  Doch 
genug  hiervon  an  dieser  Stelle ;  anderwärts  ist  darüber  ausführlicher 
und  genauer  gehandelt***) 

*)  In  den  Handschriften  Tplrov  statt  ft£j*7rrov  d.  i.  P  statt  F'.  Die  Besse- 
rung kennt  auch  Marquard  im  krit  Commentar.  Doch  sagt  er,  dass  sich  die 
überlieferte  Lesart  damit  entschuldigen  lasse,  dass  vorher  je  zwei  Begriffe  mit 
einander  verbunden  werden  und  so  der  ueue  als  dritter  erscheinen  könne. 

**)  Walirscheinlich  zu  lesen:  eU  Ttvas  xir/joeu,  vgl.  dritte  Harm.  §  33  irA 
-i*>c  «poaviQS  ^1  xtWjöewc  ddpo;  dlpyöjxsvoi.  Hier  sind  diejenigen  gemeint  (Pytba- 
gorcer),  welche  schon  vor  Aristoxenus  oder  zur  Zeit  desselben  die  Töne  als 
Schwingungsbewegungen  definirten.  Diese  Art  von  Bewegimg  hat  A. 
nicht  im  Sinne,  sondern  vielmehr  die  topische  Bewegung  der  Töne  (von  der 
Höhe  zur  Tiefei. 

***)  In  dem  ersten  Buche  der  Rhythmik.  Erhalten  ist  aus  jener  Ausei- 
nandersetzung Frg.  6  des  Psellus  s.  oben  S.  4. 


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230 


Aristoxenu»  erste  Hannonii:  §  32—34. 


§  32.  Dass  nun  die  Tonstufe  weder  ein  Aufsteigen  noch  ein 
Absteigen  ist,  ist  völlig  klar  —  die  Tonstufe,  sagen  wir,  ist  Ruhe 
der  Stimme,  das  Auf-  und  Absteigen  ist  wie  wir  im  Vorausgehen- 
den gefunden  haben  Bewegung;  dass  aber  die  Tonstufe  zugleich  etwas 
anderes  ist  als  Tiefe  und  Höhe,  wollen  wir  zu  erfassen  versuchen. 

Es  ergiebt  sich  aus  den  Vorhergehenden,  dass  sich  die  Stimme, 
sowohl  wenn  sie  in  die  Höhe,  als  auch  wenn  sie  in  die  Tiefe  ge- 
gangen ist,  im  Zustande  der  Ruhe  befindet.  Wenn  wir  nun  aber 
auch  die  Tonstufe  als  Ruhe  aufgefasst  haben,  so  ist  dieselbe  doch, 
wie  aus  dem  gleich  zu  sagenden  erhellen  wird,  nichtsdestoweniger 
ein  mit  der  Höhe  oder  mit  der  Tiefe  nicht  identischer  Begriff. 
Bedenken  wir,  dass  das  Feststehen  der  Stimme  in  einem  Beharren 
auf  ein  und  derselben  Tonhöhe  besteht.  In  diesem  Zustande  wird 
sie  sich  befinden  sowohl  wenn  sie  in  der  Tiefe  als  auch  wenn  sie 
in  der  Höhe  fest  steht.  Wenn  nun  bei  der  Tonstufe  die  beiden 
entgegengesetzten  Zustände  (des  Hohen  und  des  Tiefen)  vorhanden 
sind  ( —  musste  doch  sowohl  bei  der  Höhe  wie  bei  der  Tiefe  ein 
Feststeheu  der  Stimme  stattfinden  — ),  wenn  dagegen  bei  der  Höhe 
niemals  die  Tiefe  und  bei  der  Tiefe  nicht  die  Höhe  vorhanden  ist:  so 
ist  es  klar,  dass  die  Tonstufe;  da  sie  gemeinsam  bei  der  Tiefe  und 
bei  der  Höhe  vorkommt,  etwas  anderes  als  die  Höhe  und  die  Tiefe  ist. 

Dass  nun  die  fünf  Begriffe:  Tonstufe,  Höhe  und  Tiefe,  Aufsteigen 
und  Absteigen  von  einander  verschieden  sind,  ist  aus  dem  Vorher- 
gehenden klar  geworden. 

UI. 

Ist  die  grösste  und  kleinste  Entfernung  zwischen  Hohem  und 
Tiefem  eine  unbegrenzte  oder  eine  begrenzte  P 

Vgl.  Prooiin.  §  6. 

§  33.  Da  wir  das  Vorausgehende  festgestellt  haben,  so  wird 
sich  daran  die  Untersuchung  schliessen,  ob  der  Abstand  zwischen 
Tiefe  und  Höhe  ein  unendlich  grosser  und  kleiner*)  oder  ob  er  ein 
begrenzter  ist. 

*)  eTt  lizl      plf*  ,  .  .  e?T  tizi  tb  fxixp«5v  wie  Rhythm.  §  58  a. 


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III.  Ist  die  grösste  und  kleinste  Entfernung  zwischen  Hohem  etc.  231 


Wenn  wir  (A)  das  Vermögen  der  menschlichen  Stimme 
berücksichtigen,  so  ist  der  Abstand,  wie  nicht  schwer  einzusehen  ist, 
kein  unendlicher.  Der  Umfang  nämlich,  über  den  eine  jede  Instru- 
mental- und  Vokalstimme  gebietet,  sowohl  der  grösste  wie  der 
kleinste,  ist  ein  begrenzter.  Denn  die  Stimme  kann  den  Abstand  zwi- 
schen Tiefe  und  Höhe  weder  ins  Unendliche  vergrössern,  noch  ins 
Unendliche  verkleinern,  sondern  irgendwie  muss  sie  in  beiderlei  Be- 
ziehung einen  Halt  machen. 

§  34.  Wir  müssen  nun  für  jedes  von  beiden,  den  kleinsten  und 
grössten  Abstand,  eine  Grenze  finden  mit  Rücksicht  auf  zweierlei, 
nämlich  auf  das,  was  die  Töne  hervorbringt,  und  auf  dasjenige, 
was  sie  beurtheilt.  Das  erstere  ist  die  Stimme,  das  zweite  das  Ge- 
hör. Denn  das,  was  jene  ausser  Stande  ist  hervorzubringen  und 
dieses  ausser  Stande  ist  zu  beurtheilen,  das  geht  über  den  in  der 
Musik  brauchbaren  und  für  die  Stimme  erreichbaren  Umfang  hinaus. 

a.  In  Beziehung  auf  den  kleinsten  Abstand  zwischen  Hohem 
und  Tiefem  scheint  die  Produktionsfahigkeit  der  menschlichen  Stimme 
und  die  Receptionsfahigkeit  des  Gehöres  augenscheinlich  an  der- 
selben Stelle  aufzuhören.  Denn  ein  Intervall,  welches  kleiner  ist 
als  die  kleinste  Diesis  vermag  weder  die  Stimme  deutlich  hervorzu- 
bringen, noch  das  Gehör  in  der  Weise  deutlich  zu  empfinden, 
dass  es  angeben  könnte,  der  wievielte  Theil  der  (kleinsten)  Diesis 
oder  irgend  eines  anderen  bestimmbaren  Intervalles  dasselbe  sei .*) 

•)  Marquard  S.  223  macht  aufmerksam  auf  Porphyr,  ad  Ptolcm.  p.  257, 
wo  eine  Stelle  aus  den  Aristoxenischen  o6|A|u%Ta  uTtofivVjfxaTa  citirt  wird:  in  Be- 
ziehung auf  die  kleinen  Abstände  zwischen  Hohem  und  Tiefem  versage  die 
Fähigkeit  des  Gehörs  früher  als  das  Tonmaterial,  d.  h.  man  würde  noch  kleinere 
Intervalle  als  die  kleinste  enharmonische  Diesis  hervorzubringen  die  Fähigkeit 
haben,  aber  unser  Ohr  würde  dieselben  nicht  mehr  deutlich  empfinden  oder 
wenigstens  nicht  genau  zu  bestimmen  im  Stande  sein.  Freilieh  sage  Aristo- 
xenus  im  ersten  Buch  rcepl  dpy&v  .  .  .  heisst  es  dann  weiter  bei  Porphyrius 
unter  Anführung  unserer  Stelle  der  ersten  Harmonik.  —  Die  Worte  ck*  «XXov 
Ttv>c  t&v  ■pa>jii|xtDv  ßtaoTTjfAdTßiv  werden  von  Marquard  entfernt.  Besser  zu  cTtc 
Eisern;  den  Zusatz  iXa/lorrj;  hinzufügen.  I\(6pipa  oiaarfjjxaTa  steht  im  Gegen- 
sätze zu  dfuXcpSij'ta  vgl.  §  55  c. 

b.  In  Beziehung  auf  den  grössten  Abstand  kann  es  den  An- 
schein haben,  dass  die  Stimme,  wenn  auch  nicht  um  viel  vom  Ge- 
hör übertroffen  wird.    (Denn  ).*) 


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232 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  34—36. 


*)  Zu  verstehen  ist  hier  nicht,  was  Aristoxenus  von  dem  grössten  Ab- 
stände im  Sinne  hat.  Es  wird  eben  ein  mit  fdp  eingeleiteter  Satz  hinzugefügt 
gewesen  sein,  ähnlich  wie  ein  solcher  auch  der  vom  „kleinsten  Abstände" 
handelnden  Angabe  hinzugefügt  ist. 

Aber  mag  man  nun  bei  dem  kleinsten  wie  bei  dem  grössten 
Abstände  denselben  Grenzpunkt  für  Stimme  und  Gehör  statuiren, 
oder  aber  bei  dem  kleinsten  Abstände  denselben  Grenzpunkt,  bei 
dem  grössten  einen  verschiedenen,  so  wird  es  doch  immerhin  eine 
kleinste  und  eine  grösste  Ausdelmung  des  Abstandes  geben,  ent- 
weder eine  für  das  den  Ton  hervorbringende  und  das  ihn  beurthei- 
lende,  oder  eine  für  jedes  von  beiden  eigenthümliche. 

§  35.  Dass  also  der  Abstand  zwischen  Tiefem  und  Hohem,  wenn 
wir  die  Stimme  und  das  Gehör  berücksichtigen,  nicht  unendlich  klein 
oder  unendlich  gross  sei,  ist  wohl  klar.  Wenn  wir  hierbei  aber 

(B)  auf  die  Beschaffenheit  des  Melos  an  sich  Rücksicht 
nehmen,  so  wird  es  der  Fall  sein,  dass  die  Vergrösserung  des  Ab- 
standes ins  Unendliche  geht. 

*  * 

* 

Indessen  würde  die  Erörterung  dieses  Punktes  tür  jetzt  unnö- 
thig  sein.   Daher  wollen  wir  das  weiter  unten  untersuchen.*) 

*)  Marq.  übersetzt:  „Wenn  die  Beschaffenheit  der  musikalischen  Fort- 
schreitung an  und  für  sich  ins  Auge  gefasst  würde,  [so  würde  sich  eine  Ver- 
grösserung ins  Unendlichen  ergeben]  so  dürfte  die  Auseinandersetzung  hierübe  r 
wohl  anders  lauten;  für  die  vorliegende  Abhandlung  ist  sie  jedoch  nicht  nöthig, 
daher  müssen  wir  sie  späterhin  in  Betracht  zu  ziehen  versuchen."  S.  124 
„Wir  finden  hier  im  überlieferten  Text  zwei  Nachsätze  . . .  Ich  halte  den  ersten 
für  eine  Glosse  zum  zweiten,  und  nur  weU  ich  zweifelhaft  bin,  ob  ich  sie  dem 
Excerptor  oder  einem  Leser  zuschreiben  soll,  habe  ich  mich  mit  der  Einschlies- 
sung  in  Klammem  begnügt."  S.  224 :  „Aristoxenus  lässt  es  nach  unseren  Ex- 
cerpten  unbestimmt,  zu  welchem  Resultate  man  gelangeu  würde,  wenn  man 
ohne  Rücksicht  auf  Stimme  und  Gehör  den  Abstand  zwischen  Höhe  und  Tiefe 
untersuchte.  Dies  Resultat  liegt  so  auf  der  Hand,  dass  der  betreffende  Leser 
es  sich  hätte  sparen  können,  dasselbe  dazuzuschreiben."  Mit  Marquards  an- 
geblichen zwei  Nachsätzen  ist  es  nicht  in  der  Ordnung.  Vor  dem  zweiten 
Nachsatze  ist  im  Texte  eine  Lücke  anzunehmen.  Die  Texteslesart  dieses  Satzes 
gebe  ich  nach  der  glücklichen  Herstellung  von  Otto  Rossbach  aus  dem  Ano- 
nymus Bellermanns. 


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IV.  Definition  von  Ton,  Intervall,  System,  vorläufige  Eintheilung  etc.  233 


In  der  Aussage  des  Aristoxenus,  dass  mit  Rücksicht  auf  die  Beschaffen- 
heit des  Melos  an  sich  der  grösste  Abstand  zwischen  Tiefem  und  Hohem 
ein  unbegrenzter  sein  würde,  dürfen  wir  eine  Concession  des  Aristoxenus  an 
die  in  Piatos  Timaeus  vorkommende,  aber  ohne  Zweifel  schon  Vor-Platonische 
Construction  zweier  Tonscalen  erblicken,  von  denen  die  erste  drei  continuir- 
liche  Oktaven,  die  andere  drei  continuirliche  Duodecimen  umfasst.  Vgl.  Griech. 
Rhythmik  und  Harmonik  1867,  S.  66.  67.  Doch  gab  Aristoxenus  diese  Con- 
cession nicht  ohne  Bedenken,  die  wir  nun  freilich  bei  der  vorhandenen  Lücke 
der  Ueberlieferung  nicht  mehr  genauer  kennen,  aber  im  Allgemeinen  aus  der 
Verweisung  auf  „xd  iKtna1'  erschlieasen  können.  „Freilich  würde  von  so  un- 
begrenzten Abständen  Niemand  etwas  zu  hören  bekommen,  wenn  wir  auch 
von  3,  4  und  mehr  Oktaven  aus  dem  Vereine  von  Stimmen  verschiedenen  Alters 
und  von  Instrumenten  verschiedener  Mensuren  uns  eine  Vorstellung  machen 
können,"  wie  nachher  in  Abschnitt  VII  gesagt  wird.  Eben  dieser  Abschnitt 
ist  es,  auf  welchen  sich  das  Citat  „h  rot;  liteira  h^^^/\HiaiX'x'.t,  bezieht. 

IV. 

Definition  von  Ton,  Intervall,  System, 
vorläufige  Eintheilung  der  Intervalle  und  Systeme. 

Vgl.  Prooimion  §  7*). 

*)  Im  Prooimion  ist  „Ton"  aus  den  Handschriften  ausgefallen.  Dann  ist 
dort  kürzlich  angegeben  „Definition  des  Interv  alles,  Eintheilung  desselben,  De- 
finition des  Systcmes,  Eintheilung  der  Systeme"  (vgl.  §  7).  Hier  in  der  Aus- 
führung wird  erst  die  Definition  von  Ton,  Intervall  und  System,  dann  die  Ein- 
theilung der  Intervalle  und  Systeme  gegeben.  Die  Abweichung  hat  in  der  er- 
strebten möglichsten  Kürze  des  Prooimions  seinen  Grund;  man  darf  nicht 
suchen,  die  Responsion  zwischen  Ausführung  und  Prooimion  bis  ins  Einzeistc 
herzustellen.  Auch  im  §  37  werden  „Ton,  Intervalle  und  Systeme"  als  zu- 
sammengehörend genannt.  Der  Uebersichtlichkeit  wegen  haben  wir  die  von 
der  zweiten  und  dritten  Hand  des  Mediceus  an  den  Rand  geschriebeneu  In- 
haltsangaben  in  den  Aristoxenischen  Text  hinciugenommen. 

Definition  des  Tones. 

§  36.  Nachdem  wir  dies  erkannt,  müssen  wir  eine  Definition 
des  Tones  geben.  Sie  mag  in  Kürze  lauten:  Der  Ton  ist  es,  wenn 
die  Stimme  auf  eine  einzige  Tonstufe  fällt.  Denn  dann  scheint  es 
ein  für  das  Melos*)  verwendbarer  Ton  zu  sein,  wenn  es  der  Fall 
ist,  dass  die  Stimme  auf  einer  Tonstufe  stehen  bleibt. 

*)  Das  musikalische  Melos  als  Singen  im  Gegensatze  zu  dem  Melos  des 
Sprechens. 


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234  Aristoxenus  erste  Harmonik  §  37—39. 

Definition  des  Intervalles. 

§  37.  Die  Definition  des  Tones  haben  wir  gegeben.  Intervall 
aber  ist  das  von  zwei  nicht  auf  gleicher  Tonstnfe  stehenden  Tönen 
Begrenzte.  Im  Allgemeinen  zeigt  sich  nämlich  das  Intervall  als 
der  Zwischenraum  zweier  Tonstufen,  welcher  fähig  ist,  in  seiner 
Mitte  Töne  aufzunehmen,  die  da  höher  als  die  tiefere  und  tiefer  als 
die  höhere  der  beiden  begrenzenden  Tonstufen  sind.  Der  Zwischen- 
raum (ötcupopa)  besteht  in  der  grösseren  oder  geringeren  Spannung.*) 

*)  Scheint  ein  nicht  von  Aristoxenus  herrührender  Marginal -Zusatz  zu 
sein;  er  redet  sonst  zwar  von  einem  imtclvcw,  aber  nie  von  einem  Teheiv. 

Definition  des  Systemes. 

§  38.  Somit  wäre  das  Intervall  definirt  Das  System  aber 
haben  wir  als  das  aus  mehr  als  einem  Intervalle  Zusammengesetzte 
zu  denken.*) 

Doch  muss  der  Zuhörer**)  jede  der  gegebenen  Begriffsdefiiü- 
tionen  entgegenkommend  aufzunehmen  versuchen,  ohne  sich  dabei 
zu  kümmern,  ob  die  gegebene  Definition  vollständig  oder  zu  allge- 
mein sei;  er  muss  vielmehr  den  guten  Willen  haben,  sie  ihrer  Be- 
deutung nach  einzusehen;  muss  denken,  sie  sei  ausreichend  für  den 
Zweck  des  Lernens,  wenn  sie  in  das  Verständniss  dessen,  was  hier 
gesagt  wird,  einzuführen  vermag.  Denn  schwer  lässt  sich  in  den  Ein- 
gangsabschnitten***) etwas  sagen,  dass  es  nicht  angegriffen  werden 
könnte  und  eine  vollständig  ausreichende  Erklärung  enthielte;  am 
wenigsten  ist  dies  bei  den  vorliegenden  Punkten:  Ton,  Intervall, 
System  der  Fall. 

*)  Also  c  d  e  f  g,  aber  auch  schon  c  d  e  f  oder  c  d  e  würden  ein  System 

sein. 

**)  Wir  haben  eine  „Vorlesung  vor  Zuhörern44,  das  Collegienheft  des 
Aristoxenus  für  die  erste  Harmonik  vor  uns,  vgl.  S.  173  ff. 

***)  tuJv  iv  äpyjjj  ist  nicht  dasselbe  wie  dritte  Harm.  §  23  „dpxä;"  und 
„fxcTct  Td;  ip/d;",  „dpyoeiöfj  Ttpo^Xr^aTa"  d.  i.  Axiome  und  auf  Axiome  basirte 
Troblemata,  sondern  bedeutet  die  im  Anfange  aufzustellenden  Sätze,  die  Ein- 
gangsabschnitte, vgl.  S.  183  ff. 

Eintheilung  der  Intervalle. 

Aristoxenus  giebt  hier  für  die  Unterarten  der  Intervalle  und  ebenso  der 
Systeme  bloss  die  Namen  an,  ohne  eine  Definition  hinzuzufügen.   Die  Einthei- 


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IV.  Definition  von  Ton,  Intervall,  System,  vorläufige  Einteilung  etc.  235 


lung  soll  nur  „eine  vorläufige  sein'*,  „die  Definitionen  sollen  später  folgen", 
wie  es  zu  Anfang  des  §  40  und  am  Schlüsse  des  §  39  heisst  Aristoxenus  darf 
bei  seinen  Zuhörern  resp.  Lesern  voraussetzen,  dass  sie  mit  den  Unterarten 
der  Intervalle  und  Systeme  im  Allgemeinen  bekannt  sind.  Wir  fügen  den 
Worten  des  Aristoxenus  eine  ebenfalls  nur  „vorläufige"  Erklärung  in  kleinerer 
Schrift  hinzu. 

§  39.  Nach  diesen  Definitionen  haben  wir  den  Versuch  zu 
machen,  zuerst  die  Intervalle  und  dann  (ebenso)  die  Systeme  nach 
allen  praktisch- wesentlichen  Untersclueden,  die  sich  aus  der  Natur 
ergeben,  einzutheilen. 

Die  Intervalle  werden  eingetheilt: 

1.  Nach  dem  Umfange  (Megethos),  durch  den  sich  das  eine 
von  dem  anderen  unterscheidet. 

Der  Umfang  des  Ganzton-Intervalles  c  d  ist  ein  kleinerer  als  das  Di- 
tonos- Intervall  (grosse  Terz)  c  e,  die  Quinte  cg  ist  grösser  als  die  Quarte  cf. 

2.  In  symphonische  und  diaphonische  Intervalle. 

Symphonisch  und  diaphonisch  ist  bei  den  Alten  nicht  dasselbe,  was  wir 
in  unserer  Musik  consoiürend  und  dissouirend  nennen.  Symphonische 
Intervalle  sind  die  Quarte,  die  Quinte,  die  Octave,  die  Doppeloctave  und 
jede  Gombination  der  Octave  oder  Doppeloctave  mit  der  Quarte  oder 
Quinte.  Alle  übrigen  Intervalle  wie  Secunde,  Terz,  Sexte,  Septime  sind 
diaphonisch. 

3.  In  zusammengesetzte  und  unzusammengesetzte  In- 
tervalle. 

Auf  der  diatonischen  Scala  ist  der  Halbton  und  der  Ganzton  ein  unzu- 
sammengesetztes, die  Terz,  Quarte,  Quinte  u.  s.  w.  ein  zusammengesetztes 
Intervall. 

4.  Nach  dem  Tongeschlechte,  (denn  jedes  Intervall  ist  ent- 
weder ein  diatonisches  oder  chromatisches  oder  enharnionisches.)*) 

Kigenthümliche  Intervalle  der  diatonischen,  der  chromatischen  und  enhar- 
monischen  Scala:  z.  B.  auf  der  chromatischen  der  Halbton  neben  einem 
Halbtone  (e  f  fis),  auf  der  enharmonischen  der  unserer  Musik  fremde 
Viertelton. 

*)  Dass  eine  solche  Erklärung  von  Aristoxenus*  selber  hinzugefügt  war, 
erhellt  aus  der  im  entsprechenden  §  39  vorkommenden  Eiutheiluug  der  Systeme 
in  diatonische,  chromatische,  enharmonische.  Vgl.  die  jedesmal  mit  räv  ^dp 
beginnende  Definition  der  letzten  3  Arten  von  Systemen. 


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236 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  39—41. 


5.  in  rationale  und  irrationale  Intervalle. 

Alle  in  unserer  heutigen  Musik  zur  Anwendung  kommenden  Intervalle 
würden  nach  griechischer  Anschauung  in  die  Klasse  der  rationalen  fal- 
len, ausserdem  auch  der  erwähnte  Viertelton  der  enharmonischen  Scala. 
Irrational  aber  ist  z.  B.  ein  in  der  griechischen  Musik  praktisch  verwendetes 
Intervall,  welches  grösser  als  der  Viertelton,  aber  kleiner  als  der  Halbton 
ist.  Alle  Multipla  des  Vierteltones  sind  rationale  Intervalle,  alle  auf  den 
Viertelton  nur  in  Bruchzahlen  zurückführenden  Intervalle  sind  irrationale. 

Die  übrigen  Arten  der  Intervalle  lassen  wir  für  diese  Pragmatie 
als  unwesentlich  zur  Seite. 

z.  B.  dass  die  rationalen  Intervalle  in  gerade  (aprto  Siaor/jjxaTa)  und  un- 
gerade (itcpirtd  otaorif)(i.oTo)  zerfallen,  von  denen  Aristoxenus  bei  Plutarch 
de  mus.  38.  39  spricht  Das  gerade  Intervall  enthält  ein  Multiplum  aus 
einer  geraden  Anzahl  von  Vierteltönen  (2,  4,  6).  Das  ungerade  eine  unge- 
rade Anzahl  derselben  (3,  5,  7).  „Zoa  bizb  r7j;  £Xo^(ottj«  Siioewc  [xeTpeTtai  repiT- 
xdxic"  Aristox.  a.  a.  0.  Auch  der  dem  Enharmonion  eigenthüinliche  Viertelton 
(dXa^tonr)  htlati)  gehört  in  die  Kategorie  der  itcpircd  StaoT^ftoTa.  Zu  Aristoxenus 
Zeit  mochten  ihn,  wie  die  Stelle  bei  Plutarch  lehrt,  die  meisten  Musiker  nicht 
mehr  praktisch  verwenden,  was  sie  theoretisch  mit  dem  Satze  begründeten, 
dass  man  ihn  nicht  Std  oyppmfo;  bestimmen  könne  (vgl.  zweite  Harm.  Abschn.  XI). 
Dann  müssten  sie  sich  auch  der  7t£pircd  und  dtXo^a  Stac-r^aTa  enthalten, 
wendet  Aristoxenus  ein.  Marquard  sagt  von  dem  Unterschiede  der  rceptrrd 
und  iprio  6iaorf(f*aTa:  „Dass  solche  mttssigen  Spielereien  schon  vor  (?)  Aristo- 
„xenus  existirt  haben,  dürfte  erst  zu  beweisen  sein,  er  wird  also  bei  der  Be- 
merkung (die  übrigen  Arten  der  Intervalle  ausser  den  angeführten  fünf  dies- 
,,mal  zur  Seite  lassen  zu  wollen)  noch  andere  Intervall -Unterschiede  im  Sinne 
„gehabt  haben,  die  wir  nicht  kennen.  Die  geraden  und  ungeraden  verdanken 
„wir  wohl  erst  der  Feinheit  des  Aristides  Quintil.  p.  14,  10  Meib."!!! 

Eintheilung  der  Systeme. 

§  40.  Die  bei  den  Intervallen  vorkommenden  Unterschiede 
finden  sich  mit  Ausnahme  eines  einzigen  (des  dritten)  auch  bei  den 
Systemen  wieder.  Augenscheinlich  unterscheidet  sich  das  eine  Sy- 
stem von  dem  anderen 

erstens:  durch  den  Umfang; 

zweitens:  dadurch,  dass  die  den  Umfang  bestimmenden  Grenz- 
töne symphonische  oder  diaphonische  Intervalle  bilden. 

Dagegen  wird  der  dritte  von  den  bei  den  Systemen  genannten 
Unterschieden,  nämlich  der,  dass  das  Intervall  entweder  ein  ein- 
faches oder  zusammengesetztes  sei,  bei  den  Systemen  nicht  vor- 


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IV.  Definition  von  Ton,  Intervall,  System,  vorläufige  Eintheilung  etc.  237 


kommen,  wenigstens  nicht  in  der  Weise,  wie  von  den  Intervallen 
die  einen  unzusammengesetzt,  die  anderen  zusammengesetzt  waren. 

Nothwendig  findet  aber  der  vierte  Unterschied,  und  dies  war 
der  nach  dem  Tongeschlechte,  auch  bei  den  Systemen  statt  Es 
sind  nämlich 

drittens:  die  Systeme  entweder  diatonisch  oder  chroma- 
tisch oder  enharmonisch. 

Ebenso  auch  der  fünfte  Unterschied  der  Intervalle,  denn  es 
sind  die  Systeme 

viertens:  dadurch  verschieden,  dass  die  einen  durch  ein  ir- 
rationales, die  anderen  durch  ein  rationales  Intervall  begrenzt 
werden. 

§  41.  Zu  den  vier  genannten  kommen  noch  drei  weitere  Ein- 
theilungen  hinzu,  nämlich 

fünftens:  diejenige,  wonach  das  System  entweder  durch  Syn- 
aphe  oder  durch  Diazeuxis  oder  zugleich  durch  Synaphe  und 
Diazeuxis  gebildet  ist  Jedes  System  nämlich  von  einem  gewissen 
Umfange  an*)  ist  entweder  ein  synemmenon  oder  ein  diezeugmenon 
oder  ein  aus  beiden  gemischtes  (Sytema  mikton),  denn  auch  dies 
letztere  zeigt  sich  in  einigen  Systemen. 

•)  Nämlich  wenn  der  Umfang  des  Systemes  die  Quarte  oder  Quinte  über- 
schreitet 2-  B.  in  dem  Heptachorde,  Oktachorde,  Hendekachorde,  Dodekachorde 
und  Pentckaidekachorde. 

Heptachordische  Systema  synemmenon. 


e      f      g      a      b      c  d 

V  /v  ' 


meson.  synemmenon. 
Oktachordiscbes  Systema  diezeugmenon: 

£      §  a  g 

£  a  s  £  S  £  £ 

f      g      a  h      c      d  e 

»  '    »   / 

meson.  diezeugmenon. 


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238 


Aristoxcnus  erste  Harmonik  §  41—43. 


Hendekachordischea  Systema  syneminenon: 


I 


ig  ig 

—i        H        m  m 


A     Hede  fga 


i  I    &  £  I    S.  •£   5    S    S    g  2 


»  *-  oe  « 
S     E-     SU  ?5 


hypaton.  meson.  syuemmenon. 


Dodekachordisches  Syatema  diezeugmenon: 

.    c  «  o  5 

SS  'S     £  "3S  I  £ 

du  §  ±»  «3  .2        s  .2  £   3  ;c    a  « 

A  Hcdefgahcde 
hypaton.         meson.  diezeugmenon. 


Pentekaidekachordisches  Systema  mikton: 


A     Hcd  efgabedhede 


hypaton.         meson.     syneminenon.  diezeugmenon. 


Ein  anderes  System,  auf  welchem  eine  Mischung  des  Tctracbordes  syuem- 
menon mit  dem  Tetrachorde  diezeugmenon  stattfindet,  ist  das  oktokaideka- 
c hordische,  in  welchem  dem  pentekaidekachordischen  noch  das  Tetrachord 
hyperbolaion  hinzugefügt  ist,  welches  letztere  mit  dem  Tetrachorde  diezeugme- 
non in  einer  Synaphe  verbunden  ist 

Oktokaidekachordischcs  Syntema  mikton. 

I     I  1 

 abedhedefga 


synemm.  diezeugm.  hyperbolaion. 

**)  Zu  lesen  xal  -jap  oelxvutai  toüto,  mit  Einschiebung  des  den  Hand- 
schritten  fehlenden  -yap 


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V.  Das  musikalische  Melos  im  Allgemeinen.  239 


Fünftens  diejenige  Eintheilung,  nach  welcher  die  Systeme  in 
continuirliche  und  hyperbata  zerfallen,  denn  jedes  System  ist 
entweder  ein  continuirliches  oder  ein  hyperbaton. 

Hyperbaton  mit  Ueberspringung  von  Tönen  der  Scala. 

Sechstens  in  einfache,  zweifache  und  vielfache  Sy- 
steme, denn  jedes  System,  welches  wir  nehmen,  ist  entweder  ein 
einfaches  oder  ein  zweifaches  oder  ein  vielfaches. 

Worin  aber  ein  jedes  besteht,  wird  im  folgenden*)  gezeigt 
werden. 

*)  Dies  war  ausgeführt  im  nicht  erhaltenen  Abschnitt  XIII.  Was  wir 
von  demselben  restituiren  können,  geben  wir  in  der  zweiten  Harmonik. 

V. 

Das  musikalische  Melos  im  Allgemeinen. 

Vgl.  Prooim.  §  8. 

§  42.  Nach  diesen  Definitionen  und  vorläufigen  Eintheilungen 
haben  wir  den  Versuch  zu  machen,  die  Natur  des  musikalischen*) 
Melos  im  Umrisse  zu  erörtern. 

Dass  in  demselben  die  discontinuirliche  Bewegung  der  Stimme 
vorhanden  sein  muss,  ist  früher  gesagt  (Abschn.  I.  §  25—28) ,  so  dass 
sich  hierdurch  das  musikalische  Melos  vom  Melos  des  Sprechens 
unterscheidet;  denn  wir  haben  dort  ausgeführt,  dass  auch  beim 
Sprechen  ein  durch  die  Wortaccente  gebildetes  Melos  vorkommt  : 
das  Hinaufsteigen  und  Hinabsteigen  ist  eine  natürliche  Eigenschaft 
auch  der  Sprache. 

*)  Zu  den  Worten  der  Handschrift  tö  xsMXvj  Xo^dfievov  fj.£Xo;  ist  (jlousixov 
hinzuzufügen.  Sowohl  im  Verlaufe  dieses  Abschnittes  als  auch  in  der  Parallel- 
Steile  des  Prooimion«  §  8  steht  fiouotx6v  in  den  Handschriften.  Die  beiden  Arten 
de«  }iiXoc  sind  gleich  im  folgenden  genannt  (vgl.  §  43  toj  £rI  rij;  )i;ee»;  717- 
wp£voi>  uiXou;  otolott  t&  fxovoixöv  p£Xo;.  Um  das  letztere  handelt  es  sich  Ab- 
schnitt V  speciell,  nicht  um  das  Melos  im  Allgemeinen ,  wie  es  bei  der  hand- 
schriftlich überlieferten  Lesart  des  §  42  der  Fall  sein  würde. 

§  43.  Doch  ist  es  nicht  genug,  dass  das  Melos  hermosmenon 
aus  Intervallen  und  Tönen  bestehe,  sondern  es  muss  noch  eine  be- 
stimmte und  keineswegs  willkürliche  Art  der  Zusammensetzung  zu 


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240 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  43—44. 


einander  hinzukommen,  denn  aus  Intervallen  und  Tönen  zu  bestehen 
ist  etwas,  welches  auch  in  dem  unharmonischen  (avdp^oaxov)  Melos 
vorkommt.  Demnach  ist  als  der  bedeutendste  Theil,  der  für  den 
gesetzmassigen  Bestand  des  (musikalischen  Y*)  Melos  gewissermaassen 
den  Schwerpunkt  bildet,  derjenige  anzusehen,  welcher  die  Eigenar- 
tigkeit in  der  Aufeinanderfolge  der  Intervalle  behandelt**) 

*)  Auch  hier  wie  oben  ist  hinter  uiXo«  toü  |i.ouotxoü  einzufügen. 
**)  Der  Schluss  des  uns  von  der  ersten  Harmonik  verbliebenen  Bruch- 
stückes (Abschnitt  XI)  beginnt  mit  der  Behandlung  dieses  Theiles.  Ausführlich 
ist  derselbe  in  der  zweiten  Harmonik  uns  überkommen.  Aristoxenus  redet  bei 
jener  Aufeinanderfolge  der  Intervalle  nicht  etwa  von  dem  Fortschreiten  der 
Stimme  in  der  Melopoeie,  sondern  nur  von  dem  Fortschritte  in  der  abstrakten 
Tonscala. 

Die  von  Aristoxenus  für  das  xaft'  8Xou  |i£Xoc  aufgestellten  Kategorien  sind : 

1.  xö  ini  rfj?  X^eto;  YlTNV6<yOV  p^fXoc,  Xo-fA&t;  piXoc,  cu-puCfAevov  tx  Td»v 
irpba<u&td>v  töv      toT;  iv^jxaotv  (airvcv'fjc  xfjc  {pwvfjs  xlvijaic). 

2.  tö  |iouotxiv  [iiXo;  ix  ^laoTTjfidTwv  xol  ^8(^709*  auviSTdpevov  (8iaGT7]{AaTtx'fi 
rffi  <pa>Y?j;  x(vf)ou). 

a)  divapfioorov  piXo;,  ixjxcXd;  f*iXo;. 

b)  ^pnocfiivov  piXoc,  iinitXU  |a£Xoc 

§  44.  So  ergiebt  sich,  dass  das  musikalische  Melos  1)  von  dem 
beim  Sprechen  zur  Erscheinung  kommenden  Melos  dadurch  ver- 
schieden ist,  dass  die  Bewegung  der  Stimme  eine  discontinuirliche 
ist,  2)  von  dem  unharmonischen  und  falschen  Melos  durch  Ver- 
schiedenheit in  der  Aufeinanderfolge  der  unzusammengesetzten  In- 
tervalle. Worin  die  Eigentümlichkeit  dieser  Aufeinanderfolge  be- 
steht, wird  im  weiteren  Verlaufe  (Abschnitt  XI)  gezeigt  werden. 
Nur  so  viel  sei  im  Allgemeinen  schon  hier  gesagt*  dass  es  bei  den 
vielen  Verschiedenheiten,  welche  das  Hermosmenon  in  Beziehung 
auf  die  Zusammensetzung  der  Intervalle  darbietet,  nichts  desto  we- 
niger etwas  geben  muss,  welches  sich  überall  im  Hermosmenon  als 
ein  und  dasselbe  Fundamentalgesetz  herausstellen  wird  und  eine  so 
grosse  Bedeutung  hat,  dass*)  bei  seinem  Nichtvorhandensein  auch 
kein  Hermosmenon  vorhanden  ist.  Im  Verlaufe  dieses  Werkes 
(§  61.  62)  wird  dies  klar  werden. 

Auf  diese  Weise  sei  nun  das  musikalische  Melos  einem  jeden, 
der  beiden  übrigen  Arten  des  Melos  gegenüber,  begrifflich  bestimmt; 
freilich  muss  man  festhalten**),  dass  die  gegebene  Begriffsbestim- 


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Die  drei  Arten  des  musikalischen  Mclos  (die  drei  Tongeschlechter).  241 

mung  (nur  im  Umrisse)  und  nur  in  soweit  ausgeführt  ist,  als  dies 
ohne  Erörterung  der  Einzelheiten  angeht. 

*)  Zu  schreiben:  ouvafiiv  oHv  (t')  aut^v  dvatpojjji£vT(v  dvctpetv  xö  ^pfioc- 
fxivov.  In  der  zweiten  Harmonik,  wo  die  einzelnen  Problemata  über  die  em- 
melische  Reihenfolge  der  Intervalle  aufgestellt  werden,  wird  dies  für  den  als 
Probl.  2  aufgestellten  Satz  so  ausgedrückt:  Hetiov  ojv  toüto  rptutov  ei;  dpy-f,c 
■:a;tv  oy  [x-f)  yrdpyovTo;  dvtioEirai  tö  rtp[xojfjievov.  Für  Aristoxcnus  hat  die  von 
ihm  zuerst  aufgefundene  Theorie  von  der  Reihenfolge  der  Intervalle  in  der 
Scala  eine  solche  Wichtigkeit,  dass  er  schon  hier  darauf  aufmerksam  machen 
zu  müssen  für  nothwendig  hält  Der  ächte  Kathedervortrag  des  vom  Werthe 
seiner  Entdeckung  überzeugten  Forsehers! 

**)  „Freilich  muss  man  festhalten  .  .  ."  Darüber  sagt  Marq.  S.  369:  „Es 
scheint  sicher,  dass  nicht  Aristoxenus,  sondern  der  Excerptor  diese  Worte  hin- 
zugefügt hat,  welche  die  Abrundung  des  guten  Schlusses  [„wird  dies  klar 
werden"]  wieder  aufheben,  und  nach  allem  Vorhergehenden  eine  leere  Wieder- 
holung der  Worte  Prooim.  §  9  sind,  denen  sie  sehr  leicht  nachgebildet  werden 
konnten."  . . .  „Denn  selbst  für  einen  Leser  [geschweige  denn  für  einen  Collegien- 
Be«ucher]  würden  sie  zu  wenig  Interesse  haben."  Von  dem  ganzen  §  44 
sagt  Marquard  ebendaselbst:  „Wir  können  ea  allerdings  nur  in  hohem 
Grade  bedauern,  dass  wir  keine  ausführliche  Behandlung  dieses  Kapitels  r.i[A 
ptXoue  von  Aristoxenus  mehr  besitzen."  Die  Darstellung,  die  Marquard  hier 
wünscht,  hätte  er  in  aller  Ausführlichkeit  bei  Aristoxenus  finden  können.  Denn 
in  der  zweiten  Harmonik  hat  er  ihr  28  Problemata  gewidmet.  —  Wahrschein- 
lich ist  —  wie  im  Prooimion  §  9  —  in  der  vorliegenden  Stelle  zu  lesen :  „dtf  cu- 
pwuö;  <iü;  tv  Tj-oj)"  ebenso  „(ivoiy e-rai)  \iifiiT.oi  tön  xat»'  Ixiznt  Teöcai- 
ot(|a£ytov." 

TL 

Die  drei  Arten  des  musikalischen  Melos  (die  drei  Tongeschlechter). 

Vgl.  Prooimion  §  9. 

§  45.  An  das  Gesagte  aber  wird  sich  die  Klassificirung  des 
genannten  musikalischen  Melos  nach  den  augenscheinlich  bestehen- 
den Arten  desselben  anschliessen.  Dies  sind  drei  Arten.  Jedes  im 
Hermosmenon  vorkommende  Melos  ist  nämlich  entweder  ein  dia- 
tonisches oder  ein  chromatisches  oder  ein  enharmonisches. 

Als  das  erste  und  älteste  ist  das  diatonische  Melos  hinzu- 
stellen, denn  dieses  ist  es,  auf  welches  die  menschliche  Natur  zuerst 
verfällt.  (Es  heisst  diese  Art  des  Melos  „diatonisch",  entweder  weil 

Arlttoieoii,  Melik  u.  Rhythmik.  IG 


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242  Aristoxenus  erste  Harmonik  §  45—47. 

sie  am  meisten  durch  Ganz-Töne  schreitet,  oder  weil  sie  einen  wür- 
digen, kräftigen  und  wohlklingenden  Charakter  hat.   Theo  Smyrn.). 

Aristoxenus  giebt  zwei  Ableitungen  des  Ausdruckes  Wtovov  piXoc.  Ent- 
weder von  „&id  t&a'jc",  d.  i.  durch  Gauztöne  hindurch,  oder  vom  Adjektiv 

Das  zweite  ist  das  chromatische  Me los.  (Es  wird  dasselbe 
chromatisch,  d.  i.  farbig  genannt,  weil  es  sich  von  dem  vorigen  da- 
durch unterscheidet,  dass  es  einen  mehr  klagenden  und  leidenschaft- 
lichen (gleichsam  durch  seine  Klangfarbe  auffallenden)  Charakter 
hat.    Theo  Smyrn.). 

Das  dritte  und  jüngste*)  ist  das  enharmonische  Melos,  denn 
an  dieses  gewöhnt  sich  die  sinnliche  Wahrnehmung  erst  zuletzt  und 
zwar  mit  Mühe  und  vieler  Anstrengung.  („Hannc-mV*  (xorc  iloyrp) 
wird  es  genannt,  weil  es  das  vorzüglichste  ist,  so  dass  es  diese  all- 
gemeine Bezeichnung  nach  dem  ganzen  Hermosmenon  führt.  Es 
ist  dasjenige,  welches  am  schwierigsten  für  die  Melodie  verwendbar 
ist  und  zur  Künstlichkeit  hinneigt  und  vieler  Mühe  bedarf,  weshalb 
es  auch  in  der  Praxis  nicht  leicht  vorkommt.    Theo  Smyrn.). 

In  der  handschriftlichen  Ueberlieferung  wird  vor  den  drei  Tongeschlech- 
tern das  chromatische  im  Unterschiede  von  den  beiden  anderen  ohne  Hinzu  - 
fügung  irgend  eines  Zusatzes  bloss  mit  Namen  genanut.  Ursprünglich  hat  auch 
bei  dem  Chroma  ein  Zusatz  schwerlich  gefehlt.  Bereits  Fr.  Bellermann  zum 
Anonymus  hat  den  handschriftlichen  Bericht  des  Aristoxenus  dtirch  dasjenige 
ergänzt,  was  Theo  Smyrn.  p.  55.  56  Hiller  über  die  Tongeschlechter  mit 
namentlicher  Erwähnung  des  Aristoxenus  anführt.  Marquard  S.  267  wider- 
spricht dem :  Es  sei  wegen  Plut  de  mus.  38  unmöglich.  Wir  verweisen  auf  das 
Aristoxenische  Fragm.  bei  Plutarch  (in  den  vermischten  Tischgesprächen)  und 
unsere  Erläuterung  dwjselben;  wir  werden  dort  die  Angaben  des  Aristoxenus 
über  die  Enharmonik  im  Zusammmenhange  erläutern. 

*)  Der  Strassburger  Cod.  veoixaTov,  statt  des  im  verständlichen  dvdjTatov 
der  übrigen. 

YU. 

Die  symphonischen  Intervalle. 

§  46.  Nachdem  wir  diese  drei  Arten  aufgestellt,  müssen  wir 
es  versuchen,  von  dem  zweiten  Intervall-Unterschiede  (§  39,2)  den 
einen  der  sich  dort  ergebenden  Gegensätze  näher  zu  betrachten. 


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VII.  Die  symphonischen  Intervalle.  243 

Diese  beiden  Gegensätze  waren  die  Diaphonie  und  die  Symphonie. 
Die  letztere  ist  es,  welche  den  Gegenstand  unserer  jetzigen  Unter- 
suchung bilden  wird. 

Augenscheinlich  unterscheiden  sich  die  symphonischen  Intervalle 
von  einander  in  mehrfacher  Beziehung;  einer  dieser  Unterschiede 
ist  der  nach  der  Grösse.  Von  ihm  ist,  was  der  Augenschein  lehrt, 
anzugeben. 

(A.)  Das  kleinste  symphonische  Intervall  scheint  durch  die  Na- 
tur des  Melos  selber  bestimmt  zu  sein.  Denn  es  giebt  viele  Inter- 
valle, welche  kleiner  als  die  Quarte  sind,  aber  diese  alle  sind  diapho- 
nische,  (so  dass  mithin  die  Quarte  das  kleinste  symphonische  Inter- 
vall ist.) 

Kleinere,  Intervalle  ab  die  Quarte  Quarte. 


*  »•  *»  • 


*  *  i  *  1  I  2  2* 


Die  vorstehenden  Zahlen  der  Intervallgrössen  beziehen  sich  auf  die  Ein- 
heit des  Ganztones:  --  Ganztou  (genannt  enharmonische  Diesis),  y  Ganzton, 
3 

-  Ganzton,  (d.  i.  die  enharmonische  Diesis  noch  um  die  Hälfte  der  Diesis  er- 

ö 

höht).   S.  Abschn.  IX. 

§  47.  Das  kleinste  Megethos  nun  ist  durch  die  Natur  des 
Melos  selber  bestimmt.  (B.)  Das  grösste  aber  scheint  nicht  in 
dieser  Weise  bestimmt  zu  sein*),  (a.)  Mit  Rücksicht  auf  die  Na- 
tur des  Melos  lässt  es  sich  ebenso  wie  das  diaphonische  Inter- 
vall bis  in  das  Unbegrenzte  ausdehnen.  Wenn  man  nämlich  zur 
Oktave  irgend  ein  symphonisches  Intervall  hinzusetzt,  sei  es  grösser 
oder  kleiner  oder  gleich  gross  wie  diese,  so  bildet  die  Zusammen- 
setzung stets  ein  symphonisches  Intervall. 

So  scheint  es  nun  (nach  der  Natur  des  Melos**)  keine  äusserste 
Grenze  für  die  Grösse  der  symphonischen  Intervalle  zu  geben,  (b.)  Je- 
doch mit  Rücksicht  auf  unsere  Praxis  —  ich  nenne  „unsere"  die 
durch  die  menschliche  Stimme  und  durch  die  Instrumente  aus- 
geführte —  giebt  es  augenscheinlich  ein  grösstes  unter  den  sympho- 
nischen Intervallen.  Und  zwar  ist  dies  das  aus  der  Doppeloctave 
und  der  Quinte  zusammengesetzte  Intervall. 

16* 


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244 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  47-49. 


Z.  B. 


Denn  bis  zu  drei  Oktaven  können  wir  nicht  hinaufsteigen.  Hier- 
bei muss  man  jedoch  den  Umfang  nach  der  Stimmlage***)  und  den 
Grenztönen  (einer  einzelnen  menschlichen  Stimmet!)  oder)  eines  ein- 
zelnen Instrumentes  bestimmen.  Denn  leicht  dürfte  der  höchste 
Ton  der  Parthenos-Auloi  mit  dem  tiefsten  Tone  der  Hyperteleioi- 
Auloi  ein  noch  grösseres  Intervall  als  das  von  drei  Oktaven  bilden 
und  auchttt)  der  höchste  Ton  des  Syrinx-Bläsers  wird,  wenn  man  die 
Syrinx  verkürzt,  mit  dem  tiefsten  Tone  des  Auleten  ein  grösseres 
als  das  genannte  Intervall  ergeben.  Ebenso  auch  die  Knaben- 
Stimme  mit  der  Mannes-Stimme  vereint. 

Hieraus  kennt  man  nun  auch  die  grossen  symphonischen  Inter- 
valle, denn  aus  den  verschiedenen  Altersstufen  und  den  verschiede- 
nen Maassen  der  Instrumente  haben  wir  ersehen,  dass  auch  das 
Intervall  von  drei  und  von  vier  Oktaven  und  noch  grösser  eiu  sym- 
phonisches Intervall  ist. 

*)  t6  {xev  ojv  tXdy iutov  .  .  .  .  ti>  oe  urftoTov  die  Staatsbürger  Handschrift. 
Die  übrigen  fj^e&o;  statt  ptysTOv.  Schon  Meibom  tilgt  unter  Hinzuftigung 
von  pifioTov  das  (xd-yedo;  seiner  Handschriften. 

**)  Achnlich  die  Anschauung  des  Aristoxenus  bei  Plutarch  de  mus.  20: 
Aei  ^dp  OTjXoviTi .xoxd  r?jv  Tfj;  dvftpuirivTj;  ^pSto»;  £vre'j$tv  xal  y.p^atv  tö  ypöfxa 
irpEo^jTepov  Xi^etv.  xatd  ^dp  o'jt^v  tö>v  yevfir»  s'jaiv  ojx  £onv  Etepov  tT^pou  rpes- 

fJUTtpOV. 

***)  Für  t(5v«i>  ist  Tore«  zu  lesen  vgl.  §  32. 

++)  Leg.  iptCttv  fjLia;  dvÖpto-tvr,;  -ituvf(;  f,  ivö;  rtvo;  öpydvoj. 

t|+)  Leg.  %ai  xttizznotidorfi  oe  „und  auch'"  statt  y.al  aar.  ys.  Vgl.  Mar- 
quard  S.  256—258. 

§  48.  Es  ist  nun  aus  dem  Gesagten  klar,  dass  bezüglich  des 
kleinsten  Umfanges  die  Natur  des  Melos  selber  die  Quarte  als  das 
kleinste  symphonische  Intervall  erscheinen  lässt,  bezüglich  des  gröss- 
ten  Umfanges  aber  unsere  Fähigkeit  das  grösste  symphonische  In- 
tervall bestimmt.  Dass  aber  die  symphonischen  Intervalle,  (welche 


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VIII.  Der  Gauzton  und  seine  Theile. 


245 


von  Einer  Stimme  hervorgebracht  werden  können,  der  Zahl  nach 
nicht  mehr  als  acht  sind),  ist  leicht  einzusehen, 

(l.  die  Quarte,   4.  die  Octave  und  Quarte,   7.  die  Doppeloctave  und  Quarte, 

2.  die  Quinte,    5.  die  Octave  und  Quinte,    8.  die  Doppeloctave  und  Quinte, 

3.  die  Octave,    6.  die  Doppeloctave, 

denn  wir  haben  gefunden,  dass  ein  grösseres  symphonisches  Inter- 
vall als  die  Doppeloctave  und  Quinte  von  einer  einzelnen  mensch- 
lichen Stimme  oder  einem  einzelnen  Instrumente  nicht  hervorge- 
bracht werden  kann.) 

*)  Der  Schluss  des  Textes  ist  lückenhaft:  8ti  h'ix  t«üv  ^cy^ct  oupißalvei 
fiveoÖai  |>aotov  auvtoeiv  ist  lückenhaft.  Zu  restituiren  ist:  3ti  S'öxtiu  (ftövo)v  fj.e- 
Y^lh}  (täv)  ovjjupiüvtov  5iaarr(udTa>v  (töt<  \iiä  «pouvirj  |xeX(ui7)Ttbv)  oyjxßotiv«  ^vc^ai 
biliös  ouvtoeiv  <t6  oid  Teaodp<uv,  to  iid  7t£vt6,  tö  Std  zaauiv,  t6  Sid  Tecadpcuv  xai 
zaa&v,  t&  oid  t:£vt6  xai  roowv,  tö  ol;  5td  Traatüv,  t&  Sid  tioadfKov  xal  51;  iid  ro- 
oü)v,  tö  Std  tt£vtc  xai  oi;  5id  naowv).  Marquard  giebt  eine  Restitution  die  den 
Sinn  hat:  „dass  nun  aus  den  der  Grösse  nach  verschiedenen  symphonischen 
Intervallen  das  Ganze  eine  Symphonie  wird,  ist  leicht  einzusehen."  Da  wäre 
der  schon  oben  von  Aristoxenus  ausgesprochene  Satz  §  47  nochmals  wieder- 
holt. Aber  oben  ist  der  Satz  genau  ausgesprochen,  in  dieser  Wiederholung 
würde  er  mangelhaft  ausgesprochen  sein,  denn  auch  2  und  3  Std  zao&v,  also 
fxcYiöei  fAf)  ota<p£povra  bilden  Symphonieen. 

VIII. 

Der  Ganzton  und  seine  Theile. 

§  49.  Nachdem  dies  klar  geworden,  müssen  wir  das  Ganzton- 
intervall (xovtatov  5ioTnrju,a)  zu  bestimmen  versuchen. 

Der  Ganzton  (xovo;)  ist  der  Grössenunterschied  der  beiden  ersten 
symphonischen  Intervalle,  (der  Quarte  und  Quinte). 

Getheilt  möge  er  werden  auf  dreilache  Weise.  Es  möge  näm- 
lich harmonisch  verwandt  werden: 

1.  die  Hälfte  des  Ganztoues  ef, 

2.  der  dritte  Theil  des  Ganztones  e  e, 

3.  der  vierte  Theil  des  Ganztones  e  e. 

Alle  Intervalle,  welche  kleiner  sind  als  dies  letzte*)  von  denen 
nehmen  wir  an,  dass  sie  amelödeta  seien  (nicht  im  Melos  verwandt 
werden  können). 


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246  Aristoxenus  erste  Harmonik  §  49—52. 

Von  jenen  drei  Theilen  des  Ganztones  heisse 

das  kleinste  kleinste  enharmonische  Diesis, 
das  mittlere  kleinste  chromatische  Diesis, 
das  grösste  Hemitonion  (Halbton) 

*)  To6tou  zu  lesen  (statt  toutojv)  wie  in  der  Parallelstelle  der  zweiten  Har- 
monik. Das  handschriftliche  toutwv  wäre  sachlich  unrichtig,  denn  dies  würde 
bedeuten:  was  kleiner  als  No.  1,  No.  2,  No.  3  ist,  sei  ein  Atnelodeton,  wäh- 
rend nur  solche  Intervalle  gemeint,  welche  kleiner  als  No.  3  sind. 

IX. 

Die  Unterschiede  der  Tongeschlechter. 

Vgl.  Prooimion  §  12. 

§  50.  Nachdem  dies  definirt  worden,  wollen  wir  den  Versuch 
machen,  kennen  zu  lernen,  woher  und  auf  welche  Weise  die  Unter- 
schiede der  Tongeschlechter  entstehen. 

Man  denke  sich  von  den  symphonischen  Intervallen  das  kleinste, 
welches  Quarte  genannt  wird  und  gewöhnlich*)  vier  Töne  enthält 
(woher  es  auch  von  den  Alten  seinen  Namen  empfangen)  (und  eine 
solche  Ordnung  seiner  vier  Töne  hat,  dass  die  beiden  Grenztöne 
unveränderlich  (jieveiv),  die  beiden  mittleren  veränderlich  sind 
(xiveta&at),  entweder  beide  zugleich  oder  einer  von  beiden).  Das 
werde  nun  so  angenommen.**) 

Es  giebt  aber  mehrere  Saitencomplexe,  welche  die  angegebene 
Beschaffenheit  in  den  Tönen  der  Quarte  festhalten  und  die  durch 
besondere  Namen  geschieden  sind.***)  Unter  ihnen  ist  denjenigen, 
welche  sich  mit  Musik  befassen,  einer  der  geläufigste,  nämlich  der- 
jenige, weleher  die  Mese,  die  Lichanos,  die  Parhypate  und  Hypate 
enthält. 


a      g      f  e 


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IX.  Die  Unterschiede  der  Tongeschlechter. 


247 


Und  dieser  Saitencomplex  ist  es,  bei  welchem  man  zu  erörtern 
hat,  auf  welche  Weise  die  Unterschiede  der  Tetrachorde  entstehen. 

•)  Mit  Ausnahme  des  alten  Olympischen  Enharmonions  vgl.  Plutarch  de 
mos.  11  aus  Aristoxenus'  vermischten  Tischgesprächen. 

• 

**)  Hierauf  folgt  m  den  Handschriften  ein  schliesslich  in  den  Text  ein- 
gedrungenes Marginal-Scholiou,  nach  dessen  Aufnahme  in  den  Text  die  Schluss- 
worte des  letzten  Aristoxenischen  Satzes  corrumpirt  sind.  Wir  haben  sie  aus 
dem  Scholion  wieder  hergestellt  Das  Scholion  lautet:  „Welche  Ordnung 
der  Saitencomplexe,  deren  es  ja  mehrere  giebt,  ist  hier  gemeint?  Diejenige,  in 
welcher  der  Anzahl  nach  die  veränderlichen  und  die  unveränderlichen  Töne 
bei  der  Verschiedenheit  der  Geschlechter  gleich  sind.  Das  ist  der  Fall  in  einem 
Tetrachorde  wie  von  der  Mese  zur  Hypate.  Denn  auf  diesem  Tetrachorde 
sind  die  beiden  Töne  bei  der  Verschiedenheit  der  Tongeschlechter  unveränder- 
lich, die  beiden  eingeschlossenen  veränderlich.  Im  Vorwort  näher  auseinander 
gesetzt 

***)  Durch  den  Zusatz  der  Namen  .,meson",  „hypaton",  „diezeugmenon", 
„hyperbolaion",  „synemmenon"  vgl.  S.  237.  238. 

Die  Bewegungsräume  der  Lichanos  und  Parhypate. 

§  51.  Dass  nun  die  Erhöhungen  und  Vertiefungen  der  beiden 
beweglichen  Töne  der  Grund  für  den  Unterschied  der  Tongeschlech- 
ter sind,  ist  klar.  Zu  erörtern  aber  haben  wir  die  Grösse  (den 
Umfang)  des  Raumes,*)  innerhalb  dessen  ein  jeder  der  beiden  Töne 
(Lichanos  und  Parhypate)  sich  bewegt. 

*)  Raum  oder  Umfang  der  Bewegung  in  derselben  Bedeutung  wie  Bewe- 
gungsraum der  Stimme  S.  219  ff. 

§  52.  Der  ganze  Bewegungsraum  der  Lichanos  beträgt  einen 
Ganzton,  denn  sie  kann  sich  von  der  Mese  nicht  weniger  als  einen 
Ganzton  und  nicht  mehr  als  einen  Ditonos  (ein  Intervall  von  zwei 
Ganztönen)  entfernen. 

a  Mese  a 

g  .  .  .  höchste  (diatonische)  Lichanos  g 
f  .  .  .  tiefste  (harmonische)  Lichanos  f 
e  Hypate  e 

Von  diesem  Satze  wird  das  „nicht  weniger"  von  denen,  welche 
bereits  mit  dem  diatonischen  Geschlechte  vertraut  sind,  zugestan- 
den ;  diejenigen,  welche  es  nicht  sind,  dürften  zustimmen,  wenn  man 


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248 


AristoxenuB  erste  Harmonik  §  52.  53.  54. 


sie  darauf  hinfuhrt.  Mit  dem  „nicht  mehr"  sind  die  einen  einver- 
standen, die  anderen  nicht,  —  weshalb  nicht,  soll  gleich  gesagt 
werden.  Dass  es  nämlich  eine  Compositionsweise  (Melopoiie)  giebt, 
welcher  eine  mit  der  Mese  einen  Ditonos  bildende  Lichanos  uner- 
lässlich  ist  [vergl.  die  Anmerkung*)  auf  S.  249],  ist  den  meisten 
von  denen,  welche  sich  heut  zu  Tage  mit  Musik  beschäftigen, 
nicht  bekannt,  doch  dürfte  es  ihnen  bekannt  werden,  wenn 
man  sie  darauf  hinführte;  denjenigen  aber  ist  es  hinlänglich 
klar,  welche  mit  den  alten  Compositionsweisen  der  ersten  und  zwei- 
ten Musikperiode  vertraut  sind.  Denn  die  bloss  an  die  heutige 
Compositionsweise  gewohnten  schliessen  natürlich  die  mit  der  Mese 
einen  Ditonos  bildende  Lichanos  aus  und  (es  sind  dies  die  meisten 
unserer  modernen  Musiker)  wenden  statt  deren  stets  höhere  Lichanoi 
an.  Der  Grund  davon  ist,  dass  sie  eine  Vorliebe  für  das  Weich- 
liche [Süs8liche]  haben;  verweilen  sie  doch  die  längste  Zeit  im 
Chroma  und  wenn  sie  einmal  in  die  Harmonik  hineingerathen ,  so 
nähern  sie  dieselbe  dem  Chroma  an,  wohin  sie  nun  einmal  durch 
ihren  Charakter  gezogen  werden.    So  viel  genüge  hierüber. 

§  53.  Der  Bewegungsraum  der  Lichanos  sei  mithin  das  Ganz- 
ton-Intervall. Derjenige  der  Parhypate  aber  betrage  eine  kleinste 
enharmonische  Diesis  (vgl.  §  48).  Denn  sie  nähert  sich  der  Hypate 
nicht  um  mehr  als  eine  Diesis  (e  e),  und  entfernt  sich  nicht  weiter 
von  ihr  als  einen  Halbton  (e  f). 

a   Mese 

Raum  der  /  g  .  .  .  höchste  (diaton.)  Lichanos  .... 
Lichanos  [  j  tiefste  (harm  )  Lichanos  | 

Raum  der  (  .  '  '  '  \  Wehste  (diaton.)  Parhypate) 
Parhypate  \  e  .  .  .  tiefste  (härm.)  Parhypate  .... 
e  Hypate 

Die  Grenze  des  der  Parlrypate  eigenen  Bewegungsraumes  geht 
nämlich  nicht  über  die  Grenze  des  der  Lichanos  eigenen  Bewegungs- 
raumes hinaus  und  ebensowenig  umgekehrt,  vielmehr  stösst  die 
Grenze  beider  zusammen  (im  Tone  f):  wenn  nämlich  die  höchste 
Tonstufe  der  Parhypate  mit  der  tiefsten  Tonstufe  der  Lichanos  zu- 
sammenfällt, so  ist  damit  die  Grenze  der  beiderseitigen  Bewegungs- 
räume gegeben. 


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IX.  Die  Unterschiede  der  Tongeschlechter. 


249 


*)  Die  Coinpositionsweise ,  welche  hier  Aristoxenus  beschreibt,  „der  ein 
Ditonos-Intervall  (eine  unzusammengesetzte  grosse  Terze  f  g)  unerlässlich  sei", 
ist  das  gewöhnliche  enharmonische  Tongeschlcebt.  Die  meisten  der  damaligen 
Musiker,  so  erfahren  wir  hier,  wenden  dies  Tongeschlecht  nicht  mehr  an,  viel- 
mehr gebrauchen  sie  statt  des  f  einen  höheren  Ton:  statt  des  enharmouischen 
Tongeschlechtes  lieben  sie  das  süsslichc  Chroma.  Wer  mit  den  alten  Com- 
poeitionsweisen  der  ersten  und  der  zweiten  Musikperiode  (vor-Pisistrateische  Zeit 
und  Zeit  der  Perser-Kriege)  vertraut  ist,  dem  ist  auch  das  enharmonische  Ton- 
geschlecht geläufig.  Eben  dasselbe  theilt  eine  aus  Aristoxenus  vermischten 
Tischgesprächen  gezogene  Stelle  bei  Plutarch  de  mus.  37.  38  mit,  eine  Stelle, 
welche  wichtig  genug  ist,  um  hier  herbeigezogen  zu  werden:  „Meine  Vorgän- 
ger haben  weder  das  chromatische,  noch  das  diatonische,  sondern  bloss  das 
'.enharmonische  Geschlecht  und  auch  von  diesem  kein  grösseres  Tonsystem  als 
„bloss  die  Oktave  berücksichtigt:  ...  die  jetzt  lebenden  aber  haben  das 
..schönste  der  Tongeschlechter,  dem  die  Alten  seiner  Ehrwtirdigkeit  wegen  den 
♦.meisten  Eifer  widmeten,  ganz  und  gar  hintangesesetzt.  so  dass  bei  der 
„grossen  Mehrzahl  nicht  einmal  das  Vermögen,  die  enharmouischen  Intervalle 
'»wahrzunehmen,  vorhanden  ist :  sie  sind  in  ihrer  trügen  Leichtfertigkeit  so  weit 
„herabgekommen,  dass  sie  die  Ansicht  aufstellen,  die  enharmonische  Diesis 
„mache  überhaupt  nicht  den  Eindruck  eines  den  Sinnen  wahrnehmbaren  Inter- 
„valles,  und  dass  sie  dieselbe  aus  den  Melodien  aussch Hessen:  diejenigen,  so 
„sagen  sie,  hätten  thöricht  gehandelt,  welche  darüber  eine  Theorie  aufgestellt 
„und  dies  Tongeschlccht  in  der  Praxis  verwandt  hätten.  Als  sichersten  Beweis 
„für  die  Wahrheit  ihrer  Aussage  glauben  sie  vor  Allem  ihre  eigene  Unfähig- 
keit vorzubringen,  ein  solches  Intervall  wahrzunehmen.  Ab  ob  Alles,  was 
„ihrem  Gehöre  entginge,  durchaus  nicht  vorhanden  und  nicht  praktisch  ver- 
wendbar sei!  Sodann  machen  sie  auch  die  Thatsache  geltend,  dass  jene  In- 
„tervallgrösse  nicht  durch  eine  Symphonie  bestimmt  werden  kann,  wie  dies 
„doch  bei  dem  Halbtone,  dem  Ganztone  und  den  übrigen  Intervallen  der  Fall 
sei."  (Vgl  zweite  Harm.  §  62).  „Sie  denken  aber  nicht  daran,  dass  dann 
„auch  die  dritte,  fünfte  und  siebente  Intervallgrösse  (von  3,  5,  7  enharraoui- 
„schen  Diesen)  ausgeschlossen,  und  dass  dann  überhaupt  jedes  ungerade  Inter- 
vall als  unbrauchbar  verworfen  werden  müsste,  da  ja  keines  von  ihnen  sich 
„durch  Symphonien  bestimmen  lässt.  Demgemäss  wäre  keine  andere  Tetra- 
„chord-Eintheilung  brauchbar  als  eine  solche,  in  welcher  nur  gerade  Intervalle 
„vorkommen,  also  nur  das  Syntonon  diatonon  und  das  Chroma  toniaion." 

Die  Tongeschlechter  im  Einzelnen  und  die  Chroai. 

§  54.  So  viel  sei  nun  über  die  Bewegungsräume  der  Lichanos 
und  der  Parhypate  festgestellt.  Nunmehr  aber  sind  die  Tonge- 
schlechter im  Einzelnen  und  ihre  Unterarten  (die  Chroai)  zu  er- 
örtern. 


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250 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  54— 55b. 


Auf  welche  Weise  untersucht  werden  muss,  ob  die  Quarte  mit 
einem  der  kleineren  Intervalle  gemessen  wird,  oder  ob  sie  allen  com- 
mensurabel  oder  incommensurabel  ist,  wird  bei  der  Bestimmung 
der  Töne  durch  symphonische  Intervalle  gesagt  (zweite  Harm.  XI). 
Da  jenes  aber  der  Augenschein  ergiebt,  (dass  sie  aus  zwei  Ganztö- 
nen und  einem  Halbtone  besteht),  so  möge  zunächst  dieser  Umfang 
für  die  Quarte  fest  gehalten  werden. 

Pyknon  heisse  die  Zusammensetzung  zweier  Intervalle,  die  zu- 
sammen ein  kleineres  Intervall  bilden  als  dasjenige  ist,  welches 
nach  dessen  Wegnahme  von  der  Quarte  übrig  bleibt 

(Es  muss  also  das  Pyknon,  da  die  Quarte  2j  Ganztöne  umfasst, 
kleiner  sein  als  5  enharmonische  Diesen,  d.  i.  als  1}  Ganzton.) 

§  55a.  Man  nehme  nun  aufwärts  vom  tiefsten  der  unbeweg- 
lichen Töne  (zunächst)  das  kleinste  Pyknon.  Dies  wird  das  aus 
2  enharmonischen  Diesen  bestehende  sein. 

Sodann  als  zweites  Pyknon  das  aus  2  kleinsten  chromati- 
schen Diesen  bestehende. 

Sc  ho  Hon:  Es  werden  die  beiden  Lichanoi,  welche  man  hiermit  genom- 
men hat,  die  tiefsten  Lichanoi  zweier  Geschlechter  sein,  die  eine  des  Enbar- 
monions,  die  andere  des  Chroma.  Ueberhaupt  werden  die  tiefsten  Lichanoi 
die  enharmonischen  sein,  die  weniger  tiefen  die  chromatischen,  die  höchsten 
die  diatonischen. 

Dann  als  drittes  Pyknon  das  anderthalbfache  des  Halbtones, 
d.  i.  das  aus  3  enharmonischen  Diesen  bestehende. 

Als  viertes  Pyknon  das  aus  einem  Ganztone  bestehende. 

Als  fünftes  das  aus  einem  Halbtone  und  dem  anderthalbfachen 
desselben,  (d.  i.  aus  5  enharmonischen  Diesen)  bestehende  System*) 

Als  sechstes  System  das  aus  dem  Halbtone  und  Ganztone 
bestehende. 

*)  Dies  ist  kein  Pyknon  mehr,  sondern  ein  System,  welches  im  Gegen- 
satze zum  Pyknon  „araion"  genannt  wird  vgl.  Aristid.  p.  14,  20  M. 

§  55b.  Die  das  erste  und  das  zweite  Pyknon  begrenzenden 
Lichanoi  werden  enharmonische  Lichanos  und  tiefste  chroma- 
tische Lichanos  genannt,  von  den  Tongeschlechtern  aber,  welche 
durch  sie  gebildet  werden,  heisst  das  eine  Enharmonion,  das 
andere  Chroma  malakon. 


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IX.  Die  Unterschiede  der  Tongeschlechter. 


251 


Die  das  dritte  Pyknon  begrenzende  Lichanos  ist  die  mitt- 
lere chromatische;  das  durch  sie  gebildete  Chroma  heisst 
Chroma  hemiolion. 

Die  das  vierte  Pyknon  begrenzende  Lichanos  ist  die  höchste 
chromatische;  das  durch  sie  gebildete  Chroma  heisst  Chroma 
toniaion. 

Die  das  fünfte  System*)  begrenzende  Lichanos  ist  die  tiefste 
diatonische;  (das  durch  sie  gebildete  diatonische  Geschlecht  heisst 
Diatonon  malakon.) 

*)  Scholion:  „Welches  [nach  der  betreffenden  Angabe  in  §54a]  grösser 
schon  als  ein  Pyknon  war,  denn  die  zwei  tiefereu  Intervalle  waren  dem  einen 
höheren  Intervalle  gleich." 

Die  das  sechste  System  begrenzende  Lichanos  ist  die 
höchste  diatonische;  das  durch  sie  gebildete  Diatonon  heisst 
Diatonon  toniaion. 

Dem  Aristoxenus  zu  folgen  erleichtern  wir  uns  dadurch  sehr,  dass  wir 
den  von  ihm  angegebenen  Tönen  und  Intervallen  einen  kurzen  adaequaten  Aus- 
druck geben,  wobei  uns  freilich  ein  wenig  Elementar- Arithmetik  nicht  erlassen 
werden  kann,  wenn  auch  Aristoxenus  bei  seinen  Tonbcstimmungen  keine  arith- 
metische, sondern  stets  nur  eine  geometrische  Auffassung  (Intervalle  als  Räume 
gefasst  8.  219.  220)  zu  Grunde  legt.  Der  Ganzton  ist  nach  ihm  das  Doppelte 
des  Halbtons,  einen  Satz,  den  er  bis  zur  äussersten  Consequenz  festhält  (vgl. 
zweite  Harmonik  §  62  ff.).  In  unserer  modernen  Musik  ist  das  nun  keineswegs 
immer  der  Fall:  es  ist  nicht  der  Fall  in  unserer  Musik  der  Streich-  und 
Blasinstrumente,  wohl  aber  in  unserer  Ciavier-  und  Orgelmusik  (in  der  Musik 
mit  sog.  gleichschwebend  temperirter  Stimmung  der  Töne).  Wir  thun  in  dem 
Folgenden  nichts  anderes,  als  die  geometrische  Anschauung  des  Aristoxenus 
in  die  arithmetisch-akustische  zu  übertragen,  d.  i.  das  Geometrische  arithme- 
tisch auszudrücken. 

Die  arithmetisch  -  akustische  Anschauung  des  Pythagoras  und  seiner  äl- 
testen Nachfolger  ist  ihm,  als  einem  früheren  Schüler  der  Pythagoreer  ebenso 
wenig  wie  dem  Plato  und  Aristoteles  unbekannt.  Für  die  musische  Kunst  aber 
hält  er  sie  für  nicht  nothwendig,  wie  denn  auch  die  Akustik  mit  dem  speeifisch- 
künstlerischen  Elemente  der  Musik  streng  genommen  nichts  zu  thun  hat:  die 
Akustik  bildet  die  materielle  Grundlage,  auf  welcher  die  musische  Kunst  sich 
erhebt,  aber  den  künstlerischen  Schöpfungen  selber  steht  die  Akustik  fern. 
Höchstens  zieht  Aristoxenus,  so  weit  wir  überblicken  können,  die  Pythagoreischen 
Zahlenverhältnisse  zu  Parallelen  zwischen  Rhythmik  und  Harmonik  herbei. 
Oben  S.  68.  69. 


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252 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  55. 


So  weiss  er  denn  auch,  dass  das  Oktaven-Intervall  dem  Verhältnisse  1 : 2 
entspricht,  d.  h.,  dass  zwei  gleich  dicke  und  gleich  gespannte  Saiten  die  sich  in 
ihrer  Länge  wie  1  :  2  verhalten,  in  der  Oktave  stimmen,  oder  dass  bei  ungleicher 
Spannung  die  Schwingungszahlen  zweier  Saiten,  die  in  der  Oktave  stimmen,  in 
dem  Verhältniss  1  :  2  stehen,  wobei  denn  die  Zahl  1  dem  tieferen  Tone,  die  Zahl 
2  dem  höheren  Tone  entspricht.  Nach  Pythagoras  verhalten  sich  nun  ferner 
die  in  der  Oktave  liegenden  Ganztöne  zu  einander  wie  8:9,  d.  h. 

c:d  =  d:c-f:g.    g  :  a  =  a  :  h  =  8  :  9, 

für  den  Halbton  der  diatonischen  Scala  fand  er  durch  Proportionsrechnung  die 
Verhältnisszahl  243  :  256,  d.  h. 

e  :  f  =  h  :  c  =  243  :  256. 

Dieselben  Verhältnisse  für  die  Ganztöne  und  Halbtöne  der  diatonischen 
Oktave  sind  auch  dem  Plato  bekannt,  der  sie  seinen  Constructionen  im  Timaeus 
zu  Grunde  legt. 

Das  Verhältniss  des  Ganztones  (S :  9)  wird  Pythagoras  eben  so  wie  das 
der  Quinte  (2  :  3)  und  der  Quarte  durch  Experimente  mit  Saiten  von  ungleicher 
Länge  gefunden  haben:  unmöglich  das  des  Halbtones  (243:256).  Es  ist  uns 
zwar  nichts  hierüber  überliefert,  nichts  destoweuiger  lässt  sich  mit  Bestimmt- 
heit behaupten:  Jenes  Verhältniss  ist  ein  durch  Proportion  ausgerechnetes. 
Pythagoras  wird  darin  Recht  haben,  dass  ihm  ein  Ganzton -Intervall  genau  so 
klang  wie  das  andere,  auch  darin,  dass  ihm  alle  Halbton-Intervalle  dem  Klange 
nach  gleich  waren.  Gleich  grosse  Ganztöne  und  gleich  grosse  Halb- 
töne: das  ist  die  Akustik  des  Pythagoras.  Ich  mache  die  Konjektur,  dass 
die  Stimmung  des  Pythagoras  mit  dem  Ganzton- Verhältnisse  S :  9  keine  andere 
war  als  die  gleichschwebend  temperirte,  weil  er  ein  Halbton -Verhältniss 
243:256,  auch  wenn  es  bestanden  hätte,  doch  nicht  die  Mittel  hatte,  durch 
Experimente  zu  finden. 

Der  Ganzton  und  Halbtou  des  Aristoxenus. 

Auf  diesem  Standpunkte  der  Akustik  ist  nun  auch  die  Theorie  des  Melos 
bei  Aristoxenus  aufgebaut,  auch  er  vertritt  die  Akustik  der  gleich  schwebenden 
Temperatur.  Auf  seiner  diatonischen  Scala  ist  ein  Ganzton  dem  anderen,  ein 
Halbton  dem  anderen  gleich.  So  weit  stimmt  er  mit  Pythagoras  überein.  Aber 
er  fügt  im  Unterschiede  von  Pythagoras  hinzu:  der  Ganzton  ist  genau 
das  Doppelte  des  Halbtons.  Nach  Aristoxenus  bestehen  also  für  die 
diatonische  Scala  die  Gleichungen: 

c:d  =  d:e  =  f:g=»g:a  =  a:h, 

ferner 

c  :  eis  =  eis  :  d  .  .  .  =  f :  ges  =  ges  :  g 

und 

c  :  eis  =  c  :  d 
2 


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IX.  Die  Unterschiede  der  Tongeschlechter. 


253 


Wegen  dieser  seiner  gleichschwebenden  Temperatur  hat  sich  Aristoxenus 
im  Alterthumc  aufs  heftigste  und  erbittertste  angreifen  lassen  müssen:  Aristo- 
xenus verstehe  nichts  von  Akustik  u.  s.  w.  In  der  neueren  Zeit  hat  der  Ari- 
stoxenischen  Stimmung  kein  geringerer  zu  ihrem  Rechte  verholfen  als  der  grosse 
Joh.  Seb.  Bach,  der  dem  im  Sinne  des  Aristoxenus  gestimmten  Claviere,  „dem 
wohltemperirten  Claviere",  eine  Reihe  von  Kompositionen  gewidmet  hat,  wie 
man  sie  in  solcher  Vollendung  bis  dahin  noch  nicht  kannte  und  wie  sie  auch 
späterhin  nicht  übertroffen  werden  konnten.  Genug:  mag  die  durch  Aristoxenus 
vertretene  Stimmung  akustisch  begründet  sein  oder  nicht,  Thatsache  ist,  dass 
Aristoxenus'  Stimmung  auf  demselben  Standpunkte  steht,  auf  welchem  sich  seit 
Bachs  Zeiten  die  Musik  des  Clavierspieles  und  des  Orgelspieles  erhebt,  die  Musik 
unserer  modernen  Tasteninstrumente.  Dem  klassischen  Gricchenthume  war 
dieser  Zweig  der  Musik  fremd,  aber  Aristoxenus  hat  sich,  hier  die  Zukunft 
praeoccupirend,  nun  einmal  auf  die  Stufe  unserer  gleich  schwebenden  Temperatur 
gestellt.  Er  kennt  keine  andere  als  diese:  ihr  zu  Liebe  behauptet  er  die 
Identität  aller  solcher  Töne,  welche  auf  unserem  Claviere  und  unserer  Orgel 
durch  das  Anschlagen  derselben  Taste  hervorgebracht  werden,  wovon  die 
zweite  Harmonik  §  02  ff.  den  augenfälligsten  Beweis  giebt. 

Die  gleich  schwebende  Temperatur,  welche  in  Aristoxenus  ihren  frühesten 
Vertreter  hat,  hat  von  den  akustischen  Zahlen  Verhältnissen  des  alten  Pytha- 
goras  nur  das  der  Oktave  beibehalten,  der  zu  Liebe  ausnahmslos  alle  anderen  In- 
tervalle temperirt,  d.  h.  den  natürlichen  Forderungen  der  Akustik  gegenüber  geän- 
dert werden  mussten.  Da  die  absolute  Reinheit  der  Oktaven  die  Grundbedingung 
ist,  welche  das  gleichzeitige  Zusammenwirken  der  verschiedeneu  Instrumente 
ermöglicht,  so  könnten  alle  übrigen  Intervalle  ihre  natürliche  Reinheit  nicht 
beibehalten:  nicht  die  Quinte,  nicht  die  Quarte,  nicht  die  Terze,  nicht  der  Ganz- 
ton, nicht  der  Halbton,  wie  dies  die  Theorie  der  Akustik  nachweist.  Aber  für  die 
Oktave  gilt  bei  gleich  schwebender  Temperatur  in  allen  Fällen  die  Gleichung 

c  :  c  =  1  :  2. 

Daraus  ergeben  sich  die  ferneren  Gleichungen 

c  :  d  =  d  :  1 
c  =  ds 

d  =  )  c7 

Die  absolute  Gültigkeit  dieser  Ton-Gleichungen  müssen  wir  für  das  gc- 
sammte  Melos  des  Aristoxenus  in  Anspruch  nehmen.  Unter  ihrer  Anwendung 
bestimmen  wir  zunächst  die  innerhalb  eines  Oktavcn-Intervalles  vorkommenden 
zwölf  Halbtöne,  indem  wir  den  tiefsten  Ton,  welchen  die  Scalen  und  die  Sy- 
steme und  die  Systeme  des  Aristoxenus  zu  Grunde  legen,  nämlich  die  Hypate 
meson,  als  Einheit  (  =  1)  ansetzen. 


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254 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  55. 


(?.)"  (•.*.)"  fiO"  (;,!'  (;,)'  W  W 


W  (;.)'  W  (?,)"  (?,)"  W" 


Die  enharmouischen  Diesen  (Vierteltöne)  des  Aristoxcnus. 

Soweit  ist  die  Tonalität  des  Aristoxenischen  Melos  genau  dieselbe,  wie 
die  unserer  wohltcmperirten  Ciavier-  und  Orgelmusik.  Weiterhin  aber  entfernt 
sie  sich  ganz  und  gar  von  der  modernen  Musik.  Nach  Aristoxenus'  vielfach 
wiederkehrendem  Berichte  kann  nämlich  kein  Zweifel  sein,  dass  die  griechische 
Musik  ausser  diatonischen  Ganz-  und  Halbton-Intervallen  auch  noch  eine  Art 
des  Melos  in  Gebrauch  hatte,  in  welcher  innerhalb  des  Ganzton-lntervalles  ein 
zwischen  den  beiden  Grenztönen  desselben  genau  in  der  Mitte  liegender  Klang 
die  charakteristische  Eigentümlichkeit  bildete.  Uns  Modernen  steht  eine  solche 
Musik  so  fremd,  dass  wir  uns  mit  dem  besten  Willen  nicht  in  dieselbe  hinein- 
denken können.  Aber  im  klassischen  Griechenthume  bildete  sie  die  dritte  Art 
des  musikalischen  Melos,  genannt  Harmonie  oder  enharmonisehes  Melos.  Nicht 
der  Verfallzeit  des  Hellenismus  gehört  dasselbe  an,  sondern  gerade  der  eigent- 
lichen Blüthezeit  der  klassischen  Kunst.  Die  erste  und  die  zweite  der  von 
Aristoxenus  angenommenen  Musik-Perioden  war  mit  dem  uns  so  fremden  Tone 
wohlbekannt  (d.  i.  die  Solonische  und  die  Vor-Solonische  Zeit  und  die  Zeit  der 
Perserkriege).  Zu  Aristoxenus  Zeit  war  das  enharmonische  Melos  schon  im 
Verschwinden  begriffen:  viele  der  damaligen  Musiker  erklärten,  dass  man  den 
ihm  eigenen  Ton,  die  enharmonische  Diesis,  nicht  praktisch  verwenden,  ja  nicht 
einmal  empfinden  könne.  Aristoxenus,  wie  er  überall  der  Anhänger  des  Alten 
ist,  hat  auch  die  enharmonische  Diesis  unter  seine  besondere  Protektion  ge- 
nommen, er  macht  sie  geradezu  zur  Grundlage  seiner  indischen  Theorie  und 
weist  ihr  dieselbe  Stelle  im  Melos  an,  wie  dem  Chronos  protos  in  der  Rhyth- 
mik. Die  enharmische  Diesis  wird  von  ihm  zur  melischen  Maasseinheit  aller 
Intervalle  erhoben.   Sie  sei  genau  die  Hälfte  des  Halbton-IntcrvaUes  d.  h. 


e  :  e 


o*:f 


Mit  einem  darüber  gesetzten  Astcriskos  haben  wir  das  um  {-Ton  erhöhte 
e  bezeichnet,  welches  zwischen  dem  nicht  erhöhten  e  und  dem  Tone  f  gerade 
in  der  Mitte  liegt.    Der  enharmonische  Klang  wird,  wie  Aristoxenus  mehrfach 


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IX.  Die  Unterschiede  der  Tongeschlechter. 


255 


erklärt,  nicht  etwa  so  angewandt,  daes  man  solche  Intervalle  mehrmals  con- 
thrairlich  hintereinander  anwendet.  Das  sei  unmöglich.  Man  vermöge  nicht 
mehr  als  nur  zwei  derselben  continuirlich  auf  einander  folgen  zu  lassen.  Das 
schliesst  natürlich  theoretische  Scalen  wie 


nicht  aus,  welche  nach  Aristoxenus'  Berichte  von  seinen  Vorgängern  mehrfach 
aufgestellt  waren.  Es  ist  für  die  theoretische  Erkenntniss  nothwendig, 
eine  solche  Scala  continuirlicber  Vierteltöne  unter  Angabe  des  einem  jeden 
zukommenden  akustischen  Zahlenausdruckes  aufzustellen.  Der  Umfang  eines 
Tetrachordes  wird  genügen.  Wir  verfahren  dabei  genau  in  der  Weise,  wie 
wir  oben  die  kontinuirliche  Folge  von  Halbtönen  bestimmt  haben. 


i. 


1  =  (v'J 


("',)'    fi'J    (yJ  ('tf  W 


Um  auch  denjenigen,  welche  die  Beschäftigung  mit  Elementar-Mathematik 
hinter  sich  liegen  haben,  das  Verfolgen  unserer  Auseinandersetzung  leicht  zu 
ermöglichen,  haben  wir  aus  der  vorigen  Scala  der  continuirlichen  Halbtöne 
die  entsprechenden  Klänge  mit  ihrem  dort  gefundenen  Zahlenausdrucke  wieder- 
holt.  Wer  da  weiss,  dass 


fr.  v  - 


IS 


ist,  der  weiss  auch,  dass  zwischen 


das  arithmetische  Mittel  die  Zahl 


(t  • !' 


ist,  dass  mithin  diese  letztere  Zahl  der  genaue  Ausdruck  für  den  Ton  ?  ist, 
welcher  nach  Aristoxenus  zwischen  f  und  fis  die  mittlere  Klanggrösse  ist. 

Also  wenn  Aristoxenus  „ein,  zwei,  drei,  vier,  fünf,  sechs,  sieben,  acht, 
neun,  zehn  enharmonische  Diesen"  als  melische  Raumgrössen  zählt  (so  viel, 


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256 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  55. 


nämlich  zehn  enhannonische  Diesen,  beträgt' nach  ihm  der  Gesammtumfang  der 
Quinte  c  a) ,  so  lasst  sieh  dies  als  eine  Reihe  nach  den  fortlaufenden  Exponen- 
ten 0  bis  10  der  Wurzel  y  aus  der  geometrischen  Anschauungsweise  des  Ari- 

stoxenus  in  die  arithmetisch-akustische  Anschauung  übersetzen.  Die  so  und  so 
vielte  enhannonische  Diesis  ist  der  so  und  so  vielte  Exponent  der  Wurzel 

V,~ 


Die  irrationalen  Intervallgrössen  des  Chromas. 

Derartige  unserer  modernen  Musik  fremde  Klänge  wie  die  durch  enhar- 
monischen Diesen  gebildeten  gab  es  nun  in  der  Musik  der  Griechen  nach  Ari- 
stoxenus  noch  andere.  Sie  sind  es,  die  in  den  von  ihm  sogenannten  Chroai 
der  verschiedenen  Tongeschlechter  oder  Tetrachordtheilungen  ihre  Stelle  haben 
und  deren  charakteristisches  Element  ausmachen.  Aristoxenus  führt  wie 
alle  Intervallgrössen  so  auch  die  diesen  Chroai  angehörigen  auf  die  Ein- 
heit der  enharmonischen  Diesis  (des  Vierteltones)  zurück,  er  kann  aber  ihren 
Grössenwerth  (um  diesen  handelt  es  sichj  nicht  anders  als  durch  Bruchtheile 
der  enharmonischen  Diesis  ausdrücken. 

Es  bedarf  keiner  weiteren  Deduktion  um  fasslich  zu  machen,  dass,  wenn 
wir  die  enharmonischen  Diesen  durch  Exponenten  der  Wurzel  —  j  aus- 
drücken, und  zwar  durch  Exponenten  in  ganzen  Zahlen,  dass  wir  dann  die  den 
Chroai  eigenen  irrationalen  Intervalle  durch  gebrochene  Exponenten  der  Wurzel 

|^/-  |  auszudrücken  haben.  Um  die  irrationalen  Xotenwerthe  in  unserer  Noten- 
schrift auszudrücken,  fugen  wir  über  unseren  Noten  als  diakritische  Zeiten 
dem  Arteriskus  noch  den  Punkt  und  das  Komma  hinzu. 


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IX.  Die  Unterschiede  der  Tongeschlechter. 


257 


(  hroma  hcmiolion. 


*. 


* 


I 

s 


10 


lj  Dies. 


H  Dies. 


7  Dies. 


Auch  hier  kann  man  wie  vorher  an  der  Exponentenzahl  den  jedesmaligen 
Betrag  der  enharmonischen  Diesen  ablesen.  Uebrigens  scheinen  sich  diese 
irrationalen  chromatischen  Intervalle  eines  viel  längeren  Bestehens  als  das 
rationale  Intervall  der  Enharmonik  erfreut  zu  haben.  Zur  Zeit  des  Aristo- 
xenus  wenigstens,  wo  die  Anwendung  des  letzteren  von  den  meisten  bekämpft 
wurde,  war  die  Anwendung  der  irrationalen  chromatischen  Intervallo  eine  Über- 
aua beliebte.   (Plut.  mus.  37—39). 

H.  Bellermann  Mensuralnoten  des  15.  und  16.  Jahrh.  S.  5:  „Die 
Hinzusetzung  eines  Punktes  auf  die  rechte  Seite  einer  Note  verlängert  dieselbe 
wie  bei  uns  um  die  Hiilfte  ihres  Werthes.  Dieser  Punkt  heisst  Punctum 
additionis".  Analog  haben  wir  das  Punctum  additionis  von  der  rhythmischen 
Verlängerung  (um  die  Hälfte  des  Werthes)  auf  die  melische  Erhöhung  der 
Note  übertragen.  Und  in  fernerer  Analogie  ein  Comma  additionis  (Er- 
höhung der  Note  um  ein  Drittel)  eingeführt 

Für  die  griech.  Scalen  bezeichnet  unsere  unmodificirte  Note  den  ge- 
raden rationalen  Ton;  die  Modifikation  durch  den  einfachen  Acteriscus  * 
bezeichnet  den  ungeraden  rationalen  Ton;  die  Modifikation  durch  Punk- 
tum oder  Comma  additionis  bezeichnet  den  irrationalen  Ton.  Den  Nach- 
weis der  Rationalität  und  Irrationalität  giebt  zweite  Harm.  Abschn.  XI,  1. 


§  55  c.  Die  tiefste  chromatische  Lichanos  nun  ist  um  den 
sechsten  Theil  des  Tones  höher  als  die  enharinonische ,  da  die 
tiefste  chromatische  Dicsis  um  den  zwölften  Theil  des  Tones 
grösser  als  die  enharmonische  Diesis  ist*).  Dergleichen  Intervall- 
grössen  sind  amelodeta;  denn  amelodeta  nennen  wir,  was  nicht  für 
sich,  (sondern  nur  mit  einer  anderen  Intervallgrösse  zu  einem 
einheitlichen  Intervalle  verbunden)  im  Systeme  eine  Stelle  haben 
kann. 

*)  Hierzu  ein  Scholion,  welches  die  Rechnung,  dass  das  Hektemorion 

die  betreffende  Differenz  sei,  ausführt.  In  demselben  kommt  auch  der  Ausdruck 

Tritemorion  und  Tetartemorion  (Drittel-Ton,  Viertel-Ton)  vor. 
Ariitoienus,  Melik  u.  Rhythmik.  17 


Die  0>  Lichanoi. 


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258  Aristoxenus  erste  Harmonik  §  55.  56. 

Die  tiefste  diatonische  Lichanos  ist  höher  als  die  tiefste  chro- 
matische Lichanos  um  einen  Halbton  und  den  zwölften  Theil*) 
des  Ganztones. 

•)  Auch  hierzu  ein  die  Rechnung  ausführendes  Scholion. 

Die  höchste  diatonische  Lichanos  ist  höher  als  die  tiefste  dia- 
tonische Lichanos  um  eine  (enharmonische)  Diesis. 

§  55  d.  Hieraus  erhellen  nun  die  Bewegungsräume  einer  jeden 
Lichanos. 

Jede  Lichanos  nämlich,  welche  tiefer  ist  als  die  (tiefste)  chro- 
matische, ist  enharmonisch. 

Jede  Lichanos,  welche  tiefer  als  die  tiefste  diatonische,  ist  bis 
incl.  zur  tiefsten  chromatischen  eine  chromatische. 

Jede  Lichanos,  welche  tiefer  ist  als  die  höchste  diatonische, 
.  ist  bis  incl.  zur  tiefsten  diatonischen  eine  diatonische. 

Man  muss  nämlich  wissen,  dass  die  Zahl  der  Lichanoi  eine  un- 
begrenzte ist.  Denn  tiberall,  wo  man  in  dem  der  Lichanos  ange- 
wiesenen Bewegungsraume  die  Stimme  stehen*)  lässt,  da  wird  eine 
Lichanos  sein ;  nichts  in  dem  Lichanos-Raume  (totco;  XtxavoeiS^c)  ist 
leerund  nichts  der  Art,  dass  daselbst  keine  Lichanos  genommen  werden 
könnte.  Somit  ist  die  Differenz  der  Ansichten  keine  geringe.  Die 
L'ebrigen  unterscheiden  sich  von  einander  bloss  in  Betreff  des  Inter- 
valles,  wie  z.  B.  ob  die  Lichanos  eine  ditonos  oder  eine  höhere  ist, 
als  ob  es  nur  eine  einzige  enharmonische  Lichanos  gäbe.  (Zweite 
Harm.  §  52 d).  Wir  dagegen  unsererseits  sagen  nicht  bloss,  dass 
es  in  jedem  Tongeschlechte  mehr  als  Eine  Lichanos  giebt,  sondern 
fugen  auch  noch  hinzu,  dass  ihre  Zahl  unbegrenzt  ist 

*)  Vgl.  oben  §  26.  27. 

Die  4  Parhypatai. 

§  56.  Dies  sei  nun  über  die  Lichanoi  festgestellt.  Für  die 
Parhypatai  aber  giebt  es  zwei  Bewegungsräume  weniger.  Der 
eine  ist  dem  Diatonon  toniaion  und  malakon  und  dem  Chroma  to- 
niaion  gemeinsam,  (—  denn  beide  Tongeschlechter  haben  ein  und 
dieselbe  Parhypate),  der  zweite*)  ist  dem  Chroma  hemiolion,  der 


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IX.  Die  Unterschiede  der  Tongeschlechter.  259 

dritte  dem  Chroma  malakon,  der  vierte  dem  Enharmonion  eigen- 
tümlich. 

Jede  Parhypate,  welche  tiefer  ist  als  die  tiefste  chromatische, 
ist  eine  enharmonische. 

Jede  andere  Parhypate  bis  zu  der  angegebenen  (enharmonischen) 
ist  eine  chromatische  oder  diatonische. 

*)  S.  den  kritischen  Apparat. 

Uebersichtstafel  der  4  Parhypatai  und  6  Lichanoi. 

Enharmonlon: 

Hyp.    Parh.     Lieh.  Mese. 


_<>  'V- 


8 


Chroma  malakon: 

Hyp.       Parh.  Lieh. 


2  2 


(?.r  w  &.r  &r 


(vi  W"  (?.)*'  60" 

>  'V.  'v  ' 

1J  Ii  7* 

Chroma  hemlolion: 

Hyp.  Parh.  Lieh. 


(vi  fe!"  fejr  fe 


\10 


Chroma  tonialon: 

Hyp.  Parh.  Lieh. 


fer  &.r  w  (?.)" 


17' 


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260  Aristoxenus  erste  Harmonik  §  57. 

Diatonon  malakon: 

Mese. 


Diatonon  tonialon: 

Hyp.  Parh.  Lieb.  Mese. 


2 


Die  beiden  unteren  Tetracbord-Intervalle. 

§  57.  Von  den  (drei)  Intervallen  des  Tetrachordes  ist  das 
(tiefste)  von  der  Hypate  bis  zur  Parhypate  entweder  ebenso  gross 
wie  das  (mittlere)  von  der  Parhypate  bis  zur  Lichanos,  oder  es  ist 
kleiner,  (aber  niemals  ist  es  grösser). 

Dass  die  beiden  unteren  Intervalle  gleich  sind,  ersieht  man  an 
der  enharmonischen  Tetrachordtheilung: 

!v J  frj  (vj  60" 

und  an  den  chromatischen 

 *>_  >>_   -  ^ 

 *_  m  


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IX.  Die  Unterschiede  der  Tongeschlechter.  261 


fr,)'  fr,)'  W  fr.) 


10 


Dass  das  tiefste  Intervall  kleiner  ist  als  das  mittlere,  ist  aus 
den  diatonischen  Tetrachordeintheilungen  ersichtlich: 


— — • — 

— p  

z=fe= 

fu  \°   ^4  V   /*«  \5   f'a*  ^ 

M  Iv'J  \vj  Iv, 


[vj  fe)'  W  fe) 


10 


Es  kann  das  aber  auch  aus  den  chromatischen  Tetrachordein- 
theilungen erkannt  werden,  wenn  man  nämlich  die  Parhypate  des 
Chroma  malakon  (oder  hemiolion)  und  die  Lichanos  des  Chroma 
toniaion  nimmt: 


t<    1  i4 


(tf  te)11  (yJ  (v.) 


10 


Denn  auch  solche  Tetrachordtheilungen  zeigen  sich  als  emmelisch. 

Das  Umgekehrte,  (dass  nämlich  das  tiefste  Intervall  grösser  als 
das  mittlere  ist)  wird  dagegen  ekmelisch  sein,  wenn  z.  B.  Jemand 
als  Parhypate  die  hemitonische,  als  Lichanos  die  des  Chroma  mala- 
kon nimmt: 

h  »  


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262  Aristoxenus  erste  Harmonik  §  58—60. 

oder  als  Parhypate  die  des  Chroma  hemiolion,  als  Lichanos  die  des 
Chroma  malakon: 

^  »*       »  ^ 

Denn  derartige  Theilungen  zeigen  sich  als  harmonisch  unbrauchbar. 

In  §  57  und  ebenso  §  58  der  ersten  Harmonik  sind  grosse  Lücken  der 
Ueberlieferung,  die  sich,  wie  hier  geschehen,  dem  Sinne  nach  aus  der  zweiten 
Harmonik  genau  restituiren  lassen. 

Die  beiden  oberen  Tetrachord-Intervalle. 

§  58.  Das  (mittlere)  Intervall  yon  der  Parhypate  zur  Lichanos 
ist  entweder  ebenso  gross  wie  das  (höhere)  von  der  Lichanos  zur 
Mese,  (nämlich  im  Diatonon  syntonon): 

(vj  60*  (vS  (v,r 

oder  es  ist  von  ihm  auf  beiderlei  Weise  verschieden,  (entweder  kleiner 
als  das  höchste,  (vgl.  oben  S.  259)  oder  grösser).  [Scholion:  die 
Ursache  davon  ist,  dass  die  Parhypatai  beiden  Geschlechtern  ge- 
meinsam sind],  denn  es  entsteht  ein  emmelisches  Tetrachord  auch 
aus  einer  chromatischen  Parhypate  (welche  tiefer  als  die  hemito- 
nische  ist)  und  aus  der  höchsten  diatonischen  Lichanos: 


Der  Bewegungsraum  der  Parhypate  sowohl  seiner  Eintheilung 
wie  seiner  Einordnung  nach  ergiebt  sich  aus  dem  Vorstehenden. 


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X. 

Ueber  die  Intervallen-Folge  auf  der  Soala  im  Allgemeinen. 

Vgl.  Prooimion  §  18. 

§  59.  Die  unmittelbare  Aufeinanderfolge  der  Intervalle  genau 
zu  definiren  ist  im  Anfange  gar  nicht  leicht,  doch  muss  man  ver- 
suchen, sie  im  Umrisse  anzugeben. 

Das  Wesen  derselben  in  der  Musik  scheint  etwas  Aehnliches 
zu  sein,  wie  in  der  Sprache  die  Aneinanderreihung  der  Laute  (zu 
Sylben  und  Wörtern).  Denn  auch  beim  Sprechen  setzt  die  Stimme 
nach  natürlicher  Nothwendigkeit  für  jede  Sylbe  irgend  einen  der 
Buchstaben  als  ersten,  als  zweiten,  als  dritten,  als  vierten  und  ebenso 
an  die  übrigen  Stellen,  jedoch  nicht  jeden  Buchstaben  hinter  jeden, 
sondern  es  besteht  ein  bestimmtes  natürliches  Anwachsen  der  Zu- 
sammensetzung. 

Auf  ähnliche  Weise  scheint  die  Stimme  auch  bei  der  Hervor- 
bringung des  Melos  die  Intervalle  und  Töne  bezüglich  der  Reihen- 
folge zu  setzen,  indem  sie  eine  in  der  Natur  liegende  Zusammen- 
setzung einhält,  ohne  nach  jedem  Intervalle  ein  gleich  grosses  oder 
ungleiches  zu  setzen*).  Dies  muss  sich  auf  die  uns  nicht  mehr  vor- 
liegenden Methoden  der  Harmoniker  beziehen. 

§  60.  Doch  haben  wir  der  Aufeinanderfolge  nicht  wie  die 
Harmoniker  nachzuforschen,  die  es  in  ihren  Notentabellen  durch 
Katapyknosis  versuchen,  wo  sie  zeigen,  dass  diejenigen  Töne  der 
Reihe  nach  auf  einander  folgen,  welche  ein  kleinstes  Intervall  d.  i. 
eine  enharmonische  Diesis  aus  einander  liegen.  Denn  es  ist  eine 
Eigenthümlichkeit  der  (emmelischen)  Stimme  nicht  allein,  dass 
sie  nicht  im  Stande,  28  Diesen  hinter  einander  hervorzubringen, 
sondern  sie  kann,  so  viel  sie  es  auch  probiren  mag,  der  ersten 


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264 


Aristoxenus  erste  Harmonik  §  60.  61. 


und  zweiten  Diesis  nicht  einmal  die  dritte  hinzufügen*).  Viel- 
mehr besteht  das  kleinste  Intervall,  welches  sie  nach  der  Höhe  zu 
folgen  lassen  kann  in  der  Differenz  der  Quarte  und  des  vorher  ge- 
nommenen Pyknon  (denn  alle  kleineren  Intervalle  liegen  hier  ausser 
dem  Bereiche  der  Möglichkeit);  jene  Differenz  aber  ist  entweder  das 
8  fache  der  enharmonischen  Diesis  oder  es  ist  noch  um  etwas  sehr 
Geringes,  nämlich  um  ein  Amelodeton  (öder  aber  um  eine  ganze 
Diesis)  kleiner**).  Abwärts  aber  von  den  zwei  Diesen  kann  die 
Stimme  kein  kleineres  Intervall  als  den  Ganzton  nach  den  Gesetzen 
des  Melos  folgen  lassen. 

*)  „Tfc  öiivaoöat  .  .  .  i%ffi  jAcXcu&eiaftai  t^c  'ycovfj;  doriv"  .  .  .  ferner: 
„rdvca  notoüaa  oi)r  ofat£  lvn  rpooTiö^at"  und  „im.  6;v  IXdyirrov  neXoooet  tö 
XotTtöv  xoy  8td  -rcaadctuv,  xd  5'iXd— u>  ndv-o  £?a5'jNOTEi",  das  Alles  scheint  trotz 
des  im  §  59  gebrauchten  „yjoixip  xiva  ojvÖeotv  oiacp'jXdTWjoa"  nicht  von  der 
physikalischen  Möglichkeit  der  Singstimme  gesagt  zu  seiu,  sondern  von  der 
künstlerischen  Möglichkeit  einer  jeden  emmelischen  (Vokal-  oder  Instrumental-) 
Stimme:  Es  ist  unmöglich  nach  den  natürlichen  Gesetzen  des  Melos  oder  Her- 
mosmenon."  Vgl.  die  dort  gebrauchten  Ausdrücke  [xeXoj&staÖat,  fieXcu&et  und 
weiterhin  §  61:  zpö;  rfj;  peXtuola;  «pioiv  und  jatj  ovvaxöv  i^'j-zipm  jxeXooSf^at 
cpftÖTff ov.  Es  ist  eine  Notwendigkeit  nicht  nach  physischen,  vielmehr  metaphy- 
sischen Gesetzen,  eine  Notwendigkeit  nach  der  Logik  der  Tonscala  mit  ihren 
nicht  weniger  zwingenden  Kunstgesetzen,  deren  Konstruktion  Aristoxenus  im 
Abschnitt  XII  zu  geben  versucht.   Aehnlich  in  Problem  5  S.  268. 

••)  „Nämlich  um  ein  Amelodeton  kleiner  als  das  8  fache  der  enharmoni- 
schen Diesis".  Es  kann  nur  das  Intervall  von  7J  Diesen  gemeint  sein,  vgl.  die 
Tafel  auf  S.259.  Marq.  280:  „in  welchem  Falle  allerdings  das  übrig  bleibende 
Intervall  etwas  kleiner  als  das  8 fache  einer  enharmonischen  Diesis  ist,  und 
zwar  um  ein  in  der  Melodie  nicht  selbststnndig  vorkommendes  Theilchen ,  um 
den  Sechstel-Ton.  Sollte  diese  Erklärung  richtig  sein,  so  wäre  freilich  der 
Ausdruck  nicht  gerade  sehr  zu  loben."  Eigentlich  ist  die  Hinweisung  auf  das 
Intervall  von  7  J  Diesen  hier  nicht  am  Orte,  denn  dieses  gehört  der  Chromatik. 
nicht  der  Enharmonik  an.  Aber  wir  kennen  die  Lehren  der  alten  Harmoniker 
nicht,  gegen  welche  Aristoxenus  sich  wendet,  wir  wissen  nicht,  wie  sie  sich 
bezüglich  der  von  Aristoxenus  statuirten  „Uebergänge  der  Harmonik  in  die 
Chromatik"  verhalten  haben  mögen.  Neben  dem  Intervall  von  7J  Diesen  wird 
aber  A.  auch  des  von  7  Diesen  gedacht  haben  „oder  aber  um  eine  ganze  Diesis", 
wie  wir  dem  Texte  hinzugefügt  haben. 

§  61.  Also  nicht  darnach  hat  man  seinen  Gesichtspunkt  zu 
nehmen,  ob  die  Zusammensetzung  aus  gleichen  oder  ob  sie  aus  un- 
gleichen Intervallen  bestehe,  sondern  auf  die  Natur  des  Melos  zu 


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X.  Ueber  die  Intervallenfolge  auf  der  Scala  im  Allgemeinen.  265 

achten  und  eifrig  zu  erforschen  suchen,  welches  Intervall  und  nach 
welchem  es  die  Stimme  im  Melos  verwendet  Denn  wenn  es  nicht 
möglich  ist,  nach  der  Parhypate  und  der  Lichanos  einen  näheren 
Ton  als  den  der  Mese  anzugeben,  so  möchte  dieser  letztere  wohl 
derjenige  sein,  welcher  in  der  Reihenfolge  der  Lichanos  am  nächsten 
steht,  einerlei  ob  derselbe  ein  Intervall  abgrenzt,  welches  doppelt 
so  gross  ist  als  das  Intervall  zwischen  Parhypate  und  Lichanos  oder 
noch  grösser. 

Auf  welche  Weise  nun  die  Aufeinanderfolge  aufzufassen  ist,  ist 
aus  dem  Vorhergehenden  klar.  Wie  sie  aber  vor  sich  geht  und 
welches  Intervall  zu  einem  anderen  hinzugesetzt  wird  oder  nicht 
gesetzt  wird,  das  wird  gezeigt  werden  in  den  Stoicheia. 


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ZWEITER  HAUPTTHEIL. 

HARMONISCHE  STOICHEIA. 

XL 

Die  einfachen  und  «usammengesetzten  Intervalle. 

Vgl.  Prooimion  §  14. 

Dieser  Abschnitt  der  ersten  Harmonik  fehlt  in  den  Handschriften.  In  der 
zweiten  Harmonik  wenigstens  theilweise  erhalten.  Eben  daselbst  werden  wir 
eine  Restitution  aus  dem  Verbliebenen  versuchen. 

p 

XIL 

Die  emmeliflche  Zusammensetzung  der  einfachen  Intervalle. 

Vgl.  Prooimion  §  15. 

Von  Abschn.  XII,  welcher  für  die  zweite  Harmonik  nahezu  vollständig 
überliefert  ist,  besitzen  wir  für  die  erste  Harmonik  nur  wenige  zusammenhangs- 
lose Excerpte.  Dieser  Theil  der  Stoicheia  (Abschn.  XH)  war  es,  auf  welchen 
Aristoxenus  in  §  61  der  ersten  Harmonik  verwiesen  hatte.  Erhalten  sind  bloss 
einige  der  28  Problemata:  die  zu  jedem  Problem  gehörenden  Beweise  sind 
sämmtlich  ausgelassen  —  wohl  ein  bewusstes  Verkürzen  dessen,  welcher 
den  Stammcodex  der  auf  uns  gekommenen  Handschriften  angefertigt  hat  Aus 
dem  vollständig  erhaltenen  Paralletabschnittc  der  zweiten  Harmonik  lässt  sich 
Alles,  was  in  der  ersten  Harmonik  bezüglich  der  28  Problemata  fehlt,  ergänzen. 


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XII.  Emmelische  Zusammensetzung  der  einfachen  Intervalle.    '  267 

1.  Problem: 

• 

„Angenommen  »ei:  wenn  ein  Pyknon  oder  ein  (ihm  analoges)  Apyknon 
„gesetzt  wird,  so  kann  als  unteres  Nachbar -Intervall  kein  kleineres  als  der 
„Ganzton  genommen  werden;  als  oberes  kein  kleineres  als  dasjenige  Intervall, 
„welches  übrig  bleibt,  wenn  man  den  Betrag  jenes  Pyknon  oder  Apyknon  von 
„der  Quarte  hinwegnimmt". 

Vgl.  §  07.  58. 

2.  Problem: 

„Angenommen  sei,  dass  von  den  unmittelbar  folgenden  Tönen  der  Scala 
„in  jedem  Tongeschlechte  entweder  jeder  vierte  Ton  mit  dem  vierten  in  der 
„Quarte  oder  aber  jeder  fünfte  Ton  mit  dem  fünften  in  der  Quinte  symphonire, 
„oder  aber  endlich,  dass  beides  zugleich  stattfinde,  dass  dagegen  derjenige  Ton, 
„bei  welchem  Nichts  von  diesen  beiden  stattfindet,  ekmelisch  sei,  er  selber 
„und  mit  ihm  zugleich  der  betreffende  Ton,  welcher  zu  ihm  nicht  in  der  ver- 
„langten  Symphonie  steht*'. 

Vgl.  unten  zweite  Harmonik  §  70. 

3.  Problem: 

„Angenommen  sei,  dass  von  den  vier  innerhalb  der  Quinte  vorkommenden 
„Intervallen,  nämlich  zwei  gleichen  Intervallen,  welche  für  gewöhnlich  das  Pyk- 
„non  bilden,  und  zwei  ungleichen  Intervallen,  welche  zusammen  der  Differenz 
„der  Quarte  und  desjenigen  Intervalle«  gleich  sind,  um  welches  die  Quinte  die 
„Quarte  überragt  —  dass  von  diesen  vier  innerhalb  der  Quinte  vorkommenden 
^Intervallen  die  gleichen  den  ungleichen  gegenüber  liegen,  sowohl  nach  der 
„Höhe  wie  nach  der  Tiefe  zu". 

Marq.  S.  281:  „Da  A.  von  zwei  gleichen  Intervallen  spricht,  welche  mei- 
stens das  Pyknon  bilden,  so  hat  er  an  das  enharmonische  Geschlecht  oder  an 
das  Chroma  gedacht,  da  sonst  der  Ausdruck  Pyknon  keine  Anwendung  findet. 
In  dem  enharmonischen  Geschlechte  also,  sagt  der  Satz,  soll  die  Aufeinander- 
folge diese  sein 

e      e      f       a  h 

v  <>  >\  ' 

*       i      2  1 
oder  mit  umgekehrter  Lage  der  Intervalle 

f       g      b      ti  c 
12** 


ä 

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2GS 


Aristoxenus  erste  Harmonik. 


oder  um  eine  Chroa  zu  wählen,  im  Chroma  toniaion 


e       f      fis      a  h 

■s  '\  >v  /\  l 


oder  mit  umgekehrter  Lage  der  Intervalle 

f       g      b       h  c 


1    14    i  i 


Das  eNarrtw;  gegenüber"  heisst  so  viel  wie  in  entgegengesetzter  Rich- 
tung, wenn  man  den  Grcnzpunkt  oder  Grenzklang  des  Pyknon  und  der  beiden 
anderen  Intervalle  zum  Ausgang  nimmt". 


4.  Problem: 

„Angenommen  sei ,  dass  auch  diejenigen  Töne,  welche  mit  den  folgenden 
„dieselbe  Symphonie  bilden,  auf  einander  folgen". 

Marq.  S.  282:  „Dieser  Satz  ist  sehr  kurz  ausgedrückt;  der  Sinn  kann  nur 
folgender  sein:  Wenn  ein  Klang  mit  einem  anderen  die  Symphonie  z.  B.  der 
Quinte  bildet,  und  ein  dem  ersten  folgender  mit  einem  anderen  ebenfalls  die 
Quinte,  so  soll  dieser  letzte  auf  jenen  zweiten  unmittelbar  folgen,  d.  h.  es  soll 
kein  anderer  Klang  zwischen  beiden  möglich  sein.  Die  Hypate  nieson  e  bil- 
det mit  der  Parame.se  h  eine  Quinte;  auf  die  Hypate  meson  folgt  im  diato- 
nischen Geschlechte  die  Parhypate  meson  f;  diese  bildet  mit  der  Trite  diezeug- 
menon  c  ebenfalls  eine  Quinte,  also  (das  will  der  Satz  sagen)  ist  dieser  Klang  c 
derjenige,  welcher  auf  die  Paramese  h  in  diesem  Gcsehlechte  unmittelbar  folgt. 
Meibom  scheint  mir  in  der  Erklärung  dieses  Satzes  insofern  geirrt  zu  baben,: 
als  er  die  zweite  Reihe  von  Klängen  sich  immer  unmittelbar  an  die  erste  an- 
schliessen  läset,  was  in  dem  Satze  nicht  liegt  und  der  Sache  nach  auch  nicht 
nothwendig  ist.  Auch  dieser  Satz  erscheint  uns  sehr  einfach.  Dass  Aristoxenus 
es  für  nöthig  hielt,  ihn  besonders  als  Grundsatz  aufzustellen,  hatte  seine  Ver- 
anlassung in  dem  Verfahren  der  Harmoniker,  welche  die  Aufeinanderfolge  der 
Klänge  in  lauter  kleinsten  Intervallen  ordneten.  Uebrigens  darf  man  diesen 
Satz  nicht  umkehren,  sonst  ergiebt  sich  ganz  Falsches." 

- 

5.  Problem: 

„Angenommen  sei,  dass  in  jedem  Tongeschlechte  dasjenige  Intervall  ein 
„einfaches  sei,  welches  die  melodische  Stimme  nicht  weiter  in  Intervalle  zer- 
legen kann". 

Vgl.  zweite  Harmonik  §  74. 


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XII.  Emmelisclie  Zusammensetzung  der  einfachen  Intervalle.  269 


6.  Problem: 

„Angenommen  sei,  dass  auch  von  den  symphonischen  Intervallen  ein  jedes 
„nicht  in  lauter  unzusammengesetzte  Megethe  zerlegt  wird". 

Marq.  283:  Auch  dieser  Satz  ist  wohl  aus  der  Polemik  gegen  die  Har- 
moniker hervorgegangen. 

7.  Definition: 

„Agoge  sei  die  durch  benachbarte  Töne  durchschreitende  Bewegung  der 
..Stimme:  und  zwar  rundläufige  Agoge  (repi<pep-fj; d-for/r,)  diejenige,  welche 
..nach  beiden  Seiten  hin  (von  unten  nach  oben  und  wieder  zurück  von  oben 
„nach  unten)  durch  tinzusammengesetzte  Intervalle  hindurch  sich  bewegt;  — 
..geradläufige  Agoge  (tOdeia  iyw(it),  welche  von  unten  nach  oben;  rück- 
läufige Agoge  ( dvaxäji.  rrouoet),  welche  umgekehrt  von  oben  nach  unten 
„sich  bewegt4'. 

Marq.  S.  139 :  „Hier  hört  jede  Möglichkeit  einer  Emendation  auf,  da  auf 
keine  Weise  wegen  der  Unklarheit  sowohl  des  Inhaltes  als  des  beabsichtigten 
Ausdruckes  etwas  Befriedigendes  herzustellen  ist."   Eben  so  auch  S.  283. 

Gleichwohl  macht  Marq.  den  Versuch  einer  Ergänzung  aus  Pseudo-Euklid 
22,7,  wo  die  Worte  „Kai  dfojy?)  uiv  dariv  Ixt  oid  täv  e£f,;  ^6^ms  .  .  . 
Meines  Erachtens  ist  das  vollständig  richtig.  Was  Aristoxenus  weiter  an  dieser 
Stelle  geschrieben,  haben  wir  dem  Sinne  nach  in  der  deutschen  Uebersetzung 
wiedergegeben.  Nach  Marq.  soll  dieser  Abschn.,  welcher  die  Agoge  behandelt, 
zur  „Melopoeie,  also  in  den  praktischen  Theil  der  Musik"  gehören.  In  dem  Paral- 
lel-Abschn.  der  zweiten  Harmonik  finden  wir  freilich  die  Agoge  nicht  aufge- 
führt. Aber  mit  dem  Thema  unseres  Abschnittes  XH  „Emmelische  Zusammen- 
setzung der  einfachen  Intervalle"  steht  die  Agoge  in  genauestem  Zusammen- 
hange, denn  die  Agoge  ist  ja  eben  das  Angeben  derjenigen  Töne,  welche  ein 
aus  einfachen  Intervallen  zusammengesetztes  System  bilden.  Dem  thut  keinen 
Eintrag,  das«  die  Agoge  bei  Pseudo-Euklid  (vermuthlich  auch  in  der  dritten 
Harmonik  des  Aristoxenus)  im  Abschnitte  von  der  Melopoeie  vorkommt. 

Die  Worte:  "E;a>lhv  t&v  dpyüiv  . . .  iwv  habe  ich  schon  in  der  griechischen 
Harmonik  1863  S.  42  für  ein  in  den  Text  hineingerathenes  Marginale  erklären 
müssen,  welches  besage,  dass  diese  Partie  „ausserhalb  der  Archai"  stehe. 
Dazu  bemerkt  Marq.  S.  139:  Diese  Vermuthung  sei  nicht  sehr  wahrscheinlich, 
„da  das  wirkliche  Werk  des  Aristoxenus  oder  das  erste  Buch  desselben  schwer- 
lich hier  abschloss,  der  Titel  des  zweiten  also  kaum  mit  diesen  Worten  ver- 
mischt werden  konnte." 

Diese  Entgegnung  ist  mir  nicht  recht  verständlich.  Zwar  ist  meine  Auf- 
fassung der  Aristoxenischen  Schrift  vielfach  eine  andere  als  im  Jahre  1863 
bei  der  Abfassung  der  Harmonik.  Aber  wie  damals  halte  ich  auch  jetzt  die  in 


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270 


Aristoxenus  erste  Harmonik. 


Rede  stehenden  Worte  für  ein  in  den  Text  gedrungenes  Marginale.  Es  be- 
zieht sich  auf  die  beiden  Haupttheile,  aus  denen  sowohl  die  erste  wie  die 
zweite  Harmonik  des  Aristoxenus  besteht,  auf  die  „tä  iv  ipxü"  UQd  die 
„oroiycta".  Jenes  Marginale:  „ausserhalb  der  Eingangs- Abschnitte"  würde 
vollständig  parallel  stehen  dem  Marginale,  welches  sich  am  Anfange  der  zwei- 
ten Harmonik  findet  und  in  unseren  Handschriften  sich  als  Margi- 
nale erhalten  hat,  während  das  Marginale  zu  Ende  der  ersten  Harmonik  vom 
Rande  in  den  Text  eingedrungen  ist.  Dem  Einwände  Marquards  ist  zu  erwi- 
dern, dass  die  Worte:  „"EEtuftcv  -rürv  dpydiv  .  .  .  wv"  zum  Abschnitte  XII 
gehören,  und  dass  zufolge  der  eigenen  Auflassung  des  Aristoxenus  (S.  185  ff.) 
die  Abschnitte  „xd  ls  dpy$"  mit  §  61  enden.  Was  „ausserhalb  der  Eingangs- 
abschnitte" steht,  gehörtbereits  den  „Stoicheia"  au. 


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« 


ARISTOXENUS  THEORIE  DES  MELOS. 

ZWEITE  HARMONIK. 


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Vorbemerkung. 


Nach  Maassgabe  der  aus  diesem  Werke  vollständig  oder  theilweise  er- 
haltenen Abschnitte  VI,  VH,  VIII,  IX,  X,  welche  sämmtlich  Doppelgänger 
der  entsprechenden  Abschnitte  der  ersten  Harmonik  sind,  müssen  wir  anneh- 
men, dass  diese  zweite  in  einer  späteren  Zeit  gehaltene  („in  einem  späteren 
Semester  wiederholte")  Vorlesung  über  den  harmonischen  Theil  der  Wis- 
senschaft vom  Melos  auch  dasProoimion  und  die  Abschnitte  I— V  mit  der 
ersten  Harmonik  dem  sachlichen  Inhalte  nach  im  wesentlichen  gemein  hatte 
und  nur  in  dem  Ausdrucke  differirte.  Als  Aristoxenus  die  Vorlesung  zum 
zweiten  Male  hielt,  hat  er  dieselbe  Disposition  des  Gegenstandes  wie  das  erste 
Mal  genau  beibehalten,  aber  den  Ausdruck  der  Darstellung  vollständig  neu 
gestaltet,  wie  das  ein  seine  Disciplin  durchaus  beherrschender  Docent  auch 
wohl  heut  zu  Tage  noch  zu  thun  pflegt.  So  vernichtete  (wie  er  zu  erzählen 
pflegte)  auch  Moriz  Haupt  seine  alten  Vorlcsungshefte ,  wenn  er  dieselbe 
Vorlesung  von  neuem  hielt. 

Dass  Aristoxenus  aus  der  ersten  Harmonik  auch  die  General -Abtheilung: 
„Eingangs- Abschnitte"  und  „Stoichcia"  für  die  zweite  Harmonik  beibehalten 
hat,  erhellt  aus  dem  Marginale  zu  §  45  und  aus  seinen  eigenen  Worten  im  An- 
fange des  §  66. 


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ERSTER  HAUPTTHEIL. 

EINGANGS-ABSCHNITTE. 

*  * 
* 

VI. 

Die  drei  Arten  des  musikalischen  Melos. 

§  45.  Es  giebt  drei  Arten  von  Melodumena:  das  Diatonon, 
das  Chroma  und  das  Enharmonikon.  Die  Unterschiede  derselben 
werden  später  besprochen  werden  (Abschn.  IX).  Dieses  aber  möge 
hier  als  »Satz  aufgestellt  werden :    Jedes  Melos  ist 

entweder  1.  ein  diatonisches, 

oder  2.  ein  chromatisches, 

oder  3.  ein  enharmonisches, 

oder  4.  ein  aus  diesen  Arten  gemischtes, 

oder  endlich  5.  ein  ihnen  gemeinsames. 

Der  Satz  fangt  ohne  Anachluss  an  etwas  Vorhergehendes  an.  Die  Ueber- 
gangspartikel  u.  b.  w.  scheinen,  als  das  Vorausgehende  verloren  war,  von  einem 
nachbessernden  Librarius  getilgt  zu  sein. 

VII. 

Die  symphonischen  Intervalle. 

§  46.  Die  zweite*)  Eintheilung  der  Intervalle  ist  die,  dass  die 
einen  symphonische,  die  anderen  diaphonische  sind.  Von  den  mehr- 
fachen Unterschieden,  welche  wiederum  unter  den  symphonischen 
stattfinden,  werde  hier  einer,  welcher  der  bekannteste  ist,  zuerst 
bebandelt,  nämlich  der  Unterschied  der  Grösse. 

Artttoiennt,  Melik  u.  Rhythmik.  lg 


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274  Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  46—50. 

Es  sind  nun  acht  verschiedene  Grössen  der  symphonischen 
Intervalle  anzunehmen. 

Das  kleinste  ist  die  Quarte.  Dass  sie  die  kleinste  ist,  hat  in 
der  Natur  des  Melos  seinen  Grund;  wir  fuhren  nämlich  viele  Inter- 
valle aus,  welche  kleiner  sind  afs  die  Quarte,  aber  sie  alle  sind 
diaphonische. 

Das  zweite  ist  die  Quinte;  welche  Intervallgrösse  auch  zwi- 
schen Quarte  und  Quinte  in  der  Mitte  liegt,  es  trifft  sich,  dass  eine 
jede  von  ihnen  diaphonisch  ist. 

Das  dritte  ist  die  aus  den  beiden  genannten  zusammengesetzte 
Oktave;  was  zwischen  diesen  in  der  Mitte  liegt,  nennen  wir  dia- 
phonisch. 

*)  „Die  zweite  Eintheilung".  Dies  ist  ein  ganz  entschiedener  Beweis, 
dass  eine  Partie  in  der  zweiten  Harmonik  vorausging,  in  welcher  ein  Ab- 
schn.  IV.  §  39  vorkam.  Scholion,  in  den  Text  gedrungen:  „Die  bekanntesten 
unter  den  Intervall-Unterschieden  scheinen  die  zwei  folgenden  zu  sein,  der  eine 
der  Unterschied  nach  der  Grösse,  der  andere  der  Unterschied  der  symphoni- 
schen und  diaphonischen  Intervalle.  Der  zuletzt  genannte  Unterschied  ist  aber 
in  dem  ersten  inbegriffen,  denn  jedes  symphonische  Intervall  unterscheidet  sich 
von  jedem  diaphonischen  durch  die  Grösse". 

§  47.  Das  sind  die  symphonischen  Intervalle,  welche  wir  von 
unseren  Vorgängern  überkommen  haben.  Die  übrigen  müssen  wir 
selbst  bestimmen. 

Zunächst  ist  folgender  Satz  aufzustellen:  Wird  ein  symphoni- 
sches Intervall,  welcher  Art  es  sei,  zur  Oktave  hinzugefügt,  so  ist 
das  aus  dieser  Combination  entstehende  Intervall  wiederum  ein 
symphonisches.  Von  den  beiden  ersten  symphonischen  Intervallen, 
der  Qarte  und  Quinte,  gilt  dieser  Satz  nicht.  Fügt  man  einem  jeden 
derselben  das  gleiche  Intervall  hinzu  (zur  Quarte  die  Quarte,  zur 
Quinte  die  Quinte),  so  bildet  die  Zusammensetzung  keine  Symphonie, 
ebensowenig  wenn  man  jedes  von  ihnen  zweimal  setzt  und  dann 
zur  Oktave  hinzugefügt,  vielmehr  wird  das  aus  den  genannten  Sym- 
phonieen  entstandene  Intervall  stets  ein  diaphonisches  sein. 

§  48  


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VIII.  Der  Gauzton  und  seine  Theile.  275 

vm. 

Der  Ganzton  und  seine  Theile. 

§  49.  Ganzton  ist  dasjenige  Intervall,  um  welches  die  Quinte 
grösser  ist  als  die  Quarte.  Die  Quarte  aber  umfasst  zwei  Ganztöne 
und  einen  halben. 

Von  den  Theilen  des  Ganztones  wird  melodisch  verwandt: 

1.  die  Hälfte  des  Ganztones,  genannt  Halbton; 

2.  der  dritte  Theil  des  Ganztones,  genannt  kleinste  chroma- 

tische Diesis; 

3.  der  vierte  Theil  des  Ganztones,  genannt  kleinste  enharmo- 

nische  Diesis. 

Ein  kleineres  Intervall  als  dieses  letztere  wird  melodisch  mcht 
verwandt. 

Wir  dürfen  hier  zuerst  nun  gerade  dies  nicht  unbemerkt  lassen, 
dass  viele  bereits  den  Irrthum  begangen  haben,  anzunehmen,  als 
ob  wir  den  Satz  aufstellten,  das  Ganzton-Intervall  werde  in  der 
Weise  gesungen,  dass  es  vermittels  der  Stimme  in  drei  oder  vier 
gleiche  Theile  getheilt  werde.  Sie  haben  sich  dies  deshalb  zu  Schul- 
den kommen  lassen,  weil  sie  nicht  einsehen,  dass  es  etwas  anderes 
ist,  den  dritten  oder  vierten  Theil  des  Ganztones  anzugeben  und 
das  Ganzton-Intervall  so  zu  singen,  dass  man  es  in  drei  (oder  vier) 
Theile  eintheilt.    (Das  erstere  ist  möglich,  das  letztere  nicht). 

Sodann  ist  unsere  Ansicht  kürzlich  dahin  auszusprechen,  dass 
es  kein  kleinstes  Intervall  giebt*)  (wohl  aber  ein  kleinstes,  in  dem 
man  melodisch  fortschreitet). 

*)  Wie  der  Satz  dasteht,  streitet  er  mit  „toütoj  £X<xttov  oifcev  neXaiotitai 
otd«rt]{jia".    Daher  meine  Ergänzung  der  Ueberlieferung. 

IX. 

Der  Unterschied  der  Tongeschleohter. 

§  50.  Die  Unterschiede  der  Tongeschlechter  werden  wahrge- 
nommen auf  einem  Tetrachorde  wie  demjenigen  von  der  Mese  bis 
zur  Hypate,  auf  welchem  die  beiden  Grenztöne  (Mese  und  Hypate) 

unveränderlich  sind,  während  die  beiden  mittleren  (Lichanos  und 

18" 


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276 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  51— 53  d. 


Parhypate)  veränderlich  sind,  entweder  zugleich  beide  oder  nur  einer 
von  beiden. 

Die  Bewegungsräume  der  Lichanos  und  Parhypate. 

§  51.  Da  sich  der  bewegliche  Ton  in  einem  Räume  bewegen 
muss,  so  dürfte  wohl  für  beide  bewegliche  Töne  ein  Bewegungs- 
raum anzunehmen  sein. 

§  52.  Die  höchste  Lichanos  ist  augenscheinlich  diejenige,  welche 
einen  Ganzton  von  der  Mese  entfernt  ist:  diese  bildet  nämlich  das 
diatonische  Geschlecht. 

Die  tiefste  Lichanos  ist  diejenige,  welche  ein  Intervall  von  zwei 
Ganztönen  (einen  Ditonos)  von  der  Mese  entfernt  ist:  dies  ist  näm- 
lich die  enharmonische  Lichanos. 

§  53  a.  Dass  der  Abstand  der  Parhypate  von  der  Mese  nicht 
kleiner  sein  kann  als  eine  enharmonische  Diesis,  ist  klar,  denn  von 
allen  Melodumena  ist  die  enharmonische  Diesis  das  kleinste  Inter- 
vall (§  49). 

Dass  aber  genanntes  Intervall  doppelt  80  gross  werden  kann  (als 
die  enharmonische  Diesis),  müssen  wir  nachweisen.  Sobald  nämlich 
die  Lichanos  in  ihrer  Vertiefung  und  die  Parhypate  in  ihrer  Er- 
höhung auf  dieselbe  Tonstufe  gekommen  sind,  dann  hat  der  Bewe- 
gungsraum einer  jeden  augenscheinlich  seine  Grenze  erhalten.  So- 
mit ergiebt  sich,  dass  der  Bewegungsraum  der  Parhypate  nicht 
grösser  als  die  kleinste  Diesis  ist. 

§  53  b.  (Hier  warf  nun  einer  der  Zuhörer  die  Frage  auf,)  wie 
es  komme,  dass  wenn  irgend  eines  der  unmittelbar  unter  der  Mese 
liegenden  Intervalle,  wie  gross  es  auch  sei,  gesetzt  werde,  dass  dann 
stets  der  tiefere  Ton  desselben  Lichanos  heisse?  Denn  warum  sollen 
—  so  meinte  er  —  die  Mese  und  die  Paramese,  die  Mese  und  Hy- 
pate,  kurz  zwei  sogenannte  unbewegliche  Töne  stets  ein  und  das- 
selbe Intervall  begrenzen,  zwischen  der  Mese  und  Lichanos  dagegen 
bald  ein  kleineres,  bald  ein  grösseres  Intervall  angenommen  werden  ? 
Besser  sei  es,  den  Namen  der  Töne  zu  ändern,  und  wenn  einmal 
der  den  Ditonos  abgrenzende  Ton  oder  irgend  ein  anderer  den  Na- 
men Lichanos  erhalten  habe,  die  übrigen  sogenannten  Lichanoi  nicht 
mehr  Lichanoi  zu  nennen.    Denn  Töne,  welche  verschiedene  Inter- 


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IX.  Der  Unterschied  der  Tongeschlechter.  277 


valle  begrenzten,  müssten  auch  dem  Namen  nach  verschiedene  Töne 
sein.  Und  ebenso  müssten  umgekehrt  die  verschiedenen  Intervall- 
grössen  mit  verschiedenen,  die  gleichen  Intervallgrössen  mit  gleichen 
Namen  bezeichnet  werden,  was  jetzt  ebenfalls  nicht  immer  geschehe, 
denn  der  Ton,,  welcher  das  über  der  Hypate  liegende  Halbton-In- 
tervall begrenzt,  werde  bald  Parhypate,  bald  (in  der  Enharmonik) 
Lichanos  genannt. 

§  53c.   Dem  entgen  wurde  folgendes  gesagt: 

Erstlich:  Die  Forderung,  dass  verschieden  benannte  Paare  von 
Tönen  auch  verschiedene  Intervallgrössen  einschliessen ,  heisst  eine 

gewaltige  Neuerung  unternehmen  

Denn  wir  sehen,  dass  die  Nete  und  Mese  von  der  Paranete  und 
Lichanos,  die  Paranete  und  Lichanos  von  der  Tiefe  und  Par- 
bypate,  und  diese  wieder  von  der  Paramese  und  Hypate  der  Gel- 
tung nach  verschieden  sind,  und  eben  dieser  verschiedenen  Geltung 
wegen  hat  jeder  dieser  Töne  seinen  eigenen  Namen,  aber  ihnen 
allen  liegt  als  Intervall  die  Quinte  zu  Grunde,  so  dass  es  nicht 
immer  möglich  ist,  dass  sich  mit  der  Verschiedenheit  der  Töne  auch 
eine  Verschiedenheit  der  Intervallgrössen  verbindet. 

§  53  d.  Dass  aber  auch  das  Umgekehrte  hiervon  nicht  statt- 
finden kann,  lässt  sich  aus  folgendem  ersehen. 

Zuerst  nämlich,  wenn  wir  für  jede  Vergrösserung  und  Verklei- 
nerung der  dem  Pyknon  angehörenden  Intervalle  eine  eigene  Be- 
nennung suchen  wollen,  so  würden  wir,  wie  leicht  zu  ersehen  ist, 
eine  unbegrenzte  Zahl  von  Namen  nöthig  haben,  denn  der  Bewe- 
gungsraum der  Lichanos  zerfällt  in  eine  unbegrenzte  Zahl  von  Ab- 
schnitten. 

Ferner  wenn  wir  versuchen,  das  Moment  des  Gleichen  und  Un- 
gleichen festzuhalten,  werden  wir  die  Auffassung  des  Aehnlichen 
und  Unähnlichen  verlieren,  dergestallt,  dass  wir  sogar  das  Wort 
Pyknon  nur  von  einem  einzigen  Intervalle  gebrauchen  dürfen  — 
ic  h  nenne  aber  Pyknon,  wenn  die  Stimme  die  Intervalle  des  Tetra- 
chordes  in  der  Weise  folgen  lässt,  dass  die  zwei  tieferen  einen  klei- 
neren Raum  als  das  dritte  einnehmen  (vgl.  §  54)  —  offenbar  auch 
nicht  das  Wort  Harmonie  und  Chroma,  denn  auch  diese  sind 
durch  einen  Bewegungsraum  abgegrenzt. 


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278 


AristoxenuB  zweite  Harmonik  §  58  e— 55. 


Dergleichen  aber  würde  dem  Eindrucke,  den  die  sinnliche 
Wahrnehmung  macht,  nicht  entsprechen.  Diesem  Eindrucke  näm- 
lich uns  hingebend,  sprechen  wir  von  Chroma  und  Enharnionion  mit 
Rücksicht  auf  die  Aehnlichkeit  von  Erscheinungen,  die  zu  irgend 
einer  einzigen  Gattung  gehören,  aber  nicht  mit  Rücksicht  auf  den 
Umfang  irgend  eines  einzigen  Intervalles.  Denn  in  der  Intervall- 
combination,  welche  wir  Pyknon  nennen,  zeigt  sich,  einerlei  von 
welcher  Ausdehnung  sie  sei,  diejenige  Affektion  der  Stimme,  welche 
wir  durch  Pyknon  bezeichnen:  der  Eindruck  des  Chroma  oder  einer 
enharmonischen  Diesis,  wenn  das  von  uns  als  enharmonisch  oder 
chromatisch  bezeichnete  Ethos  zum  Vorschein  kommt  Unserer 
sinnlichen  "Wahrnehmung  gemäss  kann  nämlich  jedes  Tongeschlecht 
die  ihm  eigenen  Töne  erhöhen  oder  vertiefen  (ohne  den  ihm  eigen- 
tümlichen Charakter  einzubüssen);  es  bedient  sich  nicht  Einer 
Theilung  der  Tetrachordes,  sondern  vieler,  sodass  es  klar  ist,  dass 
das  Tongeschlecht  trotz  der  Aenderung  seiner  Intervalle  dasselbe 
Tongeschlecht  bleibt  Denn  dadurch,  dass  die  Umfange  sich  ändern, 
wird  es  kein  anderes,  sondern  besteht  als  Tongeschlecht  fort;  wenn 
es  selber  aber  fortbesteht,  so  ist  es  natürlich,  dass  auch  seine  Töne 
dieselbe  Geltung  behalten. 

Daher  dürfte  man  in  Wahrheit  denjenigen  beistimmen,  welche 
in  der  Auffassung  der  Chroai  aus  einander  gehen.  Nicht  alle  näm- 
lich stimmen  das  Chroma  und  das  Enharmonion  nach  derselben 
Tetrachord-Theilung,  sodass  man  zweifeln  kann,  weshalb  man  den 
Namen  Lichanos  bei  dem  harmonischen  Geschlecht  gerade  von  der 
ditonischen  Lichanos  lieber  gebrauchen  wird  als  von  der  nur  ein 
klein  wenig  höher  gestimmten?  Denn  nach  beiderlei  Stimmungs- 
arten erscheint  es  der  Empfindung  als  Enharmonion,  beziehungsweise 
als  Chroma;  die  Grössen  der  Intervalle  sind  in  beiden  Fällen  nicht 
dieselben,  die  Gattung  der  Tetrachorde  aber  dieselbe.  Deshalb 
muss  man  nothwendig  auch  die  Grenztöne  der  Intervalle  auf  die- 
selbe Weise  benennen. 

Allgemein  gesagt:  so  lange  die  Namen  der  beiden  uinschliessen- 
den  Töne  dieselben  bleiben  und  der  höhere  Mese,  der  tiefere  Hypate 
heisst,  so  lange  werden  auch  die  Namen  der  eingeschlossenen  Töne 
dieselben  bleiben  und  der  höhere  von  ihnen  Lichanos,  der  tiefere 
Parhypate  genannt  werden,  denn  immer  fasst  die  Empfindung  die 


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IX.  Der  Unterschied  der  Tongeschlechter. 


279 


zwischen  Mese  und  Hypate  befindlichen  Töne  als  Lichanos  und 
Parhypate  auf. 

§  53e.  *  Das  Verlangen  aber,  die  gleichen  Intervalle  mit  den- 
selben Kamen  zu  bezeichnen  und  die  ungleichen  mit  anderen,  heisst 
gegen  die  augenscheinlichen  Thatsachen  ankämpfen.  Denn  das 
Intervall  zwischen  Hypate  und  Parhypate  ist  dem  zwischen  Par- 
hypate und  Lichanos  bald  gleich,  bald  ungleich: 

Vgl.  die  Tafel  auf  S.  259.  260. 

Dass  man  aber,  wenn  die  zwei  aufeinanderfolgenden  Intervalle 
gleich  sind,  nicht  jeden  mit  Tönen  desselben  Namens  umschliessen 
kann,  falls  nicht  der  mittlere  zwei  Namen  haben  soll,  ist  klar. 
Aber  auch  dann,  wenn  sie  ungleich  sind,  zeigt  sich  die  Verkehrtheit 
(des  Verlangens);  denn  es  ist  nicht  zulässig,  dass  während  der  eine 
der  Namen  bleibt,  der  andere  verändert  wird,  denn  die  Namen 
sind  mit  Beziehung  auf  einander  gegeben:  wie  nämlich  der  vierte 
von  der  Mese  (die  Mese  eingerechnet)  den  Namen  Hypate  mit  Be- 
ziehung auf  die  Mese  hat,  so  hat  auch  der  auf  die  Mese  folgende 
mit  Beziehung  auf  diese  den  Namen  Lichanos. 

Die  Tongeechlechter  im  Einzelnen  und  die  Chroai. 

§  54.  So  viel  mm  sei  auf  die  gemachten  Einwendungen  er- 
widert  

Pyknon  heisse  (die  Combination  der  zwei  tiefsten  Intervalle 
der  Tetrachordes)  so  lange,  als  auf  einem  Tetrachorde,  dessen  Grenz- 
töne eine  Quarten-Symphonie  bilden,  die  zwei  tiefsten  Intervalle 
mit  einander  combinirt  einen  Raum  einnehmen,  welcher  kleiner  ist 
als  das  eine  dritte  Intervall. 

Die  vornehmsten  Tetrachordeiuthcilungen. 

§  55.  Folgende  Theilungen  eines  Tetrachordes,  welche  nach 
bekannten  Intervall-Umfängen  getheilt  sind,  sind  die  vornehmsten 
und  bekanntesten. 


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280  Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  55.  56. 

a.  Eine  enharmonische 

Eine  der  Theilungen  ist  eine  enharmonische ;  es  ist  diejenige, 
bei  welcher  das  Pyknon  einen  Halbtou,  das  übrig  bleibende  Intervall 
einen  Ditonos  beträgt 

e      f  a. 

b.  Drei  chromatische. 

Drei  Theilungen  sind  chromatisch,  die  eine  dem  Chroma  mala- 
kon,  die  andere  dem  Chroma  hemiolion,  die  dritte  dem  Chroma 
toniaion  angehörig. 

Theilung  eines  Chroma  malakon  ist  diejenige,  in  welcher  das 
Pyknon  aus  zwei  kleinsten  chromatischen  Diesen  besteht,  das  übrig 
bleibende  Intervall  aber  nach  zwei  Maasseinheiten  gemessen  wird, 
nämlich  drei  Halbtönen  und  Einer  kleinsten  chromatischen  Diesis. 

e      f  a 

Das  Pyknon  desselben  ist  das  kleinste  unter  dem  chromatischen 
Pykna,  die  Lichanos  die  tiefste  des  chromatischen  Tongeschlechtes. 

Theilung  eines  Chroma  hemiolion  ist  diejenige,  in  welcher 
das  Pyknon  das  anderthalbfache  des  enharmonischen  und  jede  der 
Diesen  das  anderthalbfache  von  einer  jeden  enharmonischen  Diesis  ist, 
(das  übrig  bleibende  Intervall  des  Tetrachordes  aber  7  Diesen  beträgt.) 

* 

e      f  a 

Dass  aber  das  hemiolische  Pyknon  grösser  ist  als  das  Pyknon  des 
(Chroma)  malakon,  ist  leicht  einzusehen,  denn  jenes  bleibt  um 
eine  enharmonische  Diesis,  dieses  um  eine  (kleinste)  chromatische 
Diesis  hinter  dem  Ganztone  zurück. 

Theilung  des  Chroma  toniaion  ist  diejenige,  in  welcher  das 
Pyknon  aus  zwei  Halbtönen  besteht,  das  übrig  bleibende  Intervall 
des  Tetrachordes  ein  Trihemitonion  ausmacht. 

e      fis  a 

♦ 

Bis  zu  dieser  Theilung  bewegen  sich  beide  Töne,  für  die  weiteren 
bleibt  die  Parhypate  unveränderlich,  denn  sie  hat  ihren  Bewegungsraum 
bereits  zu  Ende  durchlaufen,  die  Lichanos  aber  bewegt  sich  noch  um 
eine  enharmonische  Diesis  weiter,  so  dass  das  Intervall  dem  zwischen 
Lichanos  und  Mese  gleich  wird  (jedes  enthält  5  kleinste  enharmo- 


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IX.  Der  Unterschied  der  Tongeschlechter. 


281 


nische  Diesen)  und  mithin  bei  dieser  Theilung  kein  Pyknon  mehr 
stattfinden  kann. 

c.  Zwei  diatonische. 

Zugleich  mit  dem  Aufhören  des  bei  den  Tetrachordeintheilungen 
bestehenden  Pyknon  tritt  auch  der  Beginn  des  diatonischen  Ge- 
schlechtes ein.  Es  giebt  zwei  Theilungen  desselben,  nämlich  das 
Diatonon  malakon  und  das  syntonon. 

Theilung  eines  Diatonon  malakon  ist  diejenige,  in  welcher 
das  Intervall  zwischen  Hypate  und  Parhypate  einen  Halbton,  das 
der  Parhypate  und  Lichanos  3  enharmonische  Diesen,  das  zwischen 
Lichanos  und  Mese  5  Diesen  umfasst 

• 

e      f      fis  a 

Theilung  eines  Diatonon  syntonon  ist  diejenige,  in  welcher 
das  Intervall  zwischen  Hypate  und  Parhypate  einen  Halbton,  jedes 
der  beiden  übrigen  einen  Ganzton  bildet: 

e      f      g  a 

Sechs  Lichanoi  und  vier  Parhypatai. 

§  56.  Lichanoi  giebt  es  also  sechs,  eine  enharmonische, 
drei  chromatische  mit  zwei  diatonische,  so  viele  Tetrachordtheiluugen 
es  giebt. 

Die  Parhypatai  sind  der  Zahl  nach  zwei  weniger  als  Lichanoi, 
denn  die  Parhypate  hemitoniaia  wenden  wir  sowohl  für  die  beiden 
diatonischen  Theilungen  wie  für  die  des  Chroma  toniaion  an.  Von 
den  vier  Parhypatai  ist  nun 

die  enharmonische  Parhypate  der  Enharmonik  eigentümlich, 

(die  zwei  tieferen  chromatischen  Parhypatai  sind  die  eine  dem 
Cliroma  malakon,  die  andere  dem  Chroma  hemiobon  eigenthümlich), 

die  vierte  und  höchste  Parhypate  ist  dem  Diatonon  und  Chroma 
(toniaion)  gemeinsam. 

Die  beiden  unteren  Tetrachord-Intervalle. 

§  57.  Von  den  Intervallen  des  Tetrachordes  ist- das  zwischen 
Hypate  und  Parhypate  entweder  gleich  gross  wie  das  zwischen 


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282 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  57.  58. 


Parhypate  und  Lichanos,  oder  es  ist  kleiner,  aber  niemals  ist  es 
grösser. 

Dass  es  gleich  ist,  ersieht  man  aus  der  enharmonischen 
Theiiung: 


=t=4  ^=<= 

-*  •  » — 


und  aus  den  chromatischen 


«7  •»  » 


—3.-- 

~-i — ; — • 

Dass  es  kleiner  ist,  ist  aus  den  diatonischen  ersichtlich, 


kann  aber  auch  aus  den  chromatischen  erkannt  werden,  wenn  man 
nämlich  die  Parhypate  des  Chroma  malakon  (oder  hemiolion)  und 
die  Lichanos  des  Chroma  toniaion  nimmt: 


SN 


denn  auch  derartige  Theilungeu  des  Pyknon  zeigen  sich  als  emmelisch. 
Das  umgekehrte  (dass  nämlich  die  tiefere  Intervallgrösse  grösser 

« 

ist  als  die  mittlere)  wird  dagegen  ekmelich  sein,  wenn  Jemand  als 


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IX.  Der  Unterschied  der  TongeBchlechter.  283 

Parhypate  die  hemitonische,  als  Lichanos  die  des  Chroma  malakon 
nehmen  wollte: 

oder  als  Parhypate  die  des  Chroma  hemiolion,  als  Lichanos  die  des 
Chroma  malakon: 

*.  » 

Denn  derartige  Theilungen  zeigen  sich  als  harmonisch  unbrauchbar. 

Die  beiden  oberen  Tetrachord-Intervalle. 

§  58.  Das  Intervall  zwischen  Parhypate  und  Lichanos  ist  dem 
zwischen  Lichanos  und  Mese  entweder  gleich  oder  in  beiderlei 
Beziehung  ungleich  (sowohl  kleiner  wie  grösser). 

Gleich  ist  es  demselben  in  Diatonon  syntonon 


Grösser  ist  es  in  allen  übrigen  (bisher  aufgeführten)  Theilungen. 

Kleiner  ist  es,  wenn  man  als  Lichanos  die  höchste  diatonische, 
als  Parhypate  eine  von  denjenigen  anwendet,  welche  tiefer  als  die 
hemitoniaia  ist: 

mit  enharmoniacher  Parhypate : 


mit  der  Parhypate  des  Chroma  malakon: 
mit  der  Parhypate  des  Chroma  hemiolion: 


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284 


Ariatoxenus  zweite  Harmonik  §  59—61. 


X. 

Ueber  die  emmelisohe  Intervallenfolge  auf  der  Scala 

im  Allgemeinen. 

§  59.  Hierauf  ist  von  der  Aufeinanderfolge  der  Intervalle  zu 
handeln,  indem  wir  zunächst  die  Art  und  Weise  andeuten,  in  wel- 
cher die  Aufeinanderfolge  zu  definiren  ist. 

§  60.  Kurz  gesagt  haben  wir  der  Intervallenfolge  nach  der 
natürlichen  Beschaffenheit  des  Melos  nachzuforschen,  aber  nicht  so 
wie  die  Harmoniker  im  Hinblicke  auf  die  Katapyknosis  jene 
Aufeinanderfolge  darstellen,  denn  diese  sind  ja  um  die  Agoge  (S.  267) 
des  Melos  unbekümmert,  wie  aus  der  Menge  der  von  ihnen  gesetzten 
Diesen  klar  ist.  Denn  durch  so  viele  Diesen  hindurch  wird  Nie- 
mand singen  können,  vielmehr  wird  die  Stimme  nicht  einmal  drei 
an  einander  reihen  können. 

Offenbar  ist  es  also,  dass  man  die  Aufeinanderfolge  weder  in 
den  kleinsten,  noch  in  ungleichen,  noch  immer  in  gleichen  Inter- 
vallen suchen  darf,  sondern  der  Natur  des  Melos  folgen  muss. 

§  61.  Die  genaue  Definition  der  Aufeinanderfolge  ist  nicht 
leicht  zu  geben,  bevor  die  Zusammensetzungen  der  Intervalle  er- 
örtert worden  sind.  Dass  es  aber  irgend  eine  Aufeinanderfolge 
giebt,  lässt  sich  auch  dem  ganz  Unkundigen  klar  machen,  wenn  man 
ihn  etwa  folgendermaassen  darauf  hinfuhrt.  Man  überzeugt  sich 
nämlich  leicht,  dass  es  kein  Intervall  giebt,  welches  wir  beim  Singen 
in  eine  unbegrenzte  Zahl  zertheilen,  vielmehr  muss  es  eine  grösste  An- 
zahl von  Theilen  geben,  in  welche  jedes  Intervall  beim  Melodumenon 
zerfällt  wird.  AVenn  dieses  nun,  wie  wir  behaupten,  wahrscheinlich 
oder  nothwendig  ist,  daim  ist  klar,  dass  die  Töne,  welche  Theile 
der  eben  gedachten  Zahl  enthalten,  auf  einander  folgen.  Zu  diesen 
Tönen  scheinen  nun  auch  diejenigen  zu  gehören,  welche  wir  seit  Alters 
zur  Anwendung  bringen,  die  Nete  und  Paranete  und  die  übrigen 
aufeinander  folgenden  Töne. 


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ZWEITEft  HAUPTTHEIL. 

HARMONISCHE  STOICHEIA. 


XL 

Unzus  ammengesetzte  und  zusammengesetzte  Intervalle. 

(Diastematische  Stoicheia  erste  Hälfte). 
Vgl.  Prooimion  §  14. 

Dieser  Abschnitt,  der  laut  der  Inhaltsangabc  des  Prooimions  zuerst 
über  die  unzusammengesetzten  Intervalle,  sodann  über  die  zusammengesetzten 
handeln  soll,  bildete  den  ersten  der  auf  die  „Eingangs-Partiecn"  folgenden  Ab- 
schnitte, welche  Aristoxenus  zusammen  als  Stoicheia  bezeichnet,  und  zwar  ge- 
hört dieser  Abschn.  XI  nebst  Abschn.  XII  speciell  zu  den  von  Aristoxenus  in  der 
Rhythmik  als  diastematische  Stoicheia  citirten  Abschnitten.  Von  der 
ersten  Hälfte  dieses  XI.  Abschnittes  („unzusammengesetzte  Intervalle")  ist  uns  in 
der  handschriftlichen  Uebcrlieferung  durchaus  nichts  überkommen,  —  erst  von 
der  zweiten  Hälfte  („zusammengesetzte  Intervalle")  findet  sich  (freilich  innerhalb 
des  Abschnittes  XII  hinein  verstellt)  eine  Partie  in  den  Handschriften. 

Schon  in  den  den  Stoicheia  vorausgehenden,  nur  „in  den  Umrissen"  (vjt.ui- 
«3T£p.ov  §  38)  darstellenden  Eingangs-Partien  war  eine  Uebersicht  der  Intervalle 
gegeben.  Abschn.  IV  §  39:  „1.  Megethos  der  Intervalle.  2.  Symphonische 
uud  Diaphonische  Intervalle.  3.  Unzusammengesetzte  Intervalle.  4.  Tonge- 
schleehter  der  Intervalle.  5.  Eatiouale  und  Irrationale  Intervalle."  Bezüglich  der 
„übrigen  Classen  der  Intervalle,  als  nicht  nothwendig  für  die  gegenwärtige 
Erörterung",  wurde  auf  den  XI.  Absch.  der  Stoicheia  verwiesen.  Vgl.  oben 
S.  183.  Wir  wissen  also,  was  dort  zu  finden  wäre,  wenn  derselbe  vollständig 
vorläge.  Wir  wollen  das  Sachliche  dieser  Darstellung  aus  den  sonstigen  An- 
gaben des  Aristoxenus  zu  reconsrruiren  suchen: 

1.  Unzusammengesetzte  gerade,  ungerade  und  irrationale  Intervalle. 

2.  Unterschied  der  zusammengesetzten  von  den  unzusammengesetzten 

Intervallen. 

3.  Die  Bestimmung  der  diaphonischen  durch  die  symphonischen  Intervalle. 


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286 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  61. 


1. 

Gerade,  ungerade  und  irrationale  Intervalle. 

Ein  Hauptfundort  für  die  Aristoxenisehe  Intervallen-Theorie  ist  eine  Stelle 
seiner  gemischten  Tischgespräche  (über  die  enharmonische  Tonart)  bei  Plutarch 
de  mus.  38.  39.  Hier  lernen  wir  drei  Arten  von  Intervallen  kennen:  gerade, 
ungerade,  irrationale  Intervalle.  Diebeiden  ersten  bilden  zusammen  die  rationalen. 

I.  Gerade  Intervalle  (ipna  ototcrrV*™)  sind  solehe,  welche  aus  2 
oder  4  oder  6,  kurz  aus  einer  geraden  Anzahl  von  enharmonischen  Diesen 
bestehen. 

II.  Ungerade  Intervalle  (Trepirrd  Stacr-f^aTa)  sind  „die  dritte,  fünfte, 
siebente  Intervallgrösse ,  aus  je  drei  oder  fünf  oder  sieben  enharmonischen 
Diesen."  Das  nur  eine  einzige  enharmonische  Diesis  enthaltende  Intervall  wird 
hier  von  Aristoxenus  nicht  ausdrücklich  als  ungerades  Intervall  aufgeführt. 
Mit  der  enharmonischen  Diesis  als  einem  Bestandteile  der  enharmonischeu 
Scala  hatte  er  nämlich  seine  Darstellung  begonnen :  von  den  meisten  Musikern 
der  damaligen  Zeit  wurde  die  enharmonische  Scala  eben  dieser  Einen  Diesis  wegen 
versehmäht.  Doch  dass  diese  Eine  Diesis  der  Aristoxenischen  Theorie  zufolge 
entschieden  unter  die  ungeraden  Intervalle  zu  zahlen  ist,  ergiebt  sich  aus  jenen 
von  ihm  gebrauchten  Nomenclaturcn  „drittes",  „fünftes",  „siebentes"  Intervall, 
denn  diese  Zählungen  haben  nur  dann  einen  Sinn,  wenn  die  enharmonische 
Diesis  als  „erstes"  Intervall  vorausgesetzt  wird. 


Gerade 
Intervalle. 

Ein  fa  ehe 
Rationale  Intervalle. 

Ungerade 
Intervalle. 

erstes  Megcthos  il  Diesis) 

e  nharmonischeDiesis. 

llemitoniou 

zweites  Megeth.  {'2  Dies.) 

drittes  Megeth.  (3  Dies.) 

Spoudeiasmos,  Eklysis 

Tonus 

viertes  Megeth.    (1  Dies.) 

fünftes  Megeth.  (5  Dies.) 

Eklx.le. 

Tiihcimtuuinn 

sechstes  Megeth.   (6  Dies.i 

siebentes  Megeth.  (7  Dies.) 

sieben  Diesen 

Ditonns 

achtes  Megeth.  iM  Dies.) 

In  dieser  Scala  der  acht  Megethe  sind  alle  einfache  gerade  und  alle 
einfache  ungerade  Intervalle  enthalten.  Wir  werden  alsbald  sehen,  dass  dies 
zugleich  die  acht  einfachen  rationalen  Intervalle  sind  d.  L  diejenigen 
einfachen  Intervalle,  deren  Grösse  sich  als  ein  Multiplum  der  enharmonischeu 


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1.  Gerade,  ungerade  und  irrationale  Intervalle. 


267 


Diesis  durch  eine  ganze,  ungebrochene  Zahl  (nicht  durch  eine  Bruchzahl)  aus- 
drücken lässt:  die  geraden  im  Diatononund  Chroma toniaion  und  (als  grösstes 
Intervall)  im  Enharmonion,  die  ungeraden  im  Enharmonion  (als  kleinstes 
Intervall),  im  Diatonon  malakon  (als  mittleres  und  als  grösstes  Intervall)  und 
im  Chroma  hemiolion  (als  grösstes  Intervall). 

Die  Intervall-Namen  für  drei  und  fünf  Diesen  sind  von  Aristides  p.  28 
und  Bachius  p.  11  überliefert;  von  Aristoxenus  selbst  bei  Plut.  mus.  11. 

III.  Irrationale  Intervalle  (iXo^a  liasxi^axa).  Diejenigen  Musiker 
aus  Aristoxenus  Zeit,  welche  der  Anwendung  der  enhannonischen  Diesis 
widerstrebten,  gründeten  diese  ihre  Opposition  darauf,  dass  man  jenes  Intervall 
nicht  durch  Symphonien  bestimmen  könne.  Aristoxenus  widerlegt  den  Ein- 
wand damit,  dass  sie  ja  sonst  mit  Vorliebe  solche  Scalen  anwendeten,  welche 
ungerade  und  irrationale  Intervalle  enthalten.  Abo  die  irrationalen  Intervalle 
haben  dies  mit  den  ungeraden  gemein,  dass  sie  sich  nicht  im  Sinne  des  §  62  ff. 
durch  symphonische  Intervalle  bestimmen  lassen.  Vergl.  unten.  Hier  sei  zu* 
nächst  dies  gesagt,  dass  beide  Arten  der  Intervalle  (ungerade  und  irrationale) 
dem  griechischen  Mclos  eigenthümlich  waren:  das  moderne  Melos  hat  nur 
solche  Intervalle  im  Gebrauch  welche,  nach  der  Auffassung  des  Aristoxenus 
gerade  sind. 

Ungerade  Intervalle  sind  die  beiden  oberen  Intervalle  im  Diatonon  malakon 


und  ebenso  das  obere  Intervall  (7  Diesen  enthaltend)  im  Chroma  hemiolion 


Aber  die  beiden  unteren  Intervalle  des  Chroma  hemiolion,  deren  jedes  von 
Aristoxenus  auf  den  Umfang  von  l1/*  enhannonischen  Diesen  angeben  wird? 
Diese  Intervalle  können  nicht  ungerade  sein,  so  wenig  wie  sie  gerade  sind. 
Nach  der  in  der  Stelle  bei  Plutnrch  überlieferten  Mittheilung  des  Aristo- 
xenus gehören  sie  zu  den  irrationalen  Intervallen,  und  ebenso  in  den  von  Aristo- 
xenus als  emmelisch  angegebenen  Tctrachord-Eintheilungen  alle  diejenigen 
Intervalle,  deren  Megethos  sich  nicht  anders  als  durch  eine  Bruchzahl  auf  die 
Einheit  der  enharmonischen  Diesis  zurückführen  lässt.  Eine  Scala  der  irratio- 
nalen Intervallgrössen,  analog  derjenigen  der  rationalen  (S.  286),  lässt  sich  bei 
Aristoxenus  nicht  mehr  nachweisen.  Dieselbe  würde  mit  der  kleinsten  chroma- 
tischen Diesis  (=  1'/,  enharmonischc  Diesis)  als  dem  kleinsten  irrationalen 
Intervalle  beginnen  und  mit  dem  irrationalen  Intervalle  von  7 1:9  enharmonischen 
Diesen  als  dem  grossesten  abschliessen. 


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288 


Aristoxenns  zweite  Harmonik  §  61. 


im  Chroma 
hemiolion. 

Einfache 
irrationale  Intervalle. 

im  Chroma 
in  ;i  1 11  k  0  ix. 

erstes  Megethos  (14  Diesis) 

ab  kleinstes  Intervall 

als  kleinstes  Intervall 

zweites  Megethos  (lj  Diesis) 

drittes  Megethos  (7^  Diesen) 

als  grösstes  Intervall 

Dies  alles  hat  sich  zunächst  aus  der  Stelle  des  Plutarch  ergeben.  Fügen 
wir  demselben  noch  hinzu,  dass  Aristoxenus  alle  in  Rede  stehenden  Intervall- 
grössen,  die  geraden,  die  ungeraden  und  die  irrationalen  als  „emmelische 
Intervalle"  oder  „Melodumena"  bezeichnet  Damit  sagt  er,  dass  alle  jene 
Intervalle  im  Melos  der  Griechen  verwendet  werden  konnten  und  praktisch 
verwendet  wurden:  nicht  blos  die  „geraden",  von  denen  auch  das  moderne 
Melos  Anwendung  macht,  sondern  auch  die  „ungeraden"  und  die  „irrationalen", 
welche  beiderseits  unserem  modernen  Melos  durchaus  fremd  sind. 

Nun  redet  aber  Aristoxenus  ausser  von  den  „Melodumena"  auch  noch 
IV.  von  Intervaügrössen,  welche  er  Amelodeta  nennt.  Diese  Intervall- 
grössen  kommen  praktisch  im  Melos  der  Griechen  nicht  vor,  sind  nichts  als 
ideelle  Intervallwerthe,  welche  den  Theoretikern  dazu  dienen,  die  irrationalen 
Intervalle  auf  die  rationalen  (geraden  oder  ungeraden)  zurückzuführen.  Ein 
solches  Amelodeton  ist  das  Dodekatemorion,  welches  wir  in  der  ersten  Harm. 
§  55  c  kennen  gelernt  haben.  Dies  ist  der  zwölfte  Theil  des  Ganzton- 
Intervalles.  Der  kleinste  Theil  des  Ganztou-Intervalles,  welcher  als  Melodu- 
nienon  in  der  praktischen  Musik  der  Griechen  vorkam,  ist  nach  §  49  der  vierte 
Theil  des  Ganztons,  genannt  die  enharmonische  Diesis.  Jenes  Dodekatemorion 
oder  Zwölftel  des  Ganztones  ist  nach  Aristoxenus  ein  in  der  Praxis  der  Musik 
nicht  vorkommendes  Intervall ;  aber  der  Theoretiker  hat  es  nöthig  anzunehmen, 
wenn  er  die  kleinste  chromatische  Diesis  (das  Drittel  des  Ganztones)  auf  die 
allen  geraden  und  ungeraden  Intervallgrössen  zu  Grunde  liegende  Einheit  der 
enharmonischen  Dienis  zurückführen  will.  Eben  die  Brüche,  welche  sich  in 
den  Zahlenbestimmungen  der  irrationalen  Intervalle  hinter  den  hier  vorkommen- 
den ganzen  Zahlen  finden,  eben  diese  Brüche  bezeichnen  die  lediglich  theore- 
tischen Amelodeta. 

In  dem  Abschn.  XI  hatte  Aristoxenus  nach  seinem  Selbstcitate  Rhythm. 
§  21  ausser  von  den  rationalen  und  irrationalen  Melodumena  auch  von  den 
Amelodeta  gesprochen.  Jene  Stelle  der  Rhythmik  müssen  wir  der  Vollständig- 
keit wegen  als  ein  Fragment  der  Harmonik  hier  einschalten. 

„Wie  ich  in  den  diastematischen  Stoichcia  dasjenige  als  etwas  der 
Natur  des  Melos  nach  Bestimmbares  gefasst  habe,  was 

erstens  ein  Melodumena  ist, 

zweitens  seinen  Megethos  nach  dadurch  erkennbar,  (dass  es  ein  Multi- 


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1.  Gerade,  ungerade  und  irrationale  Intervalle. 


289 


plum  des  kleinsten  Intervalles  der  Melodumena  ist,)  wie  die  sym- 
phonischen Intervalle  und  der  Ganzton  oder  alles  damit  Messbare, 

dagegen  dasjenige  als  etwas  blos  den  Zahlenverhältnissen  nach  Be- 
stimmbares, bei  welehem  es  der  Fall  ist,  dass  es  <um)  ein  Amelodeton 
(kleiner  oder  grösser  als  ein  der  Natur  des  Melos  nach  bestimmbares 
Intervall)  ist,  so  soll  ganz  analog  da»  Rationale  uud  das  Irrationale  auch 
in  der  Rhythmik  genommen  werden. 

Das  eine  wird  nämlich  als  etwas  der  Natur  des  Rhythmus  nach  Be- 
stimmbares gefasst,  das  andere  als  etwas  nur  den  Zahlenverhiiltnissen  nach 
Bestimmbares. 

Die  in  der  Rhythmik  als  rational  gefasste  Zeitgrösse  muss  also 
ersteus  zu  denjenigen  gehören,  welche  in  der  Rhythmopoeie  vorkom- 
men, zweitens  ein  bestimmbarer  Theil  des  Taktes  sein,  in  welchem 
sie  einen  Takttheil  bildet  ; 
dagegen  dasjenige,   was  als  etwas  blos  den  Zahlenverhältnissen 
nach  Bestimmbares  gefasst  wird,  muss  man  sich  analog  denken,  wie  in 
den  diastematischen  Stoicheia  das  Dodekatemorion  (Zwölftel)  des  Ganztons, 
und  wenn  noch  etwas  auderes  von  der  Art  bei  dem  Wechsel  der  Inter- 
valle  vorkommt. 

Der  Sinn  muss  sein:  „wie  das,  was  ich  in  den  diastematischen  Stoicheia 
über  das  Dodckatemoriom  des  Ganztoncs  gesagt  habe4*,  nicht  „wie  da«  Dode- 
katemorion" ;  denn  ein  Amelodeton  kann  Aristoxeuus  nicht  unmittelbar  mit  dem 
rhythmisch  Irrationalen  verglichen  haben;  denn  das  Amelodeton  kommt  ja  in  der 
Melopoeie  nicht  vor,  wohl  aber  das  rhythmisch  Irrationale  in  der  Rhythmopoeie. 
Möglich  dass  auch  hier  eine  kleine  handschriftliche  Lücke  vgl.  oben  S.  27. 

Dasjenige,  was  ausser  dem  Dodekatcmoriou  als  Amelodeton  vorkommt, 
ist  das  Hcktcmoriou,  das  Sechstel  des  Ganztones. 


Noch  ein  anderes  Fragment  der  Aristoxenischen  Harmonik  sclieinen  wir 
zu  besitzen,  welches  dein  Abschn.  XI  angehört,  wenn  es  nicht  etwa  der  dritten 
Harmonik  entstammt.  Pseudo-Kuklid  p.  l>  Meib:  „Rationale  Intervalle  sind 
solche,  deren  Grösse  sich  angeben  läast,  z.  B.  Ganzton,  Halbton,  Ditonos,  Tri- 
tonos.  Irrationale  Intervalle  sind  solche,  welche  um  ein  Amelode- 
ton grösser  oder  kleiner  als  die  rationalen  sind."  Die  handschr.  Ueber- 
lieferung  lautet  hier:  TtapaXXciTTOvra  Taut«  xd  pe^dt)  inl  xö  jaciCov  f]  im  to  IXarcov 
d'Kiftu  Tivt  peY^ftci.  Unzweifelhaft  ist  01X0711)  eine  aus  dfAeXcoo-fj-rtp  cormmpirte 
falsche  Lesart.  Auch  Marq.  S.  241  bemerkt  den  Mangel  „dass  zur  Bestimmung  des 
Begriffes  der  zu  bestimmende  Begriff  selber  angewandt  wird  .  .  Ich  möchte  glau- 
ben, dass  die  Maasseinheit  der  zwölfte,  vielleicht  der  vierundzwanzigste  Theil  des 
Ganztones  gewesen  ist''  Welche  „Maasseinheit*'  Marquard  hier  im  Sinne  hat, 
verstehe  ich  nicht  Meint  er,  wie  es  scheint,  die  „Maasseinheit",  nach  welcher 

Aristoxeuus  die  Iutervallgrössen  bestimmt,  so  ist  »eine  Meinung  unrichtig. 
Arlitui«nut,  Mollk  u.  Rhythmik.  ]<l 


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290 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  61. 


Denn  die  Aristoxenische  Maasscinheit  zur  Bestimmung  der  Intervall- 
grössen  ist  die  enharmonische  Diesis,  der  Viertelton.  Was  eine  geradeZahl 
solcher  Diesen  enthält,  heisst  bei  A.  gerades  Intervall;  was  eine  ungerade 
Anzahl  enthält,  heisst  ungerades  Intervall.  Die  Summe  oder  Differenz 
aus  einem  rationalen  (geraden  oder  ungeraden)  Intervalle  und  einem  Arne- 
lodeton  (Zwölftel-  oder  Sechstel  des  Oanztones,}  heisst  nach  Aristoxenus  ein 
irrationales  Intervall. 


2. 

Unterschied  der  zusammengesetzten  von  den  uuzusam  mengesetz- 
ten Intervallen. 

Der  Angabe  des  Prooim.  §  14  zufolge  soll  der  Abschnitt  (|*£poc),  den  wir 
als  den  elften  zählen  müssen,  zuerst  von  den  unzusammengesetzten  Intervallen, 
dann  von  den  zusammengesetzten  reden.    Nun,  die  acht  Megcthe  der  geraden 
und  ungeraden  Intervalle  von  1  bis  8  Diesen,  welche  wir  aus  dem  Fragmente 
bei  Plutarch  hierher  gezogen  haben,  nicht  minder  die  entsprechenden  irratio- 
nalen Megcthe  von  l'/s— ?7s  Diesen,  die  wir  nach  den  §§  49—58  der  Har- 
monik jenen  sieben  Megethe  hinzufügen  mussten:  alle  diese  Intervalle  sind  nnzu- 
sammengesetzte  und  zwar  sind  damit  die  sä  in  mt  liehen  unzusammengesetzten 
Intervalle  aufgezählt.    Eine  Definition  des  einfachen  Intervalle«  giebt  das  5. 
Problem  des  folgenden  Abschnittes  XII,  doch  finden  wir  dort  nicht  dasjenige, 
was  Aristoxenus  Rhythmik  §  14  aus  seiner  Harmonik  citirt  (bei  Gelegenheit 
der  unzusammengesetzten  und  zusammengesetzten  Zeiten  der  Rhythmopoeic) : 
„Ein  Analogon  für  das  Gesagte  kann  die  Pragmatie  des  Hermosmenon 
„liefern.   Denn  auch  dort  ist  dasselbe  Megethos  im  enharmonischem  Tou- 
„gcschlechte  ein  zusammengesetztes ,  im  Chroma  ein  unzusammengesetztes; 
„und  wiederum  im  Diatonon  ein  unzusammengesetztes,  im  Chroma  ein  zu- 
„sammengesetztes;  bisweilen  ist  dasselbe  Megethos  sowohl  ein  unzusammen- 
„gesetztes  wie  ein  zusammengesetztes,  jedoch  nicht  an  derselben  Stelle 
„des  Systemes." 

Im  vierten  Probleme  des  Abseh.  XII  ist  zwar  eine  genaue  und  scharfe 
Definition  des  unzusaimneugesetzten  Intervalles  gegeben,  aber  nichts  weiteres, 
namentlich  findet  man  dort  nicht  die  Beispiele  unzusammengesetzter  und  zu- 
sammengesetzter Intervalle,  auf  welche  Aristoxenus  in  jener  Stelle  der  Rythmik 
recurrirt.  Sie  können  nur  im  Abschn.  XI  gestanden  haben.  Wir  haben  eine 
Interpretation  der  in  der  Rhythmik  aus  der  Harmonik  Absch.  XI  citirteu 
Stelle  zu  geben: 

Ein  und  dieselbe  Intcrvallgrösse  auf  ein  und  demselben  Platze  des  Sy- 
stemes kann  je  nach  den  verschiedenen  Tongeschlechtern  ein  unzusammenge- 
setztes und  zugleich  ein  zusammengesetztes  sein:  der  Halbton  e  f  ist  in  der 
Chromatik  ein  unzusammengesetztes,  in  der  Euharmo^nik  ein  zusammengesetztes 
Intervall : 


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2.  Unterschied  d.  zusammengesetzten  v.  d.  uuzusammengesetzteu  Interv.  291 

En  Hann. 


* 


Chrom  a. 


—  der  Ganzton  e  fis  bt  im  Diatonon  ein  einfaches,  im  Chrom a  ein  zusammen- 
gesetztes Intervall: 

Cln-oma. 


Bisweilen  aber  erscheint  in  ein  und  demselben  Tongeschlechte  an  ver- 
schiedenen Stellen  des  Systcmes  ein  und  dasselbe  Intervall:  an  der  einen  als 
unzusammengesetztes,  an  der  anderen  als  zusammengesetztes  Intervall,  z.  B. 
das  gerade  Intervall  von  1  */ ,  Ganzton  ist  im  Chroma  zwischen  dem  IVoslaraba- 
noinenos  und  der  Parhypate  hypaton  (Ac)  ein  zusammengesetztes,  oberhalb 
der  Lichanos  hypaton  (eise)  ein  unzusammengesetztes: 

hypaton. 


I 


13 


l       i      i  H 

So  scheint  Aristoxenus  in  Abschn.  XI  au  praktischen  Beispielen  klar  ge- 
macht zu  haben,  was  ein  zusammengesetztes  und  unzusammengesetztes  Inter- 
vall ist,  die  genaue  Definition  des  unzusammengesetzten  Intervalles  sich  für 
den  folgenden  Abschnitt  vorbehaltend,  um  ihre  Richtigkeit  im  Zusammenhange 
der  28  Probleme  strikt  zu  beweisen.  Das  Wesentliche  derselben,  dass  es  für 
den  Begriff  des  unzusammengesetzten  und  zusammengesetzten  Intervalles 
nicht  sowohl  auf  das  Megethon,  als  vielmehr  auf  die  das  Intervall  um- 
schließenden  Klänge  ankomme,  dies  wird  schon  der  Abschnitt  IX  deutlich 
gemacht  haben,  eben  iu  jener  Stelle,  auf  welche  der  Verfasser  in  seiner  Rhyth- 
mik verweist. 

16* 


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292 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  61.  62. 


3. 

Die  Bestimmung  der  diaphonisehen  durch  symphonische  Intervalle. 

Vgl.  oben  S.  179  ff. 

Man  würde  gegen  die  Einverleibung  dieses  handschriftlichen  Bruchstückes 
in  den  XI.  Abschnitt  der  zweiten  Harmonik  einwenden  können,  das**  dasselbe 
ebenso  gut  auch  in  der  ersten  Harmonik  seinen  ursprünglichen  Platz  gehabt 
haben  könne.  Im  Allgemeinen  müssten  wir  die  Berechtigung  eines  solchen 
Einwurfs  gegen  die  von  uns  vorgenommene  Einordnung  des  Fragmentes  zu- 
geben. Denn  wenn  es  in  dem  Fragmente  heisst:  „Ob  in  der  Eingangspartie 
mit  Recht  angenommen  ist,  dass  die  Quarte  2  Ganztöne  und  einen  Halbton 
beträgt,  wird  folgendermaassen  am  genauesten  untersucht  werden",  so  folgt 
daraus,  dass  das  Fragment  derjenigen  Harmonik  angehören  rauss,  in  deren 
Eingangspartie  jene  vorläufige  Grössenangabe  der  Quarte  sich  findet  Diese 
findet  sich  nun  sowohl  in  der  ersten  Harmonik  (§  54)  wie  in  der  zweiten  (§  40). 
Die  Ucbereinstimmuug  des  sprachlichen  Ausdrucks  in  der  Stelle  des  Frag- 
mentes §  66:  „Tiorcpov  6'6pttü>;  dv  äp^fi  'J~6xeiT<xi  tö  Std  TEoadpcuv  S6o  TfJvrov  xai 
TjfAtoeo;  xatd  tovoe  tov  Tp<Jitov  e^exdoeuv  <£v  Tic  dxpifUrraTa  mit  der  ersten  Har- 
monik §  54  „To  jxev  oyv  oia  xeosdpwv  8v  Tp«$7rov  e^etaTriov  ehe  |Aexpeixai  .... 
und  „tu;  cpaivojJL^vo'j  8'  ixetvou  5uo  tovwv  xal  tjjxtoeoc  özoxeUöw  tovto  av  eivot 
tö  pi^etto;"  würde  uns  bewegen,  das  Fragment  der  ersten  Harmonik  zuzuweisen, 
wenn  nicht  die  überlieferte  Stelle  des  Fragmentes  zwischen  den  Problemen  der 
zweiten  Harmonik  eben  auf  das  zweite  Buch  hinwiese.  Die  Uebereinstimmung 
des  sprachlichen  Ausdrucks  verdient  registrirt  zu  werden,  aber  sie  ist  keine 
derartige,  dass  sie  uns  nöthigen  könnte,  das  Fragment  aus  dem  Buche  B,  in 
welchem  es  sich  vorfindet,  in  das  Buch  A  zu  transponiren.  Uebrigens  wird 
in  der  ersten  Harmonik  der  Abschn.  XI  von  demselben  Abschn.  XI  der  zweiten 
Harmonik  sachlich  nicht  verschieden  gewesen  sein,  wie  auch  Bei  den  übrigen 
einander  entsprechenden  Abschnitten  die  Verschiedenheit  nur  gering  ist. 

Es  ist  interessant  genug,  dass  Aristoxenus,  der  prophetische  Gewährsmann 
für  die  gleichschwebendc  Temperatur  unserer  Clavier-Musik,  auch  bereite  im 
Voraus  das  Wesentlichste  des  Verfahrens  kennt,  durch  welches  die  reine 
Stimmung  unseres  Clavieres  vom  Stimmer  hergestellt  wird.  Derselbe  stimmt 
nämlich  nach  Quinten -Intervallen.  Genau  dies  Letztere  ist  es,  was  Aristoxe- 
nus „das  Nehmen  der  Intervalle  durch  die  Quinten-Symphonie"  nennt  Frei- 
lich liegt  es  dem  Aristoxenus  ebenso  nahe,  die  Intervalle  durch  die  Quarten- 
Symphonie  zu  nehmen :  den  Griechen  war  in  dieser  Beziehung  die  Quarte  der 
Quinte  völlig  coordinirt. 


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3.  Die  Bestimmung  der  diaphonisehen  durch  symphonische  Intervalle.  293 

Problemata  über  die  Lepsis  dia  Symphonias. 

Nur  bei  solchen  zusammengesetzten  Intervallen  kann  die  in  den  folgen- 
den drei  Problemen  beschriebene  Lepsin  dia  Symphonias  stattfinden,  welche  in 
die  Klasse  der  geraden  gehören  (  ihrem  Megethos  nach  auf  die  Einheit  des 
Halbtones  zurückzuführen  sind),  nicht  bei  den  ungeraden  und  den  irrationalen 
Intervallen.  Das  wissen  wir  aus  dem  Fragmeute  der  Aristoxenischen  Tisch- 
reden bei  Plut  de  mus. 

Da  in  unserem  Abschnitte  XI  von  geraden,  ungeraden  und  irrationalen 
Intervallen  die  Rede  ist,  so  sollte  man  denken,  Aristoxcuus  würde  jene  für 
den  Unterschied  der  drei  Intervall-Klassen  so  wichtige  Thatsachen  hier  nicht 
verschwiegen  haben.  Vielleicht  ging  dem  §  62  die  betreffende  Angabe  voraus. 

Da  unser  Absehn.  XI  nicht  mehr  den  „Eingangsabschnitten,"  sondern 
bereits  den  „Stoicheia"  angehört,  so  darf  es  nicht  befremden,  dass  hier  Aristo- 
xenus  nicht  minder  wie  im  Abschn.  XII  die  Darstellungsform  der  Problemata 
wählt  Denn  Problemata  haben  wir  vor  uns  nicht  minder  wie  §  70  ff.,  obwohl 
Aristoxenus  den  Ausdruck  Problemata  an  unserer  Stelle  nicht  gebraucht  hat. 
In  der  dritten  Harinonik  §  31  erklärt  er  die  Darstellung  nach  Problemata  für 
etwas,  welches  „xtq  r.tfi  xd  oxor/eia  TrpcrffAaxeLa"  zukommt.   Vgl.  unteu. 

§  62.  Da  von  den  Intervallgrössen  die  symphonischen,  ausser 
wenn  die  Grössen  begrenzt  sind,*)  überhaupt  nicht  oder  doch  nur 
in  sehr  untergeordneter  Weise  in  Betracht  kommen,  da  sich  dies 
aber  bei  den  diaphonisehen  anders  verhält  und  aus  diesem  Gmnde 
die  Aisthesis  viel  mehr  auf  die  symphonischen  als  auf  die  diapho- 
nisehen Grössen  sich  verlässt,  so  wird  es  am  sichersten  sein,  das  dia- 
phonische  Intervall  durch  die  Symphonie  zu  bestimmen. 

■ 

*)  \\)X  \y  jie^&et  &pi;xai  haben  die  Handschriften,  ,,'aXX'  ti  u-e-^dei  &. 
emendirt  Marquard;  ausserdem  ist  f«?^  statt  prüftet  zu  lesen;  denn  bei 
ixsfeftebv  xd  uiv  (xe^iSEt  fl>pt;xai  würde  der  Dativ  ne^ei  überflüssig  sein ,  der 
hergestellte  Nominativ  u-e^ih]  aber  nicht,  denn  mit  ihm  würde  nach  der  ziem- 
lich langen  Einschiebung  das  Subject  x&v  Gtacxr.tjiaxixäiv  (/.tfEftöiv  xd  pis  wieder 
aufgenommen  sein.  Dem  Wortklange  nach  war  ja  zwischen  u,ry6fh)  und 
(icviftet  kebi  Unterschied.  Ausserdem  haben  wird  icavxcXdc  dxaptai<Jv  xtv<x 
vor  x«irov  gesetzt,  wohin  es  der  Deutlichkeit  wegen  gehört.  Das  Wort  xötw« 
gebraucht  Aristoxenus  1.  von  der  Tonstufe,  auf  welcher  die  Stimmt-  beim  Auf- 
und  Abwärtsgehen  anhält,  um  einen  «Hä-fto;  zur  Erscheinung  kommen  zu 
lassen:  dies  kann  hier  nicht  gemeint  sein,  da  hier  der  Begriff  der  Tonstufe 
schon  durch  p£-feih>c  ausgedrückt  ist.  2.  Von  der  Stimmlage,  der  Stimmregion:  erste 
Harmonik  §  21.  22.  In  dieser  Bedeutung  kann  das  Wort  an  unserer  Stelle 
noch  viel  weniger  genommen  sein.  So  bleibt  3.  nur  die  allgemeine  Bedeutung 
des  Wort«'»:  Punkt  der  Besprechung,  Thema,  Stoff.    Es  ist  das  Gesammt-Ma- 


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29-4 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  62—66. 


tcrial  der  Harmonik  gemeint:  „da  die  symphonischen  Intervallgrössen,  ausser 
wenn  die  Grössen  begrenzt  sind,  nur  in  ganz  untergeordneter  Weise  eine  Stelle 
in  der  Theorie  haben  können*',  Marq.  S.  171  „die  StoKTrjjiaTixd  (aet^  haben 
überhaupt  nicht  Platz,  (sie  können  überhaupt  in  der  Musik  nicht  vorkommen, ) 
ausser  wenn  sie  dem  Umfange  nach  begrenzt  sind,  8.  81,  „da  die  consonirenden 
nur  dann  statt  zu  finden  scheinen."  Ruelle  p.  86  übersetzt  (die  Bedeutung  No.  1 
annehmend) :  „En  ce  qui  concerne  les  grandeurs  des  intervalles,  comme  d'une 
part  Celles  des  consouances  ne  paraissent  pas  avoir  de  lieu  pour  se  mouvoir"  mit 
der  Note  „le  mot  T<5ro;  signifie  en  cet  endroit,  l'espace  oü  peut  se  mouvoir 
un  son  succeptible  de  deplacement".  Der  Zusatz  t)  TtemeX&c  dxaptaWv  Tiva 
oüx  tyeiv  hnxtX  töttov  widerstrebt  der  Bedeutung  „de  lieu  pour  se  mouvoir"  auf 
das  entschiedenste. 


§  63.  Wenn  man  nun  zu  einem  gegebenen  Tone  nach  der 
Tiefe  zu  vermittels  des  symphonischen  Intervalles  der  Quinte  mid 
Quarte  das  diaphonische  Intervall  z.  B.  die  grosse  Unter-Terz  nehmen 
soll  oder  ein  anderes  der  durch  Quinte  und  Quarte  zu  bestimmenden 
Intervalle,  so  nimmt  man  1.  von  dem  Tone  die  Ober-Quarte  (Irl 
t6  o£u  to  oia  Teooaptov),  2.  dann  die  Unter-Quinte,  3.  dann  wieder- 
um die  Ober-Quarte,  4.  dann  die  Unter-Quinte: 


und  auf  diese  Weise  wird  man  von  dem  gegebenen  Tone  die  grosse 
Unterterz  genommen  haben. 


§  64.  Soll  man  aber  umgekehrt  die  grosse  Ober-Terz  nehmen, 
so  nimmt  man  die  jedesmalige  Quarte  und  Quinte  in  der  Umkehrung, 
nämlich  1.  die  Unter-Quarte,  2.  die  Ober-Quinte,  3.  die  Unter-Quarte, 
4.  die  Ober-Quinte. 


1.  Problem: 


1.  a  h  c 

2.  g  a  Ii  c 

3.  g  a  h  c 

4.  f  g  a  h  c 


2.  Problem: 


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3.  Die  Bestimmung  der  diaphonischcn  durch  symphonische  Intervalle.  295 

3.  Problem: 

§  65.  Es  ist  aber  auch  der  Fall,  dass  wenn  von  einem  sym- 
phonischen Intervalle  das  diaphonische  durch  Symphonie  hinweg- 
genommen  wird,  dass  dann  auch  der  Rest  ein  durch  Symphonie 
genommenes  Intervall  ist.  Nimmt  man  nämlich  die  grosse  Terz 
von  der  Quarte  durch  Symphonie  hinweg,  so  ist  doch  klar,  dass  die 
Klänge,  welche  diejenige  Differenz  umfassen,  um  welche  die  Quarte 
grösser  als  die  grosse  Terz  ist,  durch  Symphonie  bestimmt  sein 
werden.  Denn  die  Grenztöne  der  Quarte  sind  symphonisch;  von 
dem  höheren  dieser  beiden  Grenztöne  aber  wird  ein  symphonisches 
Intervall  nämlich  die  Ober-Quarte  genommen,  von  dieser  ein  anderes, 
die  Unter-Quinte ;  dann  wiederum  die  Ober-Quarte  und  von  dieser  die 
Unter-Quinte.  Dann  trifft  diese  letztere  Symphonie  mit  dem  höheren 
der  beiden  Grenztöne  zusammen:  und  so  ist  es  klar,  dass  wenn  von 
einem  symphonischen  Intervalle  durch  Symphonie  ein  diaphonisches 
fortgenommen  ist,  auch  der  Rest  ein  durch  Symphonie  bestimmtes 
Intervall  sein  wird. 

Marquard  8.  341 :  „Diese  Auseinandersetzung  bedarf  nur  eines  Bei- 
spiels: wenn  von  einer  Symphonie  z.  B.  der  Quarte  a— d,  nach  der  Tiefe  die 
„grosse  Terz  d-b  durch  Symphonie  weggenommen  ist,  so  soll  auch  der  Rest, 
„b—  a,  durch  Symphonie  genommen  sein.  Die  Klänge  a  und  d  nämlich  als 
„Grenzklange  der  Quarte  sind  natürlich  symphonisch.  Von  d  aus  wird  die 
,Oberquarte  genommen  g,  von  diesem  die  Unterquinte  c,  von  diesem  wieder 

„die  Oberquarte  f  und  von  diesem  nochmals  die  Unterquinte  b:  so  ist  b  der 
„gesuchte  Ton,  d.  h.  b— a  das  durch  Symphonie  gefundene  Intervall,  um  wel- 
ches die  Quarte  grösser  als  die  grosse  Terz  ißt." 


Ob  die  Quarte  2'/,  Ganztöne  enthält? 

§  66.  Ob  aber  der  in  den  Eingangsabschnitten  (§  49)  vorläufig 
aufgestellte  Grundsatz  richtig  ist,*)  dass  das  Quarten -Intervall  zwei 
Ganztöne  und  einen  Halbton  enthält,  wird  man  am  sichersten  auf 
folgende  Weise  prüfen  könuen. 

*)  Wir  haben  mit  den  Worten  to  oid  recoapov  eine  Umstellung  vornehmen 
müssen:  „'jrohuiTat  £v  dpyjj  tö  fctd  Teooipcav  060  tovov  xai"  statt  der  überliefer- 
ten „'jiröxctT«  tö  8i<x  xeoadpojv  iv  ^P/TQ        t6vo»v  xal  fy" 


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296 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  67  —  69. 


§  67.  Man  nehme  die  Quarte  und  neben  jedem  ihrer  beiden 
Grenztöne  trenne  man  eine  grosse  Terz  durch  Symphonie  ab.  Offen- 
bar sind  dann  auch  die  Differenzen  gleich,  da  ja  Gleiches  von 
Gleichem  abgezogen  ist.  Hierauf  nehme  man  zu  dem  tieferen 
Grundtone  der  höheren  grossen  Terz  eine  Oberquarte  und  zu  dem 
höheren  Grenztone  der  tieferen  grossen  Terz  nehme  man  eine 
Unter-Quarte.  Es  leuchtet  ein,  dass  das  neben  jedem  der  beiden 
Grenztöne  entstehende  System  aus  zwei  aufeinander  folgenden  Diffe- 
renzen und  nicht  aus  einer  bestehen  wird,  zwei  Differenzen,  welche 
nothwendig  gleich  sind  wegen  des  oben  Gesagten. 

§  68.  Nachdem  dies  geschehen,  bringe  man  die  äussersten  der 
abgegrenzten  Töne  vor  die  sinnliche  Wahrnehmung:  wenn  sie  sich 
als  diaphonischc  ergeben,  so  besteht  das  Quarten-Intervall  offenbar 
nicht  aus  2lft  Ganztönen,  bilden  sie  aber  die  Quintensymphonie,  so 
leuchtet  ein,  dass  die  Quarte  aus  21/2  Ganztönen  besteht.  Der 
tiefste  nämlich  der  gefundenen  Töne  wurde  mit  dein  höheren  Ganz- 
tone der  tieferen  grossen  Terz  in  der  Quarte  gestimmt,  der  höchste 
der  gefundenen  Klänge  aber  bildete  mit  dem  tiefsten  eine  Quinten- 
Symphonie,  sodass,  da  die  Differenz  vom  Umfange  eines  Ganztones 
ist  und  in  gleiche  Theile  getheilt  ist,  deren  jeder  ein  Halbton  und 
die  Differenz  ist,  um  welche  die  Quarte  grösser  als  die  grosse  Terz 
ist,  offenbar  die  Quarte  aus  fünf  Halbtönen  besteht. 

§  69.  Dass  aber  die  beiden  Grenztöne  des  gefundenen  Systems 
kein  anderes  symphonisches  Intervall  als  die  Quinte  bilden  werden, 
ist  leicht  einzusehen.  Zuerst  ist  nämlich  zu  beachten,  dass  sie  nicht 
die  Quarten-Symphonie  bilden  werden,  da  ja  neben  der  anfangs  an- 
genommenen Quaile  auf  jeder  Seite  die  Differenz  liegt.  Sodann  ist 
zu  zeigen,  dass  sie  unmöglich  eine  Octaven-Symphonie  bilden  können ; 
der  aus  den  Differenzen  entstandene  Umfang  nämlich  ist  kleiner 
als  die  grosse  Terz,  denn  die  Quarte  tiberragt  die  grosse  Terz  um 
weniger  als  einen  Ganzton.  Nun  aber  wird  von  Allen  zugegeben, 
die  Quarte  sei  zwar  grösser  als  zwei,  aber  kleiner  als  drei  Ganz- 
töne, sodass  der  ganze  Zusatz  zur  Quarte  kleiner  ist  als  die  Quinte. 
Augenscheinlich  also  wird  das  aus  ihnen  Zusammengesetzte  nicht 
den  Umfang  einer  Octave  haben.  Bilden  aber  die  Grenztöne  eine 
Symphonie,  welche  grösser  als  die  Quarte,  kleiner  als  die  Octave 


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3.  Die  Bestimmung  der  diaphonisehen  durch  symphonische  Intervalle.  297 


ist,  so  werden  sie  nothwendig  in  der  Quinte  symphoniren.  Denn 
die  Quinte  ist  das  einzige  symphonische  Intervall  zwischen  der  Quarte 
und  der  Octave. 

Marquard  S.  341.  „Um  darzuthun,  dass  die  Quarte  a— d  2'/s  Ton  im 
„Umfang  hat,  wird  von  jedem  der  Grenzklänge  aus  von  derselben  eine  grosse 
„Terz  abgenommen,  also  a— eis  und  d-  b;  da  Gleiches  von  Gleichem  wegge- 
kommen ist,  so  müssen  die  ReBte  auch  gleich  sein,  d.  h.  d— cis  =  a — b.  Von 
„b  aus  wird  nun  eine  Quarte  nach  oben  genommen  b— dis  und  von  eis  eine 
„Quarte  nach  unten  eis — gis.  Wenn  nun  gis— dis  dem  Gehör  als  eine  Quinte 
„erscheint,  so  ist  klar,  dass  die  Quarte  2'  „  Ton  im  Umfang  hat.  Der  Klang 
„gis  nämlich  wurde  in  der  Quarte  mit  eis  gestimmt,  der  höchste  Klang  aber 
„dis  stimmt  (so  wurde  vorausgesetzt)  mit  gis  in  der  Quinte,  sodass  die  Differenz 
„eis— dis  ein  Ganzton  und  in  zwei  gleiche  Theile  getheilt  ist,  von  welcher 
, jeder  ein  Halbton  und  die  Differenz  ist,  um  welche  die  Quarte  die  grosse 
„Terz  (den  Zweiton)  übertrifft.  Also  enthält  die  Quarte  fünf  Halbtöne  =  2'/, 
„Ton.  Es  wird  nun  noch  bewiesen,  dass  jene  beiden  äussersten  Klänge  in 
„einer  anderen  Consonnanz  als  der  Quinte  nicht  symphoniren  können.  Die  Sym- 
„phonie  der  Quarte  können  sie  nicht  bilden,  da  zu  beiden  Seiten  der  ursprüng- 
lichen Quarte  noch  die  beiden  Differenzintcrvalle  gis— a  und  d— dis  liegen; 
„die  der  Octave  auch  nicht,  weil  die  Quarte  um  weniger  als  einen  Ganzton  grösser 
„ist  als  die  grosse  Terz.  Da  nun  aber  allgemein  zugestanden  wird,  dass  die  Quarte 
„grösser  als  zwei,  aber  kleiner  als  drei  Ganztöne  ist,  so  kann  das  Intervall, 
„welches  zur  Quarte  hinzukommt,  nicht  eine  Quinte  sein,  die  Summe  daraus 
„also  auch  nicht  die  Octave.  Zwischen  der  Quarte  und  Octave  liegt  aber  nur 
„die  Symphonie  der  Quinte,  folglich  müssen  jene  Klänge  diese  bilden,  wenn 
„sie  überhaupt  irgend  eine  bilden  sollen." 


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I 

XII. 

Die  emmelischen  Zusammensetzungen  der  Intervalle. 

(Diastematische  Stoicheia  zweite  Hälfte). 
Vgl.  Prooim.  §  15.  16. 

§  15.  „Wenn  wir  uns  aber  mit  den  zusammengesetzten  Intervallen 
„befassen,  so  müssen  wir,  da  diese  zugleich  Systeme  sind,  auch  über  die 
„Zusammensetzung  der  unzusammengesetzten  Intervalle  zu  handeln  im 
„Staude  sein." 

§  16.  „Die  meisten  Harmoniker  nun  haben  nicht  einmal  eingesehen, 
„dass  es  noth wendig  ist,  dieser  Zusammensetzung  nachzuforschen,  wie 
„aus  den  früheren  Vorlesungen  klar  geworden  ist  Von  den  Eratokleem 
„ist  nur  dies  bemerkt  worden,  dass  sich  das  Melos  von  der  Quarte  aus 
„aufwärts  und  abwärts,  nach  der  Höhe  und  nach  der  Tiefe  hin,  zu  einem 
„zwiefachen  Melos  thcilt,  ohne  zu  bestimmen,  ob  dies  von  jeder  Quarte 
„aus  und  weshalb  es  der  Fall  iat.  Bei  den  übrigen  Intervallen  hat  er 
„nicht  daran  gedacht  zu  untersuchen,  auf  welche  Weise  das  eine  zun» 
„andern  gesetzt  werde,  auch  nicht,  ob  eine  feste  Norm  besteht,  nach 
„welcher  ein  jedes  Intervall  zum  andern  hinzugefügt  wird ,  und  ob  aus 
„ihnen  auf  die  eine  Weise  Systeme  gebildet  werden  können,  auf  die 
„andere  nicht,  oder  aber  ob  dies  unbestimmbar  ist.  Denn  über  nichts 
„von  diesem  allen  ist  eine  Erörterung  weder  mit  noch  ohne  Nachweis  ge- 
„gegeben  worden.  Und  obwohl  in  der  Zusammensetzung  des  Melos  eine 
„bewunderungswürdige  Ordnung  besteht,  so  fehlt  es  nichtsdestoweniger 
'  „nicht  an  solchen,  welche  durch  die  bisherigen  Darsteller  unserer  Dis- 
ziplin veranlasst,  der  Musik  eine  sehr  grosse  Unordnung  beimessen. 
„Und  doch  zeigt  nichts  anderes  in  der  wahrnehmbaren  Sinnenwelt  eine 
„so  grosse  und  so  wunderbare  Ordnung.  Unsere  Darstellung  wird  das 
„zeigen." 

Mit  diesen  unseren  Abschnitt  XU  ankündigenden  Worten  des  Prooimions 
haben  wir  das,  was  Aristoxenus  §  43  gesagt  hat,  in  Zusammenhang  zu  bringen : 


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XII.  Die  emmelischen  Zusammensetzungen  der  Intervalle. 


299 


„Es  ist  nicht  genug,  dass  das  Melos  hermosmenon  aus  Intervallen 
„und  Tönen  bestehe,  vielmehr  muss  noch  eine  bestimmte  und  keines- 
„wegs  willkürliche  Art  der  Zusammensetzung  der  Intervalle  und  Töne 
„zu  einander  hinzukommen;  denn  aus  Intervallen  und  Tönen  zu  be- 
stehen ist  etwas,  welches  mich  in  dem  unharmonischen  Melos  vor- 
kommt. Demnach  ist  als  der  bedeutendste  Abschnitt,  der  für  den  ge- 
„setzmässigen  liestand  des  musikalischen  Melos  gewisserinaassen  den 
„Schwerpunkt  bildet,  derjenige  anzusehen,  welcher  die  Eigenartigkeit 
„in  der  Aufeinanderfolge  der  Intervalle  behandelt." 

Die  Reihe  der  Töne,  welche  die  Natur,  zunächst  die  menschliche  Stimme 
hervorbringt,  ist  eine  unendliche.  Der  angeborene  Kunstsinn  des  Menschen 
verbindet  sie  zu  wohlgefälligen  Mclodieen.  Wie  steht  es  nun  mit  dem  von 
der  Kunst  benutzten  Tonmateriale?  Kann  ein  jeder  Ton  der  unendlichen 
Reihe  nach  Willkür  zur  Melodie  herbeigezogen  werden?  Oder  ist  es  aus  dieser 
unendlichen  Reihe  eine  beschränkte  Anzahl  von  Tönen,  aus  denen  der  Künstler 
im  einzelnen  Falle  eine  Melodie  bildet?  Dass  die  Tonreihe  bezüglich  des 
höchsten  und  tiefsten  Tones  eine  begrenzte  ist,  hat  Aristoxenus  schon  im  Ab- 
schnitt III  erörtert.  Aber  ist  innerhalb  dieser  Grenzen  die  Wahl  der  für 
eine  Melodie  passenden  Töne  eine  willkürliche?  Lassen  sich  alle  verwenden 
oder  hängt  die  Wahl  von  gewissen  Beschränkungen  d.  i.  Gesetzen  ab?  Die 
Vorgänger  des  Aristoxenus  in  der  Theorie  des  Melos  nehmen  Willkür  an.  So 
berichtet  Aristoxenus,  und  wir  haben  keinen  Grund  daran  zu  zweifeln.  Das 
war  „die  grosse  Unordnung,  die  man  der  Musik  beimass,"  während  Aristoxenus 
sagt:  „Nichts  anderes  in  der  wahrnehmbaren  Welt  zeigt  eine  so  grosse  und 
wunderbare  Ordnung  wie  die  Musik." 

Kein  geringere»  als  Plate  ist  der  energische  und  begeisterte  Vertreter 
derselben  Ansieht.  Sein  Timacus  stellt  die  Construction  der  musikalischen 
Scala  geradezu  als  die  That  des  göttlichen  Denkens  dar,  an  welche  sich  die 
gesanimte  Ordnung  des  Kosmos  knüpft.  Das  göttliche  Denken  ist  nach  ihm 
ein  mathematisches:  aus  der  geometrischen,  arithmetischen  und  harmonischen 
Proportion  entwickelt  der  Demiurgos  die  Oktave,  die  Quinte  und  die  Quarte 
nach  den  Verhältnissen  1:2,  2:3,  3:4.  Der  Satz,  welcher  dem  Plato  dabei 
vorschwebt,  ist  folgender  (vergl.  unsere  griech.  Harmonik  1867  S.  63—68): 

Die  Gesetzmässigkeit  in  den  Tonscalen  beruht  in  der  Ver- 
bindung mehrerer  gleichförmiger  Quarten- Systeme,  welche 
abwechselnd  entweder  unmittelbar  oder  durch  Vermittelung 
eines  eingeschalteten  Ganzton-Intcrvalles  an  einander  ge- 
fügt sind. 

Quarte     Quarte  Quarte   Quarte  Quarte 

,  —  — —    v  r    ~  , 

hedef    g    a      hedef    g    a  hede 
Ganzton  Gauzton 


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300 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  69. 


Diesen  Satz  spricht  zwar  Plato  nicht  mit  direkten  Worten,  vielmehr  ab 
eine  Art  von  Mysterion  au«,  aber  es  ist  kein  Zweifel,  dass  er  in  dessen  mathe- 
matischen Angaben  enthalten  ist.  Auch  die  moderne  Welt  erkennt  den  Satz  an. 

Für  das  Ganzton-Intervall  bleibt  Plato  die  logische  oder  metaphysische 
Entwickelung  schuldig.  Der  Demiurgos  leitet  das  Ganzton-Intervall  8 :  9  nicht 
wie  die  symphonischen  aus  Proportionen  ab;  sondern  ohne  Vermittlung,  gleich- 
sam mechanisch,  fügt  er  es  den  Quarte»  hinzu.  Der  Ganzton  sieht  hier  wie 
hineingeschneit,  wie  ein  Deus  ex  machina  aus. 

Ari8toxenus *)  ist  scharfsinnig  genug,  den  Satz  so  zu  gestalten,  dass  er 
des  Ganztones  gar  nicht  bedarf,  sondern  bloss  mit  der  Quarte  und  Quinte 
fertig  wird: 

Die  cmmelische  Scala  ist  eine  Tonreihe,  in  welcher  jeder 
vierte  Ton  mit  dem  vierten  in  der  Quarte,  jeder  fünfte  Ton 
mit  dem  fünften  in  der  Quinte  symphonirt. 

Dieser  Satz  ist  nach  Aristoxenus  ein  unbeweisbares  Axiom.  Aber  mit 
Zugrundelegung  dieses  Axiomes  (auch  noch  ein  ihm  analoges  von  der  Verbin- 
dung der  Tetraehorde  wird  als  zweites  Axiom  hinzugenommen)  gelingt  es  ihm 
in  der  That,  die  Logik  in  den  Tonscalcn  nachzuweisen,  nicht  blos  in  den  dia- 
tonischen Scalen,  sondern  auch  in  den  der  modernen  Musik  fremden,  den  en- 
hannonischen  und  chromatischen  Scalen. 

Alle  Anerkennung  dem  überraschenden  Scharfsinn  des  Aristoxenus,  der  von 
den  beiden  auf  die  Quarte  und  Quinte  basirten  Axiomen  in  einer  Reihe  von 


*)  In  den  erhaltenen  Trümmern  seiner  melischen  Schriften  führt  Aristo- 
xenus den  Plato  nur  ein  einziges  Mal  an,  zu  Anfang  des  Prooimions  seiner 
dritten  Harmonik,  wo  von  der  Platonischen  Vorlesung  „rapi  T<*ya9oy"  berichtet 
wird.  Ausserdem  scheint  Aristoxenus  des  Plato  in  der  ersten  Harmonik  Ab- 
schnitt III  in  der  offenbaren  handschriftlichen  Lücke  §  35  gedacht  zu  haben, 
wo  er  über  die  von  Plato  im  Timaeus  angenommenen  Scalen  von  drei  und 
mehr  Oktaven  gesprochen  zu  haben  scheint  vgl.  S.  233.  Eine  Stelle,  au  welcher 
Aristoxenus  von  der  ebenfalls  im  Timaeus  entwickelten  Scalcn-Constmction  aus 
Oktave,  Quinte,  Quarte  und  Ganzton  gesprochen  haben  könnte,  will  sich  in 
unserem  Abschnitte  XII  nicht  finden  lassen.  Nicht  ganz  mit  Unrecht  scheint 
daher  Adrast  in  Proklus  Commentare  zu  Piatos  Timaeus  p.  192  dem  Aristoxenus 
vorzuwerfen,  dass  er  Piatos  diatonische  Scala  unberücksichtigt  gelassen  habe. 
Freilich  ist  es  verkehrt,  wenn  Adrast  hierbei  Gelegenheit  nimmt,  den  Aristo- 
xenus zu  tadeln,  dass  er  sich  rühme,  zuerst  eine  andere  Scala  als  die  von  den 
früheren  Theoretikern  des  Melos  allein  und  einzig  berücksichtigte  enharmonische 
Scala  herbeigezogen  zu  haben.  Denn  es  wäre  kaum  angegangen,  hätte  Ari- 
stoxenus sich  hierbei  auf  Piatos  Timaeus  berufen  wollen.  Aber  für  die  in 
Rede  stehende  Construction  der  Scala  hätte  Aristoxenus  allerdings  Plato  die 
gebührende  Anerkennung  zollen  müssen.  Auch  bei  Aristoxenus  Lehrer  Ari- 
stoteles vermissen  wir  bei  der  Besprechung  der  Platonischen  Idecnlehre  (in  der 
Metaphysik)  ein  unbefangenes  Eingehen  auf  das,  was  Plato  gesagt.  Aristoteles 
MisBbehagen  an  Plato  scheint  sich  auch  auf  den  Schüler  fortgepflanzt  zu  haben. 


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Xfl.  Die  cmmelischcn  Zusammensetzungen  der  Intervalle.  301 

Problemata,  deren  eines  aufs  strengste  aus  dem  anderen  erwiesen  wird,  den 
vollständigen  Nachweis  giebt,  dass  die  Scala  so  und  nicht  anders  construirt 
sein  müsse.  Aber  wir  Modernen,  die  wir  nothwendig  die  Voraussetzungen 
unserer  Musik  als  Massstab  annehmen  müssen,  können  von  diesen  scharfen 
Deduktionen  unmöglich  befriedigt  sein:  wir  können  uns  darüber  freuen,  aber 
nicht  dabei  warm  werden,  weil  für  uns  wenigstens  die  Quarte  nicht  die  Be- 
deutung hat,  dass  wir  einem  auf  sie  basirten  Axiome  eine  so  hohe  Geltung  wie 
Aristoxenus  und  die  alte  Musik  zu  verstatten  vermögen.  Wissen  wir  doch 
(geradezugesprochen)  nicht  einmal,  was  es  auf  sich  hat,  wenn  die  Alten  in 
der  Quarte  ein  symphonisches  Intervall  empfinden.  Das,  was  wir  Consonnanz 
nennen,  ist  die  Quarte  ja  unmöglich.  Um  ein  Axiom  als  berechtigt  hinzustellen, 
dazu  müsste  in  aller  erster  Instanz  auch  unser  musikalisches  Gefühl  seine  Ein- 
willigung geben.  Und  diese  wird  für  die  Quarte  fehlen.  Diese  ganze  Me- 
thode der  formalen  Logik,  welche  Aristoxenus  im  Geiste  des  Aristoteles  mit 
glänzender  Meisterschaft  handhabt,  ist  für  uns  nicht  beweisend,  weil  wir  die 
als  Prämissen  gesetzten  Axiome  als  solche  nicht  gelten  lassen  mögen,  da  mui 
einmal  unsere  wesentlich  auf  die  Harmonie  gegründete  Musik  eine  andere  als 
die  griechische  ist. 

Fügen  wir  noch  hinzu,  dass  Aristoxenus  die  von  ihm  bewiesenen  Sätze 
als  „Problemata"  bezeichnet  (z.  B.  4  Prob.  §  75,  6  Prob.  §  78,  22  Prob  §  97),  dass 
dagegen  der  Ausdruck  Axiomata  ihm  noch  unbekannt  ist  Vielmehr  nennt  er 
was  bei  Euklid  d^tcufiaTa  heisst,  „TtpoßX^|j.aTa  txpyosiofj. "  Man  vergleiche 
hierüber  das  Prooimion  der  dritten  Harmonik,  in  welchem  Aristoxenus  (§  31.  32.) 
seine  Methode  der  Darstellung,  die  er  in  den  oroi^tia  befolgt,  genau  darlegt. 
Den  „Eiugangsabschnittcn"  ist  die  Darstellung  nach  npo^i^i-za  fremd,  da  sie 
die  betreffenden  Punkte  bloss  im  Umrisse  geben,  ohne  strikte  mathematische 
Beweisführung;  aber  den  „Stoicheia"  soll  gerade  diese  mathematische  Manier 
eigen  sein,  wie  er  dritte  Harmonik  §  31  erklärt  Da  in  der  zweiten  Harmonik 
der  Abschn.  XI  bereits  zu  dem  zweiten,  mit  dem  Namen  Stoicheia  zu  bezeich- 
nenden Haupttheile  gehört,  so  durften  wir  auch  für  ihn  voraussetzen,  dass 
er  in  Problemata  geschrieben  sei  S.  293.  Die  Euklidische  Form  der  Sätze  §  62.  63. 
64.  65  lässt  daran  keinen  Zweifel. 

Wie  das  VerhÄltniss  der  harmonischen  Elemente  des  Aristoxenus  zu  den 
geometrischen  Elementen  des  Euklid  aufzufassen  ist  —  die  Darstellung  der 
Problemata  zeigt  eine  so  durchgreifende  Aehnlichkeit,  dass  Aristoxenus  den 
Euklid  gründlich  studirt  zu  haben  scheinen  könnte,  wenn  wir  nicht  wüssten, 
dass  Euklid  der  jüngere  von  beiden  ist  -  -,  dies  ist  bereits  S.  165  angedeutet. 
Dem  sei  noch  hinzugefügt,  was  die  neueste  Untersuchung  über  Euklid,  H.  Hankel 
zur  Geschichte  der  Mathematik  in  Alterthum  und  Mittelalter  1874  über  die 
Elemente  des  Mathematikers  angiebt. 

„Der  Begriff  der  S-rot^ela  ist,  so  zu  sagen,  historisch  entstanden,  indem 
man  darunter  die  Untersuchungen  zusammenfasste,  welche  bereits  von  älteren 


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Aristoxenus  zweit«  Harmonik  §  69. 


Geometcrn  vor  Plato  begonnen,  und  dann  von  den  Piatonikern*)  weiter  ge- 
führt und  vollendet  waren. 

„Durch  Euklid  ist  dann  der  Begriff  der  „Elemente"  für  alle  Zeit  festge- 
stellt worden  .  .  .  Man  kennt  diese  einfache  strenge  Forin  der  Darstellung, 
welche  von  wenigen  der  Anschauung  entnommenen  Definitionen  und  Grund- 
sätzen durch  strenge  Schlüsse  von  Stufe  zu  Stufe  fortschreitet.  In  Bezug  auf 
die  Reinheit  dieses  logischen  Verfahrens  ist  Euklid  immer  und  mit  Recht  als 
ein  klassisches,  fast  unerreichbares  Muster  anerkannt  worden  und  hat  früher 
vielfach  zur  Exemplifikation  der  sogenannten  formalen  Logik  dienen  müssen. 
Wenn  mau  auch  geglaubt  hat,  dass  Euklid  diese  Form  selbst  auch  allererst 
geschaffen  habe,  so  widerspricht  dies,  wie  wir  gesehen  haben,  der  Geschichte, 
denn  wir  finden  bei  Aristoteles  -die  Logik  bereits  auf  einer  Stufe,  welche  kaum 
denkbar  wäre,  wenn  ihm  nicht  schon  an  der  Mathematik  ein  Beispiel  für  die 
Möglichkeit  einer  streng  demonstrativen  Wissenschaft  vorgelegen  hätte.  Deun 
ausser  der  Mathematik  ist  es  niemals  einer  Wissenschaft  gelungen,  jenen 
Charakter  in  Wahrheit  anzunehmen  .  .  .  Euklid  stand  also  bezüglich  der  Form 
schon  auf  den  Schultern  seiner  Vorgänger."  H.  Hankel  zur  Geschichte  der 
Mathematik  1874  S.  384  ff.  „Es  zeigt  sich  die  höchst  überraschende  Thatsache, 
dass  das  älteste  Fragment  der  griechischen  Geometrie  (des  Pythagorikers  Hip- 
pokrates  aus  Chios),  welches  150  Jahre  älter  als  die  Elemente  Euklides  ist, 
bereits  den  durch  letztere  typisch  fixirten  Charakter  trägt  .  .  .  ,  die  genaue 
Erkenntnis»  der  Bedingungen  eines  Theorems,  die  Strenge  der  Schlussfolgeruiig^ 
die  Sicherheit  des  Resultates,  und  in  allen  diesen  Beziehungen  giebt  Hippo- 
krates  den  späteren  klassischen  Geometern  nichts  nach."  Ebendaselbst  S.  112. 

Die  Darstellung  des  Aristoxenus  in  schien  ganz  nach  der  Art  des  Euklid 
gefassten  Problemen  würde,  da  er  früher  als  Euklid  geschrieben  hat,  schon 
für  sich  allein  mit  Notwendigkeit  darauf  hindeuten,  dass  man  schon  vor  Eu- 
klid in  der  diesem  eigenen  Weise  zu  denken  und  darzustellen  gelernt  hatte. 


In  diesem  ganzen  Abschnitte  über  die  emmelischen  Zusammensetzungen 
der  Intervalle  findet  Marq.  S.  387— 38*J  des  Conunentars  »echs  Bedenken  resp. 
Widersprüche  mit  der  Lehre  des  Aristoxenus,  welche  die  Authenticität  dieser 
Partie  im  höchsten  Grade  fraglich  erscheinen  lassen. 

*)  „Piaton  selber,  Leodamas  von  Thasos,  Theaetctus  von  Athen,  später 
Neoklides  und  dessen  Schüler  Leon,  der  wenig  älter  ist  als*  Eudoxus  von 
Knidos,  Archytas  Schüler  — ,  dann  die  eigentlichen  Schüler  Piatos  wie  Amy- 
klas  von  Heraklea,  das  Brüderpaar  Mcnaechmus  und  Dinostratus ,  Theudius 
von  Magnesia,  Kyzikenus  von  Athen  und  etwas  später  Hermotimus  aus  Kolo- 
phon,  Philippus  von  Mende."   Hankel  a.  a.  0.  S.  130. 


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XII.  Die  emmelischeu  Zusammensetzungen  der  Intervalle.  303 


1.  Das  erste  Bedenken  betrifft  die  den  Zusammenhang  unterbrechende 
Auseinandersetzung  über  die  Lepsis  dia  Symphonias  (oben  S.  292).  Nimmt 
man  mit  uns  die  Verlegung  eines  Blattes  der  Handschrift  an,  so  ist  Alles 
in  allerbester  Ordnung. 

2.  Das  zweite  Bedenken  findet  Marquard  darin,  dass  statt  des  abhandeln- 
den Praesens  plötzlich  ein  erzählendes  Tempus  erscheint,  vgl  oben  S.  177.  Marq. 
folgert  daraus,  dass  die  „Partie",  in  welcher  diese  Stellen  sich  finden,  jeden- 
falls nicht  aus  den  Elementen  stamme.  Unsere  Ansicht  ist,  dass  wo  Aristo- 
xenus  dort  das  erzählende  Tempus  gebraucht,  es  überall  an  seiner  richtigen 
Stelle  ist. 

3.  Ferner  böten  einen  Grund  zum  Verdachte  die  in  der  Ueberlieferung  dem 
Probl.  4  und  5  eingeräumten  Orte.  Aristoxenus  aber  sei  nicht  Urheber  der 
confusen  Anordnung,  vielmehr  der  Excerptor,  welcher  vielleicht  aus  verschie- 
denen Aristoxenischcn  Quellen  die  einzelnen  Abschnitte  nahm  und  sie  zu- 
sammenstellte, wie  sie  ihm  gerade  in  die  Hände  kamen.  „Ich  habe  daher  im 
Texte  dieselben  in  die  gehörige  Ordnung  zurückversetzt"  Dass  die  Anordnung 
in  Marq.  Texte  und  nicht  die  der  handschriftlichen  Ueberlieferung  die  bessere 
iBt,  halte  ich  für  ausgemacht  Aber  warum  kann  die  Verderbniss  nicht  eben 
so  gut  ein  Verschen  des  Librarius,  als  eine  verkehrte  Zusammenstellung  Ari- 
stoxenischer  Abschnitte  durch  Marquards  räthselhaften  Excerptor  sein? 

4.  Sodann  müsse,  meint  Marquard,  noch  eine  zweite  Stelle  des  Textes 
(Problem  8  der  vorliegenden  Ausgabe)  uns  bedenklich  machen.  Auch  hier 
glaubt  Marquard  den  Text  corrigiren,  auch  hier  nicht  den  Abschreiber,  sondern 
den  Excerptor  für  den  fehlerhaften  Text  verantwortlich  machen  zu  müssen. 
Uusere  Besprechung  des  betreffenden  Problems  hat  zu  erörtern,  wer  hier  die 
Fehler  im  Texte  gemacht  hat.  Mit  Vergnügen  werden  wir  es  constatiren, 
wenn  es  nicht  Herr  Marquard  selber  ist,  von  dem  sie  herrühren. 

5.  Ebenso  soll  nach  Marquard  auf  Rechnung  des  Excerptors  zu  setzen 
sein,  was  sich  in  keiner  Weise  mit  der  Auffassung  des  Aristoxenus  in  Ueber- 
cinstimmung  setzen  lasse,  dass  nämlich  das  19.  Problem  erklärte:  „im  dia- 
tonischen (le schlechte  giebt  es  nach  oben  zu  zwei  verschiedene  Nachbar- 
intervallc." 

Durch  Aenderungen  des  Textes  könne  man  aber  hier  nicht  helfen.  So 
sagt  Marquard.  Wir  müssen  sagen,  dass  man  durch  Aenderung  des  Textes 
diesem  nur  schaden  könne;  den  Text  muss  man  hier  so  lassen,  wie  er  ist. 
Denn  Aristoxenus  beschrankt  sich  mit  diesem  einen  Probleme  keineswegs  auf 
das  diatonische  Geschlecht  Vielmehr  steht  von  diesem  ganz  und  gar 
nichts  im  Texte,  es  ist  erst  ein  eigenmächtiger  Zusatz  Marquards,  den  er  (ich 
weis  nicht  weshalb)  gemacht  hat 

6.  Noch  mehr  aber  soll  den  sonstigen  Angaben  des  Aristoxenus  eine 
Stelle  widersprechen  (27.  Probl.),  nach  welcher  eine  Tetrachord-Eintheilung 

e      e      g  a 


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304 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  69. 


angenommen  werden  müßse,  von  der  sonst  weder  bei  Aristoxenus  noch  bei 
irgend  einem  seiner  Compilatoren  irgend  eine  Spur  zu  finden  sei  Dies  soll 
von  allen  Beweisen  gegen  die  Aechthcit  des  Abschn.  XII  der  schlagendste  sein, 
auf  Grund  dessen  zunächst  constatirt  werden  müsse,  dass  diese  Sache  nicht 
in  den  „Elementen"  gestanden  haben,  sondern  von  dem  Excerptor  nur  anders 
woher  genommen  sein  könne.  Der  Unverstand  des  Excerptors  könne  auch 
ganz  fremde  und  dem  Aristoxenus  widersprechende  Quellen  benutzt  haben  u.  s.  w. 

Es  mag  wohl  möglich  sein,  dass  Marquard  im  Augenblicke,  wo  er  dies 
niederschrieb,  keine  Parallelstelle  für  die  angegebene  Tetrachord-Eintheilung, 
„ja  nicht  einmal  eine  Spur  davon"  hat  finden  können.  In  diesem  Augenblicke, 
wo  es  ihm  darauf  ankam,  das  Vorliegende  als  unaristoxenisch  zu  misscreditireu, 
lag  ihm  nichts  an  einer  Aristoxenischen  Parallelstelle.  Aber  dass  er  eine 
solche  Parallclstelle  aus  Aristoxenus  (oder  vielmehr  zwei  derselben)  zur  Zeit 
der  Abfassung  seiner  Aristoxenus- Ausgabe  gekannt  hat,  das  steht  über  allen 
Zweifel  fest.  Denn  p.  38,7  und  p.  76,3  seines  Aristoxenischen  Textes  hat  er 
selber  zwei  Parallelen  drucken  lassen;  er  hat  sie  ins  Deutsche  übersetzt,  hat 
sie  ausserdem  mit  einem  kritischen  Commentare  begleitet  und  hat  sie  S.  335 
des  exegetesehen  Commentares  ganz  richtig  erklärt,  wenn  er  dort  sagt:  „das 
gemischte  Tetrachord  kann  demgemäss  nur  so  gestimmt  sein 

* 

e      e      g  a," 

womit  Marquard  zu  den  Aristoxenischen  Worten  p.  76,3;  „y.at  jap  ai  Toiaütoi 
oiaip£aei;  tö>v  z'jxväv  e^cXa;  tpalvovxat"  und  p.  38,7:  „Yifvtxat  y%p  l^eXe;  re- 
tpdyop&ov  ix  uapuirdr/j;  ?e  /pco|AaTtxf);  ([JapuTipa;  Ttvö«  ty,;  tj|Aitoviala;)  ;rapv>- 
itdtTj;  xal  oiaxövoj  Xi/avoj  rrj;  ouvtovojtcItt;;,"  die  er  dem  Sinne  nach  gauz 
richtig  herstellt,  eine  ebenfalls  ganz  richtige  Erklärung  gegeben  hat,  genau 
durch  Angabe  desselben  Tetrachordes  e  e  g  a,  von  dem  er  im  Abschnitte  von 
der  emmelischen  Folge  der  Intervalle  in  der  Scilla  sagt  „es  sei  sonst  bei  Ari- 
stoxenus auch  nicht  eine  Spur  davon  zu  finden"!!! 


In  dem  gesammten  Abschn.  XII,  auf  den  Aristoxenus  so  viel  Gewicht 
legt,  darf  man  nicht  neue  Aufschlüsse  über  das  Sachliche  des  Melos 
suchen  (höchstens  etwa  Bestätigungen  des  schon  früher  von  Aristoxenus 
Vorgetragenen,  wie  z.  B.  eben  der  Tetrachord-Eintheilung  e  e  g  a);  die  ganze 
Bedeutung  dieses  Abschnittes  besteht  iu  der  logischen  Begründung  der  Inter- 
vall-Reiheufolge  auf  <ler  Scala. 

Doch  müssen  trotz  des  abstrakten  Inhaltes  die  Nachfolger  des  Aristoxenus 
an  dieser  seiner  Auseinandersetzung  grosses  Interesse  genommen  haben.  Nur 
so  erklärt  es  sieh,  dass  die  28  Problemata  einen  Ueberarbeiler  gefunden  haben, 
dessen  Arbeit  zum  Theil  in  unserer  Aristoxenus-Handschrift  eine  Stelle  erhal- 
ten und  die  genuinen  Worte  des  Meisters  verdrängt  hat.  Es  ist  auf  dem  Wege 
der  Handglossen  geschehen,  die  sieh  endlich  in  den  Text  eingedrängt  haben. 


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XII.   Die  emnielischen  Zusammensetzungen  der  Intervalle. 


305 


Diese  den  genuinen  Aristoxenus-Text  mehrfach  entstellende  Umarbeitung 
zeigt  sich  vom  9.  Problem  an.  Dort  werden  wir  die  Veranlassung  und  die 
Intention  der  Umarbeitung  angeben.  Aber  es  ist  die  Logik  der  28  Problemata 
eine  so  eng  und  fest  in  sich  geschlossene,  eine  so  Euklidisch-mathematische,  dass 
es  nicht  schwer  wird  zu  sagen,  was  bei  Aristoxenus  gestanden  haben  muss, 
ehe  die  Zusätze  aus  der  Umarbeitung  hinzugefügt  waren. 

Ueber  die  Methode  seiner  Erörterung  gibt  Aristoxenus  im  Problem  22, 
nachdem  er  interpellirt  worden,  eine  Erklärung  ab. 

Zwei  Axiome. 

1.  Problem  (als  erstes  Axiom). 

§  70.  Es  wird  nun  der  erste  und  noth wendigste  von  den 
Punkten,  welche  sich  auf  die  emmelischen  Zusammensetzungen  der 
Intervalle  beziehen,  zu  bestimmen  sein. 

Wenn  man  in  einem  der  drei  Tongeschlechter*)  durch  die  auf- 
einander folgenden  Scalatöne  auf  und  abwärts  geht,  einerlei  von 
welchem  Tone  man  anlangt,  so  bildet  jedesmal  entweder  der  vierte  der 
auf  einanderfolgenden  Scalatöne  mit  dem  ersten  die  Quartensymphonie, 
oder  der  fünfte  mit  dem  ersten  die  Quintensymphonie,  (oder  zu- 
gleich mit  dem  vierten  die  Quarte,  mit  dem  fünften  die  Quinte).**) 
Ein  Ton,  bei  welchem  keines  von  beiden  der  Fall  ist,  der  gelte  als 
ekmelisch  in  Beziehung  zu  jedem  vierten  oder  fünften  Ton,  mit 
dem  er  nicht  in  der  Quarte  oder  Quinte  stimmt 

Man  muss  aber  wissen,  dass  das  Gesagte  für  die  emmelische 
Zusammensetzung  des  Systemes  aus  Intervallen  nicht  ausreicht. 
Denn  wenn  auch  die  betreffenden  Klänge  die  angegebenen  Quarten- 
oder Quinten-Intervalle  bilden,  so  kann  das  System  trotzdem  ekme- 
lisch construirt  sein;  doch  wenn  jenes  Erfordernis*  nicht  stattfindet, 
so  hat  alles  übrige  keine  Bedeutung  mehr. 

Deshalb  ist  das  angegebene  als  erstes  Princip  aufzustellen,  bei 
dessen  Nichtvorhandensein  auch  kein  Hermosmenon  vorhanden  sei. 

*)  Fv  ravri  hi  fhei  der  libb.  muss  heissen  'Ev  navxi  oi\  fivei. 
**)  Aus  der  ersten  Harmonik  zu  ergänzen  rj  dy-yMpaiz. 

2.  Problem  (als  zweites  Axiom). 

§  71.  Dem  erörterten  ersten  Sat/e  analog  ist  derjenige  von 
der  Stellung  der  Tetrachurde  zu  einander. 

Ariitoieuut,  Melik  u.  Rhythmik.  20 


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306 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  71. 


1)  entweder  müssen  sie  mit  einander  symphoniren  dergestalt, 
dass  ein  jedes  Tetrachord  mit  jedem  der  übrigen  Tetrachorde  irgend 
ein  symphonisches  Intervall  (entweder  die  Quinte  oder  Quarte) 
bildet*); 

2)  oder  es  müssen  die  (mit  einander  nicht  symphonirenden) 
Tetrachorde  jedes  mit  ein  und  demselben  (dritten)  Tetrachorde  sym- 
phoniren, welches  zwischen  den  beiden  in  der  Mitte  liegt  —  sie 
schliessen  sich  nämlich  nicht  aneinander,  vielmehr  an  derselben 
Stelle  an  das  dritte,  mit  welchem  sie  symphoniren**). 

Aber  auch  dies  ist  noch  nicht  ausreichend,  wenn  die  Tetra- 
•  chorde  ein  und  desselben  Systemes  emmelisch  sein  sollen;  denn 
dazu  bedarf  es  noch  einiger  anderer  weiterhin  zu  besprechender 
Erfordernisse***).  Doch  wenn  es  nicht  der  Fall  ist,  ist  alles  übrige 
unnütz. 

*)  Die  mit  1)  bezeichnete  Eigenschaft  ist  diejenige  des  diazcuktischen 
Systems,  z.  B. 

A  Hcdcfgahcdefga 

Wir  setzen  die  vier  Systeme,  welche  unten  mit  dem  Tone  H  (der  Hypate 
hypaton)  anfangen,  über  einander,  indem  wir  dem  höchsten  die  oberste  Reihe, 
dem  tiefsten  die  unterste  anweisen. 

1.  Tetrach.  hyperbol      ^  f  e   f    g   a  "j  .  .  .  ^ 

2.  Tetrach.  diezeugm.      ^  ^  b  c   d    e     VIII  j 

3.  Tetrach.  meson  [  e   f  g   a  J  \  VI11  +  IV- 

IV  ' 

4.  Tetrach.  hypaton  ^  H  c   d    c    .  .  .  .  j 

Das  1.  Tetrachord  stimmt  mit  dem  2.  in  der  IV.  (Quarte),  und  zwar  so,  dass 
der  erste  Ton  des  1.  mit  dem  ersten  Ton  des  2.,  der  zweite  Ton  des  1.  mit 
dem  zweiten  Ton  des  2.  eine  Quarte  bildet.  In  analoger  Weise  stimmt  das 
2.  mit  dem  3.  in  der  V  (Quinte),  das  3.  mit  dem  4.  in  der  IV  (Quarte),  das  1 . 
mit  dem  3.  in  der  VIII  (Octave),  das  2.  mit  dem  4.,  ebenfalls  in  der  VIII,  das 
1.  mit  dem  4.  in  der  VIII  +  IV  (Combination  der  Octave  und  Quarte). 

**)  Um  die  Stelle  zpö;  tö  aÜTO  cvacptoveiv  jjl^j  inl  t<]>  aut^»  tdirtp  ouveyjrj  £vto  <u 
ajfjt'f  tuvet  iViTepov  em&v  hat  sich  Marq.  im  kritisch.  Comment.  S.  168  sehr  ver- 
dient gemacht,  indem  er  zeigt,  dass  [a-J]  gerade  das  Gregentheil  von  dem  be- 
sagt, was  hier  erforderlich  sei.  Aber  ich  möchte  nicht  seinem  Vorschlage  ge- 
mäss das  bedenkliche  Wort  streichen,  vielmehr  eine  handschriftliche  Lesart 
V-^i  eyöfxeva,  dX).'^  i-i  t<j>  aoTip  t6r«p  G-jvEyf]  tfvra  voraussetzen. 

***)  Die  mit  2)  bezeichnete  Eigenschaft  ist  diejenige  des  Synemmenon- 
Systems,  z.  B. 

AHcdef    gab  cd. 


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XII.   Die  emmelischen  Zusammensetzungen  der  Intervalle.  307 


Setzen  wir  auch  hier  die  drei  Tetrachorde,  wie  vorher,  unter  einander: 

1.  Tetraclu  synemmcnon    jy  r  a  ^   c    d  •  .  .  ' 

2.  Tetrach.  meson  l  e    f   g   a         ■  VII. 

3.  Tetrach.  hypaton  H   c   d   e  .  .  . 

Das  1.  und  3.  stehen  in  keiner  Symphonie,  sondern  in  einer  Diaphonie, 
denn  sie  bilden  eine  kleine  VII  (Septime):  H  a,  c  b,  d  c,  e  d.  Aber  sowohl 
das  1.  wie  das  3.  syniphonirt  mit  dem  dazwischen  gesetzten  2.  Tetrachorde  in 
der  IV  (Quarte). 

Denken  wir  nun  folgende  Toureihe: 

H  c  d  e  fis  g  a  h  eis  d  e  fis, 

so  wird  dieselbe  den  Anforderungen  des  2.  Problem  entsprechen:  wir  schreiben 
auch  diese  wie  die  beiden  vorausgehenden  Scalen  so,  dass  wir  die  Tetra- 
chorde über  einander  stellen: 

1.  eis   d   e   fis  1 

2.  )  fis    g   a    h  |  IX. 

3.  ^  H    c    d    e  J 

Den  Anforderungen  des  Satzes  2}  stimmt  das  oberste  und  unterste  Tetrachord, 
die  untereinander  in  der  IX  diaphoniren,  mit  dem  mittleren  Tetrachorde  in  der  V 
symphouiren.  Dennoch  aber  ist  die  vorstehende  Scala  von  H  bis  fis  ekmelisch 
(die  drei  Tetrachorde  sind  nicht  emmclisch  verbunden). 

Wir  fragen,  worin  liegt  das,  dass  die  Tetrachorde  dennoch  nicht  emmelisch 
verbunden  sind?  Darf  man  hier  antworten:  weil  etwas,  was  ebenfalls  in  dem 
Satze  2)  angedeutet,  bei  unserer  Tonreihe  nicht  vorhanden  sei?  Die  drei 
Tetrachorde  unserer  zweiten  Tonreihe  (A  bis  d)  sind  in  der  Synaphe,  die  drei 
Tetrachorde  in  der  dritten  Tonreihe  (H  bis  fis)  sind  diazeuktisch  aneinander 
gereiht,  und  eben  hierin  mus  es  liegen,  dass  ihre  Aneinanderfiigung  ekmelisch  ist. 

In  dem  Satze  2)  finden  wir  die  Worte:  £v  Tip  cit«)  *z6r.<p  ouveyf,  äyt« 
t]j  syjx'.pamr  ixdtepov  aitAv.  Sie  haben  den  Anschein,  als  ob  sie  blos  dies  be- 
deuten sollten,  dass  sich  das  obere  und  untere  Tetrachord  an  das  mittlere,  mit 
welchem  sie  symphoniren,  in  der  o-jvatpjj  anschliessen  sollten.  Doch  würde  man 
alsdann  toj  ai-roü  y%6noj  xotvaovl*;,  oder  auch  wohl  titi  toü  outoü  t<5toj 
xotvovia;  erwarten,  wie  es  weiterhin  heisst:  t<5w>u  t£  ?tvo;  xotvajvet  toL  tö»v  e£f; 

Auch  folgende '  Tonreihe : 

AHcdefgab  edeslg 

*■  *   < 

ist  wie  die  vorige  ekmelisch,  aber  auch  sie  entspricht  den  Anforderungen  des 
Problem  2,2)  aufs  genaueste: 

L    IV  f  d  68  f  ^  •  '  •  1 
2.    1     L  a    b    c   d         |  VII 


3.  r  e    i    g  a 

c    d  e 


4.     IV   (  H 


20« 


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308 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  71. 


Denn  die  unter  sich  in  der  VII  diaphonirenden  Tetrachorde  1  und  3  sympho- 
niren  jedes  mit  dem  dazwischen  stehenden  2.  Tetrachorde  in  der  IV,  und  ebenso 
die  unter  sich  in  der  VII  diaphonirenden  Tetrachorde  2  und  4  symphoniren 
jedes  mit  dem  3.  Tetrachorde  in  der  IV.  Ausserdem  findet  auch  die  töttou 
xoivtuvtv  statt;  auch  kommen  hierbei  ferner  die  Anforderungen  des  1.  Probleme» 
zu  ihrem  Rechte.  Aber  die  ganze  Tonreihe  ist  wie  gesagt  ekmelisch.  Hier 
also  wird  eintreten,  was  Aristoxenus  zum  Schlüsse  des  Problem  2  sagt:  Es 
seien  diese  Erfordernisse  nicht  ausreichend,  es  bedürfe  dazu  noch  einiger  anderer 
Erfordernisse,  von  denen  im  weiteren  Fortgänge  die  Rede  sein  werde. 

Es  muss  zufolge  dieses  Selbstcitates  in  dem  von  den  Systemen  handelnden 
Abschnitte  XII,  und  zwar  in  der  von  Aristoxenus  an  einer  anderen  Stelle 
citirten  Partie  von  der  ojvöcoi;  der  Systeme  der  Satz  enthalten  gewesen  sein, 
dass,  wenn  vier  Tetrachorde  aneinander  gereiht  werden,  zwischen  dem  2.  und  3. 
(von  der  Tiefe  an  gerechnet)  oder  zwischen  dem  3.  und  4.  eine  Diazeuxis 
bestehen  müsse,  also 

AHc  d  ef  gahe  d  efga, 

V  'V  l\  <V  ' 

oder 

A  Hcdefgabedefga. 

Diesem  (später  dargelegten)  Erfordernisse  trägt  die  obige  Scala  von  A  bis  g 
(aus  vier  Tetrachorden  mit  Diazeuxis  nach  dem  zweiten  oder  dritten  bestehend) 
keine  Rechnung  und  ist  deshalb  ekmelisch. 

Marq.  S.  340  sagt  mit  Bezug  auf  jenen  Schluss  des  2.  Problems:  „Was 
Aristoxenus  übrigens  mit  den  anderen  Dingen  meint,  deren  es  noch  für  die 
Zugehörigkeit  der  Tetraehorde  zu  einem  System  bedürfe,  ist  bei  dem  tiefen 
Schweigen,  welches  andere  Schriftsteller  über  diesen  Punkt  beobachten,  uicht 
mehr  zu  errarhen."  Wir  machen  den  Anspruch,  diese  übrigen  Erfordernisse, 
an  welche  Aristoxenus  denkt,  aus  dem  Zusammenhange  der  Aristoxenischen 
Darstellung  mit  Hülfe  von  etwas  Combiuation  aufgefunden  zu  haben.  Es  ist 
das  nun  einmal  die  Eigentümlichkeit  des  Aristoxenischen  Denkens,  welches 
vorwiegend  ein  logisch-mathematisches  ist,  dass  wir  unter  strengster  Festhaltung 
der  von  ihm  angewandten  Methode  auf  Grund  seiner  Prämissen  nothwendig 
zu  richtigen  Consequenzen  gelangen  müssen,  aus  denen  wir  Vieles  von  dem 
in  den  Handschriften  Verlorenen  mit  Sicherheit  restituireu  können.  Nur  die 
mathematische  Methode  macht  dies  möglich,  in  der  Harmonik  nicht  minder  als 
in  der  Rhythmik,  von  der  wir  ja  weit  mehr  echter  Aristoxenischer  Doctrin 
besitzen,  als  uns  in  den  verstümmelten  Handschriften  Überkommen  ist.  Bei 
keinem  anderen  antiken  Schriftsteller  würde  dies  iler  Fall  sein  können. 


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XII.    Die  emmeliseheu  Zusammensetzungen  der  Intervalle.  309 


ZWEITES  BUCH. 

Die  meisten  Handschriften  (wie  es  scheint)  geben  nicht  die  Ueberschrift 
zweites  Buch,  sondern  drittes  Buch,  vgl.  S.  170. 

Dass  gerade  an  dieser  Stelle  in  dem  Werke  des  Aristoxenus  ein  neues 
Buch  beginnt,  dass  innerhalb  des  Abschnittes  XII  die  beiden  ersten  Proble- 
mata  noch  dem  ersten,  die  folgenden  26  Problemata  aber  dem  zweiten 
Buche  zugewiesen  sind,  dürfte  wohl,  wir  gestehen  es,  ein  Bedenken  erregen. 
Aber  der  handschriftlichen  Ueberlieferung  zufolge  beginnt  nun  einmal  an  dieser 
Stelle  ein  neues  Buch,  und  wir  werden  in  dieser  Beziehung  den  Aristoxenus 
wohl  nicht  nachbessern  dürfen.  Auch  die  Harmonik  des  Ptolemaeus  bietet  die 
nämlichen  Inconvenienzen.  Denn  auch  hier  würde  das  letzte  Capitel  des 
ersten  Buches  nach  unserem  Ermessen  mit  dorn  ersten  Capitel  des  zweiten 
Buches  im  untrennbaren  Zusammenhange  zu  stehen  scheinen.  Eben  dasselbe 
bemerken  wir  ferner  auch  bei  der  Grrenzscheide  des  zweiten  und  dritten 
Buches  der  Ptolemaeischen  Harmonik,  denn  die  Uebertragung  der  Harmonik 
auf  die  Astronomie,  welcher  der  Schlusstheil  der  Ptolemaeischen  Harmonik 
gewidmet  ist,  beginnt  bereits  im  dritten  Capitel  des  dritten  Buches ,  während 
das  erste  und  zweite  Capitel  desselben  dem  Inhalte  nach  sich  eng  an  das  im 
zweiteu  Buche  Behandelte  anschliessen.  So  wollen  wir  auch  dem  Aristoxenus 
die  auffallende  Abtheilung  nach  Büchem  hingehen  lassen.  In  der  ersten 
Harmonik  des  Aristoxenus  gehört  der  sehr  deeimirte  Abschnitt  XII  dem  ersten 
Buche,  in  der  zweiten  Harmonik  würde  also  nur  der  Anfang  dieses  Abschn.  XII 
dem  ersten  Buche  zugewiesen  sein,  die  ungleich  umfangreichere  Fortsetzung 
des  Abschn.  XII  dagegen  dem  zweiten  Buche.  Beiden  harmonischen  Werken 
des  Aristoxenus  wäre  also  bezüglich  ihrer  Einteilung  in  Bücher  gemeinsam, 
dass  die  Abschnitte  I  bis  XI  dem  ersten  Buche  angehören,  dass  auch 
Abschn.  XII  in  der  ersten  Harmonik  gänzlich  (wenigstens  sämmtliche 
Fragmente,  welche  davon  erhalten  sind)  noch  dem  ersten  Buche  augehört, 
in  dem  2.  harmonischen  Werke  des  Aristoxenus  dagegen  nur  der  erste  An- 
fang des  Abschn.  XII  dem  ersten  Buche  zugewiesen  ist,  nämlich  die  beiden 
Axiome,  auf  deren  Grundlage  die  Probleme  über  die  Intervall-Reihenfolge 
bewiesen  werden. 

Die  Disposition  der  Probleme  ist  nun  folgende  (von  Aristoxenus  reiflich 
geplante,  wie  dessen  Vorbemerkung  zu  Probl.  14  zeigt): 

I.  Zwei  Probleme  über  Synaphe  und  Diazeuxis. 

3.  Probl.    Die  Tetrachorde  sind  entweder  verbundene  oder  getrennte. 

4.  Probl.   Bios  die  Theile  des  Quarten-Tetrachordes  sind  veränderlich, 
das  Diazeuxis-Intervall  ist  unveränderlich. 

II.  Erstes  Problemen-Paar  über  die  einfachen  Intervallgrössen. 

5.  Probl.   Das  unzusammengesetzte  Intervall  ist  von  zwei  aufeinander 
folgenden  Klängen  der  Scala  umschlossen. 


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310  Aristoxenus  zweite  Harmonik.  §  72. 

6.  In  jedem  Tongeschlechte  giebt  es  höchstens  so  viel  unzusammengesetzte 
Intervallgrössen  wie  in  dem  Quinten-Pentachorde. 

III.  Sieben  Probleme  über  die  Aufeinanderfolge  gleicher  Inter- 

vallgrössen. 

7.  Probl.   Auf  ein  Pyknon  kann  nicht  wieder  ein  Pyknon  folgen. 

8.  Probl.  Der  tiefere  Grenzklang  des  Ditouos-Inteivalles  ist  identisch 
mit  dem  höchsten  des  Pyknon,  der  höhere  mit  dem  tiefsten  Grenz- 
klange des  Pyknon. 

9.  Prubl.  Der  höhere  Grenzklang  eines  Ganzton-Intervalles  ist  der  tiefste 
eines  Pyknon. 

10.  Probl.    Auf  einen  Ditonos  kann  nicht  wiederum  ein  Ditonos  folgen. 

11.  Probl.    Im  Enharmonion  und  Chroma  benachbart  nicht  zwei  Ganztöne 

12.  Probl.    Im  Diatonon  können  drei  Ganztöne  aufeinander  folgen. 

1 3.  Probl.  Im  Diatonon  können  nicht  zwei  Halbtöne  nebeneinander  stehen. 

IV.  Fünf  Probleme  über  die  Aufeinanderfolge  ungleicher  Inter- 

vallgrössen. 

14.  Probl.   Neben  einem  Ditonos  oben  und  unten  ein  Pyknon. 

15.  Probl.   Neben  einem  Ditonos  ein  Ganzton  blos  unterhalb. 

16.  Probl.   Neben  einem  Pyknon  ein  Ganzton  blos  unterhalb. 

17.  Probl.   Im  Diatonon  der  Halbton  nicht  zugleich  oberhalb  und  unter- 
halb des  Ganztones. 

18.  Probl.    Neben  einem  Halbtone  ober-  und  unterhalb  2  oder  3  Ganztöne. 

V.  Vier  Probleme  über  die  Anzahl  der  unteren  und  oberen  Nach- 

barintervalle 

19.  Probl.   des  Halbtones, 

20.  Probl.   des  Ditonos, 

21.  Probl.   des  Pyknon, 

22.  Probl.   des  enharmonischen  Ganztones. 

VI.  Vier  Probleme  über  die  Theile  des  Pyknon. 

23.  Probl.    In  der  Synaphe  gehört  jeder  enharmonische  und  chromatische 
Klang  dein  Pyknon  an. 

24.  Probl.   Drei  verschiedene  Chorai  für  die  Klänge  de«  Pyknon. 

25.  Probl.    Beim  Barypyknos  zwei  Nachbar  kl  An  ge,  beim  Mesopyknos  und 
Oxypyknos  nur  ein  Nachbarklang. 

26.  Probl.   Zwei  ungleichnamige  Kliinge  des  Pyknon  haben  nicht  dieselbe 
Tonstufe. 

VII.  Zweites  Problemen- Paar  über  die  unzusammengesetzten  In- 

ter  vallgrö8sen.  ' 

27.  Probl.  Das  Diatonon  hat  entweder  zwei  oder  drei  oder  vier  unzu- 
sammengesetzte Intervallgrössen. 

28.  Probl.  Das  Chroma  und  das  Enharmonion  hat  entweder  drei  oder 
vier  verschiedene  unzusaminengcsetzte  Intervallgrössen. 


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XII.   Die  emmelischen  Zusammensetzungen  der  Intervalle.  311 


Zwei  Probleme  über  Synaphe  und  Diazeuxis. 

(„7:f>ößX7)!Aau  genannt  in  §.  76). 

3.  Problem. 

§  72.  Die  auf  einander  folgenden  Tetrachorde  sind  entweder 
verbunden  oder  getrennt  (synemmena  oder  diazeuktisch).  Verbindung 
(Synaphe)  heisse  es,  wenn  zwei  in  der  Scala  auf  einander  folgende 
Tetrachorde,  welche  dem  Schema  nach  analog  sind,  in  der  Mitte 
einen  Klang  gemeinsam  haben.  Trennung  (Diazeuxis),  wenn  zwischen 
zwei  in  der  Scala  aufeinander  folgenden  Tetrachorden,  die  dem  Schema 
nach  analog  sind,  ein  Ganzton  in  der  Mitte  steht. 

efgabcd       efga  hcde 
Synaphe  Diazeuxis. 

Beweis: 

Dass  bei  benachbarten  Tetrachorden  eines  von  beiden  Statt 
finden  muss,  ergiebt  sich  aus  dem  zu  Grunde  gelegten  (lsten  Problem 
5  70). 

Denn  stimmt  der  erste  mit  dem  vierten  Klange  in  der  Quarte, 
so  bildet  er  eine  Synaphe. 

Synaphe 

e   f  g    i\  b  c  d 

'  •!  

Stimmt  aber  der  erste  mit  dem  vierten  nicht  in  der  Quarte,  sondern 
statt  dessen  mit  dem  fünften  in  der  Quinte,  so  bildet  er  eine 
Diazeuxis. 

Diazeuxis 

'  v       '  \ 

e   f  g    a  he   d  e 

!  I  

!  — 

Der  Klang  f  bildet  mit  h  (dorn  vierten  von  ihm)  nicht  eine  Quarte,  sondern 
einen  Tritonus,  dagegen  mit  dem  fünften  c  eine  Quinte.  So  findet  vor  der 
höheren  Grenze  des  Tritonus-Intervalles  f  h  ein  diazeuktischer  Ganztoii  a  h  statt. 

Eines  von  den  beiden  letzteren  wird  bei  den  (benachbarten) 


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312 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  73. 


Klängen  der  Fall  sein,  es  wird  daher  auch  bei  den  benachbarten 
Tetrachorden  Eines  von  den  beiden  zuerst  angegebenen  stattfinden. 

Zusatz: 

§  73.  Jetzt  war  einer  von  den  Zuhörern  bezüglich  der  Auf- 
einanderfolge in  Zweifel,  zunächst  im  Allgemeinen,  worin  (bei  den 
Systemen)  die  Aufeinanderfolge  bestehe,  dann  ob  sie  bloss  auf  Eine 
oder  auf  mehrere  Weisen  vor  sich  gehen  könne,  drittens  ob  etwa  beides, 
die  (a)Synemmena  und  die  ;b)  Diezeugmena,  eine  Aufeinanderfolge  seien. 

Hierauf  wurden  nun  etwa  folgende  Auseinandersetzungen  ge- 
geben. 

Im  allgemeinen  seien  diejenigen  „aufeinander  folgende"  Systeme, 
deren  Grenzklänge  (b)  einander  folgen  oder  (a^  dieselben  sind. 

Von  der  Aufeinanderfolge  gebe  es  aber  zwei  Arten,  (a)  die  eine, 
(wo  mit  der  tieferen  Grenze  des  höheren  Systemes  die)  höhere  (Grenze 
des  tieferen  Systemes  zusammenfällt),  (b)  die  andere,  bei  welcher  der 
tiefere  Grenzklang  des  höheren  Systemes  auf  den  höheren  Grenzklang  des 
tieferen  Systemes  folgt.  Bei  (a)  der  ersten  Art  haben  die  Systeme  der 
aufeinander  folgenden  Tetrachorde  eine  Stelle  gemeinsam  und  sind 
noth  wendig  einander  ähnlich,  bei  (b)  der  zweiten  Art  sind  sie  von  ein- 
ander gesondert  und  die  Schemata  (eiör,)  der  Tetrachorde  können 
ähnlich  sein.  Dies  ist  der  Fall,  wenn  ein  Ton  in  der  Mitte  liegt, 
anders  nicht. 

Mithin  folgen  zwei  derartige  ähnliche  Tetrachorde  auf  einander, 
zwischen  denen  entweder  (b)  ein  Ganzton-Intervall  in  der  Mitte  liegt 
oder  (a)  deren  Grenzklänge  identisch  sind,  so  dass  die  aufeinander- 
folgenden Tetrachorde,  wenn  sie  ähnlich  sind,  nothwendiger  Weise 
entweder  (a)  synemmena  oder  (b)  diazeugmena  sein  müssen. 

§  73b.  Wir  behaupten  aber,  dass  zwischen  zwei  aufeinander- 
folgenden Tetrachorden  entweder  kein  Tetrachord  in  der  Mitte  sein 
darf,  oder  kein  unähnliches. 

Sind  die  Tetrachorde  dem  Schema  nach  ähnlich,  so  wird  kein 
unähnliches  in  die  Mitte  derselben  gesetzt. 

Sind  sie  unähnlich,  folgen  sie  aber  aufeinander,  so  kann  in  die 
Mitte  derselben  ein  Tetrachord  gesetzt  werden. 

Aus  dem  Gesagten  ergiebt  sich,  dass  Tetrachorde  von  gleichem 
Schema  in  den  zwei  genannten  Weisen  aufeinander  folgen  können. 


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XII.   Die  cmmelischen  Zusammensetzungen  der  Intervalle.  313 


Ueber  den  Zusatz  zu  diesem  Probleme  sagt  Marq.  S.  342:  „Die  Zweifel, 
„welche  hier  gegen  die  Definition  erhoben  werden,  erscheinen  uns  freilich 
„etwas  schülerhaft."  Wir  geben  gern  zu,  dass  der  Zuhörer,  welcher  den 
Aristoxenus  hier  interpellirt ,  bei  weitem  nicht  den  Scharfsinn  verräth,  wie 
derjenige  Zuhörer,  auf  dessen  Bedenken  Aristoxenus  in  §  53  b.  der  zweiten 
Harmonik  eingeht.  Marq.  meint  ferner  „Vielleicht  hat  nur  die  Neuheit  der 
„Behandlung  solcher  Puncte  das  Verständnis»  erschwert.  Dies  zu  erleichtem 
„dient  allerdings  die  Ausdrucks  weise  in  der  folgenden  Beantwortung  des 
„Aristoxenus  nicht.  Denn  wenn  gesagt  wird,  solche  Tetrachorde  seien  zu- 
sammenhangend, deren  Grenzklänge  entweder  auf  einander  folgen  oder  in 
„einander  übergehen,  so  ist  der  Ausdruck  t;f(;  nicht  gut  gewählt,  da  es  ja 
„jedem  Leser  oder  Hörer  hiernach  so  seheinen  muss,  als  ob  jener  Ausdruck 
„d.  h.  eine  Aufeinanderfolge  nur  von  der  Trennung  gelte,  nicht  aber  von  der 
„Verbindung.  Das  Unzuträgliche  liegt  mithin  darin,  dass  dasselbe  Wort  erst 
„zur  Bezeichnung  des  Allgemeinen  und  als  ternünus  technicus,  nachher  da- 
„gegen  für  die  eines  Besonderen  und  in  gewöhnlicher  Bedeutung  verwandt 
„wird.  Erhöht  wird  die  Undeutlichkeit  für  Xiehteingeweihte  noch  dadurch, 
„dass  unmittelbar  darauf  das  Wort  wieder  in  jener  ersten,  allgemeinen  Weise 
„gebraucht  wird,  wo  die  Art  der  Anknüpfung  erst  recht  zu  einem  Missver- 
„ständniss  führen  könnte,  welches  dann  erst  durch  die  folgende  Auseinander- 
„legung  beseitigt  werden  würde.  Die  Entschuldigung  für  solche  kleine  Mangel 
„liegt  doch  wohl  in  der  Schwierigkeit,  gleich  beim  ersten  Anlauf  den  Stoff 
„völlig  zu  bewältigen  und  den  Sprachgebrauch  bestimmt  zu  fixiren.'* 

Ueber  das,  was  Marq.  für  Mängel  der  Aristoxenischen  Darstellung  hält, 
wird  man  richtig  urtheilen,  wenn  man  die  drei  Fragen,  welche  der  Zuhörer  an 
Aristoxenus  richtet,  sieh  gehörig  klar  macht: 

1.  Worin  besteht  im  Allgemeinen  „to  £?-?,;''?  Er  meint  hier  .,-ro  e;f(;  izi 
:äv  avsTTifAd-ajv"  d.  i.  die  continuirliche  Aufeinanderfolge  nicht  der  Inter- 
valle, sondern  der  Systeme,  wie  aus  dem  Anfange  der  von  Aristoxenus  in  der 
Antwort  gebrauchten  Worte  hervorgeht:  „x*9äXou  tau-ra  givat  vwi^i-a  auve/f/*. 
Wir  werden  daher  wohl  in  unserem  Rechte  sein,  wenn  wir  annehmen,  dass 
dieser  Antwort  analog  auch  die  Frage  gelautet  habe,  also  nicht  blos  „xadoXov 
ti  no-:'  iort  tä  sondern  dass  der  fragende  Zuhörer  hinter  „to  t?^;"  etwa 

noch  die  Worte  ,,-rö  ItI  töjv  ojrrr^dzoiv"  hinzugefügt  habe,  welche  in  der 
handschriftlichen  Ueberlieferung  dieser  Stelle  ausgefallen  sind.  Aristoxenus 
gibt  auf  diese  Frage  die  Auskunft:  xa8<5).ou  tiüt  ctvat  O'jsTT.fiara  ouve/f,,  u>v 
ol  3poi  f,?oi  £;f)«  ebiv  r,  £-o).XaTT0U3i".  Wie  dies  Gogavinus  und  ihm  folgend 
auch  Meibom  übersetzt  hat:  „In  Genere  illa  esse  systemata  continua,  quorum 
termini  aut  deineeps  sint  aut  alternent"  Meib..  sind  freilich  die  Worte  des 
Aristoxenus  nicht  richtig  zu  verstehen.  Marq.  und  Ruelle  geben  das  Richtige: 
„Im  Allgemeinen  seien  die  Systeme  zusammenhängend,  deren  Grenzklänge 
entweder  aufeinander  folgen  oder  in  einander  übergehen'',  ,,En  general,  tels 
Systeme*  sont  Continus  lorsque  leurs  limites  sont  ou  successives  ou  bien  ran- 


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314 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  74. 


tuelles".  Wer  die  weiteren  Worte  des  Aristoxenus  verfolgt,  dem  wird  not- 
wendig klar  werden,  dass  die  zweite  der  in  der  Beantwortung  der  ersten 
Frage  aufgestellten  Alternativen  nur  den  von  Marq.  und  Ruelle  angegebenen 
Sinn  haben  kann. 

2.  Die  zweite  Frage  des  Zuhörers  war:  „Findet  bei  den  Systemen  das 
e;7j;  auf  eine  einzige  Weise  oder  mehrere  Weisen  statt?"  Hierauf  antwortet 
Aristoxenus:  „xoO  5'  ££f,;  (etvoi  i*  wzxr^na)  ouo  -pdrot  etolv".  Hier  ist  frei- 
lich wie  Marq.  sagt  das  Wort  i*ffi  in  einem  anderen  Sinne  aufzufassen,  als 
wie  in  dem  unmittelbar  Vorhergehenden :  ol  3poi  fcot  i;f(;  elsiv.  Denn  dort  war 
von  dem  ecfj;  der  Grenzen  des  uiazcuktischen  Tones  die  Rede,  lüer  von  dem 
sowohl  die  Diazeuxis  wie  die  Synaphe  umfassenden  e;^;  der  Tetrachord-Systeme, 
wie  oben  erklärend  von  mir  augegeben  ist  ,.ToO  6'  cgijt  (cnat  xd  ou<jx-fjf*axa)  &0o 
xpöroi  efolV,  obwohl  ich  nicht  behaupten  will,  dass  die  eingeklammerten  Worte 
dem  handschriftlichen  Texte  hinzuzufügen  seien,  denn  auch  ohne  solchen  Zu- 
satz kann  Aristoxenus  nicht  wold  missverstanden  werden.  Nur  Eines  möchte 
man  bei  Aristoxenus  anders  wünschen  können. 

Er  ist  zuletzt  gefragt  worden  in  der  Reihenfolge:  a.  Synem- 
mena,  b.  Diazeugmenä*.  In  der  allgemeinen  Beantwortung  hält  er  die 
umgekehrte  Reihenfolge  ein:  b.  Diezeugmena,  a.  Syneminena.  In  der  spcciellen 
Erörterung  zuerst  zweimal  die  alte  Reihenfolge  ab.  Mit  den 
Worten:  „Mithin  folgen"  wieder  die  umgekehrte  Reihenfolge  ba; 
beim  Totalschluss  Rückkehr  zur  ursprünglichen  Ordnung;  wie 
dies  Alles  in  der  Uebersetzung  angedeutet  ist.  Doch  ein  wirkliches 
Missverständniss  kann  durch  diesen  Wechsel  in  der  Reihenfolge  nicht  ent- 
stehen. Einen  Grund  dazu  wird  Aristoxenus  wohl  gehabt  haben.  Denn  mit 
Rücksicht  auf  den  ihn  interpellirenden  Zuhörer  und  im  Anschlüsse  an  die 
Frage  hat  er,  wie  es  scheint,  zuerst  die  diazeuktische  Aufeinanderfolge  der 
Systeme  berücksichtigt,  bei  welcher  das  e;f(;  mehr  als  bei  der  Synaphe  dem 
i^;  der  Intervalle  entspricht.  Dann  aber,  beim  näheren  Eingehen  auf  die 
Bedenken,  redet  er  Dezüglich  der  beideii  xp<$™  in  der  beim  Anfange  des 
Problemes  3  von  ihm  eingehaltenen  Reihenfolge:  Synaphe  und  Diazeuxis.  Erst 
beim  Abschluss  seiner  Entgegnung  nimmt  er  wieder  die  Reihenfolge  auf  (Dia- 
zeuxis und  Synaphe),  in  welcher  er  anfänglich,  der  Fassungskraft  des  inter- 
pellirenden Zuhörers  entgegenkommend,  seine  Beantwortung  gehalten  hat 

Wollen  wir  der  Concinität  der  Aristoxenischen  Darstellung  einen  wirk- 
lichen Vorwurf  machen,  so  kann  dies  nur  der  sein,  dass  der  dritten  Frage  des 
Interpellirenden : 

3.  „ob  etwa  beides,  sowohl  Synaphe  wie  Diazeuxis,  eine  continuirliche 
Aufeinanderfolge  sei"  nicht  weiter  gedacht  wird.  Denn  sachlich  auf  diese 
dritte  Frage  einzugehen,  war  nicht  nöthig,  da  sie  durch  die  Beantwortung  der 
zweiten  Frage  vollkommen  erledigt  war. 


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XII.   Die  emmelischen  Zusammensetzungen  der  Intervalle. 


315 


4.  Problem. 

§  74.  Bei  dem  Unterschiede  der  Tongeschlechter  sind  bloss  die 
Theile  des  Quarten-Intervalles  veränderlich,  dass  der  Diazeuxis  an- 
gehörende Intervall  ist  unveränderlich. 

Beweis:  Jedes  Hermosmenon,  welches  aus  mehr  als  einem  Te- 
trachorde  besteht,  hatten  wir  in  die  Synaphe  und  die  Diazeuxis  ge- 
theilt  (Probt  3).  Die  Synaphe  besteht  blos  aus  den  unzusammen- 
gesetzten Theilen  (der  Quarte),  sodass  also  in  diesem  nothwentlig 
nur  die  vier  Theile  des  Quarten-Tetrachordes  veränderlich  sein 
werden.  Die  Diazeuxis  hat  aber  ausser  diesen  noch  ein  eigenes 
Intervall,  den  Ganzton.  Wenn  nun  gezeigt  wird,  dass  der  der  Dia- 
zeuxis eigene  Ganzton  bei  der  Unterscheidung  der  Geschlechter 
nicht  veränderlich  ist,  so  bleibt  offenbar  nur  übrig,  dass  die  Aende- 
rung  sich  nur  auf  die  vier  Theile  der  Quarte  bezieht. 

Es  ist  der  tiefere  der  das  Ganzton-Intervall  umschliessenden 
Klänge  identisch  mit  demjenigen  von  den  beiden  Klängen,  welche 
das  tiefere  der  in  der  Diazeuxis  stehenden  Tetrachorde  um- 
fassen; der  höhere  Grenzklang  des  Tetrachordes  aber  war  (nach  §  50) 
unveränderlich  bei  dem  Unterschiede  der  Tetrachorde.  Der  tiefere 
von  den  das  diazeuktische  Ganzton-Intervall  umschliessenden  Klängen 
ist  identisch  mit  dem  tieferen  von  den  beiden  Klängen,  welche  das 
höhere  der  in  der  Diazeuxis  stehenden  Tetrachorde  umschliessen. 
Nicht  weniger  war  auch  dieser  bei  dem  Unterschiede  der  Tetra- 
chorde ein  unveränderlicher  (nach  §  50). 

Ist  es  also  klar  geworden,  dass  die  den  diazeuktischen  Ganz- 
ton begrenzenden  (Klänge)  bei  dem  Unterschiede  der  Tongeschlechter 
unveränderlich  sind,  so  bleibt  offenbar  nur  dies  übrig,  dass  blos  die 
Theile  der  Quarte  bei  den  genannten  Unterschieden  veränderlich  sind. 

Auch  hier  erklärt  sieh  Marq.  S.  345  mit  der  Darstellung  des  Textes  für 
unbefriedigt:  der  Ausdruck  passe  nach  Aristoxenischer  Anschauung  nicht 
recht  .  .  .  „man  müsste  denn  xerrdjiajv  „vier"  als  einen  Fehler  ansehen  und 
-rpt&v  „drei**  schreiben;  doch  befriedigen  solche  Verbesserungen  nicht  recht, 
weil  sie  eben  gar  zu  sehr  auf  der  Oberfläche  liegen".  Marquards  Unzufrieden- 
heit wird  durch  einen  in  dem  von  Aristoxenus  geführten  Beweise  stehenden 
Ausdruck  erregt.  Dass  die  von  Marq.  vorgeschlagene  Aenderung  von  „vier" 
in  „drei"  gar  zu  sehr  auf  der  Oberflftchc  liegen  würde,  darin  geben  wir  ihm 
Recht.  Aber  ebenso  nahe  würde  es  gelegen  haben,  den  anstössigen  Ausdruck 
des  Beweises  mit  dem  analogen  Ausdrucke  des  zu  beweisenden  Lehrsatzes  zu 


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316 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  75— T8. 


vergleichen:  da  würde  sich  gezeigt  haben,  dass  in  dem  Beweise  etwas  anderes 
als  im  Lehrsätze  gesagt  ist.  Marq.  brauchte  aus  den  Worten  des  Lehrsatzes 
in  die  des  Beweises  nur  ix  (xd>v  toü  otd)  Teaaipmv  ptpröv  fxova,  eine  Verbin- 
dung, die  zu  allem  Ueberflussc  auch  noch  in  dem  unmittelbar  darauf  fol- 
genden Satze  des  Beweises  wiederholt  wird,  einzuschalten,  so  hätte  er  sich 
durchaus  zufrieden  stellen  können.  Alle  Anerkennung  Ruclles  französischer 
Uebersetzung,  dass  sie  die  Notwendigkeit  dieser  Einschaltung  erkannt  hat. 

Erstes  Problemen-Paar  über  unzusammengesetzte  Intervallgrössen. 

5.  P  r  o  b  1  e  m. 
(„rip'JßX^jjia"  genannt  §  76). 

§  75.  Ein  unzusammengesetztes  Intervall  ist  dasjenige,  welches 
von  zwei  aufeinander  folgenden  Scalatönen  umschlossen  wird. 

Beweis:  Sind  die  Töne,  welche  umschliessen,  aufeinander  fol- 
gende Scalatöne,  so  giebt  es  keinen,  der  zwischen  ihnen  fehlt.  Fehlt 
keiner,  dann  giebt  es  keinen,  welcher  zwischen  sie  fallen  müsste. 
Kann  keiner  dazwischen  fallen,  dann  wird  er  auch  keine  Theilung 
machen,  was  aber  keine  Theilung  hat,  wird  auch  keine  Zusammen- 
setzung enthalten,  denn  Alles  was  zusammengesetzt  ist,  ist  aus 
Theilen  zusammengesetzt,  und  in  diese  kann  es  auch  getheilt  werden. 

Zusatz: 

§  76.  Auch  in  Beziehung  auf  dieses  Problem  irrt  man  sich 
bezüglich  der  Thatsache,  dass  ein  unzusammengesetztes  Intervall  von 
derselben  Grösse  sein  kann  wie  das  zusammengesetzte  eines  anderen 
Tongeschlechtes.  Man  wundert  sich  nämlich,  wie  es  möglich  sei,  dass 
dasDitonos-Intervall,  welches  doch  ein  unzusammengesetztes  Intervall 
(des  enharmonischen  Geschlechtes)  sei,  in  zwei  Ganztöne  zu  theilen. 
und  wiederum  wie  der  Ganzton  ein  unzusammengesetzter  sei,  da 
man  ihn  doch  in  zwei  Hemitonia  zertheile.  Dasselbe  bemerkt  man 
auch  Betreffs  des  Halbtones. 

Dieser  Irrthum  kommt  daher,  weil  man  nicht  einsieht,  dass 
manche  der  Intervallgrössen  einem  zusammengesetzten  und  einem 
unzusammengesezten  Intervalle  gemeinsam  sind.  Gerade  dies  ist  ja 
der  Grund,  dass  das  unzusammengesetzte  Intervall  nicht  durch  die 
Grösse,  sondern  durch  die  umschliessenden  Töne  definirt  worden 
ist.  Ist  nämlich  das  Ditonos-Intervall  von  der  Mese  und  Lichanos  um- 


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XII.  Die  emmelischen  Zusammensetzungen  der  Intervalle.  317 


schlössen  (in  der  Enharmonik) ,  so  ist  es  unzusanimengesetzt ;  ist 
es  von  der  Alese  und  Parhypate  umschlossen  (im  Diatonon)  so  ist 
es  zusammengesetzt,  und  eben  deshalb  sagen  wir,  dass  der  Begriff 
des  TTnzusammengesetzten  nicht  in  der  Grösse,  sondern  in  den  um- 
schliessenden  Tönen  liege. 

6.  Problem, 
(„npiß/r^a"  genannt). 

§  77.  In  jedem  Tongeschlechte  giebt  es  (für  jede  einzelne 
Chroa  desselben)  höchstens  nur  so  viele  unzusammengesetzte  Inter- 
vallgrössen  als  die  Zahl  der  Intervallgrösi-en  in  der  Quinte  beträgt 
—  also  höchstens  vier. 

Beweis:  Jedes  Tongeschlec  ht  wird  entweder  in  der  Synaphe  oder 
in  der  Diazeuxis  ausgeführt,  wie  oben  (Probl.  3  §  72)  gesagt  ist.  Es 
ist  gezeigt  (Probl.  4  §  74),  dass  die  Synaphe  bloss  aus  den  vier 
T heilen  der  Quarte  besteht,  die  Diazeuxis  aber  noch  das  ihr  vor 
der  Synaphe  eigenthümliche  Intervall  hinzufügt,  nämlich  den  (dia- 
zeuktischen)  Ganzton;  wenn  aber  dieser  Ganzton  zu  den  vier  Theilen 
der  Quarte  hinzukommt,  dann  ist  die  Quinte  ausgefüllt. 

Da  nun  in  keinem  Tongeschlechte,  sofem  es  in  Einer  Chroa 
genommen  wird,  die  Zahl  der  (verschiedenen)  ulizusammengesetzten 
Intervalle  grösser  ist  als  die  Anzahl  der  Intervalle  in  der  Quinte, 
so  ist  klar,  dass  in  einem  jeden  höchstens  so  viel  unzusammenge- 
setzte  Intervalle  wie  in  der  Quinte  sind. 

Zusatz: 

§  78.  Es  ist  gewöhnlich,  dass  einige  auch  bei  diesem  Probleme 
in  Bedenken  gerathen,  nämlich  dieses:  weshalb  liier  „höchstens'4  hinzu- 
gefügt und  aus  welchem  Grande  nicht  einfach  gezeigt  ist,  dass  jedes 
Tongeschlecht  aus  so  viel  einfachen  Intervallen,  wie  in  der  Quinte 
enhalten  sind,  bestehe. 

Dem  wird  erwidert,  dass  jedes  Tongesehlecht  wohl  eine  ge- 
ringere Zahl  unzusammengesetzter  Iutervallgrössen  enthalten  kann, 
niemals  aber  eine  grössere.  Deshalb  ist  eben  zuerst  dies  nach- 
gewiesen, dass  jedes  Tongeschlecht  unmöglich  aus  mehr  einfachen 
Intervallen  als  die  Quinte  hat  bestehen  kann.  Dass  es  aber 
auch  vorkommt,  dass  dasselbe  eine  geringere  Zahl  enthält,  wird  (im 
Probl.  27.  28)  gezeigt  werden. 


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Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  79.  80. 


Da8s  die  Anzahl  der  unzusammengesetzten  Intervallgrösscn  in  der 
Quinte  höchstens  vier  betragt,  wird  ausdrücklich  im  Problem  27  angegeben 
,,£oti  0£  t-xOto  riaoapa  ton  dpiöjAoV'. 

Marq.  S.  346:  „Unsere  Kenntniss  der  alten  Musik  reicht  nicht  so  weit 
„um  nachweisen  zu  können,  welche  Art  von  Scalen  Aristoxenus  meint,  wenn 
„er  hier  von  Geschlechtern  spricht,  welche  weniger  unzusamraengesetzte  Inter- 
valle als  die  Quinte  haben".  An  die  alte  Enharmonik  des  Olympus  mit 
ihren  nur  zwei  resp.  drei  zusammengesetzten  Intervallen  zu  denken,  würde  die 
folgende  Angabe  nicht  erschöpfen,  da  Aristoxenus  nicht  sage  „irgend  ein", 
sondern  ,Jedes"  Geschlecht  würde  weniger  enthalten  können.  „Auch  diese 
„Theilungeu  sind  wohl  der  Melopoeie  eigene  und  mit  dieser  zusammen  näher 
„erörtert  worden,  worauf  die  Hinweisung  am  Schlüsse  zu  beziehen  sein  würde 
,,"0ti  Ii  xal  d;  £XatT(4v<uv  :iot£  c>vTe8if]3eTai  l/aotov  ceittüv  iv  toi;  fnetia  fcetxvj- 
„xai".  Dies  müsste  also  nach  Marq.  im  Abschnitte  von  der  Melopoeie  gesucht 
werden!  Doch  warum  in  so  unerreichbarer  Ferne  suchen,  was  in  Wahrheit 
so  nahe  liegt,  nämlich  noch  in  unserem  Abschn.  XII,  Probl.  27:  „"Ott  Ii  to 
6i«£tovov  oy-jxeiTat  f,roi  ix  ovotv  ?j  Tpirov  ^  xesodlptov  douvft^Ttuv,  ocixtIov  .  .  ." 
Probl.  28:  „wOti  hk  xö  /p<u|xa  xai  i\  appovla  t(toi  ix  tpitüv  ^  ix  Teasapwv  o-Spiet- 
t«i,  hzixxlos  . . ."  In  seiner  beispiellosen  Hypcrkritik  erkennt  aber  Marq.  diese 
beiden  Problemata  nicht  als  aristoxenisch  an,  vgl.  oben  S.  303.  Ruelle  zeichnet 
sich  auch  hier  durch  grössere  Bedachtsamkeit  vor  Marq.  vortheilhaft  aus,  da 
er  zu  p.  112.  113  auf  Planche  V  die  Quintensysteme  des  Diatonon,  Chroma, 
Enharmonion  in  Notenbeispielen  nach  Aristoxenus  zu  erläutern  sucht. 

Nun  hat  aber  Marq.  noch  einen  ganz  besonderen  Grund,  sich  um  das 
„fcixTiov"  der  Probl.  27  und  28  hier  nicht  zu  kümmern;  denn  das  auf  dies  osixt£ov 
hinweisende  „iv  toi;  foeiTa  oetxvjTai"  am  Schlüsse  unseres  Problems  ist  nach 
Marq.  ein  offenbarer  Beweis,  dass  auch  das  vorliegende  Problem  wenigstens 
in  seiner  Ausführung  nicht  von  Aristoxenus  herrühren  kann.  Marq.  S.  38s : 
„Was  das  auffallende  Präsens  bei  irttnoL  betrifft,  so  lässt  sich  auch  dies  füglieh 
nur  erklären,  wenn  mau  annimmt,  dass  alles  Folgende  dem  Schreiber  [d.  i. 
dem  von  Marq.  fingirten  Byzantinischen  Exeerptor]  bereits  vorlag,  so  dass  er 
sagen  konnte:  „Im  Folgenden  wird  dies  und  das  gezeigt".  Nun  freilieh,  das 
Folgende  lag  dem  Schreiber  bereits  vor,  aber  dieser  Schreiber  war  Aristoxenus 
selber,  der  den  Einwand,  welchen  ein  Zuhörer  während  der  Vorlesung  gemacht 
hatte,  später  in  die  bereits  ausgearbeitete  Vorlesung  nachtrug.  So  darf  mm 
Aristoxenus  (trotz  des  „ieixtfov")  beim  Nachtrage  „h  toi;  £-«ra  oetxvjTat" 
schreiben,  denn  in  diesem  Augenblicke  ist  das,  was  durch  oeixtIov  noch  in 
die  Zukunft  verwiesen  wurde,  ein  bereits  gegenwärtiges. 

Aufeinanderfolge  gleicher  Intervalle. 

7.  Problem. 

§  79.  Auf  ein  Pyknon  kann  nicht  wieder  ein  Pyknon  folgen, 
weder  das  ganze  Pyknon  noch  ein  Theil  desselben. 


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XII.  Die  eramelischen  Zusammensetzungen  der  Intervalle.  319 

Beweis:  Geschieht  dies,  so  wird  weder  der  vierte  Scalaton  mit 
dem  ersten  in  der  Quarte,  noch  der  fünfte  mit  dem  ersten  in  der 
Quinte  stimmen.    Die  so  liegenden  Klänge  aber  sind  ekmelisch. 

8.  Problem. 

§  80.  Von  den  Klängen,  welche  (bei  der  Synaphe)  das  Ditonos- 
Intervall  einschliessen,  ist  der  tiefere  ein  Oxypyknos,  der  höhere 
ein  Barypyknos. 

e   e  f  Ditonos   a   a  b 


Denn  bei  der  Synaphe  muss,  da  die  Pykna  in  der  Quarte  sympho- 
niren  (7.  Problem),  in  der  Mitte  derselben  der  Ditonos  liegen ; 
ebenso  muss ,  da  die  Ditonos-lntervalle  in  der  Quarte  symphoniren, 
in  der  Mitte  derselben  das  Pyknon  liegen. 

Da  dies  der  Fall  ist,  ist  es  klar,  dass  der  tiefere  Grenzklang 
des  Ditonos-Intervalles  der  höchste  Klang  des  nach  der  Tiefe  zu 
liegenden  Pyknon,  ist  und  dass  der  höhere  Grenzklang  des  Ditonos 
der  tiefste  des  nach  der  Höhe  zu  liegenden  Pyknon  ist. 

Marq.  S.  178:  „Aristoxeuus  hat  oben  den  Satz  aufgestellt,  dass  ein  tu»*vöv 
„neben  ein  anderes  weder  ganz  noch  theilweise  gesetzt  werden  darf,  weil 
„sonst  weder  die  Werten  Klänge  in  der  Quarte,  noch  die  fünften  in  der  Quinte 
„symphoniren  würden".  Er  fügt  zur  Erläuterung  noch  eine  weitere  Ausein- 
andersetzung hinzu,  in  welcher  er  zeigt,  dass  der  höhere  Grcnzklang  des  einen 
Intervalls  immer  zugleich  der  tiefere  des  andern  ist.  „Wie  er  oben  bereits 
„die  Theilung  nach  der  Quarte  und  Quinte  gemacht  hatte,  so  nimmt  er  auch 
„hierbei  zunächst  die  Tjvoupf)  in  Betracht,  bei  welcher  es  sich  dann  zeigt,  dass 
„das  ttjxvöv  und  die  grosse  Terz  immer  abwechseln.  Hieraus  wird  nun  der 
„Schluss  gezogen,  aber  merkwürdiger  Weise  nicht  der,  welchen  Jedermann  er- 
wartet, dass  nämlich  zwei  tcjxvgL  nicht  neben  einander  gesetzt  werden  können, 
„was  eben  zu  beweisen  war,  sondern  als  Schluss  erscheint  eine  Wiederholung 
, jener  vorangegangenen  Darlegung,  dass  der  höhere  Grenzklaug  des  .einen 
„Intervalls  immer  der  tiefere  des  andern  sei.  Wie  wir  aus  dem  Folgenden 
„ersehen,  gehört  diese  Wiederholung  vielmehr  schon  zur  Beweisführung  des 
„zweiten  Falls,  wo  die  Tetraehorde  in  der  otd£cu;i;  liegen;  die  einfache  An- 
knüpfung mit  ol  oe  töv  tövov  xti,  bo  wie  der  ganze  folgende  Inhalt  zeigen 
„dies  aufs  Deutlichste.   Es  sind  also  sicher  hinter  Aote  of.Xov  2xi  eine  Reihe 


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320 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  81. 


„Worte  ausgefallen,  welche  erstlich  den  Schluss  und  dann  den  Uebergang  zum 
„2.  Fall  enthielten.  Ich  habe  sie  nach  der  gewöhnlichen  Ausdruksweise  des 
„Aristoxenus  dem  Sinn  gemäss  restituirt,  so  dass  auch  der  Grund  des  Ausfalls 
„(<5ti— 'hl)  zugleich  in  die  Augen  fällt''.  Diese  seine  Ergänzung  in  den  Text 
einfügend,  sehreibt  nun  Marq.  folgendermassen:  'Ava-jxaiov  fdp  £v  t-j  ayva<fTj  tä»v 
zyxNfiiv  oid  Ttocdptuv  ayjjL'f  ojvo-j^twv  dvd  (i^oov  avxiüv  xetoÖai  tö  oitovov  woauTwc 
oe  xai  [h  rfj  cuva'ffj  tüiv  &i?6\a>v  oid  teaadpouv  oufA<f<u*>yvTt»v  dvccpiaiov  £v  u.£otp 
xciaÖai  TO  ttjxvoV  to-jtojv  6Vjtö><;  dva^xaic»  dvaXXd;  TO*  tc  rvxvov  xal  to 

oitovo-*  xciaOat  <u<ne  JfjXov  5ti  (£v  ttj  awcupT]  ttjxvov  rpö  :ruxvoy  o-i  jxeXwoeiiat 
AXX'  o*jo'  £v  oiaU-j;«'  oeSetxtat  ?dp  Stt)  6  fiiv  ßapy-rcpo;  ?äv  repie/ovrtov  to 
SItovov  ö;y?aToc  errat  to-J  £ri  tö  jtapy  xeu*£voy  itjxvoü,  ö  oe  ifcytcpoc  toD  iicl  to 
4£y  xeipivoy  z'jxwj  ^apytaTo;. 

Wer  dies  liest  wird,  wenn  er  anders  ein  aufmerksamer  Leser  des  Ari- 
stoxenus-Textes  ist,  die  Frage  bei  sich  selber  aufwerfen,  wo  das  von  Aristo- 
xenus gesagt  sei,  was  durch  oioeixtat  y«?  eingeleitet  sein  soll.  Denn  diesem 
zufolge  musste  Aristoxenus  im  Vorausgehenden  bewiesen  haben: 

dass  der  tiefere  Grenzklang  des  Ditonos-Intervalls  der  höchste  Klang 
des  nach  der  Tiefe  zu  liegenden  Pyknon,  der  höhere  Grenzklang  des 
Ditouos-Intervalles  der  tiefste  Klang  des  nach  der  Höhe  zu  hegenden 
Pyknon  Ut. 

An  welcher  Stelle  des  Vorausgehenden  hat  Aristoxenus  diesen  Beweis 
geliefert?  Man  wird  im  Vorausgehenden  vergebens  suchen.  Uud  wie  kann 
das  anders  sein?  Denn  das  ist  ja  gerade  das  Problem,  welches  jetzt  erst 
bewiesen  werden  soll.  Mit  dem  von  Marq.  eingeschobenen:  oioetvecai  y*P 
ist  es  also  nichts.  Eben  so  wenig  auch  mit  dem  diesem  unmittelbar  voraus- 
gestellten AXX'  ovo  lv  tt-  5t'i£e6;Et.  Denn  das  in  Rede  stehende  Problem  han- 
delt blos  von  der  Synaphe,  welche  von  Aristoxenus  im  Texte  zweimal  ge- 
nannt ist,  nicht  von  der  Diazeuxis.  Auch  späterhin  im  Problem  14,  wo 
Aristoxenus  behufs  der  Beweisführung  auf  das  bereits  im  Problem  8  bewiesene 
recurrirt,  citirt  er  dieses  mit  den  Worten: 

Ai'*etxT«t  Y«p  "fj  wiz^  ivaXXdi;  TilU;jieva  tcora  td  SiaaTt^aT*. 
So  wird  der  Text  des  Aristoxenus  in  Marquards  Ausgabe  entschieden  corruni- 
pirt:  es  rächt  sich  an  ihm,  dass  er  „diese  gauze,  mit  fast  verzweifelter  Voll- 
ständigkeit und  Genauigkeit  ausgeführte  Darstellung*'  wie  er  sie  S.  346  in 
sichtlichem  Unmuthe  praedicirt,  so  unvollständig  und  ungenau  wie  möglhh 
studirt  hat. 

9.  P  r  o  b  l  c  in. 

§  81.  Der  höhere  Grenzklang  des  üanztoiiintervaUes  ist  ein 
Barypyknos. 

Beweis:  .... 

Die  28  Probleme  des  Aristoxemus  stehen  durch  ihre  gänzlich  mathematische 
Methode  in  einem  streng  geschlossenen  logischen  Netze:  die  vorausgehenden 


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XII.  Die  emmclißchen  Zusammensetzungen  gleicher  Intervalle.  321 


Probleme  dienen  stets  zum  Beweise  der  nachfolgenden,  dass  der  nur  einiger- 
massen  aufmerksame  Leser  mit  Sicherheit  erkennen  wird,  wo  etwa  jenes  Netz 
sei  es  durch  Lücken  der  Handschrift,  sei  es  durch  Zusätze,  die  vom  Rande 
in  den  Text  gedrungen  sein  sollten,  zerrissen  ist.  Beim  9.  Probleme  nun 
findet  eine  solche  leicht  erkennbare  Schädigung  der  genuinen  Aristoxenischen 
Darstellung  «tatt.  Sagen  wir  es  mit  einem  Worte:  wir  haben  dies  Problem 
in  den  Handschriften  nicht  so,  wie  Aristoxcnus  selber  es  dargestellt,  sondern 
wie  ein  Späterer,  welcher  sich  für  diese  Partie  interessirte,  umgeformt  hat.  Ver- 
muthlich  hat  derselbe  das,  was  ihm  eine  berichtigende  Erklärung  der  Aristo- 
xenischen Sätze  zu  sein  dünkte,  an  den  Rand  des  Aristoxenus-Tcxtes  ge- 
schrieben, der  ja  in  den  Handschriften  der  älteren  Zeit,  wie  wir  aus  dem 
Codex  des  Zosimus  wissen,  zu  dergleichen  Marginalien  hinlänglich  Raum  Hess. 
In  dem  Codex  aber,  aus  welchem  Zosiinus  seine  Abschrift  nahm,  war  jenes 
Marginale  bereits  vom  Rande  in  den  Text  des  Aristoxenus  hineingerathen, 
wo  es  nun  die  eigene  Darstellung  des  Aristoxenus  wenigstens  zum  grossen 
Theile  verdrängt  hat. 

Durch  das  Marginale  des  Ueberarbeiters  ist  das  Problem  9  zu  folgendem 
umgestaltet: 

Die  beiden  das  Ganzton-Intervall  umgebenden  Kläuge  sind 
barypy  knoi. 

Der  Umarbeiter  denkt  sich  hierbei  folgendes  enharmonische  System: 

*  *  *  *  *  — 

A      HHc      eef      a       ab      d       h       he      eef  a 

v  »     v  /      a>      k  '       •        v  ,    v  t 

hypaton   inesou     ^3    synemmenon    g      diezeugm.  byperbol. 

Der  Klang  a  ist  die  Mese;  auf  dieselbe  folgt  das  Tetrachord  synem- 
menon:  also  liegt  ein  Pyknon  aab  vor,  in  welchem  a  selber  den  barypyknos 
bildet. 

Der  Beweis  des  Ueberarbeiters  lautet: 

Ks  wird  nämlich  das  Ganzton-Intervall  in  der  Diazeuxis  zwischen  der- 
artige Tetrachorde  gesetzt,  dass  deren  Ganztöne  die  tiefsten  eines 
I'yknon  sind.  Von  diesen  aber  wird  auch  das  Ganzton-Intervall  um- 
schlossen. Denn  der  tiefere  von  den  den  Ganzton  umschliessendcn  ist 
der  höhere  Klang  von  den  beiden  das  tiefere  Tetrachord  umschliessen- 
den;  der  höhere  der  den  Ganzton  umschliessenden  ist  der  tiefere  von 
den  beiden  das  höhere  Tetrachord  umschliessenden.  Daher  ist  es  klar, 
dass  der  höhere  Grenzklang  des  Ganztones  der  tiefste  eines  Pyknon  ist. 

Da  Marq.  des  guten  Glaubens  ist,  dass  auch  das  Problem  9  ebenso  wie 
Problem  8  eine  der  zum  Problem  7  hinzugefügten  Erläuterungen  sei,  so  schiebt 
er  auch  hier  wie  in  Problem  8  einen  Satz,  in  welchem  von  der  Diazeuxis  die 

Arletoxenoi.  Meltk  u.  Bhjthmlk.  21 


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322 


Aristoxenus  zweit«  Harmonik  §  81.  82. 


Rede  ist,  ein  S.  179,  mit  der  Bemerkung,  dass  sich  die  gleiche  Lücke  wie  oben 
auch  hier  finde.    Ks  ist  unnöthig  weiter  darauf  einzugehen. 

Dem  Satze  des  Umarbeite«:  „Beide  den  Ganzton  umschliessende  Klänge 
sind  barypyknoi"  widerspricht  das  Problem  16  des  Aristoxenus,  in  welchem 
er  lehrt:  „der  Ganzton  wird  zum  Pyknon  nur  nach  der  Tiefe  zu  hinzugefügt . . . 
Einen  Ganzton  nach  oben  zu  dem  Pyknon  hinzuzufügen  wird  nothwendig  ef- 
melisch  sein".  Also  ist  es  gegen  die  Doctrin  des  Aristoxenus,  dass  beide  den 
Ganzton  umschliessende  Klänge  Cd.  i.  sowohl  der  höhere  wie  der  tiefere 
Grenzklang)  Barypyknoi  seien;  nach  Aristoxenus  selber  kann  man  blos  von 
dem  oberen  Grenzklange  des  Ganztones  sagen,  dass  er  ein  barypyknos  ist. 
Aristoxenus  hat  sicher  das  Problem  9  folgcudcrmasscn  gefasst: 

Der  höhere  Grenzklang  des  Ganztom  ist  ein  barypyknos 

mm  •    •_  _ 

A      HHe    cef       a  hhc    eef  a 

Zu  allem  Ueberflussc  wird,  was  Aristoxenus  hier  gesagt,  von  ihm  selber 
in  der  Beweisführung  des  Problem  15  citirt: 

6  fjiev  fdp  tö  &(tov(n  Itz\  tö  jiapü  öptCtuv  ofrkato;  t)v  -uxvoy,  6  oe  töv  tovov 
ItX  t6  ö$u  ßap6Toxo«- 

Mit  dem  ersten  dieser  beiden  Sätze  giebt  Aristoxenus  ein  Sclbstcitat  des 
Problems  8,  welches  lautet: 

Ttov  U  tö  oitovov  zeptey<5vro>v  6  f*ev  ßopjTepo;  oS'jTaxo;  i<m  ttuxvoD,  o  o  6&v- 
tepo;  ßopuTa-ro;. 

Der  zweite  Satz  citirt  die  verba  ipsissima  des  Problemes  9,  nur  dass  statt 
des  Vergangenheits-Tempus      natürlich  das  Präsens  gebraucht  war: 

6  oe  töv  tövov  6ptC<»^       tö  ö£y  son  iroxvoO  ßotpuTOTo;. 

Auf  welche  Weise  Aristoxenus  den  Beweis  dieses  Problemes  geführt  hat, 
braucht  uns  nicht  weiter  zu  kümmern.  Doch  wollen  wir  die  Differenz  des 
Aristoxenischen  Problems  mit  dem  an  dessen  Stelle  gedrungenen  des  Um- 
arbeiten ins  Auge  fassen.  Es  giebt  zwei  diazeuktische  Ganzton-Intervalle 
in  der  Scala,  ein  tieferes  AH  zwischen  dem  Proslambanomeuos  und  der  Hy- 
pate  hypaton,  ein  höheres  ah  zwischen  der  Mesc  und  der  Paramese.  Was 
Aristoxenus  selber  im  Problem  9  von  dem  Ganzton-Intervalle  sagte,  dass  dessen 
höherer  Grenzton  ein  barypyknos  sei,  gilt  sowohl  von  dem  Ganzton-Intervalle 
des  Proslambanomeuos,  wie  nicht  minder  von  dem  höheren  Ganzton-Intervalle 
der  Mese.  Was  aber  der  Umarbeiter  des  Aristoxenischen  Problems  9  sagt, 
hat  keine  Geltung  für  den  tieferen  Ganzton  des  Proslambanomenos,  sondern 
höchstens  nur  für  den  höheren  Ganzton  ah  der  Mese,  obwohl  auch  den  auf 
die  Mese  folgenden  Ton  nur  derjenige  einen  barypyknos  nennen  kann,  welcher 
die  Scala  der  Enharmonik  und  Chromatik  (denn  um  diese  nur  kann  es  «nch 
handeln)  nach  dem  Verzeichnisse  der  späteren  Schriftsteller  über  Musik  vor 
Augen  hat,  wie  z.  B.  des  Pseudo-Euklid  (p.  4) : 


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XII.  Die  emmelischen  Zusammensetzungen  gleicher  Intervalle.  323 


Kv  hi  dp[iovta  olht' 

H    2.  üzdrfj  urdxujv. 
H    3.  itapuirotTT)  (maTrov. 
c    4.  Xtyavo;  u-dtaiv  dvapfiövto;. 

e   5.  uirarrj  jiioaiv. 

e    6.  rapviirdiTTj  [iiarov. 

f    7.  Xt-/av6;  fiiowv  ivapjjtovto;. 

a   8.  Mdoi). 

a   9.  tpiTT]  oyv7jjji|i.ivajv. 

b  10.  7tapavf|TT|  3uv7j|ifji£vaiv  £vapjx<5vto^ 

d  U.  vVjrr)  ouvr^ixivaiv. 

h  12.  Ttapapierrj. 

h  13.  Tpltr,  oteCeyf|jL£vciv. 

c  14.  Trapav^TTj  SteCcuYfA^vtov  £vap|AÖvio;. 

e  15.  WjTTj  äuCcufpivaiv. 

c  16.  Tptrrj  yzcpßoXa(a>v. 

f  17.  nopaWj-ai  üuepßo'/.aiajv  ivappitaio;. 

a  18.  vifj-nr)  u^Ep^oXoicov. 

Also  der  Umarbeiter  der  Aristoxenischem  Probleme«  hält  sieh  gedanken- 
los an  der  Form  der  Seala,  wie  sie  derjenige  Axistoxeneer  aufgestellt,  welcher 
au*  der  Harmonik  des  Meistere  den  Auszug  gemaiht,  nach  welchem  Pseudo- 
Euklid und  seine  Geuossen  ihre  kleinen  Lehrbücher  der  Harmonik  angefertigt 
haben. 

10.  Problem. 

§  82.    Zwei  Ditonoi  folgen  nicht  aufeinander. 

Beweis:  Man  versuche  sie  hinter  einander  zu  setzen.  (Dem 
tieferen  Ditonos  muss  nach  unten  zu  ein  Pyknon  folgen,  denn  es 
ist  gezeigt  (Probl.  8),  dass  der  tiefere  Grenzklang  eines  Ditonos 
zugleich  der  höchste  eines  Pyknon  ist.  Man  setze  nun  den  höheren 
Grenzklang  des  oberen  Ditonos  als  ersten  Ton  eines  Systems. 

unterer  Ditonos     oberer  Ditonos 
eef  a  eis 

Von  den  fünf  Klängen,  e,  e,  f,  a,  eis,  wird  aber  der  höchste 
(eis)  weder  mit  dem  vierten  in  der  Quarte,  noch  mit  dem  fünften 
in  der  Quinte  symphoniren;  es  ist  aber  gezeigt  (Probl.  1),  dass  ein 

21» 


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H24 


Aristoxenus  zweit«  Harmonik  §  82.  83. 


Klang,  bei  welchem  keines  von  beiden  der  Fall  ist,  als  ekmelisch 
gelten  muss  in  Beziehung  auf  jeden  vierten  oder  fünften  Klang,  mit 
dem  er  nicht  in  der  Quarte  oder  Quinte  stimmt,  mithin  kann  ober- 
halb des  Ditonos  f  a  nicht  wiederum  ein  Ditonos  a  eis  folgen.) 

Statt  dessen  überliefern  die  Handschriften  die  Umarbeitung,  die  wir 
weiterhin  mittlicilen.  Im  guten  Glauben,  dass  dieselbe  nicht  minder  wie  das 
vorausgehende  Problem  Aristoxenisch  sei,  sagt  Marquard  von  ihr: 

Marq.  S.  348  „Aristoxenus  muss  wohl  einen  besonderen  uns  unbekannten 
„O rund  gehabt  haben,  die  Begründung  dieses  Satzes  so  zu  machen.  Man 
„würde  als  die  einfachste  doch  dieselbe  erwarten,  welche  beim  vorigen  Satz 
„angewendet  wurde,  dass  nämlich,  wenn  man  zwei  grosse  Terzen  nach  ein- 
ander setzt,  weder  die  vierten  Klänge  die  Symphonie  der  Quarte,  noch  die 
„fünften  die  der  Quinte  bilden  werden.  In  der  That  ist  die  hier  gegebene 
„etwas  wunderlich;  denn  wenn  auch  der  tiefere  Grenzklang  der  grossen  Terz 
„der  höchste  eines  gedrängten  Systems  und  der  höhere  der  tiefste  einer 
„solchen  war,  so  folgt  doch  hieraus  noch  nicht,  dass,  wenn  ich  zwei  grosse 
„Terzen  nach  einander  setze,  auf  jene  Klänge  wirklich  die  gedrängten  Systeme 
„folgen  müssen,  und  wenn,  wie  gefolgert  wird,  zwei  gedrängte  Systeme  auf 
„einander  folgen,  so  liegen  doch  gewiss  nicht  die  beiden  grossen  Terzen  neben 
„einander.  Wie  es  scheint  will  Aristoxenus  es  geradezu  als  eine  immanente 
„Eigenschaft  jener  Grenzklänge  hinstellen,  dass  auf  sie  stets  nur  das  be- 
stimmte Intervall  folgen  kann,  um  jede  Abweichung  in  der  theoretischen  An- 
ordnung der  Scalen  unmöglich  zu  machen**. 

Ich  habe  diesmal  Marquards  Erläuterung  mit  grösserer  Befriedigung  als 
bei  den  übrigen  Problemen  registriren  können.  Ja  es  ist  wahr:  als  ein  Ge- 
danke des  Aristoxenus  wäre  der  handschriftlich  überlieferte  Beweis  sehr  ver- 
wunderlich. Aber  mehr  noch:  wie  er  uns  vorliegt,  ist  er  kein  Beweis.  Auch 
hier  rührt  die  Fassung  von  demselben  Umarbeitcr  her,  durch  den  auch  das 
vorausgehende  Problem  entstellt  ist. 

Der  Uebcrarbciter  beweist  nämlich  folgendermassen : 

Beweis:  Man  versuche  sie  (die  beiden  Ditonos-Intervalle) 
hinter  einander  zu  setzen. 

Dem  höheren  Ditonos  wird  alsdann  nach  der  Tiefe  zu 
ein  Pyknon  folgen,  denn  der  untere  Grenzklaug  eines  Di- 
tonos war  ein  oxypyknos. 

Dem  tieferen  Ditonos  aber  wird  nach  der  Höhe  zu  ein 
Pyknon  folgen,  denn  der  obere  Grenzklang  des  Ditonos  war 
ein  barypyknos. 

Geschieht  dies,  dann  werden  zwei  Pykna  neben  einander 
gesetzt  sein.  Da  dies  ekmelisch  ist,  wird  es  auch  ekmelisch 
sein,  wenn  zwei  Ditonoi  neben  einander  gesetzt  werden. 


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XII.  Die  emmelischen  Zusammensetzungen  gleicher  Intervalle.  325 


Der  Ueberarbeiter  denkt  sich  dies  so: 


tiefer  Ditouos 


o  ©  » 
&  o* 


höherer  Ditonos 


I 


Es  ist  ganz  richtig  (durch  Problem  8  bewiesen),  dass  sich  sowohl  an  den 
unteren  Ditonos  wie  an  den  höheren  je  ein  Pyknon  anschliessen  muss.  Das 
logische  Versehen  des  Ueberarbeiters  besteht  darin,  dass  die  Aufeinanderfolge 
der  beiden  Pykna  zwar  für  den  Augenschein  vorhanden  Ist  (man  ver- 
gleiche die  vorstehende  Tabelle),  aber  durchaus  nicht  in  der  Weise  Euklids 
beniesen  ist.  Vielmehr  widerspricht  die  Aufeinanderfolge  der  Pykna  dem  im 
Lehrsatze  Angenommenen.  Es  können  nicht  zwei  Ditonos-Intervallcda  auf  einan- 
der folgen,  wo  zwei  Pykna  auf  einander  folgen  sollen.  Das  eine  schhesst  das 
andere  aus :  es  wird  sowohl  durch  die  Folge  der  beiden  Ditonoi  die  Folge  der 
beiden  Pykna  ausgeschlossen,  wie  umgekehrt  durch  die  Folge  der  beiden 
Pykna  die  Folge  der  beiden  Ditonoi. 

Aristoxenus  selber  hat,  wie  Marq.  richtig  bemerkt,  das  Problem  1  zum 
Bewe  ise  des  Problemes  10  herbeiziehen  müssen.  So  auch  unsere  Restitution, 
für  deren  Richtigkeit  auch  die  folgenden  Probl.  lt.  12.  13  sprechen,  die  ganz 
in  analoger  Methode  bewiesen  sind. 

11.  Problem. 

§  83.  Im  Enharmonion  und  im  Chroma  werden  zwei  aufein- 
anderfolgende Ganztöne  nicht  gesetzt. 

Beweis:  a.  Man  setze  ihn  zuerst  aufwärts  von  dem  im  Enhar- 
monion und  im  Chroma  vorkommenden  (diazeuktischen)  Ganztöne 


Enharm. 


Chroma 
malakon 


Chroma 
hemiolion 


Lieh.  Diaz. 


—  ^-   ^.zrzrr^ 


—  4  Ganztöne 


grösser  als 
die  Quinte 


  #  >      •   p 

W  ■»-  f  — g^L_'J4 


Jfe 


grösser  als 
die  Quinte 


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326 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  83.  84. 


Chroma 
toniaion 


m 


!  Quinte 


Wenn  nun  der  den  hinzuzusetzenden  Ganzton  nach  oben  begrenzende 
Klang  (eis)  emmelisch  sein  soll,  so  muss  er  entweder  mit  dem  vierten 
in  der  Quarte  oder  mit  dem  fünften  in  der  Quinte  symphoniren: 
geschieht  aber  keines  von  jenen  beiden,  so  muss  er  ckmelisch  sein. 
Dass  jenes  aber  nicht  geschehen  wird,  ist  klar. 

Denn  die  en harmonische  Lichanos  (f),  die  ja  doch  von  dem 
hinzugefugten  aus  den  vierten  Klang  bildet,  wird  vier  Ganztöne 
von  ihm  abstellen; 

die  chromatische  Lichanos  im  Chroina  malakon  wie  im 
Chroma  hemiolion  wird  mit  ihm  ein  noch  grosseres  Intervall  als 
das  von  vier  Ganztönen  ausmachen; 

imChromatoniaion  wird  sie  mit  dem  hinzugekommenen  Klange 
in  der  Quinte  symphonieren,  —  was  Alles  nicht  geschehen  sollte, 
denn  entweder  hätte  der  vierte  Klang  vom  hinzugenommenen  Klange 
(eis)  aus  mit  diesem  in  der  Quarte  oder  der  fünfte  in  der  Quinte 
stehen  müssen. 

b.  Wird  der  zweite  liinzuzufügende  Ganzton  abwärts  vom  diazeuk- 
tischen  Qanztone  (ah)  gesetzt: 


Enharm. 


Kleiner  als  die  I 
—  Quarte 

-  Quarte  - 


Chroma 
malakon 


Kleiner  als  die  I 

—  Quarte  ' 

Kleiner  als  die 
_  Quinte  -  — 


# 


Chroma 
hemiolion 


Kleiner  als  die 
-  Quarte 


Kleiner  als  die 
Quinte 


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XII.  Die  emmelischen  Zusammensetzungen  gleicher  Intervalle.  327 


(alsdann  wird  der  ihn  nach  unten  begrenzende  Klang  g 

in  dem  Enharmonion  mit  dem  nach  oben  zu  folgenden  vierten 
Klange  ein  Intervall  bilden,  welches  um  eine  enharmonische  Diesis 
kleiner  als  die  Quarte  ist,  mit  dem  fünften  aber  eine  Quarte; 

im  Ohroma  malakon  und  hemiolion  wird  er  mit  dem  vierten 
ein  Intervall  bilden,  welches  wiederum  kleiner  als  die  Quarte  ist, 
mit  dem  fünften  ein  solches,  welches  kleiner  als  die  Quinte  ist; 

im  Chroma  toniaion  wird  er  von  dem  vierten  zwar  eine  Quarte 
abstehen,  aber  er  wird  alsdann)  das  Geschlecht  zu  einem  Diatonon 
toniaion  (g  a  h  c)  (anstatt  eines  Cliroma  toniaion)  machen. 

Somit  ist  es  klar,  dass  in  der  Scala  des  Enharmonion  und  des 
Chroma  zwei  Ganzton-Intervalle  nicht  unmittelbar  hinter  einander 
gesetzt  werden. 

Die  augenfällige  Lücke  im  zweiten  Theile  des  Problems  (b),  die  den  bis- 
berigen  Bearbeitern  unbemerkt  geblieben,  ist  durch  Gleichheit  der  an-  und 
auslautenden  Worten  der  beiden  auf  einander  folgenden  Satze  veranlasst  : 

'Erl  oe  to  ßapy  zb  5e6tepov  Ttmcüov  (  .  .  .  .  ttmsuov)  Stdtovov  roirjoct  t&  y^*** 

Marq.  S.  95:  „Setzt  man  den  zweiten  Ganzton  aber  in  der  Tiefe  zu,  so  wird 
er  das  Geschlecht  zu  einem  diatonischen  machen."  Welches  Geschlecht?  Das 
enharmonische  nicht,  das  Chroma  malakon  nicht,  das  Chroma  hemiolion 
nicht.  Bloss  das  Chroma  toniaion,  in  welchem  der  erste  Klang  mit  dem 
vierten  in  der  Quarte  symphonirt,  wird  eben  für  den  Umfang  dieser  Quarte 
aus  einem  Chroma  toniaion  zu  einem  Diatonon  toniaion. 

12.  Problem. 

§  84.  In  dem  diatonischen  Geschlechte  können  drei  Ganztöne 
nach  einander  gesetzt  werden,  mehr  aber  nicht. 

Beweis:  Wenn  das  letztere  geschehen  wird,  so  wird  der  den 
vierten  Ganzton  begrenzende  Klang  eis  weder  mit  dem  vierten  (g) 
in  der  Quarte,  noch  mit  dem  fünften  (f)  in  der  Quinte  stimmen, 
(sondern  mit  dem  vierten  (g)  ein  Tritonos-Intervall,  mit  dem  fünf- 
ten (f)  ein  Intervall  von  vier  Ganztönen  bilden.) 


Chroma 
toniaion 


Quarte 


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328 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  84-89. 


5       4       3       2  1 

,  v  v  v  

e    f      e      a      h  eis 
L_  Tritonos 
L — 4  Ganztone  -  - 

13.  Problem. 

§  85.  In  demselben  (diatonischen)  Geschlechtc  können  zwei 
Halbtöne  nicht  nach  einander  gesetzt  werden. 

Beweis:  a.  Man  setze  das  fragliche  zweite  Halbton -Intervall 
abwärts  von  dem  bereits  vorhandenen  (dis  e  vor  e  f): 

dis     e    f     g  a 

Ditonos — I 
i~      Tritonos  — — 

Dann  wird  der  den  vorangesetzten  Halbton  begrenzende  Klang  (dis) 
weder  mit  dem  vierten  Klange  (g)  in  der  Quarte,  noch  mit  dem  fünf- 
ten (a)  in  der  Quinte  symphoniren. 

Und  insofern  wird  die  versuchte  Stellung  des  Hemitonions 
ekmelisch  sein. 

b.  Wenn  einem  der  bereits  vorhandenen  Hemitonien  (e  f)  ein 
zweites  (f  fis)  nach  oben  hinzugefügt  wird 

c     d     e     f  fis 

dann  wird  ein  Chroma  (d  e  f  fis)  entstehen. 

Somit  ist  klar,  dass  in  einem  Diatonon  zwei  Hemitonien  nicht 
aufeinander  folgen  können. 

Aufeinanderfolge  ungleicher  Intervalle. 

§  86.  Im  Vorausgehenden  (Probl.  9.  10.  11.  12.  13)  ist  gezeigt 
worden,  welche  von  den  gleichen  unzusammengesetzten  Intervallen 
nach  einander  gesetzt  werden  können  und  wie  viele  der  Zahl  nach,  und 
welche  nicht  zulassen,  dass  wir  sie  bei  gleicher  Grösse  mit  ein- 
ander verbinden.  Nunmehr  ist  dasselbe  in  Betreff  der  ungleichen 
Intervalle  zu  erörtern. 

Im  Vorausgehenden  wurde  die  Zusammensetzbarkeit  von  je  zwei  gleichen 
Intervallen  erörtert  nach  folgenden  Kategorien  und  in  folgenden  Problemen: 

Pyknon      Ditonos       Touos  Hemit. 
Probl.  9      Probl.  10  Probl.  11.  12   Probl.  13. 


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XII.  Die  emmelischen  Zusammensetzungen  ungleicher  Intervalle.  329 

Jetzt  ist  die  Zusammensetzbarkeit  jedes  dieser  Intervalle  mit  einem  jeden  von 
ihnen  in  der  nämlichen  Reihenfolge  zu  erörtern: 

Probl.  14         Probl.  15     Probl.  17.  18 

<  N  I   X  /  \ 

Pyknon       Ditonos       Tonos  Hemit. 

S  / 

Probl.  16 

Es  fehlt  hier  die  Combination  des  Ditonos  mit  dem  Hemitonion  und  des 
Pyknon  mit  dem  Hemitonion.  Man  könnte  denken,  auch  diesen  Verbindungen 
habe  Aristoxenus  betreffende  Problemata  gewidmet,  welche  in  dem  überlieferten 
Texte  ausgefallen  seien.  Und  doch  werden  wir  nicht  berechtigt  sein,  hier  eine 
Lücke  anzunehmen.  Denn  beide  Combinationen ,  die  des  Ditonos  und  Hemi- 
tonion und  die  des  Pyknon  und  Hemitonion,  welche  in  den  Bereich  des  Enhar- 
monion  und  Chromatikon  gehören,  sind  mit  dem  Probleme  10  resp.  16  erledigt. 

14.  Problem. 

§  87.  Zu  einem  Ditonos-Intervalle  wird  sowohl  unterhalb  wie 
oberhalb  ein  Pyknon  gesetzt. 

Beweis:  Es  ist  gezeigt  (Probl.  8),  dass  in  der  Synaphe  die  bei- 
den in  Rede  stehenden  Intervalle  mit  einander  abwechseln.  Offen- 
bar wird  also  sowohl  Pyknon  an  Ditonos,  wie  Ditonos  an  Pyknon 
nach  unten  und  oben  hinzugesetzt  werden. 

15.  Problem. 

§  88.  Zum  Ditonos  wird  ein  Ganzton  bloss  nach  oben  gesetzt. 

Beweis:  Man  setze  ihn  unterhalb  des  Ditonos.  Dann  wird  der 
höchste  und  tiefste  Klang  eines  Pyknon  auf  dieselbe  Tonstufe  fallen, 
denn  der  tiefere  Grenzklang  eines  Ditonos-Intervalles  war  der  höchste 
eines  Pyknon  (Probl.  8),  der  höhere  Grenzklang  eines  Ganzton-Inter- 
valles  war  der  tiefste  eines  Pyknon  (ProbL  9).  Da  diese  nun  auf 
dieselbe  Tonstufe  fallen,  so  ist  es  nothwendig,  dass  zwei  Pykna  ge- 
setzt werden.  Da  dies  aber  ekmelisch  ist  (Probl.  7),  so  muss  auch 
der  Ganzton  unterhalb  eines  Ditonos-Intervalles  gesetzt  ekme- 
lisch sein. 

16.  Problem. 

§  89.  Zu  einem  Pyknon  wird  ein  Ganzton  bloss  nach  unten 
gesetzt. 

Beweis:  Man  setze  ihn  auf  die  entgegengesetzte  Seite  (oberhalb 
des  Pyknon).  Dann  wird  wieder  dieselbe  Unmöglichkeit  (wie  in 
Probl.  15)  eintreten,  denn  der  höchste  und  tiefste  Ton  eines  Pyknon 


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330 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  89— 94. 


wird  auf  dieselbe  Tonstufe  fallen,  sodass  zwei  Pykna  nebeneinander 
stehen.  Da  dies  ekmelisch  ist  (Probl.  7),  so  muss  auch  die  Hinzu- 
fügung  eines  Ganzton-Intervalles  aufwärts  vom  Pyknon  ekmelisch  sein. 

17.  Problem. 

§  90.  Im  Diatonon  kann  nicht  zugleich  zu  beiden  Seiten  des 
Ganzton-Intervalles  ein  Hemitonion  stehen. 

Beweis:  Geschieht  dies,  dann  wird  weder  der  erste  mit  dem 
vierten  in  der  Quarte,  noch  der  erste  mit  dem  fünften  in  der  Quinte 
symphoniren  (Probl.  1). 

18.  Problem. 

§  91.  Auf  jeder  der  beiden  Seiten  von  zwei  oder  von  drei 
Ganztönen  ist  ein  Halbton  emmelisch  zulässig.  Denn  es  werden 
alsdann  entweder  die  vierten  Klänge  unter  einander  in  der  Quarte 
oder  die  fünften  in  der  Quinte  symphoniren. 

Der  angeführte  Grund  ist  nach  Probl.  1  kein  vollständiger  Beweis, 
Aristoxenus  muss  daher  noch  etwas  weiteres  hinzugefügt  haben,  was  in  der 
Ueberlieferung  ausgefallen  ist. 

Welches  Intervall  einem  jedon  Intervalle  benachbart? 

Unter  Festhaltung  der  Anschauung  von  der  topischen  Bewegung  der  Stimme 
zeigt  Aristoxenus,  wie  viel  Wege  es  von  einem  Intervalle  nach  oben  und  nach 
unten  gibt.  Er  meint  damit  die  Wege  zum  nächsten  Intervalle  der  Scala. 
Deshalb  übersetzen  wir  in  dem  folgenden  dem  Sinne  gemäss:  „man  (d  i.  Stimme) 
schreitet  zu  einem  Nachbar-Intervall." 

19.  Problem. 

§  92.  Vom  Halbton-Intervalle  schreitet  man  nach  oben  zu  zwei  ver- 
schiedenen Nachbar-Intervallen  [Ganzton  im  Diatonon,  Halbton  im 
Chroraa  toniaion],  nach  unten  zu  ebenfalls  zu  zwei  [Ganzton  im  Dia- 
tonon und  im  Chronia  toniaion,  Halbton  im  Cliroma  toniaion]. 

Der  Beweis,  „welchen  Aristoxenus  ursprünglich  gewiss  hinzugefügt  hat," 
Marq.  349,  fehlt  in  den  Handschriften.  Marq.  fügt  hinzu:  „Dieser  Satz  Lst 
überhaupt  nicht  in  Ordnung.  Es  kann  nämlich  nur  der  Halbton  im  diatonischen 
Geschlechte  gemeint  sein.  Dort  kann  man  vom  Halbtone  aus  immer  nur  nach 
dem  Intervalle  zwischen  Parhypate  und  Lichanos  fortschreiten.  Denn  dass  bei 


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XII.  Die  emmelischen  Zusammensetzungen  der  Intervalle.  331 

diesen  Lehrsätzen  auf  die  verschiedenen  Chroai  keine  Rücksicht  genommen, 
beweist  fast  jeder  derselben."  Marq.  denkt  nicht  an  Probl.  22,  §  97:  xatt' 
exdöTTjv  £poav  tö»v  Siotövcuv  und  andere  Stellen  §  90.  99. 

20.  Problem. 
(„rpo^X-rjua"  genannt,  §  99.) 

§  93.  Vom  Ditonos  aus  schreitet  man  nach  oben  zu  zwei  ver- 
schiedenen Nachbar-Intervallen  [Ganzton  bei  der  Diazeuxis  und 
Pyknon  bei  der  Synaphe],  nach  unten  zu  bloss  zu  einem  fPyknon 
sowohl  bei  der  Diazeuxis  wie  bei  der  Synaphe]. 

Beweis:  Es  ist  gezeigt  worden,  dass  zum  Ditonos  nach  oben 
gesetzt  wird  sowohl  ein  Pyknon  (Probl.  14)  wie  auch  ein  Ganzton 
(Probl.  15);  andere  Nachbar-Intervalle  des  genannten  Intervalles 
wird  es  aber  nach  oben  zu  nicht  geben  (vgl.  Probl.  15);  nach  unten 
zu  aber  bloss  ein  Pyknon  (probl.  14),  denn  von  den  unzusammenge- 
setzten Intervallen  bleibt  allein  der  Ditonos  übrig. 

Zwei  Ditona  aber  werden  nebeneinander  nicht  gesetzt  (Probl.  10). 

Demnach  ist  es  klar,  dass  vom  Ditonos  aus  nach  oben  zu  bloss 
zwei  verschiedene  Nachbar-Intervalle  gesetzt  werden,  nach  unten  zu 
aber  bloss  eines. 

Denn  es  ist  gezeigt,  dass  zum  Ditonos  nach  unten  weder  der 
Ditonos  gesetzt  wird  (Probl.  10)  noch  der  Ganzton  (Probl.  15),  so 
dass  also  bloss  das  Pyknon  übrig  bleibt. 

So  ist  nun  klar,  dass  es  vom  Ditonos  aus  nach  oben  zwei  ver- 
schiedene Nachbar-Intervalle  giebt,  einmal  den  Ganzton,  sodann  das 
Pyknon,  nach  unten  zu  aber  nur  eines,  nämlich  das  Pyknon. 

21.  Problem. 
(„KpoßXijpa"  genannt,  §  99.) 

§  94.  Vom  Pyknon  aus  giebt  es  umgekehrt  nach  unten  zu  zwe 
Nachbar-Intervalle  (Ganzton  bei  der  Diazeuxis,  Ditonos  bei  der  Sy- 
naphe), nach  oben  zu  eines  (Ditonos  sowohl  bei  der  Diazeuxis  wie 
auch  bei  der  Synaphe). 

Beweis:  Es  ist  gezeigt,  dass  vom  Pyknon  aus  nach  der  Tiefe 
zu  sowohl  ein  Ditonos  gesetzt  wird  (Probl.  14)  wie  auch  ein  Ganz- 
ton (Probl.  16).  Zu  einem  dritten  Nachbar-Intervall  kann  man  nicht 
schreiten.    Denn  es  bleibt  von  den  unzusammengesetzten  Intervallen 


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332 


Aristoxcnus  zweit«*  Harmonik  §  94 — 100. 


bloss  das  Pyknon  übrig*),  zwei  Pykna  aber  können  neben  einander 
nicht  gesetzt  werden  (Probl.  7),  so  dass  es  klar  ist,  dass  wir  vom 
Pyknon  aus  nach  unten  bloss  zu  zwei  verschiedenen  Nachbar-Inter- 
vallen schreiten  können. 

Nach  der  Höhe  zu  giebt  es  nur  ein  Nachbar-Intervall,  den 
Ditonos.  Denn  weder  kann  zum  Pyknon  ein  zweites  Pyknon  hinzu- 
gesetzt werden  (Probl.  7),  noch  oberhalb  des  Pyknon  ein  Ganzton 
(Probl.  16),  sodass  blos  der  Ditonos  übrig  bleibt 

So  ist  nun  bewiesen,  dass  wir  vom  Pyknon  abwärts  zu  zwei 
Nachbar-Intervallen  schreiten  können,  dem  Ganzton  und  dem  Ditonos; 
aufwärts  zu  einem,  dem  Ditonos. 

*)  Das  Pyknon  ein  unzusammengesetztes  Intervall  zu  nennen,  3a  es  ja 
eine  Coinbination  von  zwei  Intervallen  ist,  kann  sich  Aristoxcnus  nur  der  Kürze 
zu  Liebe  erlauben.  Aehnlich  auch  §  »9. 

22.  Problem, 
(als  ein  einziges  „7tpöfJXr,[Aa"  bezeichnet  §  99.) 
„5xt  O'ioiv  paXXou  litt  toutou  toj  irpoßX^fnaTo;  .  .  .  rj  im  tcuv  -poTSpcuv". 

a. 

§  95.  Vom  Ganzton  giebt  es  (im  Enharmonion)*)  nach  unten 
zu  und  ebenso  auch  nach  oben  zu  bloss  ein  Nachbar-Intervall,  nach 
unten  zu  den  Ditonos,  nach  oben  zu  das  Pyknon. 

Beweis:  Es  ist  gezeigt,  dass  unten  neben  den  Ganzton  weder 
ein  Ganzton  (Probl.  11),  noch  ein  Pyknon  gesetzt  wird  (Probl.  16), 
sodass  nur  der  Ditonos  übrig  bleibt.  Es  ist  ferner  gezeigt,  dass 
oben  (neben  den  Ganzton)  weder  ein  Ganzton  (Probl.  11)  noch  ein 
Ditonos  (Probl.  15)  gesetzt  wird,  sodass  nur  das  Pyknon  übrig  bleibt. 
So  ist  nun  klar,  dass  es  vom  Ganztono  nach  jeder  Seite  hin  nur 
ein  Nachbar-Intervall  giebt,  nach  unten  den  Ditonos,  nach  oben  das 
Pyknon. 

*)  Fehlt  in  den  Handschriften. 

b. 

§  96.  Aehnlich  wird  es  sich  bei  den  Chrom  ata  verhalten,  nur 
dass  statt  des  Ditonos  das  jeder  Chroa  eigentümliche  Intervall 
zwischen  Mese  und  Lichanos  gesetzt  wird,  sowie  der  betreffende 
Umfang  des  Pyknon. 


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XII.  Die  emmelischcn  Zusammensetzungen  der  Intervalle.  333 

C. 

§  97.  Aehiüich  auch  bei  dem  Diatona.  Denn  von  dem  den  Ge- 
schlechtern gemeinsamen  Tone  aus  wird  es  nach  jeder  Seite  hin  ein 
Nachbar-Intervall  geben,  nach  der  Tiefe  zu  das  jedesmalige  Inter- 
vall zwischen  Mese  und  Lichanos,  nach  jeder  diatonischen  Chroa 
verschieden,  nach  der  Höhe  das  Intervall  zwischen  Paramesos  und 
Trite. 

Zusatz: 

§  98.  Nun  gab  aber  auch  dies  Problem  (§  95.  96.  97)  bei 
einigen  zu  einem  lrrthume  Veranlassung.  Sie  wundern  sich  näm- 
lich, weshalb  nicht  das  Umgekehrte  von  dem  Gesagten  statt- 
findet. Denn  es  scheint  ihnen,  als  ob  vom  Ganztonc  aus  nach  beiden 
Seiten  hin  die  Zahl  der  Nachbar-Intervalle  eine  unbegrenzte  sei,  da 
es  ja  unendlich  viele  Grössen  des  durch  Mese  und  Lichanos  ge- 
bildeten Intervallcs  (§  55  d  S.  258)  und  ebenso  auch  des  Pyknon 
gebe  (§  99). 

§  99.  Hiergegen  wurde  nun  zuerst  gesagt,  dass  man  hieran 
ebenso  wenig  bei  dem  vorliegenden  (Probl.  22)  wie  bei  den  voraus- 
gehenden (20.  21)  Anstoss  zu  nehmen  habe.  Denn  offenbar  wird  auch 
vom  Pyknon  aus  das  eine  der  Nachbar-Intervalle  eine  unbegrenzte 
Zahl  von  Grössen  annehmen  können  (Probl.  21),  nicht  minder  vom 
Ditonos  aus  (Probl.  20).  Denn  ein  Intervall  zwischen  Mese  und 
Lichanos  liat  eine  unbegrenzte  Zahl  verschiedener  Grössen  und  ein 
Intervall  wie  das  Pyknon  hat  mit  dem  genannten  dieselbe  Eigen- 
schaft. Aber  nichts  destoweniger  giebt  es  vom  Pyknon  aus  nach 
unten  zu  zwei  Nachbar-Intervalle  (Probl.  21),  vom  Ditonos  aus  nach 
oben  (Probl.  20)  und  ebenso  auch  vom  Ganzton  aus  auf  jeder  Seite 
nur  ein  einziges  Nachbar-Intervall  (wie  im  vorliegenden  Probl.  22 
behauptet  ist).  Denn  innerhalb  einer  jeden  Chroa  eines  jeden  Tonge- 
schlechts muss  man  die  eigenartigen  Nachbar-Intervalle  verstehen. 

§  100.  Man  muss  nämlich  einen  jeden  der  in  der  Musik  vor- 
kommenden Begriffe  nur  in  soweit  er  ein  begrenzter  ist  festhalten 
und  in  die  betreffende  Disciplin  einreihen;  wenn  er  aber  unbe- 
grenzt ist,  ihn  zur  Seite  lassen.  In  Beziehung  auf  die  Intervallgrösse 
und  die  Tonstufen  zeigen  sich  die  Begriffe  im  Melos  als  unbegrenzt, 
in  Beziehung  auf  die  dynamische  Geltung,  auf  die  Eide  und  die 


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Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  100 — 103. 


Thesis  als  begrenzt  und  bestimmt*).  So  sind  gleich  beim  Pyknon 
die  Nachbar  -Intervalle  nach  der  Tiefe  zu  bezüglich  der  Dynamcis 
und  der  Eide  bestimmt  nicht  mehr  als  zwei  der  Zahl  nach,  denn 
wenn  der  Ganzton  das  tiefe  Nachbar  -Intervall  bildet,  so  macht 
er  das  Schema  des  Systemcs  zur  Diazeuxis;  wenn  das  tiefe  Nachbar- 
Intervall  ein  anderes  Megethos  hat,  sei  es  welches  es  wolle,  so  wird 
damit  das  Schema  des  Systemes  zur  Synaphe. 

Daraus  ist  klar,  dass  man  vom  Ganzton  aus  nach  jeder  seiner 
beiden  Seiten  hin  nur  zu  Einem  Nachbar-Intervall  schreitet,  und 
dass  die  beiderseitigen  Nachbar-Intervalle  Ein  Eidos  des  Systemes, 
nämlich  die  Diazeuxis  bewirken. 

Aus  dem  Gesagten  und  der  Sache  selber  leuchtet  ein,  dass  man 
ins  Unendliche  verfallen  würde,  wenn  man  die  möglichen  Nachbar- 
Intervalle  für  jedes  Tongeschlecht  nicht  immer  blos  nach  Einer, 
sondern  nach  allen  Chroai  der  Geschlechter  behandeln  wollte. 

*)  Dieselben  Gedanken  über  das  Begrenzte  und  das  Unbegrenzte  in 
der  Wissenschaft  spricht  Aristoxenus  für  die  Rhythmik  in  den  vermischten 
Tischgesprächen  (nepl  xoü  ypovou  zpcfc-rov)  aus. 

23.  Problem. 

§  101.  Im  Chronia  und  Enharmonion  gehört  jeder  Ton  dem 
Pyknon  an. 

Beweis:  In  den  beiden  genannten  Tongcschlechtem  bildet  ein 
jeder  Klang  die  Grenze  von  einem  Theile  des  Pyknon  oder  die  Grenze 
eines  Ganztouintervalles  oder  irgend  eines  Intervalles  zwischen  Mesc 
und  Lichanos. 

Bezüglich  der  die  Theile  eines  Pyknon  begrenzenden  bedarf  es 
keines  Beweises,  denn  augenscheinlich  gehören  sie  dem  Pyknon  an. 
Die  Grenzklänge  des  Ganztoiies  sind  oben  (Umarbeitung  des  §  9) 
beide  als  die  tiefsten  eines  Pyknon  nachgewiesen.  Von  den  Grenz- 
klängen des  übrig  bleibenden  Systemes  wurde  der  tiefere  als  der 
höchste  eines  Pyknon,  der  höchste  als  der  tiefste  eines  Pyknon 
nachgewiesen. 

Da  es  nun  blos  so  viele  unzusammengesetzte  Intervalle  giebt, 
jedes  aber  von  solchen  Klängen  begrenzt  wird,  dass  jeder  dem  Py- 
knon angehört,  so  ist  klar,  dass  jeder  Klang  im  Cliroina  und  Enhar- 
monion dem  Pyknon  angehört. 


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XII.  Die  emmelischen  Zusammensetzungen  der  Intervalle.  335 

Der  Beweis  liegt  uns  in  der  Form  vor,  welche  er  durch  das  Eindringen 
der  von  dein  Ueberarbeitcr  herstammenden  Marginalien  in  den  Text  erhalten 
hat  Auch  hier  sind  wie  im  Problem  die  Töne  A  und  a  unberücksichtigt  ge- 
blieben. 

24.  Problem. 

§  102.  Dass  es  ftir  die  Klänge  des  Pyknon  drei  Stellen  giebt,  ist 
leicht  zu  sehen,  da  zu  einem  Pyknon  weder  ein  zweites  Pyknon 
noch  auch  der  Theil  eines  Pyknon  hinzugefugt  wird  (Probl.  7).  Denn 
offenbar  wird  es  aus  diesem  Grunde  nicht  mehr  als  drei  Stellen 

1 

für  die  genannten  Klänge  geben. 

- 

25.  Problem. 

Dieses  Problem  ist  wiederum  durch  die  Ueberarbeitung  entstellt 

a. 

§  103.  Bios  vom  tiefsten  Tone  des  Pyknon  aus  kann  man 
nacli  der  Tiefe  oder  nach  der  Höhe  zu  je  zwei  Nachbarklänge  be- 
rühren, bei  dem  mittleren  und  ebenso  dem  höchsten  nur  einen. 

Beweis:  Es  war  in  dem  vorausgehenden  gezeigt,  dass  es  vom 
Pyknon  aus  nach  der  Tiefe  zu  zwei  Nachbar-Intervalle  giebt,  das 
eine  der  Ganzton  (bei  der  Diazeuxis),  das  andere  der  Ditonos  (bei 
der  Synaphe)  [Probl.  21].  Wenn  wir  aber  sagen:  es  giebt  vom 
Pyknon  aus  (nach  unten  zu)  zwei  Nachbar-Intervalle,  so  heisst  dies 
dasselbe  wie:  vom  tiefsten  der  im  Pyknon  vorkommenden  Klänge 
aus  giebt  es  nach  oben  zwei  Nachbarklänge,  denn  eben  der  tiefste 
Klang  des  Pyknon  ist  es,  welcher  dies  abgrenzt. 

Es  ist  nun  gezeigt,  dass  es  vom  Ditonos  aus  nach  oben  zwei 
Nachbarintervalle  giebt,  das  eine  der  Ganzton,  das  andere  das 
Pyknon  (bei  der  Synaphe)  [Probl.  20].  Wenn  wir  aber  sagen,  vom 
Ditonos  aus  giebt  es  nach  oben  zwei  Nachbar-Intervalle,  so  heisst 
dies  dasselbe  wie:  vom  höheren  Grenzklange  des  Ditonos  aus  giebt 
es  zwei  Nachbar-Intervalle,  denn  dieser  ist  es,  welcher  das  Ditonos- 
Intervall  nach  oben  abschliesst.  Offenbar  aber  ist  der  obere  Grenz- 
klang des  Ditonos  identisch  mit  dem  tiefsten  Tone  des  Pyknon,  denn 
auch  dies  war  bewiesen  [Umarbeitung  des  Probl.  8].   Somit  ist  es 


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336 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  104—106. 


klar,  dass  es  vom  genannten  Tone  sowohl  nach  unten  wie  nach 
oben  zwei  Nachbartöne  giebt. 

Aristoxenus  selber  musste  sagen: 

Von  dem  tiefsten  Klange  des  Pyknon  aus  giebt  es  nach  unten 
zu  zwei  Nachbarklänge,  nämlich  bei  der  Synaphe  den  um  einen  Di- 
tonos  tieferen,  bei  der  Diazeuxis  den  um  einen  Tonos  tieferen;  nach 
oben  zu  nur  einen,  den  zweiten  Klang  des  Pyknon. 

b. 

§  104.  Dass  es  ferner  vom  höchsten  Klange  des  Pyknon  aus 
sowohl  nach  oben  wie  nach  unten  nur  ein  Nachbar-Intervall  giebt, 
ist  zu  beweisen. 

Beweis:  Es  war  nachgewiesen,  dass  es  vom  Pyknon  nach  obeu 
nur  Ein  Nachbar-Intervall  giebt,  nämlich  den  Ditonos  (Probl.  21). 
Wenn  wir  aber  sagen,  es  giebt  vom  Pyknon  nach  oben  nur  Ein 
Nachbar-Intervall,  so  heisst  dies  aus  demselben  Grunde  nichts  an- 
deres als:  von  dem  dasselbe  begrenzenden  Klange  also:  vom  oxy- 
pyknos  aus  nach  oben  um  den  Ditonos  entfernter  Klang. 

Es  ist  nachgewiesen,  dass  es  auch  vom  Ditonos  nach  unten 
nur  Ein  Nachbar-Intervall  giebt  (nämlich  Pyknon  Probl.  20).  Wenn 
wir  aber  sagen,  es  giebt  vom  Ditonos-Intervall  aus  nach  unten  nur 
Ein  Nachbar-Intervall,  so  ist  das  aas  demselben  Grunde  nichts  an- 
deres als:  von  dem  dasselbe  begrenzenden  Tone.  Offenbar  ist  aber 
auch  der  tiefere  Grenzklang  des  Ditonos  identisch  mit  dem  höchsten 
Grenzklange  des  Pyknon,  da  dieser  der  höchste  des  Pyknon  ist 

Somit  ist  klar,  dass  es  vom  genannten  Klange  sowohl  nach 
v  oben  wie  nach  unten  nur  Ein  Nachbar-Intervall  giebt 

Aristoxenus  selber  musste  sagen: 

Vom  höchsten  Tone  des  Pyknon  giebt  es  nach  oben  zu  nur 
Ein  Nachbarintervall  nämlich  den  Ditonos;  nach  unten  ebenfalls 
nur  Eines,  nämlich  das  mittlere  Intervall  des  Pyknon. 

c. 

§  105.  Dass  es  endlich  vom  mittleren  Klange  des  Pyknon  aus 
sowohl  nach  oben  wie  nach  unten  nur  Ein  Nachbar-Intervall  giebt, 
ist  zu  beweisen. 


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XII.   Die  emmelischeu  Zusammensetzungen  der  Intervalle.  337 

Beweis:  Zu  dem  genannten  Klange  muss  nothwendig  eines  der 
unzusammengesetzten  Intervalle  gesetzt  werden.  Da  aber  auf  jeder 
Seite  desselben  eine  Diesis  ihre  Stelle  hat,  so  kann  zu  ihr  auf  keine 
Seite  weder  der  Ditonos  noch  der  Ganzton  gesetzt  werden. 

Denn  setzt  man  den  Ditonos,  so  wird  mit  dem  mesopyknos 
entweder  der  tiefste  oder  der  höchste  Klang  eines  Pyknon  zusammen - 
lallen 


i 


Diton.       Pykn.  Pykn.  Diton. 

so  dass,  wie  man  auch  den  Ditonos  setzt,  drei  Diesen  aufeinander 
folgen. 

Wenn  man  aber  zu  derselben  Stelle  des  Pyknon  den  Ganzton 
setzt,  dann  wird  wieder  dasselbe  eintreten;  denn  mit  dem  mesopy- 
knos wird  der  tiefste  Ton  eines  Pyknon  zusammenfallen: 

i 


Pykn.   Ton.  diazeukt. 

so  dass  drei  Diesen  aufeinander  folgen. 

Da  dieses  ekmelisch  ist,  so  giebt  es  vom  genannten  Tone  aus 
auf  jeder  Seite  nur  Ein  Intervall. 

Demnach  ist  klar,  dass  es  vom  tiefsten  Klange  des  Pyknon  aus 
auf  jeder  Seite  zwei  Nachbar-Intervalle  giebt,  vom  höchsten  und 
tiefsten  aber  auf  jeder  Seite  nur  Eines. 

26.  Problem. 

§  106.  Dass  es  nicht  emmelisch  ist,  wenn  zwei  in  ihrer  Theil- 
nahme  am  Pyknon  unähnliche  Klänge  auf  dieselbe  Stufe  gesetzt 
werden,  ist  nachzuweisen. 

Beweis:  Man  setze  zunächst  den  höchsten  und  den  tiefsten 
auf  dieselbe  Stufe. 

Pyknon 


Pykuon 

Ariitoienn»,  MeHk  u.  Rhythmik.  22 


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338 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  106.  107. 


Geschieht  dies,  so  folgen  zwei  Pykna  aufeinander.  Da  dies  ekme- 
lisch  ist,  so  ist  es  auch  ekmelisch,  wenn  die  genannten  Klange  im 
Pyknon  auf  dieselbe  Stufe  fallen. 

Klar  ist  es  aber  auch,  dass  es  nicht  emmelisch  ist,  wenn  Klänge, 
welche  nach  dem  übrig  bleibenden  Unterschiede  verschieden  sind, 
dieselbe  Tonstufe  gemein  haben: 

IM  III 
.IM-  III 

Denn  mag  mit  dem  mittleren  Tone  des  Pyknon  der  tiefste  oder 
der  höchste  Ton  eines  Pyknon  die  Tonstufe  gemeinsam  haben,  es 
werden  drei  Diesen  aufeinander  folgen. 

Zweites  Problemen-Paar  über  die  unzusammengesetzten  Intervalle. 

Schon  zu  Anfange  des  Abschnittes,  unmittelbar  nach  der  Erörterung  der 
Synaphe  und  Diazcuxis,  hat  Aristoxenus  über  die  unzusammengesetzten  Inter- 
valle ein  erstes  Problemen-Paar  aufgestellt:  was  der  Begriff  des  unzusammen- 
gesetzten Intervalles  sei,  und  dass  in  jedem  Tongeschlechte  höchstens  nur  so 
viele  unzusammengesetzte  Intervallgrössen  vorkommen,  als  deren  Anzahl  in  dem 
Quiuten-Pentachord  beträgt.  Hieran  würde  sich  dem  sachlichen  Zusammen- 
hange nach  eine  Erörterung,  wie  gross  für  jedes  einzelne  Tongeschlecht  die 
Anzahl  der  unzusammengesetzten  Intervallgrössen  sei,  anschliessen.  Diese 
Erörterung  bleibt  dem  letzten  Problemen-Paar  des  ganzen  Abschnittes  vorbe- 
halten, weil  vorher  die  Ergebnisse  der  Probleme  20  und  21  zur  Bestimmung 
der  Intervallgrössen- Anzahl  erforderlich  sind. 

Es  ist  als  ob  das  letzte  Problemen-Paar  den  wissenschaftlichen  Gipfel- 
punkt des  ganzen,  von  Aristoxenus  mit  so  ausserordentlicher  Vorliebe  behandelten 
Abschnittes,  bilden  sollte.  In  der  That  ist  das  letzte  Problemen-Paar  für  die 
Theorie  des  griechischen  Melos  von  ungemeiner  Wichtigkeit. 

Freilich  war  schon  im  IX.  Abschn.  (sowohl  der  vorliegenden  zweiten  wie 
auch  der  ersten  Harmonik)  von  diesen  Thatsachen  die  Rede,  aber  unser  Ab- 
schnitt XI  entlialt  die  nur  zu  erwünschte  Bestätigung  der  dort  angegebenen 
Thatsachen.  Dieselben  entziehen  sich  so  sehr  der  gewöhnlichen  Vorstellung, 
welche  man  sich  bisher  in  Folge  der  Arbeiten  Boeckh's  und  Bellermann's  und 
ihrer  Vorgänger  von  der  griech.  Harmonik  machte,  dass  Paul  Marquard  (wie 
schon  S.  303, 6  bemerkt)  trotzdem  er  die  von  den  in  Bede  stehenden  Thatsachen 
des  Abschnittes  IX  der  ersten  und  zweiten  Harmonik  übersetzt  und  unter 
richtiger  Emendation  des  griechischen  Textes  im  kritischen  und  exegetischen 
Commentare  durchaus  richtig  interpretirt  hat,  nichts  destoweniger  bei  der  Stelle 


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XII.   Die  emmelischen  Zusammensetzungen  der  Intervalle.  339 

des  Abschnittes  XII,  welche  genau  dieselben  Thatsachen  wiederholt,  die  Meinung 
ausspricht,  dass  sich  von  ihnen  weder  sonst  bei  Aristoxenus  noch  bei  einem 
anderen  Musikschriftsteller  auch  nur  die  leiseste  Spur  finde. 

Was  wir  nämlich  in  diesem  Problemen-Paar  durch  Aristoxenus  erfahren  ist 
dies,  dass  die  durch  die  griechischen  Tongeschlechter  und  ihre  Chroai  bedingten 
Tetrachord-Theilungen  keineswegs  auf  die  von  Boeckli  und  ßellermann  hervor- 
gezogenen Formen  (wie  dieselben  oben  S.  259.  260  angegeben  sind)  beschränkt 
waren.  Denn  die  früher  von  ihm  (erste  Harmonik  §  57.  58,  S.  261  und 
zweite  Harmonik)  gegebenen  Darstellung  bestätigend,  stellt  Aristoxenus  im 
Abschnitt  XII  die  Probleme  27  und  28  auf,  deren  Inhalt  von  jedem,  für 
welchen  das  Melos  der  Griechen  Interesse  hat,  wohl  zu  beachten  ist. 

Das  in  den  folgenden  von  Aristoxenus  als  „Diatonon  mit  zwei  ver- 
schiedenen Intervallgrössen"  bezeichnete Pentachord  ist  das  gewöhnliche 
„Diatonon  syntonon";  das  „Diatonon  mit  vier  verschiedenen  Inter- 
vallgrössen" ist  das  Diatonon  malakon,  das  „Enharmonion  und'Chroma 
mit  drei  verschiedenen  Intervallgrössen"  ist  das  gewöhnliche  Enhar- 
monion und  das  gewöhnliche  Chroma  in  seinen  drei  Chroai. 

Dasjenige,  was  hier  (§  27.28)  von  Aristoxenus  als  „Diatonon  mit  drei 
verschiedenen  Intervallgrössen"  und  als  „Chroma  mit  vier  ver- 
schiedenen Intervallgrössen"  bezeichnet  wird,  ist  das  einzige  von  Ar- 
chytas  aufgeführte  Diatonon  und  Chroma,  wie  im  Abschnitt  XIV  dargethan 
wird. 

27.  Problem. 

§  107.  Dass  das  Diatonon  entweder  zwei  oder  drei  oder  vier 
(verschiedene)  unzusammengesetzte  Intervalle  zu  seinen  Bestand- 
theilen  hat,  ist  nachzuweisen. 

Beweis:  Dass  jedes  der  Systeme  höchstens  aus  so  viel  unzu- 
sammengesetzten Intervallen  besteht  wie  in  der  Quinte  enthalten 
sind,  ist  früher  (Probl.  6)  nachgewiesen.  Es  sind  diese  letzten  der 
Anzahl  nach  höchstens  vier. 

a)  Diatonon  mit  zwei  verschiedenen  Intervallgrössen. 
(Diatonon  syntonon.) 

Wenn  nämlich  von  den  vier  Intervallen  drei  einander  gleich  sind, 
das  vierte  aber  eine  von  diesen  verschiedene  Grösse  hat  —  dies 
wird  im  Diatonon  syntonon  der  Fall  sein  —  so  sind  es  bloss  zwei  ver- 
schiedene Grössen,  welche  die  Bestandteile  des  Diatonon  ausmachen. 

22* 


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340 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  107.  108. 


=     s,     j  S 


Hemit.  Tonos  Tonos  Tonos 


b)  Diatonon  mit  drei  verschiedenen  Intervallgrössen. 
(Diatonon  gemischt  mit  chromatischer  Parhypate.  Diatonon  des  Archytas.*) 

Wenn  aber  die  Parhypate  verändert  wird  und  somit  zwei  In- 
tervalle der  Quinte  einander  gleich  sind,  zwei  aber  diesen  ungleich 
sind,  so  werden  es  drei  verschiedene  Intervallgrössen  sein,  welche 
die  Bestandtheile  des  Diatonon  sind:  ein  Intervall  (das  tiefst^ 
kleiner  als  der  Halbtou,  ein  anderes  (das  mittlere  und  höchste) 
vom  Umfange  des  Ganztones,  ein  anderes  (das  zweittiefste)  wieder 
grösser  als  der  Ganzton. 

mit  Parhypate  des  Chroma  malakon: 


mit  Parhvpate  des  Chroma  hemiolion: 


Kleiner    Grösser  Tonoa  Tonos 
als  Hemit.  al«  Tonos 

Erste  Harm.  §  58  S.  262:  „Es  entsteht  ein  emmelisches  Tetrachord  auch 
aus  einer  chromatischen  Parhypate,  (welche  tiefer  als  die  hömitonische  ist)  und 
aus  der  höchsten  diatonischen  Lichanos."  Der  umklammerte  Zusatz  zur  hand- 
schriftlichen Ueberlieferung  ist  eine  der  Sache  nach  gewiss  richtige  Eraendation 
Marquardt 

Zweite  Harra.  §  58  S.  283:  „Das  Intervall  zwischen  Parhypate  und 
Lichanos  ist  kleiuer  als  das  zwischen  Lichanos  und  Mcse,  wenn  man  als  Lichanos 
die  höchste  diatonische,  als  Parhypate  eine  von  denen,  welche  tiefer  als  die 
hömitonische  ist,  anwendet." 

*)  Es  ist  dies  Aristoxeuische  „Diatonon  mit  drei  verschiedenen  Intervall- 
grössen" identisch  mit  dem  einzigen  „Diatonon"  des  Archytas,  welcher  das  be- 
treffende Tetrachord  durch  die  Intervallverhältnisse 

27  :  28       7  :  »S  8:9 
ausdrückt,  dieselben  Zahlen,  durch  die  Ptolomäus  die  Intervalle  seines  „Dia- 
tonon toniaion"  bezeichnet.    Das  Nähere  vgl.  Abschnitt  XIV. 


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XII.   Die  emmclischeu  Zusammensetzungen  der  Intervalle.  341 

c)  Diatonon  mit  vier  verschiedenen  Intervallgrössen. 
(Diatonon  malakon.) 

Wenn  aber  alle  Intervallgrössen  der  Quinte  ungleich  werden, 
so  werden  es  vier  verschiedene  Intervallgrössen  sein,  welche  die 
Bestandteile  des  Diatonon  sind: 


Hemlt     Kleiner       GrSwer  Touo« 
als  Tonoi  als  Tonos 

So  ist  es  klar,  dass  das  Diatonon  entweder  zwei  oder  drei  oder 
vier  verschiedene  Intervalle  hat. 

2S.  Problem. 

§  108.  Dass  das  Chroma  und  das  Enharmonion  entweder  drei 
oder  vier  verschiedene  unzusammengesetzte  Intervalle,  zu  ihren  Be- 
standteilen haben,  ist  nachzuweisen. 

a)  Unharmonion  und  Chroma  mit  drei  verschiedenen  Intervallgrössen. 

Beweis:  Wenn  von  den  vier  Intervallen,  die  in  der  Quinte  der 
Zahl  nach  enthalten  sind,  die  Theile  des  Pyknon  einander  gleich 
sind,  so  werden  die  verschiedenen  Bestandteile  eines  jeden  der 
genannten  Tongeschlechter  der  Zahl  nach  drei  sein. 

*  I  I  § 
«fiel 


Enharmonion 


Chroma 
niiiliikon 


X       0*       J       E  flu 


— : — J  J 


Chroma        [  — ;  p   ^" 

hemiolion 


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342 


Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  108.  109. 


Chroma 
toniaion 


3^ 


1- 


Hälfte  <L 
Pylenon 


Hälfte  d. 
Pyknon 


Gröseer  Tonw 
Bis  Tod. 


das  eine  die  Hälfte  des  Pyknon  (seines  Tongeschlechtes  und  seines 
Chroma),  wie  gross  es  auch  sei,  das  andere  vom  Umfange  des 
Ganztones,  das  dritte  das  zwischen  Lichanos  und  Mese  befindliche. 

b)  Enharmonion  und  Chroma  mit  vier  verschiedenen  Intervall  grossen. 

(Chroma  des  Archytas*). 

"Wenn  aber  die  Theile  des  Pyknon  einander  ungleich  sind,  so 
werden  es  vier  Intervallgrössen  sein,  welche  die  Bestandteile  der 
genannten  Tongeschlechter  bilden: 

das  kleinste  der  vier  Intervalle  ein  solches  wie  das  zwischen 
Hypate  und  Parhypate,  das  zweite  wie  das  zwischen  Parhypate 
und  Lichanos,  das  dritte  der  "Grösse  nach  vom  Umfange  des 
Ganztones,  das  vierte  wie  das  zwischen  Lichanos  und  Mese. 

In  der  zweiten  Harmonik  §  57  S.  281,  282  sagt  Aristoxenus  von  den  bei- 
den unteren  Intervallen  des  Tetrachordes:  „das  Intervall  zwischen  Hypate  und 
Parhypate  ist  entweder  gleich  gross  wie  das  zwischen  Parhypate  und  Lichanos, 
oder  es  ist  kleiner;  .  .  .  dass  es  kleiner  ist,  kann  aus  den  chromatischen  Thei- 
lungen  erkannt  werden,  wenn  man  nämlich  die  Parhypate  des  Chroma  mala- 
kon  und  die  Lichanos  des  Chroma  toniaion  nimmt,  denn  auch  derartige  Thei- 
lungen  des  Pyknon  zeigen  sich  als  emmelisch. 

In  der  ersten  Harmonik  muss  dieselbe  Notiz  enthalten  gewesen  sein,  aber 
die  Handschriften  sind  liier  defekt. 


-5 

=  § 


•3  °* 

s  - 

g  a 


Enharmonion 


Chro.  niiüak. 


Chro.  hemiol. 


Kleiner  Grösser  Grösser  Tonos 
alsHemit.  alsHerail  alaToo. 


*)  Das  Chroma,  welches  Aristoxenus  hier  im  Auge  hat,  ist  identisch  mit 
dem  einzigen  „Chroma"  des  Archytas  (vgl.  Abschn.  XIV). 


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XII.  Die  cminelischen  Zusammensetzungen  der  Intervalle.  343 

Der  §  57  erwähnt  ausdrücklich  nur  das  Chroma  malakon,  aber  dann  sagt 
er  weiter:  „denn  auch  derartige  Theilungen  des  Pykn.  zeigen  sich  als  emmelisch.4' 
Was  ist  unter  „derartigen  Theilungen"  zu  verstehen?  Nicht  nur  ausser  dem 
Chroma  malakon  auch  noch  das  Chroma  hemiolion,  sondern  —  dies  lehrt  uns 
der  §  98  —  auch  das  Enharmonion;  denn  dort  heisat  es:  „dass  das  Chroma 
und  das  Enharmonion  entweder  drei  oder  vier  verschiedene  Intervallgrössen 
zu  ihren  Bestandtheilen  haben,  ist  nachzuweisen."  Der  §  89  setzt  mithin 
ein  Enharmonion  und  zwei  Chromata  als  Klanggeschlechter  mit  vier  verschie- 
denen Intervallgrössen  voraus. 

§  109.  Da  hatte  einer  ein  Bedenken,  weshalb  nicht  das  Enhar- 
monion und  das  Chroma  gleich  dem  Diatonon  auch  zwei  ver- 
schiedene Intervallgrössen  zu  seinen  Bestandtheilen  habe.  Der 
Grund  davon,  dass  dies  nicht  der  Fall  ist,  liegt  im  Allgemeinen 
darin,  dass  drei  gleiche  unzusammengesetzte  Intervalle  im  Enhar- 
monion und  Chroma  nicht  gesetzt  werden,  wohl  aber  im  Diatonon. 
Aus  diesem  Grunde  können  bloss  bisweilen  im  Diatonon  zwei  un- 
zusammengesetzte Intervallgrössen  die  Bestandtheile  bilden. 

Der  den  Aristoxenus  interpellirende  Zuhörer  ist  ein  Freund  pedantischer 
Gleiehmässigkeit.  Das  Diatonon  hat  entweder  zwei  oder  drei  oder  vier,  das 
Enharmion  und  Chroma  entweder  drei  oder  vier,  aber  nicht  zwei  Intervall- 
grössen zu  Bestandtheilen.  „Weshalb  nicht  zwei"?  fragt  der  Zuhörer.  Und 
der  Docent  selber  ist  Pedant  genug,  dasjenige  was  er  so  gut  es  gehen  wollte 
in  der  Vorlesung  darauf  geantwortet  hatte,  nach  der  Vorlesung  in  das  Col- 
legienheft  einzutragen. 


■ 


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XIII. 
Die  Systeme. 

(Systematische  Stoicheia). 
Vgl.  Prooim.  §  17.  18. 

§  L7.  „Wenn  gezeigt  worden,  auf  welche  Weise  die  einfachen  Inter- 
valle mit  einander  zusammengesetzt  werden  [das  ist  im  XII.  Abschn. 
„geschehen],  dann  sind  die  aus  ihnen  bestehenden  Systeme  zu  behandeln, 
„die  übrigen  nicht  minder  wie  das  vollständige  System  (t£/.ciov),  und 
„zwar  in  der  Weise,  dass  wir  zeigen,  wie  viel  und  welche  [Quarten-, 
„Quinten-,  Octaven-  und  Doppeloctaven-Systeme]  es  sind,  und  dass  wir 
„die  aus  dem  verschiedenen  Megethos  sich  ergebenden  Unterschiede 
„und  wiederum  bei  jedem  Megethos  die  Verschiedenheiten  {erstens)  des 
„Schemas,  (zweitens)  der  Synthesis  und  (drittens)  der  Thesis  angeben, 
„dergestalt,  dass  bei  den  Melodumena  Nichts,  sei  es  Umfang,  sei  es 
„Schema  oder  Synthesis  oder  Thesis,  unbewiesen  bleibt." 

§  18.  „Mit  diesem  Theile  der  Disciplin  haben  sich  die  übrigen 
„nicht  befasst,  ausgenommen  Eratokles,  welcher  ohne  Nachweis  eine 
„theilweise  Aufzählung  (der  Systeme)  unternommen  hat.  Dass  er  aber 
„nichts  (von  Belang)  gesagt,  sondern  Alles  unrichtig  angegeben  und 
„mit  seinem  Wahrnehmungsvermögen  sich  geirrt  hat,  ist  schon  früher, 
„als  wir  diesen  Gegenstand  (r^a^a-ztia)  ai*  sich  behandelten,  dargethan 
„worden.  Denn  man  hat  sich,  wie  wir  in  den  früheren  Vorlesungen 
„(£v  toi;  £u.7:poo8ev)  sahen,  nirgends  mit  den  übrigen  Systemen  befasst; 
„bloss  von  Einem  Systeme  und  nur  für  Ein  Tongeschlecht  hat  es  Era- 
tokles unternommen,  sieben  Schemata  der  Octave  aufzuzählen,  die  er 
„durch  Umstellung  der  Intervalle  nachwies,  ohne  indess  zu  erkennen, 
„dass,  wenn  vorher  nicht  die  Schemata  der  Quinte  und  der  Quarte  dar- 
gelegt worden  und  dann  ferner,  welche  Art  der  Zusammensetzung  es 
„sei,  nach  welcher  sie  emmelisch  zusammengesetzt  werden,  dass  ( —  sage 
„ich  — )  in  einem  solchen  Falle  sieh  herausstellt,  dass  es  mehr  als  sieben 
„(durch  das  Schema  verschiedene)  Systeme  giebt.  Doch  haben  wir, 
„dass  dem  so  ist,  schon  in  den  früheren  Vorlesungen  ausgeführt,  und 
„so  wollen  wir  dies  jetzt  zur  Seite  liegen  lassen  und  sofort  die  weiteren 
„Abschnitte  unserer  Disciplin  angeben." 


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XIII.  Die  Systeme  (Systematisehe  Stoieheia). 


343 


Diese  Sätze  des  Prooimions  sind  nahezu  Alles,  was  die  handschriftliche 
Ueberlieferung  bezüglich  der  den  Abschnitt  XIII  bildenden  Lehrt«  von  den 
Systemen  enthält.  Denn  von  der  Ausführung  dieses  Abschnittes  besitzen  wir 
nur  die  beiden  ersten  Paragraphen.  Mit  Becht  ergänzt  Ruelle  dieselben  aus 
dem  Anonym,  de  mus.  Noch  ergiebiger  für  die  Ergänzung  ist  Pseudo- 
Euklid, welcher  mit  dem  Anonymus  aus  der  nämlichen  Quelle  geschöpft  hat, 
der  Arbeit  eines  dem  Namen  nach  unbekannten  Aristoxeneers,  welcher  die 
Darstellung  des  Meisters  umgearbeitet  hat. 

Also  1.  Schema,  2.  Synthesis,  3.  Thesis,  das  müssen  die  drei  Kapitel  ge- 
wesen sein,  nach  denen  der  Abschn.  XIII  gegliedert  war.  Wenn  Aristoxenus 
in  der  Rhythmik  die  Intervalleulehre  seiner  Harmonik  als  „diastematische 
Stoieheia"  citirt  (vgl.  S.  2851,  so  inuss  er  die  Systcmen-Lehre*  als  „systema- 
tische Stoieheia"  gefasst  haben. 

* 

Erinnern  wir  uns,  dass  Aristoxenus  auch  schon  in  den  den  Stoieheia  vor- 
ausgehenden Eingangsabschnitten  IV  §  38.  40  und  Abschnitt  VII  §  46 — 48 
über  die  Systeme  geredet  hat  In  Abschn.  IV  giebt  Aristoxenus  den  Begriff 
und  die  Eintheilung  der  Systeme,  in  Abschn.  VII  behandelt  er  „im  Umrisse" 
die  symphonischen  Systeme:  Quarte.  Quinte,  Octave  und  deren  Zusammen- 
setzungen zu  einander.  Der  Abschn.  IV  nennt  ausser  den  vier  Unterschieden  der 
Systeme:  1.  nach  dem  Umfange,  2.  nach  Symphonien  und  Diaphonien,  3.  nach 
den  Tongeschlechtern,  4.  nach  Rationalität  und  Irrationalität,  auch  noch  5.  den 
Unterschied  nach  Synaphe  und  Diazeuxis,  6.  nach  continuirlichen  Systemen 
und  Systemata  hyperbata,  7.  nach  eiufaeheu,  zweifachen  und  vielfachen  Systemen 
und  8chliesst  dort  (§  41)  mit  den  Worten:  „Worin  aber  ein  jedes  von  ihnen 
besteht,  wird  im  Folgenden  gezeigt  werden." 

Nun  aber  will  Aristoxenus  (von  dem  die  Symphonien  behandelnden  Ab- 
schnitte VII  abgesehen)  an  keinem  andern  Orte  als  bloss  noch  im  Absehn.  XIII 
von  den  Systemen  handeln.  Dies  geht  aus  dem  Prooimion  unwiderleglich  her- 
vor. Auch  diese  Unterschiede  der  Systeme  müssen  also  in  dem  Abschn.  XIII 
behandelt  gewesen  sein,  namentlieh  4.  bis  7.,  von  denen  früher  noch  kein  ein- 
ziger erörtert  war. 

Gehen  wir  nunmehr  zu  der  Darstellung  der  Systeme  über,  welche  sich 
in  der  Pseudo- Euklidischen  Einleitung  in  die  Harmonik  p.  12—18  findet.  Diese 
Darstellung  ist,  wie  schon  gesagt,  aus  dem  Werke  geschöpft,  in  welchem  ein 
uns  dem  Namen  nach  unbekannter  Anhänger  des  Aristoxenus  von  dessen  Dar- 
stellung der  Harmonik  einen  Auszug  lieferte.  Diesen  Auszug  selber  besitzen 
wir  nicht  mehr,  aber  durch  die  Musiker  der  römischen  Kaiserzeit,  welche  den- 
selben in  ihren  Compendien  excerpirten,  können  wir  una  eine  Vorstellung  von 
jenem  nicht  erhaltenen  Auszuge  des  Aristoxeneers  machen.  Die  Pseudo- 
Euklidischc  „Einleitung  in  die  Harmonik"  ist  für  den  Abschnitt  von  den  Sy- 
stemen die  reichhaltigste  unter  ihnen. 

In  der  Systemenlehre  des  Pseudo-Euklides  sind  drei  Bestandteile  von 
ungleichem  Räume  zu  unterscheiden.    Der  erste  Theil  stammt  aus  dem  Ab- 


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Aristoxenus  zweite  Harmonik  §  110.  111. 


schnitt  IV  der  Aristoxenischen  Harmonik,  der  zweite  Theil  ans  dem  Ab- 
schnitt VII,  der  dritte  Theil,  welcher  der  umfangreichste  ist,  aus  dem  Ab- 
schnitt XIII.  Obwohl  hier  nur  dieser  dritte  Theil  unsere  Aufmerksamkeit  in 
Anspruch  nimmt,  so  ist  es  doch  auch  auf  den  ersten  und  zweiten  der  beiden 
Bestandteile  einzugehen  unerlässlich ,  denn  sie  documcntiren  aufs  entschie- 
denste, dass  die  Darstellung  des  Pseudo-Euklidcs ,  gleichviel  ob  mittelbar  oder 
unmittelbar,  auf  Aristoxenus  zurückgeht.  Vermuthlich  geht  die  durch  Pseudo- 
Euklides  excerpirte  Arbeit  des  anonymen  Arwtoxeners  nicht  auf  die  erste 
oder  zweite  Harmonik  des  Meisters,  sondern  auf  die  dritte  zurück,  in  welcher 
Aristoxenus  selber  die  18  Abschnitte  der  ersten  und  zweiten  Harmonik  zu 
sieben  Abschnitten  umgearbeitet  hatte.  Vgl.  das  Prooimion  zur  dritten  Har- 
monik. 

ERSTER  BESTANDTHE1L  DER  EUKLIDISCHEN 
SYSTEMENLEHRE. 

Sieben  Unterschiede  der  Systeme  giebt  es.  Vier  haben  sie  mit  den  Inter- 
vallen gemeinsam-.  l.  nach  dem  Megethos,  2.  nach  dem  Genos,  3.  den  des  sym- 
phonischen und  diaphonischen,  4.  den  des  rationalen  und  irrationalen  Systemes. 

ZWEITER  BESTAND  TM  EIL  DER  EUKLIDISCHEN 

S  YSTEMEN  LEHRE. 

1.  Nach  dem  Megethos  sind  die  grösseren  Systeme  von  den  kleineren  ver- 
schieden, teie  Octave,  Trüonos,  Quinte,  Quarte  u.  dgl. 

2.  Nach  dem  Genos,  z.  B.  die  diatonischen  von  den  enharmonischen  oder 
chromatischen,  oder  die  chromatischen  oder  enharmonischen  von  den  Übrigen. 

3.  Symphonische  und  diaphonische  Systeme:  die  von  symphonischen  Klängen 
umschlossenen  unterscheiden  sich  von  den  durch  diaphonische  Klänge  begrenzten. 

Indem  Systema  amat abolon  giebt  es  6  Symphonieen :  I.die  Quarte,  die 
kleinste  Symphonie,  aus  zwei  Ganztönen  und  einem  halben,  z.  B.  von  der  Hy- 
pate  hypaton  zur  Hypate  meson;  2.  die  Quinte  aus  Ganztönen,  z.  B.  vom 
Proslambanomenos  zur  Hypate  meson;  3.  die  Octave  aus  6  Ganztönen,  z.  B. 
vom  Proslambanomenos  zur  Nete  synemmenon  oder  zur  Paranete  diezeugmenon 
diatonos;  4.  die  Undecime  (Octave  mit  Quarte)  aus  8Y*  Ganztönen;  5.  die 
Duodecime  (Octave  mit  Quinte)  aus  91;,  Ganstönen,  z.  B.  vom  Proslambano- 
menos bis  zur  Nete  diezeugmenon:  6.  die  Doppeloctave  aus  12  Ganztönen  vom 
Proslambanomenos  bis  zur  Nete  hyperbolaion. 

Das  sogen.  Systema  synemmenon  gehl  bis  zur  vierten  Symphonie,  näm- 
lich 1.  Quarte,  2.  Quinte,  3.  Octave,  4.  Undecime. 

Vergrössern  lässt  sich  der  Umfang  der  Stimme  bis  zur  siebenten  und 
achten  Symphonie,  nämlich  7.  Doppeloctave  mit  der  Quarte,  8.  Doppeloctave  mit 
der  Quinte. 


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XIII.  Die  Systeme:  1.  Schemata  oder  Eide. 


347 


Diaphonische  Intervalle  sind  alle  diejenigen,  welche  kleiner  als  die  Quarte 
find,  und  alle  diejenigen,  welche  zwischen  zwei  symphonischen  Intervallen  in  der 
Mitte  liegen, 

DRITTER  BESTANDTHEIL  DER  EUKLIDISCHEN 

S  YSTEMENLEHRE. 

Derselbe  behandelt  zunächst  die  verschiedenen  Schemata  des  Quarten-, 
Quinten-  und  Octaven-Systemes.  Der  Anfang  dieser  Partie  stimmt  mit  dem 
kurzen  Reste,  welcher  in  den  Aristoxenischen  Handschriften  von  Abschn.  XIII 
sich  erhalten  hat,  so  sehr  iiberein,  dass  man  sie  gegenseitig  aus  einander  emen- 
diren  kann. 

Es  folge  hier  nunmehr  das  kurze  in  den  Handschriften  noch  erhaltene 
Aristoxenus-Fragment  des  Abschn.  XIII  über  die 

1. 

Schemata  oder  Eide  der  Systeme. 

§  .1 10.  Hierauf  ist  zu  erörtern,  was  der  Unterschied  nach  dem 
Schema  ist  —  es  ist  einerlei  ob  wir  Schema  oder  Eidos  sagen,  denn 
beide  Namen  beziehen  wir  auf  dasselbe. 

Er  findet  statt,  wenn  bei  dem  nämlichen  aus  den  nämlichen 
unzusammengesetzten  Intervallen  bestehenden  Megethos  —  ich  sage 
aus  den  nämlichen  sowohl  mit  Bezug  auf  ihr  Megethos  wie  ihre 
Anzahl  —  die  Reihenfolge  derselben  sich  ändert. 

Drei  Eide  de»  Quarten- Systeme». 

§  111.   Nachdem  dies  festgestellt,  ist  zu  zeigen,  dass  es  drei 

Eide  der  Quarte  (in  jedem  der  drei  Tongeschlechter)  giebt.   I.  Im 

Enharmonion:  erstes  Eidos,  wo  das  Pyknon  unterhalb  des  Ditonos 

liegt;  zweites  Eidos,  wo  eine  Diesis  zu  beiden  Seiten  des  Ditonos; 

drittes  Eidos,  wo  das  Pyknon  oberhalb  des  Ditonos. 

» 

1.  h  h   c  e 

2.  h  c       e  e 

3.  e       e    e  f 

(So  im  Enharmonion  und  analog  IL  auch  im  Chroma.  IQ.  Im  Diatonon 
aber  sind  die  Quarten-Eide  folgende:  Erst  es  Eidos,  wo  der  Halb- 
ton das  untere  Intervall  bildet;  zweites  Eidos,  wo  der  Halbton 
das  obere  Intervall,  drittes  Eidos,  wo  der  Halbton  das  mittlere 
Intervall.) 


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34S 


Aristoxcnus  zweite  Harmonik  §  111. 


1.  h   c   d  e 

2.  c   d   e  f 

3.  d   e   f  g 

Dass  es  nicht  möglich  ist,  die  Theile  der  Quarte  anders  als 
in  der  gegebenen  Reihenfolge  zu  setzen,  ist  leicht  einzusehen. 

Mit  diesen  Worten,  auf  welche  zunächst  noch  ein  das  „£>o!oiov  cuvioeiv" 
ausführender  Beweis  im  Sinne  der  Problemata  des  vorigen  Abschnittes  gefolgt 
sein  muss,  endet  das  handschriftliche  Bruchstück  der  zweiten  Aristoxenischen 
Harmonik. 

Welchen  Gang  Aristozenus  im  Verfolge  der  Darstellung  eingehalten  hat, 
dürfte  aus  den  im  Prooimion  bei  Gelegenheit  der  Inhaltsangabe  des  Ab- 
schnittes XIV,  §  19  gebrauchten  Worten  hervorgehen:  „Sind  die  Systeme  so- 
wohl nach  einem  jeden  der  Tongeschlechter  wie  nach  jedem  ihrer 
Unterschiede  aufgezählt  worden,  so  wird  (im  Abschn.  XIV)  die  Mischung  der 
Tongeschlechtcr  zu  untersuchen  sein." 

Dieser  Mittheilung  des  Prooimions  zufolge  muss  auch  vor  dem  Schluss- 
satze eine  das  Chroma  und  das  Diatonon  für  die  Schemata  der  Quarte  dar- 
stellende Partie  ausgefallen  sein,  denn  in  der  Handschrift  ist  von  den  drei 
Toiigeschlechtern  bloss  das  Enharmonion  ausgeführt  Wir  haben,  was  hier  für 
die  Quarte  des  chromatischen  und  diatonischen  Geschlechtes  gestanden  haben 
muss,  nach  der  Darstellung  des  Pseudo-Euklides  ergänzt.  Dieselbe  lautet  im 
dritten  Bestandtheile  der  Systemenlehre: 

Dasselbe  Megefhos  hat  verschiedene  Schemata,   aus  unzusammengesetzten 
Intervallen  von  gleicher  Grösse  und  Anzahl  bestehend,  im  Falle  nämlich  beim 
Vorhandensein  eines  ungleichen  Intervalles  die  Reihenfolge  sich  ändert.  Denn 
die  aus  lauter  gleichen  oder  ähnlichen  Intervallen  bestehenden   haben  keinen 
Wechsel  der  Reihenfolge. 

Drei  Schemata  des  Qtiarten-Systemes. 

Das  erste  Schema  ist  das  von  Barypykna  umschlossene,  z.  B.  von  der 
Hypate  hypafon  bis  zur  Hy/>ate  meson. 

Das  zweite  Schema  ist  das  von  Mesopykna  umschlossene  z.  B.  von  der 
Parhypate  hypaton  bis  zur  Parhypate  meson. 

Das  dritte  Schema  ist  das  von  Oxypykna  umschlossene,  z.  B.  von  der 
Lichanos  hypaton  bis  zur  Lichanos  meson. 

In  der  Harmonie  und  dem  Chroma  xcerden  die  Schemata  der  Symphonieen 
mit  Rücksieht  auf  die  Stellung  des  Pyknon  genommen. 

Im  Diatonon  aber  giebt  es  kein  Pyknon,  da  dies  Gcnos  aus  Halbton  und 
Ganztönen  besieht.  In  der  Quarten- Symphonie  sind  nämlich  ein  Halbton  und 
zwei  Ganztöne.  [Analog  auch  in  der  Quinte].  Mit  Rücksicht  auf  die  Stellung 
des  Halbtons  verden  die  Schemata  bestimmt. 


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XIII.  Die  Systeme:  1.  Schemata  oder  Eide. 


349 


Von  dem  diatonischen  Quarten-System  ist  das  erste  Eidos  das- 
jenige, in  welchem  der  Halbton  unterhalb  der  Ganztöne  liegt, 

das  zweite  Eidos  hat  den  Halbton  in  der  Mitte  der  Ganztöne, 

im  dritten  Eidos  liegt  der  Ganzton  oberhalb  der  Halbtöne. 

Auf  dieselbe  Weise  auch  in  den  übrigen  Tongeschlechtern.  Ferner  giebt  es: 


Vier  Schemata  des  Quinten-System  es. 
Im  Enharmonion  (und  analog  im  Chroma): 

erstes  Quinten -Schema  von  Barypykna  umschlossen;  der  (diazeuktische) 
Gantton  liegt  oben,  z.  B.  von  der  Hypate  meson  bis  zur  Paramese; 

zweites  Quinten-Schema  ron  Mesopylcna  umschlossen:  der  Ganzton  an 
vorletzter  Stelle,  z.  B.  von  der  Parhypate  meson  bis  zur  Trite  diezeugmenon; 

drittes  Quinten- Schema  von  Orypykna  umschlossen',  der  Ganzton  an 
zweiter  Stelle,  z.  B.  ron  der  Lichanos  meson  bis  zur  Paranete  diezeugmenon-, 

viertes  Quinten-Schema  von  BarypyJbta  umschlossen:  der  vierte  Ganzton 
liegt  oben,  z.  B.  von  der  Mese  zur  Nete  diezeugmenon  oder  vom  Proslambano- 
menos  zur  Hypate  meson. 

« 

1.  e   e  f  ah 

2.  e  f         a   h  h 

3.  f         a   h   h  c 

4.  a   h   h   c  e 

Im  Diatunon: 

erstes  Quinten- Schema:  der  Halbion  unten, 
zweites  Quinten-Schema:  der  Halbton  oben, 
drittes  Quinten- Schema:  der  Halbton  an  dritter  Stelle, 
viertes  Quinten- Schema:  der  Halbton  an  zweiter  Stelle. 

1.  e   f    g  ah 

2.  f    g    a    h  c 

3.  g    a   h    c  d 

4.  a   h   c   d  e 

Endlich  giebt  es-. 

Sieben  Eide  des  Octaven-Systemes. 

Erstes  Octaven- Eidos,  von  Barypykna  umschlossen.  Der  erste  Ganzton 
oben,  von  der  Hypate  hypaton  bis  zur  Paramese.  Hiess  bei  den  Alten  Mixo- 
lydisch. 

Zweites  Octaven- Eidos,  von  Mesopykna  umschlossen,  der  zweite  Ganzton 
oben,  von  der  Parhypate  hypaton  zur  Trite  diezeugmenon.  Wurde  Lydisch 
genannt. 


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350 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


Drittes  Octaven-Eidos ,  von  Oxypykna  umschlossen,  der  dritte  Ganzton 
oben,  von  der  Lichanos  hypaton  bis  zur  Paranete  diezeugmenon.  Wurde  Phry- 
gisch  genannt. 

Viertes  Octaven-Eidos  von  Barypykna  umschlossen,  der  vierte  Ganzton 
oben,  von  der  Eypate  meson  bis  zur  Nete  diezeugmenon.  Wurde  Dorisch 
genannt. 

Fünftes  Octaven-Eidos  von  MesopyJcna  umschlossen,  der  fünfte  Ganzton 
oben,  von  der  Parhypate  meson  bis  zur  Trite  hyperbolaion.  Wurde  Hypoly- 
disch  genannt. 

Das  sechste  Octaven-Eidos  von  Orypykna  umschlossen,  der  erste  Ganzton 
oben,  von  der  Lichanos  meson  bis  zur  Nete  hyperbolaion.  Wurde  Hypophry- 
gisch  genannt. 

Da*  siebente  Octaven-Eidos  von  Barypyhna  umschlossen,  der  erste  Ganz- 
ton unten,  von  der  Mese  zur  Nete  hyperbolaion  oder  vom  Proslambanomenos 
zur.  Mese.    Wurde  Koinon,  Lohristi,  Hypodorisch  genannt. 

Im  Diatonon  <—  eine  jede  Octave  hat  2  Halbtöne  und  5  Ganztöne  — )  ■ 

Erstes  Octaven-Eidos:  das  erste  (unterste)  und  das  vierte  Intervall  ein 


Zweites  Octaven-Eidos:  das  dritte  und  das  siebente  Intervall  ein  Halbton. 
Drittes  Octaven-Eidos:  Halbton  als  zweites  und  als  sechste*  Intervall. 
Viertes  Octaven-Eidos:  Halbton  an  erster  und  fünfter  Stelle. 
Fünftes  Octaven-Eidos:  Halbton  an  vierter  und  siebenter  Stelle. 
Sechstes  Octaven-Eidos:  Halbton  an  dritter  und  sechster  Stelle. 
Siebentes  Octaven- Eidos:  Halbton  an  zweiter  und  fünfter  Stelle. 

Die  Grenzklänge  genau  mit  denselben  Namen  wie  beim  Enharmonion  und 
Chroma  benannt. 


Halbfon. 


hypaton 


meson 


diezeug. 


hyperbol. 


1.  Mixolytl. 

2.  Lydisch 

3.  Phrygiach 


g     a     h     c  d 


g     a     h  c 


4.  Dorisch 


e  f 


g     a     h     c     d  e 


5.  Hypolydiseh 

6.  Hypophrygisch 

7.  Hypodorisch 


g     a     h     c     d     e  f 


gahcdefg 
ahcdefga 


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XIII.  Die  Systeme:  1.  Schemata  oder  Eide.  351 
Die  Octaven-Eide  für  die  Enliarmonik  und  (analog  für  die  Chromatik): 

1.  Mixolyd.      HHc   eef  a  h 

2.  Lydisch  ftc   eef  a  hh 

3.  Phrygisch  c    eef  a  hhc 

4.  Dorisch  eef  a   h!i  c  e 

*  *  * 

5.  HyjK>lyd.  ef  a   hhc  ee 

6.  Hypophryg.  f  a   hhc  eef 

7-  Hypodorisch  a   hhc   eef  a 

Die  ganze  vorliegende  Darstellung  über  die  Systeme  verräth  sich  unwider- 
leglich als  eine  entweder  aus  dem  Aristoxenischen  Abschn.  XIII  der  ersten  oder 
der  zweiten  Harmonik,  oder  was,  wie  bemerkt,  noch  wahrscheinlicher  sein  mochte, 
aus  dem  Abschn.  III  der  dritten  Harmonik  geschöpfte.  Auch  der  Anonymus  hat 
vielfach  dasselbe  wie  Pseudo-Euklid,  was  auf  Gemeinsamkeit  der  beiderseitigen 
Quelle  hinweist.  Es  ist  selbstverständlich,  dass  bei  allen  diesen  Späteren  das- 
jenige, was  AristoxenuB  selber  gesagt,  vielfach  abgekürzt  ist.  Denn  nichts 
findet  sich  in  unseren  Quellen  von  der  durch  Problemata  beweisenden  logisch- 
mathematischen  Methode  des  Aristoxenus,  die  wir  doch  auch  für  den  die  Sy- 
steme behandelnden  Abschnitt  der  Aristoxenischen  Stoicheia  nothwendig  voraus- 
setzen müssen.  —  Was  Aristoxenus  im  Prooimion  im  §  19  bei  Gelegenheit  der 
auf  die  Systemen-Lehre  folgenden  Mischung  der  Tongeschlechter  sagt  „sind 
die  Systeme  .  .  .  nach  jedem  der  Tongeschlechter  aufgezählt  worden",  diese 
Darstellung8wei8e  des  Aristoxenus  lässt  sieh  auch  aus  dem  Auszuge  des  Pseudo- 
Euklid deutlich  erkennen. 

Doch  von  etwas  anderem,  auf  welches  das  Aristoxenische  Prooimion  im 
§  18  hindeutet,  lässt  sich  aus  dem  vorliegenden  Auszuge  nichts  mehr  erkennen. 
Das  Prooimion  sagt  nämlich:  „Bloss  von  Einem  Systeme  und  bloss  für  Ein 
Tongeschlecht  hat  es  Eratokles  unternommen ,  sieben  Schemata  der  Octave 
aufzuzählen,  die  er  durch  Umstellung  der  Intervalle  nachwies,  ohne  indess  zu 
erkennen,  dass,  wenn  vorher  nicht  die  Schemata  der  Quinte  und  der  Quarte 
dargelegt  worden  und  dann  ferner,  welche  Art  der  Zusammensetzung  es  sei, 
nach  welcher  sie  emmelisch  zusammengesetzt  werden,  dass  ( —  sage  ich  — )  in 
einem  solchen  Falle  sich  herausstellt,  dass  es  mehr  als  sieben  durch  das  Schema 
verschiedene  Systeme  giebt. 

Gaudentius,  in  der  Darstellung  der  Systeme  der  treueste  Doppelgänger 
des  Pseudo-Euklid,  hat  p.  19  seiner  harmonischen  Einleitung  aus  dem  gemein- 
samen Originale  einen  Theil  der  Stelle  mitgetheilt,  welche  die  Zusammensetzung 
der  Octave  aus  Quarten  und  Quinten  betraf.  Man  habe,  heisst  es  dort,  zwölf 
Eide  oder  Schemata  der  Octave  angenommen,  weil  es  drei  Schemata  der  Quarte 
und  vier  Schemata  der  Quinte  gebe,  und  aus  beiden  die  Octave  zusammenge- 


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352  Aristoxenus  zweite  Harmonik. 

• 

setzt  werde.  Aber  nicht  zwölf,  sondern  nur  sieben  Octavengattungen  seien 
emmelisch.  Dies  also  war  das  Verfahren  des  Eratoklcs  gewesen,  dessen  Er- 
gebnisse Aristoxenus  mit  seinem  im  Problem  1  des  Abschn.  XIII  enthaltenen 
Satze  mit  Leichtigkeit  als  ekmelisch  nachweisen  konnte.  Weiteres  über  die 
Octavenzueammensetzung  aus  Quarte  und  Quinte  in  Bellermanns  Anonym,  p.  75. 

Aus  der  oben  angeführten  Stelle  des  Gaudentius  ergiebt  sich,  in  welcher 
Weise  Aristoxenus  die  sieben  Octaven-Eide  als  Zusammensetzungen  aus  Quarten- 
und  Quinten-Eide  aufgefasst  hat: 


1.  Quarte 

1.  Quinte 

1.  Mixol. 

/  s/ — 

h   c   d  e 

f  g  a  h 

2.  Quarte 

2.  Quinte. 

2.  hyd. 

r  — >/  

e   d   e  f 

g   a   h  c 

3.  Quinte 

2.  Quarte 

3.  Quarte 

3.  Quinte 

3.  Phryg. 

d   e    f  g 

a   h   c  d 

4.  Quinte 

3.  Quarte 

1.  Quinte 

1.  Quarte 

4.  Dor. 

e    f   ff  a 

h    c    d  e 

II           \S          »1  V* 

 ' 

1.  Quarte 

4.  -Quinte 

2.  Quinte 

2.  Quarte 

5.  Hypolyd. 

f  g    a  h 

c   d    e  f 

3.  Quinte 

3.  Quarte 

6.  Hypophryg. 

g   a   h  c 

d   e   f  g 

 / 

2.  Quarte 

3.  Quinte 

4.  Quinte 

1.  Quarte 

7.  Hypodor. 

a   h   c  d 

 v  /  \ 

c   f  g  a 

3.  Quarte 

4.  Quinte. 

Bei  den  Octaven-Fonnen  2.  3.  4.  6.  7  kann  mau  in  der  Tiefe  sowohl  mit 
einer  Quarte  wie  mit  einer  Quinte  beginnen  (nur  bei  Nr.  7  hat  dies  Gaudentius 
ausdrücklich  bemerkt;  seine  Quelle  Aristoxenus  wird  es  auch  bei  den  übrigen 
nicht  unerwähnt  gelassen  haben).  Bei  der  Octavenform  1.  kann  mau  nur  die 
Zusammensetzung  aus  einer  unteren  Quarte  und  oberen  Quinte  annehmen,  bei 
der  Octavenform  5.  nur  die  Zusammensetzung  aus  einer  unteren  Quinte  und 


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XIII.  Die  Systeme:  1.  Schemata  oder  Eide. 


353 


oberen  Quarte.  Denn  wollte  man  die  Octavenform  No.  1  aus  einer  unteren 
Quinte  und  oberen  Quarte  entstehen  lassen,  so  würde  sich  hier  keine  obere 
Quinte  ergeben,  denn  f  h  ist  ein  Tritonos.  Ebenso  in  No.  5:  das  Intervall  f  h  ist 
ein  Tritonos,  kein  Quarten-Intervall. 

Aber  die  Mixolydische  und  die  Hypolydische  Octave  kann  man  je  nur  auf 
Eine  Weise  aus  den  unzusammengesetzten  Systemen  (vgl.  S.  355)  zusammen- 
setzen: jene  (die  Mixolydische)  aus  dem  1.  Quarten-  und  dem  1.  Quinten-Eidos, 
diese  (die  Hypolydische)  aus  dem  2.  Quinten-  und  dem  2.  Quarten-Eidos.  Die 
fünf  übrigen  Octaven  dagegen  je  auf  zwei  Weisen:  einmal  eine  Quarte  unten, 
eine  Quinte  obeu,  sondann  umgekehrt  eine  Quinte  unten,  eine  Quarte  oben. 

Von  der  doppelten  Zusammensetzung  der  fünf  übrigen  (ausser  der  Mixo- 
lydischen  und  Hypolydischen)  Octaven  abgesehen,  würde  sich  also  die  Zusam- 
mensetzung aus  Quarten  und  Quinten  folgendermaassen  herausstellen: 

erste  Octave  aus  dem  ersten  Quarten-  und  dem  ersten  Quinten-Eidos, 
zweite  Octave  aus  dem  zweiten  Quarten-  und  dem  zweiten  Quinten-Eidos, 
dritte  Octave  aus  dem  dritten  Quarten-  und  dem  dritten  Quinten-Eidos, 
vierte  Octave  aus  dem  ersten  Quinten-  und  dem  ersten  Quarten-Eidos, 
fünfte  Octave  aus  dem  zweiten  Quinten-  und  dem  zweiten  Quarten-Eidos, 
sechste  Octave  aus  dem  dritten  Quinten-  und  dem  dritten  Quarten-Eidos, 
siebente  Octave  aus  dem  vierten  Quinten-  und  dem  ersten  Quarten-Eidos. 

Nur  dann  ergiebt  die  Zusammensetzung  des  Quarten-  und  des  Quinten- 
EidoB  ein  emmelisches  Octaven-Eidos,  wenn  das  betreffende  Quarten-Eidos  mit 
dem  der  Reihenfolge  der  Eide  nach  gleichnamigen  Quinten-Eidos  (das  erste 
mit  dem  ersten,  das  zweite  mit  dem  zweiten,  das  dritte  mit  dem  dritten)  zu- 
sammengesetzt wird,  entweder  das  Quarten-Eidos  in  der  Tiefe,  oder  das 
Quinten-Eidos  in  der  Tiefe,  oder  auch  (bei  der  Hypodorischen  Octave):  wenn 
das  vierte  Quinten-Eidos  in  der  Tiefe  mit  dem  darauf  folgenden  ersten  Quarten- 
Eidos  sich  vereint.  Ist  dies  nicht  der  Fall,  dann  ist  die  Zusammensetzung  der 
Quarten  und  Quinten  zur  Octave  ekmelisch. 

Durch  solche  Auseinandersetzung  muss  Aristoxenus  die  Mängel,  welche 
er  in  dem  Prooimion  §  18  der  Eratokleischen  Darstellung  der  sieben  Octavcn- 
Schemata  vorwirft,  dem  Gaudentius  zufolge  berichtigt  haben:  „Bloss  von  dem 
Einem  Systeme  der  Octave  .  .  .  hat  es  Eratokles  unternommen,  sieben  Schemata 
durch  Umstellung  der  Intervalle  nachzuweisen,  ohne  zu  erkennen,  dass,  wenn 
vorher  nicht  die  Schemata  der  Quinte  und  der  Quarten  dargelegt  worden  und 
dann  ferner,  welche  Art  der  Zusammensetzung  es  sei,  nach  welcher  diese  em- 
melisch zusammengesetzt  werden,  dass  in  einem  solchen  Falle  sich  herausstellt, 
es  müsse  mehr  als  sieben  durch  das  Schema  verschiedene  Octa^en-Systeme  geben." 

Die  Unterschiede  der  altgriechischen  Octaven-Eide  sind  im  Allgemeinen 
dasselbe,  was  wir  in  der  modernen  Musik  den  Unterschied  der  Moll-  und  Dur- 
Tonart  nennen.  Dur  und  Moll:  auf  diese  Dyas  beschranken  sich  die  Octaven- 
Gattungen  der  heutigen  Musik  gegenüber  der  Heptas  altgriechischer  Octaven- 
Eide.  Was  sich  aus  den  Alten  über  den  Gebrauch  und  das  Ethos  der  Octaven- 

Arittoxena«,  Melik  u.  Rhythmik.  23 


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354 


Aristoxenus  zweite  Harmouik. 


Eide  ermitteln  lässt,  ist  von  mir  in  der  griechischen  Rhythmik  und  Harmonik 
vom  Jahre  1867  §  27  sorgfaltig  zusammengestellt.  Wie  wir  heut  zu  Tage 
durch  Dur  anders  als  durch  Moll  afficirt  werden,  so  und  noch  viel  mehr  wurde 
die  Seele  der  Alten  durch  die  verschiedenen  Octavengattungen  in  gegensetz- 
licher  Weise  bewegt  (daher  Aristid.  p.  18:  „[cjorrjuata]  a  xii  dp  yd;  oi  naXai&t 
t&v  fjftäiv  ixaXoyv"),  und  Dichter  und  Prosaiker  sind  beredt  genug,  die  be- 
sondere Einwirkung  des  einen  oder  des  anderen  Octaven-Eidos  auf  das  Ge- 
müth  des  Zuhörers  darzustellen.  Sie  reden  von  dorischer,  phrygischer  Har- 
monie und  meinen  damit,  was  Aristoxenus  Octaven-Eidos  nennt,  denn  Har- 
monia  ist  der  ältere  Name  für  Octave.  Weniger  genau  wird  von  den  Schrift- 
stellern statt  dessen  auch  dorischer,  phrygischer  Tonos  gesagt,  was  im  Allge- 
meinen leicht  zu  Verwechselungen  verleiten  könnte,  denn  Tonos  ist  bei  Aristo- 
xenus der  Terminus  technicu»  für  Transpositions-Scala,  und  auffallender  Weise 
führen  die  letzteren  bei  den  Alten  dieselben  oder  wenigstens  ähnliche  Benen- 
nungen wie  die  Octaven,  vgl.  Abschu.  XV*n. 

Endlich  kommt  an  Stelle  von  Octaven-Eidos  auch  noch  der  Name  „Tro- 
pos"  vor,  d.  i.  dorische  Weise,  phrygische  Welse  u.  s.  w. 

Ausser  den  Namen  der  sieben  verschiedenen  Octaven-Eide  erwähnen  die 
griechischen  Schriftsteller,  von  den  Prosaikern  vornehmlich  Plato  und  Aristo- 
teles, noch  andere  Benennungen  griechischer  Hannoineen.  Zusammen  mit  den 
obigen  kennen  wir  folgende  Namen.  Zum  Theil  lässt  sich  auch  für  diese 
übrigen  Scalen  der  Anfangsklang  mit  Sicherheit  ermitteln. 

Scala  in  e  :  Dorisch. 
Scala  in  d  :  Phrygiseh. 
Scala  in  c  :  Lydisch. 
Scala  in  h  :  Mixolydisch. 

Syntouo-Jasti. 
Scala  in  a  :  Aeolisch,  identisch  mit  Hypodorisch. 

Syntono-Lydisch. 

Lokristi. 

Scala  in  g  :  Chalara  oder  aneimene  Jasti,  oder  schlechthin  Jasti,  iden- 
tisch mit  Hypophrygisch. 
Scala  in  f :  Chalara  oder  (ep)aneimeuc  Lydisti,  identisch  mit  Hypolydiseh. 
Scala  in  V  :  BoiotistL 

Der  Anfangston  der  letzteren  Scala  ist  aus  der  Ueberlicferung  nicht  zu 
ermitteln.  Was  wir  über  diese  und  die  übrigen  vermuthen,  siehe  weiter  unten. 


2. 

Synthesis  der  Systeme. 

Aristoxenus  selber  sagt  im  Abschn.  IV  von  den  Unterschieden  der  Systeme 
§  40:  „Der  dritte  der  bei  den  Intervallen  genannten  Unterschiede,  nämlich 
der,  dass  das  Intervall  entweder  ein  unzusammengesetztes  oder  ein  zusammen - 


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XIII.  Die  Systeme:  2.  Synthesis. 


355 


gesetztes  ist,  wird  bei  den  Systemen  nicht  vorkommen,  wenigstens  nicht  in 
der  Weise,  wie  unter  den  Intervallen  die  einen  unzusammengesetzte,  die  andern 
zusammengesetzte  sind."  Von  den  Intervallen  waren  unzusammengesetzt 
diejenigen,  welche  durch  zwei  in  der  Scala  continuirlich  auf  einander  folgende 
Klänge  gebildet  sind.  Das  Gegentheil  von  diesen  sind  die  zusammengesetzten 
Intervalle.  Dieser  Definition  wird  also,  wie  Aristoxenus  zu  bemerken  für  nöthig 
hält,  der  Unterschied  unzusammengesetzter  und  zusammengesetzter  Systeme 
nicht  analog  sein.  Der  Anonym.  §  74,  welcher  gleich  dem  Pseudo-Euklid  auf 
die  Darstellung  des  Aristoxenus  als  erste  Quelle  zurückgeht,  redet  von  „un- 
zusammengesetzten und  zusammengesetzten  Symphonieen. "  Unzusammenge- 
setzte seien  die  Quarten-  und  Quinten-Symphonie;  zusammengesetzt  sei  die 
Octavc,  die  Unflecime,  die  Duodecime  und  die  Doppeloctav.  Gaudentius,  dessen 
kleine  Schrift  eben  daher  stammt,  sagt  p.  4  von  der  Einteilung  der  Systeme: 
die  einen  seien  primäre  und  unzusammengesetzte  {zpfb-t  xai  douv^exa),  die  an- 
deren seien  weder  das  eine  noch  das  andere  (ovre  rp&ta  oüts  (ia^Dexa),  also 
secundäre  und  zusammengesetzte  Systeme. 

Hiermit  gehen  wir  auf  Pseudo-Euklid  p.  12—18  zurück:  „Durch  den  Unter- 
schied des  Synemmenou  und  Diczcugmenon  werden  diejenigen  Systeme,  welche 
aus  Synemmenon-Tetrachorden  ihre  Synthesis  haben,  von  denjenigen,  welche 
aus  Diezeugmenon- Tetrachorden  zusammengesetzt  sind,  verschieden  sein." 
Diese  beiden  Tetrachorde  werden  also  diejenigen  Systeme  sein,  weiche  die 
vorhergehende  Stelle  des  Gaudentius  „primäre  und  einfache  Symphonieen" 
nennt:  sie  bilden  die  Elemente  bei  der  Synthesis  der  Systeme.  Wir  wissen 
hiermit,  das«  von  den  sieben  Unterschieden  der  Systeme,  welche  Aristoxeuus 
§  40.  41  aufzählt,  der  fünfte  und  der  siebente  Unterschied  sich  auf  die  ver- 
schiedene Synthesis  der  Systeme  beziehen. 


a*  Synaphe-  und  DiazeuxUSysteme, 

In  dem  vierten  der  Eingangs -Abschnitte  sagte  Aristoxenus  §  41:  „Die 
fünfte  Eintheilung  der  Systeme  ist  diejenige,  wonach  das  System  entweder 
durch  Synaphe  oder  durch  Diazeuxis,  oder  zugleich  durch  Synaphe  und  Dia- 
zeuxis  gebildet  ist.  Jedes  System  nämlich  von  einem  gewissen  Umfange  an 
ist  entweder  ein  Synemmenon  oder  ein  Diezeugmenon  oder  ein  aus  beiden  ge- 
mischtes (Systema  miktou),  denn  auch  dies  letztere  zeigt  sich  in  einigen  Sy- 
stemen .  .  .  Worin  aber  ein  jedes  besteht,  wird  im  folgenden  gezeigt  werden." 
Unter  „dem  folgenden"  versteht  Aristoxenus  die  (systematischen)  Stoieheia 
Abschnitt  XIII. 

Aus  ihnen  hat  Euklid  (vgl.  S.  850)  folgendes  excerpirt  (auch  bei  0.  Paul, 
Boetius  S.  341):  „Synaphe  ist  der  gemeinsame  Klang  zweier  continuirlicher 
Tetrachorde,  welche  das  nämliche  Schema  haben;  Diazeuxis  ist  der  in  der 
Mitte  stehende  Ganzton  zwischen  zwei  continuirlich  fortlaufenden  nach  ein  und 
demselben  Schema  eingerichteten  Terracliorden." 

23* 


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356 


Aristoxeuus  zweite  Harmonik. 


Dann  spricht  unser  Excerpt  weiter: 

I.  Von  den  sogenannten  unvollkommenen  Systemen  (i?e).-jj  ovor^- 
uita),  welche  aus  den  beiden  einfachen  Elementen,  dem  Synemmenon  und  dem 
Diezeugmenon  zusammengesetzt  sind.  Das  erste  der  unvollkommenen  Systeme 
ist  das 

H  e  p  t  a  c  h  o  r  d. 

Es  heisst  dort: 

„Im  Ganzen  giebt  es  eine  dreifache  Synaphe,  eine  mittlere,  höchste  und 
tiefste.  Die  tiefste  Synaphe  ist  die  aus  dem  Tetrachorde  hypaton  und  meson, 
welche  durch  die  Hypate  meson  e  als  gemeinsamen  Klang  verbunden  sind. 

H  c      d      e  f      g  a 

Die  mittlere  Synaphe  ist  die  aus  dem  Tetrachorde  meson  und  synemmenon 
zusammengesetzte:  als  gemeinsamer  Klang  verbindet  sie  die  Mese  a. 

e  f      g      ab      c  d 

^    ' 

Die  höchste  Synaphe  ist  die  aus  dem  Tetraeborde  diezeugmenon  und  hyper- 
bolaion  zusammengesetzte:  als  gemeinsamer  Klang  verbindet  sie  die  Neto 
diezeugmenon. 

b      c      d     e  f    g  a 

v  ■  ■■  ' 

0  k  t  a  c  h  o  r  d. 

Diazeuxis  giebt  eB  nur  eine,  aus  dem  Tetrachorde  meson  und  diezeugmenon: 
gemeinsam  ist  ihnen  als  trennender  Ganzton  der  zwischen  Mese  und  Paramese 
liegende  a  h. 

ef      g      a      hc      d  e 

*  '      »  ' 

II.  Vollkommene  Systeme  (-riXeia  aj<rrr(ua7a)  giebt  es  zwei,  ein  klei- 
neres und  ein  grösseres. 

Hendckachord. 

Das  kleinere  Systema  teleion  ist  kata  Synaphen  vom  Proslainbano- 
menos  bis  zur  Ncte  synemmenon.  In  ihm  kommen  drei  Tetrachorde  synem- 
mena:  hypaton,  meson,  synemmenon  vor,  nebst  einem  Ganzton  vom  Proslam- 
banomenos  bis  zur  Hypate  hypaton.  Es  wird  durch  die  aus  der  Octave  mit 
der  Quarte  bestehende  Symphonie  begrenzt.  Ptol.  II.  6  (Paul,  Boetius  S.  285). 

AHc      d      ef      g      ab      c  d 

Pentekaidckacbord. 

In  dem  grösseren  Syrteina  teleion  kommen  vier  Tetrachorde  vor,  zwei 
diezeugmena  kata  Synaphen  verbunden,  einmal  hypaton  und  meson,  sodann  die- 


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XIII.  Die  Systeme:  2.  Synthesis. 


357 


zeugmcnou  und  hyperbolaion,  dazu  noch  zwei  Ganztöne,  der  eine  zwischen  dem 
Proslambanomenos  und  der  Hypatc  hypaton,  der  andere  zwischen  der  Mese 
und  Paramese;  es  wird  durch  die  Symphonie  der  Doppeloctave  begrenzt. 

AHcdefga  hcdefga 

V  ^  '  V  > 

Grössere»  Systema  emmetabolon. 

Fünf  Tetrachordc  kommen  in  dem  (grösseren)  Systema  emmetabolon  (so 
ist  zu  lesen)  vor,  welches  aus  den  beiden  Systemata  teleia  zusammengesetzt  ist. 
Zwei  Tetrachordc  sind  einem  jeden  der  teleia  gemeinsam,  das  Tetrachord  hy- 
paton und  meson ;  dem  Systema  kata  Synaphen  ist  das  Tetrachord  synemmenou 
eigentümlich;  dem  Systema  kata  Diezcuxin  das  Tetrachord  diezeugmenon 
und  hyperbolaion". 

Es  sei  hier  noch  auf  Abschn.  XII  S.  303  verwiesen,  wo  Aristoxenus  eine 
in  der  Folge  zu  erörternde  Kigenthümlichkcit  der  Systeme  antieipirt,  welche  nur 
bei  der  Synthesis  der  Systeme  behau  Jelt  sein  kann. 

h.  Einfache,  zweifache,  vielfache  Systeme. 

Dies  ist  der  siebente  Unterschied  nach  Aristoxenus  §  41 :  ,,Denu  jedes 
System,  welches  wir  nehmen,  ist  entweder  ein  einfaches  oder  ein  zweifaches 
oder  ein  vielfaches." 

Marq.  S.  244  commentirt:  „Ueber  diesen  Unterschied  sind  wir  besser 
unterrichtet.  Aristides  p.  16,2  erklärt:  Td  |xev  djcXd  5  xa8'  üva  tp^rov  fxxetrai, 
xd  hi  oj/  ditXä  a  xaxd  rXefSvaiv  xpirtuv  irXoxf,v  fUexai,  d.  i.  und  die  einen  sind 
e  i  n  f  a ch ,  welche  in  einer  einzigen  Tonart  ausgesetzt  sind,  die  andern  nicht  e i n  - 
fach,  welche  in  einer  Verknüpfung  mehrerer  Tonarten  bestehen.  In  der  In- 
troduetio  des  Pseudo-Euklidea  lesen  wir  p.  18,20:  Tjj  Ik  toO  dfxexa^Xoy  otolosi 
xaft'  f^v  oia;p£pet  xd  dnXä  auaT^fiot-a  x<uv  d<tXdw  .  drcXä  jxiv  ovv  toxi  xd  ^po; 
|xta^  ftiar^  r(pfJL03fiiva,  StzXä  oe  xi  rpi;  Sio,  xpinXd  Ii  xd  rpi;  xpst;,  TroXXazXd- 
aia  hi  xd  zpö«  rXtfova;,  d.  i.  nach  dem  Unterschiede  des  Unmodulirten  und 
Modulirten  werden  sie  sich  wie  die  einfachen  Systeme  von  den  nicht  einfachen 
unterscheiden;  einfach  sind  die,  welche  nach  einer  Mese  gestimmt  sind, 
doppelt,  welche  nach  zwei,  dreifach,  welche  nach  drei,  vielfach,  welche 
nach  mehreren.  Daraus  ergiebt  sich  also  zunächst,  dass  ein  a-jrrr^i  dnXo*Jv 
dasselbe  bt  wie  ein  ojoxT,fia  dpicxd^oXov,  ein  modulirtes;  und  so  wie  die  Intro- 
duetio  definirt  auch  Aristides  p.  17,  12  die  dpexdßoXa  und  die  ijAfxexdjiloXa  oder 
lAtxa^aXX^pieva.'*   Vgl.  Dritte  Harmonik  21. 

Wir  wissen  aus  dem  sonst  Ueberlieferten  nur  von  solchen  Systemen,  auf 
deren  jedem  nur  ein  einziger  Klang  die  Benennung  „Mese"  führt. 

-  Im  Anschlüsse  an  unser  Material  können  wir  also  die  Pseudo-Euklidische 
Uebcrlicferung 


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358 


Ari8toxenus  zweite  Harmonik. 


einfaches  System  mit  einer  Mese, 
zweifaches  System  mit  zwei  Mesai, 
dreifaches  System  mit  drei  Mesai, 

vielfaches  System  mit  einer  vielfachen  Zahl  von  Mesai, 

kaum  anders  verstehen,  als  dass  hier  Klänge  gemeint  sind,  welche  die  Function 
der  Mese  haben  oder  haben  können,  auch  wenn  Bie  eine  andere  Klangbe- 
nennung führen.    Auf  dem  hendekachordischen  System 



AHcdefgabcd 

v  

führt  der  Klang  a  die  Benuung  Mese,  kein  anderer.  Er  ist  der  obere  Schluss- 
ton  der  hypodorischen  Octave  in  der  Transpositionsscala  ohne  Vorzeichnung. 
Derselbe  Ton  a  ist  aber  auf  dem  hendekachordischen  Systeme  zugleich  der 
fünfte  Ton  einer  zweiten  hypodorischen  Octaven-Scala,  welche  die  Vorzeich- 
nung mit  einem  b  hat  (d-Moll).  Also  hat  der  Ton  a  unserer  Scala  die  Func- 
tion der  Mese  für  die  hypodorischc  Octave  in  a;  auf  demselben  Hendekachorde, 
hat  aber  auch  für  die  Octave  defgabed  der  Klang  d  die  nämliche  Function 
welche  für  die  Octave  AHcdefga  der  Klang  a  hatte,  nämlich  die  der 
Mese.  Somit  haben  wir  in  dem  Hendekachorde  eine  zweifache  Mese.  Das  Hende» 
kachord  gehört  also  in  die  Klasse  derjenigen  Systeme,  welche  Aristox.  §  41  und 
Pseudo- Euklid  p.  18  „zweifache  Systeme"  nennen.  Es  ist  ein  „Systema  emme- 
tabolon",  man  kann  auf  demselben  (modern  ausgedrückt)  von  a-Moll  nach 
d-Moll  moduliren.  Diese  Verwendbarkeit  zur  Modulation  ist  es,  was  Ptolem. 
harm.  2,  6  als  den  eigentlichen  Zweck  des  Hendekachordes  bezeichnet.  Es  steht 
im  Dienste  der  Praxis ;  sieht  man  von  dem  Moduliren  (der  „Metabole")  ab,  so 
hat  das  hendekachordische  System  keinen  Zweck.  Deshalb  erklärt  er  die  Theorie 
des  Aristoxcnus  für  unnütz  und  will  die  Systeme  auf  das  Dodekaehord  und 
das  Pentekaidekachord  (Doppeloctav)  als  Systemata  ametabola  beschränken. 

Wenn  Marq.  zu  §  41  des  Aristox.  Harm,  behauptet:  „über  diesen  Unterschied 
sind  wir  besser  unterrichtet",  so  müssen  wir  unsererseits  gestehen,  dass  wir 
zwar  einfache  Systeme  (Systemata  ametabola)  und  von  den  Systemata  emuie- 
tabola  oder  metabollomena  die  zweifachen  Systeme  kennen,  aber  von  welcher 
Beschaffenheit  die  dreilachen  und  die  vielfachen  Systeme  (mit  dreifacher 
und  vielfacher  Mese)  waren,  darüber  vermögen  wir  uns  aus  ungern  Quellen  nicht 
die  kleinste  Notiz  zu  entnehmen.  Wir  wissen  es  nicht.  Wir  können  uns  nur 
dies  fasslich  machen,  dass  die  Griechen  aus  einer  TransjKJsitiousscala  in  eine 
zweite  Transpositionsscala  modulirten,  aber  wie  sie  mehr  als  zwei  Transposi- 
tionsscalen  in  demselben  Melos  verbunden  haben,  das  ist  nicht  überliefert.  Dem 
entsprechende  Systeme  sind  uns  imbekannt.  Die  Definition  der  Mese,  welche, 
nie  es  scheint,  Aristoxcnus  an  dieser  Stelle  gegeben  hat,  vermag  ich  aus  den 
bei  Pseudo-Euklid  am  Ende  der  Systemenlehre  über  die  Mese  vorkommenden 
Sätzen  nicht  mehr  herauszufinden. 


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XIII.  Die  Systeme:  3.  Thesis. 


359 


3. 

Thesis  der  Systeme. 

Was  unter  der  Thesis  zu  verstehen  ist,  welche  Aristoxenus,  wie  er  im 
Prooimion  § '  1 7  erklärt,  in  dem  Abschnitte  von  den  Systemen  ausser  dem 
Schema  und  der  Synthesis  derselben  als  dritten  Punkt  behandeln  will,  das 
geht  aus  §  100  hervor.  Dort  heisst  es:  „Die  Intervallgrössen  (bei  ihrem 
schwankenden  Umfange  in  den  Chroai)  und  (demzufolge  auch)  die  Tonhöhen 
der  Klänge  ergeben  sich  als  unbestimmte  Begriffe  der  melischen  Theorie;  da- 
gegen begrenzte  und  feste  Begriffe  sind  die  kata  Dynameis,  die  kaf  Eide 
und  die  kata  Theseis".  Die  hier  vorkommende  Zusammenstellung  „kata 
Dynameis'«  und  „kata Theseis"  lässt,  zumal  hier  von  Intervallgrössen  und  ?<üv 
sM-pfcav  -caoet;  die  Rede  ist,  keinen  Zweifel,  dass  Aristoxcnus  dasselbe  meint 
wie  die  Onomasia  kata  Dynamin  und  kata  Thesin  bei  Ptolemäus.  Dass  dieser 
von  Ptolemäus  so  ausführlich  dargelegte  Gegenstand  auch  schon  in  der  Har- 
monik des  Aristoxenus  behandelt  war,  blieb  mir  in  der  ersten  und  in  der  zweiten 
Ausgabe  meiner  griechischen  Harmonik  noch  unbekannt.  Ich  wusstc  nur  dies, 
dass  die  Aristoxenische  Grundlage  in  der  Nomenclatur  der  Scalen-Klänge  mit 
demjenigen,  was  bei  Ptolemäus  dynamische  Onomasic  heisst,  identisch  ist. 
Dass  auch  die  thetische.  Onomasie  des  Ptolemäus  dem  Aristoxcnus  bekannt 
sei,  dies  wusste  ich  damals  noch  nicht.  In  der  zweiten  Ausgabe  der  Harmonik 
S.  351  glaubte  ich  sageu  zu  müssen:  „Die  ganze  Art  und  Weise,  wie  Ptole- 
mäus von  der  thetischen  Onomasie  redet,  zeigt,  dass  sie  immöglich  etwas  erst 
von  ihm  selber  Erfundenes  ist.  Vielmehr  setzt  Ptolemttus  dieselbe  als  die  den 
Lesern  seines  Buches  bekannte  Onomasie  voraus,  und  die  folgenden  Erörte- 
rungen werden  keinen  Zweifel  darüber  lassen,  dass  die  thetische  Nomenclatur 
schon  eine  geraume  Zeit  vor  Ptolemäus  in  der  Praxis  der  Musiker  aufgekom- 
men war  und  sich  hier  allmftldig  so  befestigt  hatte,  dass  PtolemäuB  Bie  als  die 
vxdgäre  ansehen  durfte".  Ich  war  so  weit  entfernt,  sie  auch  bei  Aristoxenus 
vorauszusetzen,  dass  ich  vielmehr  die  dynamische  Onomasie  für  die  bei  ihm 
ausschliesslich  vorkommende  erklärte. 

In  welchem  Abschnitte  Aristoxenus  die  „vtaxä  o-ivapi-«"  näher  behandelt  habe, 
sagt  er  nicht.  Vcrmuthlich  im  Abschnitt  XV  bei  der  „Erörterung  der  Scala- 
Klänge."  Denn  so  viel  wissen  wir,  dass  die  dritte  Harmonik  des  Aristoxcnus 
die  SjvajAsi;  der  ^b^oi  „%o\  ojtö  toOto  tl  trox  £otlv  t)  o'jwpuc;"  in  dem  Ab- 
schnitte nejil  Täiv  ?f8&-rf<»vf  dem  dritten  jenes  Werkes,  erörterte,  vgl.  daselbst 
§  14.  Betreffs  der  „xa-cd  tt£atV  müssen  wir  seinen  Worten  in  §  17  wohl 
Glauben  schenken,  dass  er  darüber  im  Abschnitte  von  den  Systemen  un- 
mittelbar nach  den  Verschiedenheiten  des  Schemas  und  der  Synthesis  handeln 
will. 

Wie  kann  nun  Aristoxenus  ohne  von  den  ettto^ot  zu  handeln  im  Abschnitte 
rspi  a'jotTjfi.dxoov  von  der  xaid  ft&oiv  ovojiaoia  sprechen?  Es  handelt  sich 
darum,  nach  den  Worten  des  Prooimions  eine  in  den  Handschriften  nicht  mehr 


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3GÜ 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


überlieferte  Partie  der  Aristoxenischen  Harmonik,  deren  sachlicher  Inhalt  aus 
Ptolemäus  bekannt  ist,  zu  restituiren.  Ich  habe  wenigstens  anzugeben,  wie 
Aristoxenus  im  Abschnitte  von  den  Systemen  von  der  Thesis  gesprochen  haben 
kann.  Und  da  denke  ich:  etwa  mit  einer  ähnlichen  Wendung  wie  in  der 
Rhythmik  §  19,  wo  nach  der  vorläufigen  Aufzählung  der  „Chronoi  podikoi"  auf 
die  Anzahl  der  „Chronoi  Rhythinopoias  idioi"  eingegangen  wird.  Aristoxenus 
wird  im  Abschnitte  von  den  Systemen  unter  Anknüpfung  an  die  Grenz- 
Klänge  der  sieben  Eide  dia  pason  gesagt  haben: 

„  Wenn  ich  in  dem  Vorausgehenden  bei  den  sieben  Eide  dia  pason  sagte, 
dass  das  erste  oder  Mixolydische  Eidos  von  der  Hypate  hypaton  und  der  Para- 
mesos  begrenzt  wird,  das  zweite  oder  Lydische  von  der  Parhypate  hypaton  und 
der  Trite  die  zeug  menon  «.  s.  ic,  so  darf  man  sieh  nicht  zu  der  irrigen  Mei- 
nung verleiten  lassen,  als  ob  dies  die  einzigen  Namen  der  angrenzenden  Klänge 
seien.  Vielmehr  sind  das  die  Benennungen,  welche  wir  mit  Rüchsicht  auf  die 
Bynamis  der  Klänge  gebrauchen.  Mit  Rücksicht  auf  die  Thesis  derselben  da- 
gegen nennen  wir  von  den  beiden  Grenzklängen  einer  jeden  der  sieben  Octaven 
den  höheren:  Neie  diezeugmenon,  —  den  tieferen:  Hypate  meson\  —  und  die  acht 
Klänge  der  Octaven  heissen  vom  höchsten  bis  zum  tiefsten  (unter  Weglassung 
des  die  verschiedenen  Tetrachorde  angebenden  Zusatzes  diezeugmenon  und  meson) .- 

d  Paranete 
c  Trite 
h  Paramesos 
a  Mese 
g  Lichanos 
f  Parhypate 
e  Hypate 


Thetische  Oktac 

hord 

1 

w 

-  V 

tft 

(mos.) 

I 

S 

(diez.) 

i  (diez.) 

§ 

i 
au 

• 

3 

5» 

35 

g 

•c 

-  - 

£ 

3 

-c 
5- 

■ 

t 

• 
— 

Erstes  (Mixolyd.)  Oktaveu-Eidos  h 

c 

d 

e 

f 

g 

a 

h 

Zweites  (Lydisches)  Oktaven-Eidos  c 

d 

e 

f 

g 

a 

h 

c 

Drittes  (Phrygisches)  Oktaven-Eidos  d 

f 

g 

a 

h 

c 

d 

Viertes  (Dorisches)  Oktaven-Eidos  e 

f 

g 

a 

h 

d 

e 

Fünftes  (Hypolyd.)  Oktaven-Eidos  f 

g 

a 

h 

c 

d 

e 

f 

Sechstes  (Hypophryg.)  Oktaven-Eidos  g 

a 

h 

c 

d 

e 

f 

Siebentes  (Hypodor.)  Oktaven-Eidos  a 

Ii 

<• 

.1 

e 

f 

g 

n 

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XIII.  Die  Systeme:  3.  Thesis. 


361 


Dieselben  Klangbenennungen  finden  sich  auch  auf  dem  2  Octaven  umfassen-  . 
den  Systema  teleion  ametabolon,  und  zwar  hier  in  einer  Bedeutung,  welche  die- 
selbe ist  wie  bei  dem  vierten  oder  Borischen  Octaven-Eidos,  dagegen  abweichend 
von  der  Onomasie  der  6  übrigen  Octaven-Eide.  Diese  Klangbenennungen  des 
Systema  ametabolon  sind  die  der  xctrö  dvrauiv  övofiaaia,  —  sind  die  dyna- 
mischen Klang -Namen.  Es  sind  also  die  15  Klänge  des  Systema  ametabolon 
benannt  worden  nach  der  Geltung  (övvauig)  welche  sie,  als  Klänge  des  vierten 
oder  Dorischen  Eidos  gefasst,  haben  tcürden.  Denn  das  dorische  Eidos  muss 
der  Theorie  als  das  vornehmste  gelten. 


Thetische  Pentekaidekachorde. 

Die  8  dynamischen  Klänge  des  vierten  oder  Dorischen  Eidos  dia  pason  von 
der  Hypate  (meson)  bis  zur  Nete  (diezeugmenon)  sind  im  grosseren  Systema 
teleion  ametabolon  nach  unten  zu  um  eine  Quinte,  nach  oben  zu  um  eine  Quarte 
erweitert  worden,  indem  man  für  den  höchsten  Klang  die  Benennung  Nete  hy 
perbolaion,  für  den  tiefsten  die  Benennung  Proslambanomenos  einführte. 


£       Dorische  Octav.  £ 


AHcdefgahcdefga 

>  ^  .  • 

!  2 

I 

J  Hypodorische  Doppeloctav.  ^ 

2  I 
&«  £ 

Proslambanomenos ;  Mese  und  Nete  des  Systema  ametabolon  sind  also  die 
Grenzklänge  zweier  kata  Synaphen  verbundener  Hypodorischen  Octaven-Eide; 
Hypate  meson  und  Nete  die-  zeugmenon  sind  die  beiden  Grenzklänge  des  vierten 
oder  Dorischen  Octaven- Eidos. 

Eine  nach  der  Analogie  des  Systema  teleion  ametabolon  ausqeführte  Er- 
weiterung zur  Doppeloctave  hat  man  auch  bei  der  thetischen  Onomasie  der 
sieben  Octaven-Eide  vorgenommen ,  indem  man  für  ein  jedes  Eidos  der  Octave 
unterhalb  der  Hypate  eine  Quinte  und  oberhalb  der  Nete  eine  Quarte  hinzu- 
fügte; den  tiefsten  Klang  der  so  gebildeten  Doppeloctav  nannte  man  den  theti- 
schen Proslambanomenos,  den  höchsten  Klang  nannte  man  thetische  Nete  hyper- 
bolaion. 


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362 


Aristoxeuua  zweite  Harmonik. 


j= 


9) 


6 

J3 
J2 


J3 


J3 


S      Oh  »J 


2  2 


Mix.  E 
Lyd.  F 


Phr. 


P 


ja 


Thetische  Oktachorde. 


a 

d, 
B 


*5 


G  /A/  H 

/  / 
G  /A/  H  c 

/  / 
G  /A/  H     e  d 


s 


ja 


3 


=3 


g  /a/ 

/  / 
/a/  h 


& 


h 


•e 

3 

E 


o 
a. 

2 
3h 


3 


c      d  /c/ 

d   /e/  f 

/  / 
/e/   f  g 


c      d   /e/  f 

/  / 
d   /e/   f  g 

//  /  / 

rnr.       «  /  -       «       -    /e/    f       *    /*/    h  C 

Dor.    /A/  H      c      d   /e/    f      g   /a/   h      c  /e/   f  g^/ä/ 

HLy!     H      c      d   /e/    f      g    /a/   h      c      d   /e/   f      6^/»/  ^ 

g   /a/   h      c      d   /e/  f 


HPh. 
HDo. 


d   /e/  f 

/  / 


/  / 
g   /a/  h 


/  / 


d   /e/  f 


g   /a/  h 


/  / 
/e/  f 


/  / 
g   /a/  h 


Die  sieben  horizontalen  Zeilen  der  thetischen  Pentekaidekachorde  und  die 
vertical  durchschneidenden  15  Zeilen,  welche  die  thetische  Onoinasie  der  15 
Klänge  angeben,  werden  von  punctirten  Linien  schräg  durchschnitten,  welche  die 
dynamische  Onomasie  der  Pentekaidekachor  dklänge  ergeben:  die  am  meisten  nach 
links  zu  angebrachten  punktirten  Linien,  welche  die  Töne  A  einschliessen,  zeigen 
die  dynamischen  Proslambanomenoi  an ;  die  dann  zunächt  nach  rechts  folgenden, 
welche  die  Töne  e  einschliessen,  geben  die  dynamischen  Sypatai  meson  an,  und 
so  sind  auch  die  dynamischen  Mesai,  die  dynamischen  Netai  diezeugmenon  und 
die  dynamischen  Netai  hyperbolaion  durch  punctirte  Linien  ausgezeichnet. 

Man  ersieht  aus  dieser  Tabelle,  dass  im  Pentekaidekachorde  des  vierten 
oder  Dorischen  Octaven-Eidos  {wir  haben  dasselbe  durch  punctirte  horizontale 
Parallelen  ausgezeichnet)  die  thetische  Onomasie  der  Klänge  genau  dieselbe 
ist  wie  die  dynamische  Onomasie,  dass  aber  in  den  Pentekaidechorden  der  sechs 
übrigen  Octaven-JEide  die  thetische  Onomasie  der  Klänge  stets  von  der  dyna- 
mischen Onomasie  differirt. 

Tiefere  Klänge  als  die  dynamischen  Proslambanomenoi  und  höhere  Klängt 
als  die  dynamischen  Netai  hyperbolaion  kommen  in  der  praktischen  Musik  der 


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XIII.  Die  Systeme:  3.  Thesis. 


Griechen  nicht  vor.  Baraus  folgt,  das»  alle  Klänge,  welche  links  von  den  die 
dynamischen  Proslambancmenoi  anzeigenden  punctirten  Linien  stehen  und  ebenso 
diejenigen,  welche  rechts  von  den  die  Netai  hyperbolaion  anzeigenden  Linien  stehen, 
keine  reale,  sondern  nur  eine  ideale  Existenz  haben.  Nichtsdestoweniger  werden 
auch  diese  idealen  Klänge  von  der  griechischen  Theorie  als  thetische  Klänge 
verausgesetzt  und  ein  jeder  von  ihnen  mit  demselben  thetischen  Namen 
benannt,  wie  der  um  eine  Boppeloctav  höhere  oder  tiefere  Klang. 

Ich  habe  im  Vorausgehenden  auf  einer  einzigen  Tabelle  vereinigt,  was 
Ptolemäus  gewissenhaft  auf  sieben  Tabellen  ausführt  Es  scheint  in  dieser  be- 
strittenen Sache  wohl  unerlässlich  zu  sein,  hier  auch  diesen  sieben  authentischen 
Tabellen  des  Ptolemäus  den  Platz  nicht  zu  versagen.  Und  zwar  gebe  ich  sie 
nach  Oskar  Paul's  „Boetius  1872,"  wo  auf  S.  328  ff.  eine  durch  Hinzufügung 
der  entsprechenden  modernen  Noten  erläuternde  Interpretation  der  thetischen 
Doppeloctaven  ausgeführt  ist,  der  ich  mich  vollständig  anschliessc.  Schon  in 
seiner  „absoluten  Musik  der  Griechen  1866"  hat  derselbe  Forscher  diesen  Gegen- 
stand behandelt:  von  allen  Forschern  derjenige,  welcher  der  thetischen  Ono- 
masie  des  Ptolemäus  am  meisten  Flciss  und  Sorgfalt  gewidmet  hat. 

Bezüglich  der  von  Ptolemäus  beigefügten  Intervallzahlen  (der  Abschn.  XIV 
wird  darüber  ausführlicher  sprechen)  werden  hier  folgende  Bemerkungen  ge- 
nügen. 

Für  die  rein-diatonische  Scala  z.  B.  der  Dorischen  Octavengattung 
würde  Ptolemäus  folgende  Verhältnisszahlcn  der  benachbarten  Klänge  ange- 
geben haben: 

efgahede 

«     8     i°     I     tt     S     V  . 

d.  i.  das  bei  ihm  sogenannte  ouvrovov  Si4tovov,  —  oder  auch  folgende: 
efgahede 

m  i    i    i  its    i  t 

(l  i.  das  bei  ihm  sogenannte  Srcoviaiov  fcid-rovov  (mit  zwei  grossen  Ganztönen 
6  :  9).  Mit  dem  letzteren  würde  genau  dasselbe  gemeint  sein,  wie  das  rovialov 
$idw»ov  des  Aristoxenus: 

efgahede 
m°     m4     ma     m10     mu     m16     m*°  m84 
2        4        4        4        2         4  4 

Zur  Zeit  des  Ptolemäus  kommt  von  den  bei  ihm  angesetzten  Scalen  des 
reinen  Diaton on  immer  nur  ein  einzelnes  Tctrachord  in  Mischung  mit  einem 
heterogenen  vor. 

Ptolemäus  legt  für  seine  thetischen  Octavengattungen  nicht  das  reine 


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3U4 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


Diatonon,  sondern  eine  Scala  aus  denjenigen  Tetrachorden  zu  Grunde,  welche 
er  lAOtXaxov  otdxovov  nennt : 

e       x       y        a       h       z       w  e 

tt     V     f     I     U     V  ! 

Dieselbe  entspricht  nicht  ganz  dem  gleichnamigen  paXaxov  Skxtovov  des  Ari- 
stoxenus: 

eopahqxe 
m°      m'      in5     in 10     mu     in19     mt9  m*4 

*  'S  'S  'S  'S  '»  'V  ' 

2        8        5        4        2        3  5 

Sowohl  bei  Ptolcmäus  wie  bei  Aristoxenus  sind  nur  die  stehenden  Klänge 
e  h  a  e  rein  und  unserer  Musik  analog  gestimmt.  Was  wir  liier  mit  x  y  z  w  ete. 
bezeichnet  haben,  sind  Klänge,  welche  merklich  tiefer  stimmen  als  die  an  ihrer 
Stelle  zu  erwartenden.  In  den  folgenden  7  Scalen  des  Ptolemäus  hat  Oskar 
Paul  unter  den  „Klängen"  die  Bezeichnungen  „steh."  und  „bew.",  d.  i.  „ste- 
hend" und  „beweglich"  angewandt  Die  „beweglichen"  griechischen  Klänge 
sind  stets  tiefer  als  die  betreffenden  modernen  Noten,  welche  in  der  Columne 
der  „Klänge"  hinzugesetzt  sind.  Mit  der  Uebersetzung  „Stellungen"  hat  O.  Paul 
die  Ptolemäischc  Uebcrechrift  „tUact;",  mit  „Bedeutungen"  die  Ueberschrift 
„fovrf(&ttc"  wiedergegeben. 

1.  Dorischer  Ton. 


Stellungen 


Bedeutungen 


Klänge 


Nete  hyperpolaeon 
Paranete  hyperbolaeon 
Trite  hyperbolaeon 
Nete  diezeugmenon 
Paranete  diezeugmenon 
Trite  diezeugmenon 
Paramese 
Mesc 

Lichanos  meson 
Parhypate  meson 
Hypate  meson 
Lichanos  hypaton 
Parhypate  hypaton 
Hypate  hypaton 
ProslambanomenoB 


IV. 
1\?0 


IV, 


IV. 


l',o 

iVjL. 
IVt 

1%. 

1  iJO 

1 


1 


IV, 


IV. 


Nete  hyperbolaeon  steh.  71 

Paranete  hyperbolaeon  bew.  ~p 

Trite  hyperbolaeon  bew.  / 

Nete  diezeugmenon  sieh.  ~e 

Paranete  diezeugmenon      bew.  "rf 

Trite  diezeugmenon  bew.  c" 

Paramese  steh.  h 

Mese  steh.  u 

Lichanos  meson  bew.  g 

Parhypate  meson  bew.  f 

Hypate  meson  steh.  e 

Lichanos  hypaton  bew.  d 

Parhypate  hypaton  bew.  <• 

Hypate  hypaton  steh.  H 

Proslainbanomenos  steh.  A 


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XIII.  Die  Systeme:  3.  Thesis. 

2.  Hypolydischer  Ton. 


305 


Stellungen 


Nete  hyperbolaeon 
Paranete  hyperbolaeon 
Trite  hyperbolaeon 
Nete  diezeugmenon 
Paranete  diezeugmenon 
Trite  diezeugmenon 


Mese 

Lichanos  meson 
Parhypate  meson 
Hypate  meson 
Lichanos  hypaton 
Parhypate  hypaton 
Hypate  hypaton 
Proslambanomenos 


1 1 
1  o 


«0 


1lT 


1': 


1", 


1". 


20 


Bedeutungen 


1\9 


jo 


._  Hypate  hypaton 
_  Nete  hyperb.  oder  Prosl. 
_  Paranete  hyperbolaeon 
_  Trite  hyperbolaeon 
_  Nete  diezeugmenon 
_  Paranete  diezeugmenon 
_  Trite  diezeugmenon 
_  Paramese 

Mese 
_  Lichanos  meson 
_  Parhypate  meson 

.  Hypate  meson 
_   Lichanos  hypate 
_  Parhypate  hypaton 

Hypate  hypaton 


Klä 

nge 

—  — 
steh, 

-  — 
h 

steh.  • 

a 

bew. 

1 

bew. 

7 

steh. 

e 

bew. 

1 

bew. 

c 

steh. 

h 

steh. 

a 

bew. 

9 

bew. 

f 

steh. 

e 

bew. 

d 

bew. 

c 

steh. 

II 

3.  Hypophrygisctaer  Tod. 


Stellungen 


Bedeutungen 


Klänge 


Nete  hyperbolaeon 
Paranete  hyperbolaeon 
Trite  hyperbolaeon 
Nete  diezeugmenon 
Paranete  diezeugmenon 
Trite  diezeugmenon 
Paramese 
Mese 

Lichanos  meson 
Parhypate  meson 
Hypate  meson 
Lichanos  hypaton 
Parhypate  hypaton 
Hypate  hypaton 
Proslambanomenos 


Parhypate  hypaton 


l1  «o       Hypate  hypaton 


1\ 


I'/t 


IV. 
1'. 

I1 


l 11 

\v 

_  i0_ 
llf. 


1 1  i0 


Nete  hyperb.  oder  Prosl. 
Paranete  hyperbolaeon 
Trite  hyperbolaeon 
Nete  diezeugmenon 
Paranete  diezeugmenon 
Trite  diezeugmenon 
Paramese 
Mese 

Lichanos  meson 
Parhypate  meson 
Hypate  meson 
Lichanos  hypaton 
Parhypate  hypaton 


bew. 

steh. 

steh. 

bew. 

bew. 

steh. 

bew 

bew. 

steh. 

steh. 

bew. 

bew. 

steh. 

bew. 

bew. 


c 
h 
a 

l 

f 
~e 

1 

c 

h 

a 

9 

f 
e 

d 

c 


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366 


Aristoxcnus  zweite  Harmonik. 


4.  Hypodorischer  Ton. 


Stellungen 


Nete  hyperbolaeou 
Paranete  hyperbolaeon 
Trite  hyperbolaeon 
Nete  diezeugmenon 
Paranete  diezeugmenon 
Trite  diezeugmenon 
Paramese 
Mese 

Lichanos  meaon 
Parhypate  meson 
Hypatc  meson 
Lichanos  hypaton 
Parhypate  Irypaton 
Hypate  hyjmtou 
Proslambanomenos 


1» 


Lichanos  hypaton 
?.  —  Parhypate  hypaton 
Hypate  hypaton 


— 8-        Nete  liyperb.  oder  Prosl. 

1 1'7        Paranete  hyperbolaeon 
Trite  hyperbolaeon 
—  Nete  diezeugmenon 
Paranete  diezeugmenon 


1' 
1« 


Trite  diezeugmenon 
±\f_  Paramese 
Mese 

1 1 7         Lichanos  meson 

ir 

.  Parhypate  meson 
_  Hypatc  meson 
Lichanos  hypaton 


1' 

"l1 


Klänge 


bew. 
bcw. 
stell, 
steh. 
bew. 
bew. 
steh. 
bew. 
bew. 
steh, 
steh. 
bew. 
bew. 
steh. 
bew. 


c 

h 
ä 

9 

7 

e 

i 

h 

u 

9 

f 
e 


5.  Phrygischer  Ton. 


Stellungen 


Bedeutungen 


Klänge 


Nete  hyperbolaeon 
Paranete  hyperbolaeon 
Trite  hyperbolaeon 
Nete  diezeugmenon 
Paranete  diezeugmenon 
Trite  diezeugmenon 
Paramese 
Mese 

Lichanos  meson 
Parhypate  meson 
Hypate  meson 
Lichanos  hypaton 
Parhypate  hypaton 
Hypate  hypaton 
Proslambanomenos 


1 1 ' 
l1« 


1 


'20 


1  l' 

1  ,'7 


l1 


V 


1  '  7 


1  1 


1 


io 


1*7 


Paranete  hyperbolaeon 

bcw. 

1 

Trite  hyperbolaeon 

bew. 

7 

Nete  diezeugmenon 

steh. 

e 

Paranete  diezeugmenon 

bew. 

i 

Trite  diezeugmenon 

bew. 

c 

Paramese 

steh. 

ft 

Mese 

steh. 

a 

Lichanos  meson 

bew. 

9 

Parhypate  meson 

bew. 

f 

Hypate  meson 

steh. 

€ 

Lichanos  hypaton 

bew. 

Parhypate  hypaton 

bew. 

>' 

Hypate  hypaton 

steh. 

u 

Nete  hyperb.  oder  Prosl. 

steh. 

A 

Paranete  hyperbolaeon 

bew. 

G 

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XIII.  Die  Systeme:  3.  Thesis.  367 


6.  Lydischer  Ton. 


Stellungen 

Bedeutuugeu 

Kläuge 

Note  hvoerbolaeon 

Trite  hyperbolaeon 

bew. 

Paranete  hvDcrbolaeon 

VM 

Nete  diezeugmenon 

steh. 

e 
1 

Trite  hvoerbolaeon 

V, 

Paranete  diezeugmenon 

b'ew. 

\ete  diczeiurmenon 

1  9 

Trite  diezeugmenon 

bew. 

c 

PÄTJinptp  dieznurini'iion 

V20 

Parainese 

steh. 

h 

Trite  diezeugmenon  __] 

Mese 

steh. 

a 

Parainese  .  

1  > 

V;  

Lichanos  meson 

bew. 

9 

Mese  1 

V» 

Parhypate  meson 

bew. 

f 

Lichanos  Meson   ! 

im 

Hypate  meson 

steh. 

€ 

Parhypate  meson 

" 

r  ff 

Lichanos  hypaton 

bew. 

d 

Hypate  meson   ! 

1  ( 

>V  

Parhypate  hypaton 

bew. 

C 

Lichanos  hypaton 

r.'O  

Hypate  hypaton 

steh. 

Ii 

Parhypate  hypaton 

:s 

Nete  hyperb.  oder  Prosl. 

steh. 

A 

Hypate  hypaton 

Paranete  hyperbolaeon 

bew. 

G 

Proslambanoincuos 

1 

19 

Trite  hyperbolaeon 

bew. 

F 

7.  Mixolydiseher  Ton. 


Stellungen 


Bedeutungen 


Klänge 


Nete  hyperbolaeon 
Paranete  hyperbolaeon 
Trite  hyperbolaeon 
Nete  diezeugmenon 
Paranete  diezeugmenon 
Trite  diezeugmenon 
Paramese 
Mese 

LichanoB  meson 
Parhypate  meson 
Hypate  meson 
Lichauos  hypaton 
Parhypate  hypaton 
Hypate  hypaton 
Proslambauomeuos 


l'/7 


1" 


1 


IV; 


IV- 


1 V* 
IV; 


1V_ 

1 


IV, 

IV; 

IV. 

IV«, 


_  Nete  diezeugmenon  steh.  e 

Paranete  diezeugmenon  bew.  ~d 

Trite  diezeugmenon  bew.  7" 

_  Parainese  steh.  h 

Mese  steh.  a 

_  Lichanos  meson  bew.  g 

_  Parhypate  meson  bew.  / 

.  Hypate  meson  steh.  e 

Lichanos  hypaton  bew.  d 

_  Parhypate  hypaton  bew.  c 

_  Hypate  hypaton  steh.  II 

_  Nete  hyperb.  oder  Prosl.  steh.  A 

Paranete  hyperbolaeon  bew.  G 

Trite  hyperbolaeon  bew.  F 

Nete  diezeugmenon  steh.  E 


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368 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


Doch  muss  ich  mich  im  Voraua  wohl  darauf  gefasst  machen,  dass  meine 
die  thetische  Onomasie  betreffende  Restitution  der  Aristoxenischen  Harmonik 
für  eine  Phantasie  erklärt  werden  wird,  namentlich  von  solchen,  welche  be- 
reits meine  Interpretation  der  die  thetische  Onomasie  behandelnden  Stellen  des 
Ptolemäus  als  eine  Phantasie"  bezeichnet  haben.  Doch  diesen  Gegnern 
meiner  Ptolemäus- Interpretationen  werde  ich  mir  weiterhin  auf  ihre  Einwen- 
dungen zu  antworten  erlauben.  Vorerst  eine  allgemeine  Bemerkung  über 
meine  Restitutions- Versuche  der  in  den  Handschriften  nicht  mehr  vorliegenden 
Partien  der  Aristoxenischen  Ueberlieferung.  Ein  Anderer  hat  Restitutionen 
grösserer  Partien  des  Aristoxenischen  Textes  noch  nicht  versucht.  Ich  selber 
würde  nicht  anstehen,  bei  anderen  Prosa-Schriftstellern  Ergänzungen  von  dem 
Umfange,  wie  ich  sie  mehrfach  für  Aristoxenus  vorgenommen,  für  Phantasie 
und  Spielerei  zu  erklären.  Aber  in  den  musikalischen  Schriften  des  Aristoxe- 
nus ist  die  Sachlage  eine  durchaus  andere  als  in  anderen  Werken  der  Prosa- 
Litteratur.  Bei  Aristoxenus  ist  sie  folgende.  Zum  grossen  Theil  ist  das  von 
Aristoxenus  behandelte  der  Sache  nach  bei  anderen  Schriftstellern  wieder  zu 
finden,  theils  bei  solchen,  welche  aus  Aristoxenus  direct  oder  indirect  geschöpft, 
theils  auch  bei  seinen  Gegnern,  unter  deren  Zahl  auch  Ptolemäus  gehört,  ob- 
wohl dessen  Polemik  sieh  immer  nur  auf  Einzelheiten  der  Aristoxenischen 
Doctrin  bezieht  und  die  Darstellung  desselben  genau  der  Disposition  des  Ari- 
stoxenus folgt,  welche  dieser  seiner  dritten  Harmonik  zu  Grunde  legt,  während 
die  streng  an  Aristoxenus  anschliessenden  Musikschriftsteller  sämmtlich  die 
Disposition  des  Meisters  wenigstens  an  Einer  Stelle  geändert  haben. 

Was  wir  nun  aus  anderen  Musik-Schriftstellern  dem  Aristoxenus  dem 
Inhalte  nach  als  ursprüngliches  Eigenthum  vindiciren  müssen,  bei  solchen 
Partien  kann  es  sich  für  uns  nicht  darum  handeln,  die  ipsissima  verba 
des  Aristoxenus  wieder  zu  gewinnen  (denn  blos  die  Sache  hat  bei  der 
Wissenschaft  der  griechischen  Musik  für  uns  Bedeutung).  Es  handelt  sich  nur 
darum,  jene  auf  Aristoxenus  zurückzuführenden  Partien  in  die  so  lückenhaft 
überlieferten  Werke  desselben  einzureihen.  Und  hier  sind  wir  so  glücklich, 
für  die  Harmonik  des  Aristoxenus  die  von  ihm  selber  verfassten  Inhaltsver- 
zeichnisse der  Prooimien  zur  Harmonik  zu  besitzen.  Mein  Vorgänger  Marquard 
war  der  Ansicht,  dass  das  Inhaltsverzeichniss  des  Prooimions  zu  der  auf  dieses 
folgenden  Ausführung  der  einzelnen  Abschnitte  durchaus  nicht  stimme.  Dem 
entgegen  habe  ich  den  hoffentlich  sichern  Nachweis  von  der  Concordanz  des 
Inhaltsverzeichnisses  mit  der  Ausführung  geliefert.  Gern  gestehe  ich,  dass 
mir  dieses  in  meiner  ersten  Ausgabe  der  griechischen  Harmonik  vom  Jahre 
1963  noch  vielfach  nicht  gelungen  war.  Die  gegenwärtige  Arbeit,  der  Ab- 
schluss  meiner  30jährigen  Aristoxenus -Studien,  wird,  denke  ich,  alle  früher 
von  mir  nicht  scharf  genug  oder  unrichtig  gefassteu  Punkte  geklärt  und 
berichtigt  und  über  die  Anlage  und  den  Plan  der  drei  Aristoxenischen 
Werke  über  Harmonik  nirgends  mehr  eine  Unsicherheit  gelassen  haben.  Als 
Resultat  nehme  ich  in  Anspruch ,  dass  die  Darstellungen  des  Aristoxenus  zu 


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XIII.  Die  Systeme:  3.  Thesis. 


369 


den  musterhaftesten  der  gesammten  wissenschaftlichen  Prosa  -Litteratnr  des 
Griechenthums  gehören.  Hier  ist  alles  lichtvolle  Ordnung;  ein  jeder,  welcher 
will,  kann  den  Zusammenhang  der  einzelnen  Partien  durchschauen.  Aristoxenus 
ist  in  seiner  Musik-Disciplin  der  Logiker  x»t'  £;o-/t,v.  Ueberall  zeigt  er,  dass 
er  sich  in  den  Gebt  des  Aristoteles  vollständig  eingelebt  hat:  das  logische 
Denken  des  Aristoteles  ist  ihm  im  allerbesten  Sinne  zur  anderen  Natur  ge 
worden.  Dazu  kommt,  dass  Aristoxenus  in  Folge  seiner  Grundauschauung 
vom  Melos  sich  in  der  Darstellung  und  Durchführung  seiner  Sätze  auf  den 
Standpunct  des  Mathematikers  stellen  musste.  Wir  haben,  was  die  Methode 
betrifft,  in  Aristoxenus"  Schriften  sowohl  über  Melik.wie  über  Rhythmik  Dar- 
stellungen vor  uns,  welche  formell  eben  so  gut  von  dem  Mathematiker  Euklides 
geschrieben  sein  könnten,  nur  dass  sich  diese  logische  Methode  der  Deduction 
früher  bei  Aristoxenus  als  bei  Euklid  findet.  So  haben  wir  namentlich  im 
Abschnitte  XII  eine  Reihe  angeblich  Aristoxenischer  Sätze  (die  handschriftliche 
Ueberlieferung  schreibt  sie  guten  Glaubens  den»  Aristoxenus  zu)  als  Umarbei- 
tungen von  der  Hand  eiues  Späteren  nachweisen  müssen;  die  logisch  mathe- 
matische Methode  der  Aristoxenischeu  Darstellung  Hess  keinen  Zweifel,  was 
Aristoxenus  selber  au  jenen  Stellen  gesagt  haben  muss.  Ebenso  müssen  auch 
unsere  Ergänzungen  der  lückenhaften  Handschrift  der  Aristoxenischen  Rhythmik 
den  Anspruch  erheben,  dass  sie  der  Sache  nach  genau  die  hier  zu  Grunde 
gegangene  Darstellung  restaurirt  haben.  Auc  h  hier  war  die  Wiederherstellung 
nur  durch  die  mathematische  Methode  ermöglicht,  in  welcher  Aristoxenus  die 
rhythmische  Disciplin  darstellt:  dort  in  der  Melik  Raumgrösscu  (Tonhöhe  und 
Tontiefe),  daher  die  geometrische  Methode  —  hier  in  der  Rhythmik  Zeit- 
grössen,  zurückgeführt  auf  die  Maasseinheit  des  Chronos  protos,  daher  die 
arithmetische  Methode.  Und  als  Mathematiker  schreibt  Aristoxenus  ohne 
Bilder  und  ohne  Phrasen,  er  bewegt  sich  in  dem  allernüchtemsten,  daher  auch 
in  dem  allerdurchsichtigsten  Prosa-Style. 

Ich  hoffe,  man  wird  anerkennen,  dass  bei  einem  solchen  Schriftsteller  eine 
rein  sachliche  Ergänzung  der  handschriftlichen  Lücken  (denn  vom  Wiederge- 
winnen der  individuellen  Worte  des  Aristoxenus  kann  keine  Rede  sein  und 
würde  auch  keinen  Zweck  haben),  dass  sage  ich,  sachliche  Restaurationen 
in  einer  die  Musik  darstellenden  Aristoxenischen  Schrift  im  Allgemeinen  nicht 
zu  den  Unmöglichkeiten  gehören,  wenn  anders  der  die  Restauration  unterneh- 
mende hinlänglich  sich  in  Geist  und  Darstellung  des  Aristoxenus  eingelebt  hat. 
Und  so  hoffe  ich,  dass  auch  meine  Restitutionen  der  Aristoxenischen  Harmonik 
nicht  als  geistreiches  Spiel  der  Phantasie  aufgefasst  werden,  dass  ihnen  viel- 
mehr dieselbe  Aufnahme  wie  den  Ergänzungen  der  Aristoxenischen  Rhythmik 
zu  Theil  werden  möge,  die  jetzt  auch  den  offiziösen  Gegnern  als  genuine  Lehr- 
sätze des  Aristoxenus  gelten  (vgl.  S.  04). 


Nach  diesem  Excurse  über  die  Möglichkeit,  die  Lücken  der  handschrift- 
lichen Aristoxenus- Ueberlieferung  zu  ergänzen,  wende  ich  mich  zur  Interpre- 

Arlttoxenoi,  Mellk  u.  Rhythmik.  24 


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370 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


tation  der  über  die  thetisehe  Onomasic  handelnden  Stellen  des  Ptolemäus 
zurück.  In  der  ersten  Ausgabe  der  griechischen  Harmonik  1863  habe  ich 
diese  Stellen  genau  in  dem  vorher  angegebenen  Sinne  interpretirt,  d.  h.  ich 
musste  mich  damals ,  wie  es  auch  wiederum  jetzt  geschehen  ist,  durchaus 
an  die  Auffassung  anschliessen,  welche  Johannes  Wallis,  der  erste  und 
bis  jetzt  einzige  Herausgeber  und  Interpret  der  Ptolemäischen  Harmonik 
(Quart- Ausgabe  1682,  Folio- Ausgabe  1699)  gegeben  hat.  Später  hat  der  ver- 
diente Forscher  Friedrich  Bellcrmann  eine  kurze  Erklärung  der  Ptolemäischen 
Thesis  gegeben.  Auf  Wallis  nimmt  Bellermann  durchaus  keine  Rücksicht. 
Ich  konnte  gerade  für  diesen  Punkt  der  Auffassung  Bellermanns  nicht  zu- 
stimmen und  will  nicht  verhehlen,  dass  Bellermann  gerade  in  der  Thesis-Er- 
klärung  weit  hinter  seinen  übrigen  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  griechischen 
Harmonik  (antike  Notation  und  Transpositionscalen)  zurücksteht. 

Eine  speziell  gegen  meine  Auffassung  gerichtete  Abhandlung  „Unter- 
suchungen auf  dem  Gebiete  der  Musik  der  Griechen :  Ueber  die  ivojAsota  xito. 
Histv  des  Ptolemäus  von  A.  Ziegler  1866"  sagt:  „Da  Wallis  (der  ohne  Zweifel 
den  Ptolemäus  richtig  verstanden  S.  21)  sich  viel  mein:  mit  Bellermann  in 
Uebereinstimmuug  befindet  als  mit  Westphal,  und  man  sich  bei  einem  gerade 
im  Fache  der  griechischen  Musik  so  bewanderten  und  verdienten  Forscher 
wie  Bellermaun  nicht  leichthin  an  dem  Vorwurfe  der  Unachtsamkeit  und  des 
Missverstehens  betheiligen  bedarf,  so  ist  die  Entscheidung  wichtig,  ob  und  von 
wem  die  Sache  richtig  verstanden  worden  ist."  Das  Resultat  jener  Abhand- 
lung ist,  dass  meine  Auffassung  der  Ptolemäischen  Stellen  eine  neue  sei. 
„welche,  wenn  sie  allgemein  Annahme  zu  finden  geeignet  wäre,  alle  Ergeb- 
nisse früherer  Forschungen  in  Frage  stellen  müsste".  „Ob  die  so 
bewirkte  Umwälzung  aller  systematischen  Begriffe  der  Erkenntniss  des  Wesens 
der  griechischen  Musik  förderlich  ist  —  wir  können  es  nicht  glauben,  da  sie  nicht 
auf  den  überlieferten  Thatsachen  beruht".  Der  Verfasser  der  Abhandlung  ist 
fest  überzeugt,  die  absolute  Absurdität  meiner  Auffassung  und  aller  daraus 
gezogenen  Consequeuzen  nachgewiesen  zu  haben.  „Westphal  ist  in  seinen 
lebhaften  Combinationen  zu  den  wunderbarsten  Resultaten  gelangt.  Ich  möchte 
durch  die  vorliegende  Untersuchung  davor  warnen,  auf  diesem  Wege  weiter 
zu  gehen.  Die  Art,  wie  Westphal  die  ivofiaoia  xaxd  8£aiv  versteht  und  zu 
weiteren  Folgerungen  benutzt,  weicht  von  allen  früheren  Auffassungen  ab 
und  bringt  eine  gänzliche  Umwälzung  in  das  System  der  griechi- 
schen Musik  hinein  .  .  .  .  Westphal  meint,  es  habe  nur  an  der  Unacht- 
samkeit und  dem  Missverstehen  der  neueren  Forscher  gelegen,  dass  diese  Re- 
sultate nicht  schon  längst  gewonnen  seien". 

Was  das  letztere  betrifft,  so  hat  die  gegen  mich  gerichtete  Abhandlung 
richtig  berichtet,  wenn  sie  anders  mich  unter  den  neuern  Forschem,  die  ich 
im  Sinne  hatte,  den  Einen  Bellermann  verstehen  lässt.  Alles  andere,  was  sie 
über  meine  Interpretation  und  auch  von  den  Interpretationen  meiner  Vor- 
gänger sagt,  ist  falsch.    Nciu,  ich  kann  hier  nicht  helfen:  hat  meine  Inter- 


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XIII.  Die  Systeme:  3.  Thesis. 


371 


pretatiou  der  thetischen  Onomasie  wirklich  solche  umwälzende  Neuerungen 
gegenüber  den  als  jetzt  gang  und  gäbe  zu  bezeichnenden  Ansichten  (Beller- 
manns Ansichten)  im  Gefolge,  so  muss  man  sich  wohl  oder  übel  diese  Conse- 
quenzen  gefallen  lassen,  denn  meine  Interpretation  des  Ptolemäus  ist  vollkom- 
men richtig.  Unbequem  kommende  Wahrheiten  lassen  sich  wohl  für  eine  Zeit, 
aber  nicht  für  immer  zurückweisen,  wenn  anders  das  Interesse  an  der  be- 
treffenden Disciplin  nicht  untergent. 

Dass  aber  alles,  was  mein  Gegner  über  die  thetische  Onomasie  des  Pto- 
lemäus sagt,  verkehrt  ist,  lässt  sich  unschwer  nachweisen. 

„Westphal  —  sagt  er  —  weicht  in  der  Thesis- Onomasie  von  allen  früheren 
Auffassungen  ab".  Dem  crwiedere  ich,  dass  ich  nicht  eine  eigene  Auf- 
fassung aufgestellt,  sondern  bis  ins  Einzelnste  ganz  und  gar  der  schon  im 
Jahre  1683  von  Johannis  Wallis  gegebenen  Interpretation  mich  -angeschlossen 
habe,  an  die  älteste,  welche  die  moderne  Wissenschaft  für  die  betreffenden 
Stellen  des  Ptolemäus  aufgestellt  hat. 

„Wallis  —  sagt  ferner  mein  Gregner  —  hat  den  Ptolemäus  ohne  Zweifel 
richtig  verstanden".  Dem  erwidere  ich,  dass,  wäre  dies  meines  Gegners  wirk- 
liche und  ernste  Meinung,  dass  er  alsdann  meine  Ansicht  über  diesen  Punct 
nicht  als  absurd  hingestellt  haben  würde,  denn  die  von  Wallis  gegebene  Auf- 
fassung ist  genau  auch  die  von  mir  ausgesprochene. 

Da  Johannes  Wallis  nicht  Jedermann  zur  Hand  ist ,  so  kann  ich  nicht  um- 
hin, hier  auseinanderzusetzen,  was  derselbe  über  die  thetischen  Pentekaideka- 
chorde  in  den  Anmerkungen  seiner  Ptolemäus- Ausgabe  zur  Erläuterung  bei- 
bringt. Es  ist  schwer  einzusehen,  wie  sich  diese  Erläuterungen  so  gänzlich 
dem  Auge  meines  Gegners  habeu  entziehen  konnten.  Sowohl  in  der  Ausgabe 
vom  Jahre  1683  wie  in  der  grösseren  Folio- Ausgabe  vom  Jahre  1699  gehen 
doch  die  Noten-Scalcu,  mit  welchen  Wallis  die  thetischen  Pentekaidekachorde 
des  Ptolemäus  wiedergibt  (i"  beiden  Ausgaben  gleichlautend)  nicht  im  Min- 
desten darauf  aus,  sich  dem  Auge  des  Lesers  zu  entziehen,  wenigstens  nicht 
eines  solchen  Lesers,  welcher  Noten,  in  dem  von  Wallis  angewand- 
ten Schlüssel  geschrieben,  lesen  kann.  Ich  kann  mir  keinen  anderen 
Grund  für  die  vollständige  Ignorirung  des  Wallis'schen  Noten-Scaleu  von  Seiten 
meines  Gegners  denken,  als  dass  er  sie  nicht  hat  lesen  können  und  sich  auch 
nicht  hat  die  gar  nicht  so  grosse  Mühe  geben  mögen,  sich  die  Bedeutung  des 
von  Wallis  angewandten  Schlüssels  aus  der  Stellung  des  Vorzeichens  klar  zu 
machen.  Dies  halte  ich  für  den  einzigen  Grund,  dass  mein  Gegner  im  Uu- 
muthe  über  die  neuernden  Consequcnzen,  die  ich  aus  der  thetischen  Onomasie 
ziehe,  sich  zu  solchen  falschen  Aussprüchen  über  "Wallis,  Bellermann  und  mich 
hat  verleiten  lassen.  Denn  mein  Gegner,  obwohl  ein  Feind  aller  Neuerungen, 
mochte,  als  er  das  Programm  schrieb,  zur  Ausführung  einer  Arbeit,  welche 
seine  „Ansichten  über  die  fsv-r,  ^cXozotta«  näher  entwickeln  sollte"  (vgl.  S.  27), 
im  Uebrigcn  wohlgerüstet  sein:  nur  mit  dem  Notenlesen  scheint  es  damals  ge- 
hapert zu  haben. 

24* 


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372 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


Ich  will  in  dem  Folgenden  die  Notenscalen  des  alten  englischen  Gelehr- 
ten aus  dem  von  ihm  vorgezeichneten  Schlüssel  hervorziehen: 

I. 

Ptolem.  harm.  ed.  Wallis  1682  p.  141  Thetisches  Peutekaidekachord  des 
„Dorius  ton us",  dargestellt  an  der  Scala  ohne  Vorzeichen 

,        Dorische  Octav.  

ahcdef  gahcdefga, 

aufs  genauste  so,  wie  ich  mich  an  Wallis  anschliessend  sie  dargestellt  habe. 

Die  thetischen  Pentekaidekachorde  der  übrigen  Octaven-Eide  drückt 
Wallis  so  durch  moderne  Noten-Scalen  aus,  dass  er  für  ihren  Proslambano- 
menos  überall  gemeinsam  dieselbe  Tonstufe  wie  bei  dem  Doriseben  Octaven- 
Eidos  ansetzt,  nämlieh  den  Klang  a.  In  Folge  dessen  drückt  er  die  den  ver- 
schiedenen Octaven-  Gattungen  entsprechende  Verschiedenheit  der  Intervall- 
Folge  betreffe  der  Ganztöne  und  der  Halbtöne  durch  Verschiedenheit  der  Vor- 
zeichen, die  er  den  mit  a  beginnenden  Scalen  vorsetzt,  aus.  Ich  war  hier  darin 
von  Wallis  abgewichen,  dass  ich  die  Pentekaidekachorde  der  verschiedenen 
Octaven-Eide  zur  Bequemlichkeit  des  Lesers  alle  in  ein  und  derselben  Trans- 
positions-Scala,  nämlich  der  Scala  ohne  Vorzeichen,  notirt  habe,  und  in  Folge 
dessen  für  die  verschiedenen  Scalen  den  Proslambanomeuos  auf  verschiedene 
Tonstufen  ansetzen  musste. 

Wallis  hat  diese  Rücksicht  auf  den  Leser  nicht  nehmen  mögen  und  für 
die  sieben  Pentekaidekachorde  ein  und  dieselbe  Tonlage  angenommen,  den 
Proslambanomeuos  als  A  oder  wo  dies  nicht  anging  als  As  ansetzend.  So 
vermeidet  er  es,  in  der  tiefsten  und  obersten  Tonregion  Klänge  zu  notireu, 
welche  auf  den  der  musikalischen  Praxis  der  Griechen  dienenden  Systemata 
der  dynamischen  Onomasie  nicht  enthalten  waren  und  von  Ptolemäus  als 
Klänge  lediglich  idealer  Existenz  in  seine  Tabellen  aufgenommen  sind  (vgl. 
S.363, 1— 7).  Jeder  Erfahrene  ersieht  sofort,  dass  zwischen  Wallis'  Tabellen 
und  den  meinigen  trotz  der  Verschiedenheit  der  Vorzeichuung  keine  Differenz 
besteht.  Die  modernen  Musiker,  soweit  sie  nicht  etwa  in  den  sog.  Kirchen- 
tonarten componiren,  kenneu  nur  zwei  Octavengattungen,  eine  Dur-Octav  und 
eine  Moll-Octav.  Ob  nun  die  Dur-Octav  als  c-dur  oder  als  a-dur,  die  Moll- 
Octav  als  a-inoll  oder  c-moll  notirt  wird,  sie  bleibt  immer  die  bezüglich  der 
Intervall-Folge  identische  Dur-  resp.  Moll-Octav. 

II. 

Ptolem.  harm.  ed.  1682  p.  143:  Thetisches  Peutekaidekachord  dea 
„Hypolydius  tonus".  dargestellt  auf  der  Scala  mit  dem  Vorzeicheu  ? 


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XIII.  Die  Systeme:  3.  Thesis.  373 
  Hypolydische  Octav  , 


a  bcdesfgabcdesfga 


hcdefgahcde      f     g     a  h, 

Die  Tonreihe  in  a  mit  dem  Vorzeichen  ??  ist  genau  dieselbe  wie  die 
Tonreihe  in  h  ohne  Vorzeicheu. 

in. 

Ptolem.  härm.  ed.  Wallis  1682  p.  145:  Thetisches  Pentekaidekachord 
im  „  Hypophrygius  tonus",  dargestellt  auf  der  Scala  mit  dem  Vor- 

Hypophrygische  Octavc.  

h     eis     d     e       fis      gis       a      h      eis       d       e    fis    giß  ;i 


c     d      e      f    g       a        h         ede        f  gahe 

v_'  ' 

Die  Tonreihe  in  a  mit  g$  ist  dieselbe  wie  die  Tonreihe  in  e  ohne  Vor- 
zeichen, d.  h.  a-dur  ist  bezüglich  der  Intervalle  mit  c-dur  identisch. 

IV. 

Ptolem.  härm.  ed.  Wallis  1682  p.  147:  Thetisches  Pentekaidekachord 
im  „Hypodorius  tonus",  dargestellt  auf  der  Scala  mit  der  Vorzeichnung  £ : 

ah  edefisgahedefisga 

i  *  i  * 

transponirt  auf  die  Scala  ohne  Vorzeichen: 

defgahedefgahed 

V. 

Ptolem.  harm.  ed.  Wallis  1682  p.  149:  Thetisches  Pentekaidekachord 
im  „Phrygius  tonus",  dargestellt  auf  der  Scala  mit  ^* 

a   h   eis   d   e   fis   g   a   h    cU   d    e   fis   g  a 

4  i  i  I 

transponirt  auf  die  Scala  ohne  Vorzeichnuug : 

gahedefgahedefg 


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374  Aristoxenus  zweite  Harmonik. 

■ 

VL 

Ptolem.  härm.  ed.  Walüs  1682   p.  151:  Thetisches  Pentekaidekachonl 

im  „Lydius  tonus",  dargestellt  auf  der  Scala  mit  der  Vorzeichnung P? 

? 

as   b   c   d   es   f  g   as   b   e   d   es   f  g  as, 

-  4  -   '  *■  V  I 

k  i  Vi 

auf  die  Scala  ohne  Vorzeichen  transpoinrt: 


fgah     ede  fgahcdef 

VII. 

Ptolem.  harm.  ed.  Wallis  1682  p.  153:  Thetisches  Pentekaidekachonl 
im  „Mixolydius  tonus",  dargestellt  auf  der  Scala  mit  der  Vorzeichnung  > 

a  bedefgabedefga 

i  i  *  \ 

transponirt  auf  die  Scala  ohne  Vorzeichnung: 

efgahedefgahede 

Jedermann  wird  hieraus  ersehen,  dass  Johannes  Wallis  im  Jahre  1682 
(und  1699)  unter  den  sieben  thetischen  Pentekaidekachorden  und  dem  Verhält- 
niss  der  dynamischen  zu  den  thetischen  Klängen  genau  dasselbe  verstanden 
hat,  wie  ich  im  Jahre  1863  (uud  1867  und  jetzt  im  Jahre  1882).  Also  bin  ich 
vollständig  im  Rechte,  wenn  ich  jetzt  (aus  meiner  griechischen  Harmonik  des 
Jahres  1863  wiederholend)  versichere,  dass  meine  Auflassung  der  thetischen 
Onomasie  schon  vor  gerade  200  Jahren  bei  Wallis  dieselbe  war,  dass  aber 
diese  Auflassung  des  Johannes  Wallis  bei  den  modernen  Forschern  in  Ver- 
gessenheit gerathen  und  gänzlich  verschollen  war,  z.  B.  bei  Friedrich  Beller- 
mann, der  sie  ebenso  wenig  kennt  wie  mein  Gegner  vom  Jahre  1866.  Denn 
wenn  ihm  Wallis'  Interpretation  nicht  unbekannt  gewesen  wäre,  so  würde  er 
sich  bei  der  Aufstellung  seiner  eigenen  Erklärung  der  Ptolemaeischen  Stelle 
nothwendig  darauf  bezogen  haben.  Wie  es  gekommen,  dass  auch  dem  „so  be- 
wanderten und  verdienten  Forscher"  Friedrich  Bellermann  die  erklärenden 
Notenscalen,  welche  Wallis  zum  Ptolemaeus  giebt,  entgangen  sind,  darüber 
werde  ich  weiter  unten  meinen  Gedanken  ausprechen. 

Mein  Gegner  (S.  4)  behauptet,  „dass  Wallis  sich  viel  mehr  mit  Beller- 
maun,  als  mit  Westpbal  in  Uebereinstimmung  befindet"  Dem  ist  zu  entgeg- 
nen: Wallis  nimmt  Gleichklang  des  thetischen  mit  dem  gleichnamigen  dyna- 
mischen Phthongos  nur  für  den  Dorius  tonus  an,  für  die  übrigen  sechs  toui 
Klang  Verschiedenheit  zwischen  dem  thetischen  und  dem  gleichnamigen  dyn  a- 
inischen  Phthongos.  Bellermann  dagegen  statuirt  schlechthin,  einerlei  bei  wel- 
chem tonus,  vollständige  Klanggleichheit  zwischen  dem  thetischen  und  dem 


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XIII.  Die  Systeme:  3.  Thesis. 


375 


gleichnamigen  dynamischen  Tone  derselben  Scala.  Der  Bellennann'sche  Unter- 
schied zwischen  thetisch  und  dynamisch  ist  kein  materieller,  sondern  lediglich 
ein  ideeller.  Wenn  (so  lehrt  Bellermann)  der  griechische  Musiker  „thetische 
Mese  der  mixolydischeu  Scala"  sagt,  so  ist  der  Klang,  den  er  dabei 
im  Sinne  hat,  der  Ton  b.  Sagt  er  dynamische  Mese  der  mixolydischeu 
Scala,  so  meint  er  denselben  Ton  b,  aber  den  Ton  b  nicht  schlechthin  nach 
seinem  Klange,  nicht  schlechthin,  um  Bellermanns  eigenes  Wort  zu  gebrauchen, 
nach  seiner  „tensio",  sondern  den  Ton  b  nach  seiner  harmonischen  Bedeutung 
als  mittleren  Octav-Ton  der  mixolydischeu  d.  i.  (nach  Bellermanns  Darstel- 
lung im  Anonymus)  der  b-Moll-Scala. 

Wie  mag  derjenige,  der  da  wirklich  weiss,  was  Bellermann  über  Thesis 
und  Dynamis  (in  einer  die  Sache  kurz  abfertigenden  Stelle  seines  Anonymus 
p.  10)  lehrt,  und  welcher  zugleich  die  von  Wallis  gegebene  Auseinander- 
setzung dieser  Ptolemaeischen  Doctrin  gründlich  studirt  hat,  die  Behauptung 
aufstellen,  dass  Wallis  sich  viel  mehr  mit  Bellermann  als  mit  Westphal  in 
Uebereinstimmung  befindet!  Bellermann  thut  zwar,  als  ob  seine  Darstellung 
der  Thesis  und  Dynamis  die  schon  früher  existirende,  als  ob  sie  die  vulgäre 
'und  allgemeine  recipirte,  also  auch  die  des  Johannes  Wallis  sei,  und  dass  er 
i  Bellermann)  eben  aus  diesem  Grunde  die  Sache  so  kurz  in  einer  Anmerkung 
abthun  könne:  „tiioic  et  86va{xi;  quid  apud  musieos  scriptores  significent,  si 
quis  forte  lectorum  non  statim  meminerit,  breviter  exponam."  Zu  der  Mei- 
nung, dass  Bellermann8  und  Wallis'  Auflassungen  mehr  übereinstimmen,  als 
Wallis  mit  mir  übereinstimme,  (der  ich  doch  keine  eigene  Ansicht  aufstelle, 
sondern  nur  die  200  Jahre  lang  verschollene  Ansicht  des  Johannes  Wallis  au8 
ihrer  Vergessenheit  wieder  hei-vorgeholt  habe),  zu  dieser  Meinung  ist,  denke 
ich,  mein  Gegner  wohl  nur  durch  die  eben  angeführten  Worte  Bellermanns 
„des  im  Fache  der  griechischen  Musik  so  bewanderten  und  verdienten  For- 
schers, bei  dem  man  sich  nicht  leichthin  an  dem  Vorwurfe  der  Unachtsamkeit 
und  des  Missverstehens  betheiligen  darf"  (Ziegler  S.  4)  verleitet  worden. 

Die  geradezu  Epoche  machenden  Forschungen  Friedrich  Bellermanns  be- 
züglich der  griechischen  Notation  und  der  griechischen  Trauspositions-Scalen, 
die  ja  auch  ich  im  vollsten  Umfange  anzuerkennen  und  zu  würdigen  weiss 
und  die,  denke  ich,  iu  gebührender  Weise  zum  ersten  Male,  wie  sie  es  ver- 
dienten, gerade  von  mir  in  meiner  griechischen  Harmonik  1863  hervorgezogen 
sind,  diese  grossen  Verdienste  Bellermanns  schienen  bei  meinem  Gegner  nicht 
den  Gedanken  zuzulassen,  dass  Bellermann  nicht  auch  bei  der  Thesis  und  Dy- 
namis dieselbe  Sorgfalt  und  Gewissenhaftigkeit  in  der  Benutzung  der  Quellen 
(hier  Einer  Quelle:  der  Ptolemaeischen  Harmonik)  und  des  von  den  bisherigen 
Herausgebern  zusammengestellten  Apparates  (hier:  des  einzigen  Comincntares 
von  Johannes  Wallis)  bewiesen  haben  sollte.  Auch  ich  wünschte  sehr,  dass 
dies  Bellermann  gethan  hätte,  aber  gethan  hat  er  es  nicht. 

Und  so  ist  denn  die  thatsächlich  so  bedeutungsvolle  Lehre  von  den 
thetischen  Systemen,  welche  dem  Claudius  Ptolemaeus  so  umfangreichen  Stoff 


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276 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


für  seine  akustische  Ton-Bestimmung  gewährt  hat,  aber  nicht  von  Ptolemäus, 
sondern  von  Aristoxenus  zuerst  aufgestellt  oder  wenigstens  eingehend  erörtert 
ist,  unter  den  Händen  Friedrich  Bellermanns  zu  einer  nichtssagenden  blossen 
Schcinnomenclatur  abgeblasst,  die  des  realen  Lebens  bar  ist.  Denn  was  will 
es  besagen,  dass,  wenn  ich  den  „Ton  b"  nenne  und  dabei  blos  den  Klang 
desselben  im  Sinne  habe,  den  Ausdruck  „thetisch"  hinzusetze  ( —  thetisches  b 
— ),  dass  dagegeu,  wenn  ich  nicht  blos  den  Klang  des  Tones  b  meine,  sondern 
auch  die  Stelle,  welche  er  als  Prime  oder  als  Secunde  oder  als  Terze  u.  s.  w.  auf 
irgend  welcher  Tonleiter  einnimmt,  im  Auge  habe,  dass  ich  in  diesem  Falle  dem 
Namen  „Ton  b"  noch  den  Zusatz  „dynamisch"  hinzufüge  ( —  dynatn.  b).  Denn 
etwas  anderes  soll  nach  der  Erklärung  des  trefflichen  Entdeckers  der  Fundamente 
der  griechischen  Notation  und  der  griechischen  Transpositions-Sealen  Friedrich 
Bellermanns  der  Unterschied  zwischen  thetischer  und  dynamischer  Onomasie 
doch  nicht  besageu.  Bellermann  setzte  nicht  voraus ,  dass  die  Thcsis  und  Dy- 
namis  ein  ebenso  wichtiges  und  ergiebiges  Forschungsgebiet  für  die  griechisch«* 
Musikwissenschaft  wie  die  griechische  Notenschrift  und  die  griechischen  Trans- 
positions-Scalen  sein  würden:  das  ist  wohl  die  Ursache,  dass  er  der  Thesit 
und  Dynamis  des  Ptolemäus  so  wenig  Bedeutung  geschenkt  und  die  vortreff- 
lichen Erläuterungen  des  Gegenstandes,  welche  ihm  in  der  Ptolemäus- Ausgab«- 
des  Johannes  Wallis  vorlagen,  leider  unbenutzt  gelassen  hat. 

E*  ist  ganz  richtig,  was  mein  Gegner  S.  1  bemerkt:  „Da  die  Ungunst 
der  Zeiten  uns  keine  schriftlichen  Monumente  griechischer  musikalischer  Kunst- 
werke übrig  gelassen  hat  ...  ,  so  bleibt  uns  ihr  eigentliches  Wesen  in  ein 
geheimnissvolles  Dunkel  gehüllt,  welches  aufzuhellen  wir  uns  um  so  mehr  an- 
gereizt fühlen,  als  die  Theorie  Gebiete  enthält,  die  nach  unseren  Begriffeu 
nicht  geeignet  sind,  der  griechischen  Musik  die  hohe  Bedeutung  einzuräumen, 
welche  das  klassische  Alterthum  einstimmig  und  durch  das  Organ  seiner  ge- 
wichtigsten Autoritäten  ihr  zuschreibt.  Hierbei  ist  selbstverständlich  vorzüg- 
lich an  das  Phänomen  der  griechischen  Tougeschlechter  und  ihrer  Färbungen 
zu  denken." 

Friedrich  Bellermanns  Forschungen  haben  ein  gutes  Stück  über  Boehkh's 
Standpunkt,  der  das  Verhältniss  der  Octaven-Gattungen  zu  den  gleichnamigen 
Transposition8-Scalen  aufdeckte,  hinausgeführt;  Bellermann  hat  das  Wesen  der 
griechischen  Notation  und  Transpositions  -  Scalen  erschlossen.  Was  die  Ton- 
geschlechter und  die  Chroai  anbetrifft,  so  ist  deren  Wesen  für  Bellermann  völlig 
dunkel  geblieben,  so  dass  er  nicht  anders  kann,  als  die  über  die  Chroai  vor- 
handenen Angaben  des  Aristoxenus  für  nicht  viel  mehr  als  eine  des  realen 
Bodens  entbehrende  unfruchtbare  Speculation  zu  halten  und  die  griechische 
Enharmonik  aus  der  Manierirtheit  späterer  Künstler  herzuleiten.  Friedrich 
Bellermann  war  bei  seiner  Scharfsichtigkeit  und  Genauigkeit  ganz  der  Mann 
dazu,  die  Frage  nach  den  Chroai  und  allem,  was  in  den  Tongeschlechtern  der 
Griechen  von  der  modernen  Musik  abweicht,  weiter  zu  fordern.  Ich  ersehe 
dies  aus  seinen  Versuchen,  die  von  Aristoxenus  durch  Zahlen  ausgedrückten 


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XIII.  Die  Systeme:  3.  Thesis. 


377 


Klangwerthe,  denen,  wie  er  ebenfalls  erkannte,  die  gleichschwebende  Tempe- 
ratur zu  Grunde  lag,  mit  den  Zahlenangaben  der  Akustiker  unter  Anwendung 
der  Logarithmen  auf  die  gleiche  Maasseinheit  zurückzuführen.  Aber  auf 
diesem  Gebiete  zu  neuen  Resultaten  zu  gelangen,  das  konnte  nur  auf  dem 
Wege  durch  die  thetische  und  dynamische  Onomasie  des  Ptolemäus  geschehen, 
auf  welchem  Bellermann,  wenn  er  die  leitende  Hand  des  Commentators  Johannes 
Wallis  nicht  verschmäht  hätte,  mit  derselben  Sicherheit  wie  auf  den  min- 
destens eben  so  dornichten  Pfaden  der  Transpositions-Scalen  und  der  Notations- 
Gebeimnisse  zum  richtigen  Ziele  gelangt  sein  würde.  Hierbei  wäre  der  un- 
verges8Üche  Forscher  aufs  Beste  dnreh  seine  oft  genug  bewährte  Besonnen- 
heit in  der  Text-Kritik  unterstützt  worden.  Sicherlich  wäre  er  vor  unnöthigen 
und  willkürlichen  Aenderungcn  der  handschriftlichen  Ueberlieferung  des  Pto- 
lemäus zurückgesclireckt,  wie  sich  solche  mein  Gegner  S.  17  und  18  erlaubt  hat. 

Denn  von  dem  5.  Kapitel  des  zweiten  Buches,  welches  er  bespricht, 
sagt  er:  „Dass  und  wie  die  Töne  der  Tonarten  auch  thetisch  benannt  werden 
können,  darüber  sagt  Ptolemäus  in  diesem  Kapitel  nichts." 

Dies  ist  insofern  eine  richtige  Bemerkung,  als  Ptolemäus  dort  keine 
vollständige  Darstellung  von  der  Art  und  Weise  giebt,  wie  die  15 Klänge 
des  Pentekaidckachordes  nach  thetischer  Onomasie  benannt  werden.  Er  unter- 
liisst  der  Kürze  halber  die  vollständige  Darstellung,  weil  diese  anschaulicher 
noch  durch  sieben  von  ihm  beigefügte  Tabellen  gegeben  wird.  „Diese  geben 
,.aUerdings  —  sagt  mein  Gegner  —  oberflächlich  und  flüchtig  betrachtet  den 
„Anschein,  als  sei  eine  speeifisch  thetische  Benennung  zur  Anwendung  gebracht, 
„als  seien  z.  B.  auf  der  mixolydischen  Tafel  die  jifarj  und  rapa^or,  des  v-jarrp* 
„dfiexcißoXov,  die  sich  um  einen  Ganzton  unterscheiden,  der  Ord-nj  und  x*pjr.&Trt 
„uicwN  x.  I.  {jLi|oXuobu  gleichgestellt,  welche  sich  nur  um  einen  Halbton  unter- 
scheiden. 

„Es  ist  mir  wegen  der  äusseret  klaren  und  concinnen  Ausdrucksweisc  des 
„Ptolemäus  sehr  wahrscheinlich,  dass  sein  Original-Manuscript,  vielleicht  auch 
„die  auf  uns  gekommenen  Codices  noch ,  diese  Tabellen  in  einer  Weise  dar- 
gestellt haben,  die  gar  keinen  Zweifel  über  die  Ptolemäische  Auffassung  zu- 
„lie8s,  und  dass  nur  der  ziemlich  grobe  und  ungeschickte  Druck  der  Tabellen 
„in  den  WalbYschcn  Ausgaben  sowohl  vom  Jahre  1682,  ab  auch  von  1699 
„durch  an  sich  ganz  unbedeutende  Ungenauigkeiten  jene  missverstäudliche  Auf- 
fassung verschuldet  habe.  Denkt  man  sich  z.  B.  nur  die  einzige  kleine  Aen- 
„derung  ausgeführt,  dass  die  Verhältnisszahlen  der  Intervalle  tatC'  £~t&'  ir.iv.' 
„u.  s.  w.  nicht  gerade  in  der  Mitte,  sondern  etwas  rechts  zu  den  Swdfxti;  gerückt, 
„so  wäre  es  sogleich  hinreichend  klar,  dass  sowohl  die  Verhältnisszahlen  links, 
„als  auch  die  Tetrachoden-Bezeichnungen  rechts  nur  zu  den  Tonnamen  der 
„Tonarten,  zu  den  fc'jvdfici;  gehören.  Klarer  noch  wäre  dies,  wenn  ein  verti- 
„caler  Strich  in  der  Mitte  diese  Zahlen  von  den  öioei;  trennte;  endlich  ganz 
„anschaulich,  wenn  die  horizontalen  Striche  nach  beiden  Seiten  hin  zugleich 
„durch  ihre  Abstände  von  einander  die  Halb-  und  Ganztöne  veranschaulichten." 


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378 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


In  der  Ausgabe  des  Ptolemäus  giebt  Wallis  auf  p.  152  der  ersten  Ausgabe 
deu  Text: 

\.   Mi£oXu6ig;  tovo;. 


Heoet; 
TrapavTjttj 


TptTT,  oie£. 

« 

Xiyavö;  pis. 
rtap'jTtaTT)  ph.   

j^drri  ia£5.  —  — 
Xtyavö;  jzd- 


ir.il'. 

ir.ix. 

ir.it]'. 

iniH'. 

Awdpci; 

vt,ttj  ou£. 
^apav^-rr)  oie^. 
TpiTTj  SteC- 
^apapiloT) 


teTpdyopäov 


pior, 


Xiyowi;  ja£3. 
-  Ttap  jrdT^  [i£o. 


£3?a>; 


T£Tpd/OpOOV 


  Xi/av.  y-xr. 


zpoaXafxßavo- 


£~tTf)  . 


izv*.'. 


;:otp*j7rxr.  yzaT. 
•jTidtTj  jndT. 

rpoaXojxjj'. 
VfJTYj  oteC- 


rcxpa/opoov 


TETpd/OpOOV 


E3TOJ; 

£37  u>; 


est«; 


Wie  der  Herausgeber  des  Ptolemäus  die  auf  dieser  Tabelle  enthaltene 
thetische  Scala  vom  rpoaXafjißavöuievo;  bis  zur  vTjTtj  y-EpäoXaltDv  versteht,  das 
giebt  derselbe  p.  153  seiner  Interpretation  durch  folgende  Notentabelle  an: 


Niemand  kann  diese  mixolydische  Tabelle  und  die  anderen  seclis  aualogen 
Tabellen  auf  8.  141  ff.  anders  als  der  Herausgeber  verstehen  und  auch  ich 
habe  mir  diese  Interpretation  aneignen  müssen  (vgl.  oben  S.  372).  Auch  mein 
Gegner  würde  sie  in  seiner  Abhandlung  so  wie  Wallis  verstanden  haben,  wenn 
er  sie  ernstlich  hätte  verstehen  wollen.  Aber  er  wollte  nicht.  Er  erklärte  die 
Ptolemäische  Tabelle  des  Wallis'schen  Textes  für  ungenau  und  setzte  folgende 
angeblich  berichtigte  Tabelle  an  deren  Stelle  (S.  IS  seiner  Abhandlung): 


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XIII.  Die  Systeme:  3.  The*is. 


379 


Tpi-aj  j^ef.3o).al<ov 
vtjTTj  oteCe'jYfjtivujv 

TTapyrtärr,  ;x£3(uv 
•j-TäTT,  uiaiuv 

rposXafji^avofjLSvo; 


^.  MtgoAuoio;  tovo;. 


£ni  x'. 

inl  »'. 
£-i  x'. 

_  —  I- 
I 


i-i  »•. 


izi  x'. 


rrspctueaTj 
Xtyavo;  [A23tov 

Xt/avö;  üzcItov 
■»narr,  j^i-rtuv 


TfiTpd/OpOOV 


t4vo; 


teTpd/opfcv* 


.  TCTpa/OpOOV 


£3T(6; 


int  t/. 


tovo; 


67tl  X  . 


rrapsv^Tx  jrep^/.auov 
TptTT^  jnsp^o/.^turv 

VT,Tirj  ■JTtEp^''//.Ctl(OV 


eotoj; 


Tetpd/opSov 


Ich  weiss  nicht,  welche  Vorstellung  mein  Gegner  von  Texteskritik  haben 
mag.  Er  schreibt,  „dass  nur  der  ziemlich  grobe  und  ungeschickte  Druck  der 
Tabellen  in  den  Wallis'schen  Ausgaben  durch  au  sich  ganz  unbedeutende  Un- 
genauigkeiten  jene  missverständliche  Auffassung  verschuldet  habe/4  Grober 
und  ungeschickter  Druck!  Ein  jeder,  der  sich  auf  alte  Drucke  versteht, 
weiss,  das«  mein  Gegner  durch  die  angebliche  „Grobheit  und  Ungeschickt- 
heit*4 (!)  des  Oxforder  Druckes  seine  Umänderung  des  Textes  nicht  motiviren 
durfte.  Er  musste  sich  auf  die  Notiz  des  Herausgebers  verlassen,  dass 
er  im  Text  die  Lesart  der  11  von  ihm  zu  Rathe  gezogenen  Handschriften 
darstellt    zumal  Wallis  die  Abweichungen  der  Handschriften  unter  einander 


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:38t) 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


mittheilt,  dass  z.B.  neben  Tetpayopoov  die  Lesart  otdj Teasiorov  vorkommt,  dass 
er  in  der  Tabelle  des  Awpto;  t<Svo;  dem  retpd/opoov,  für  welches  er  sich  als 
die  ihm  besser  scheinende  Lesart  entscheidet  (ich  hätte  mich  für  oid  Ttoodorov 
entschieden)  noch  die  Zusätze  uratov,  fxiaajv,  oteCcuY,a£v(uv  hinzugefügt  habe, 
was  ziemlich  verkehrt  und  überflüssig  ist.  So  können  wir  uns  denn  wohl  ge- 
statten, die  oben  rechts  in  der  Colurane  von  Wallis  gesetzte  Lesart  „tetpd- 
yopoov"  gegen  die  zweite  dem  Herausgeber  nicht  zusagende  Lesart  „5ii  tss- 
oapcov"  umzutauschen.  Aber  um  dergleichen  Kleinigkeiten  handelt  es  sich 
nicht  bei  meinem  Gegner.  Frischweg  macht  er  an  Stelle  des  im  Ox- 
forder Drucke  überlieferten  Textes  einen  neuen,  den  er  dem 
Leser  als  ächten  Ptolemäischen  Text  octroyiren  möchte,  damit 
nicht  mehr  aus  Ptolemäus  gefolgert  werden  kann,  was  laut  der  11  Hand- 
schriften des  Johannes  Wallis  unbestreitbar  aus  ihm  hervorgeht. 

In  seinem  Eifer  nichts  aufkommen  zu  lassen,  was  die  zu  unserer  Zeit 
gäng  und  gäben  Ansichten  über  griechisches  Melos  umstossen  könne,  jene  An- 
sichten, welche  mit  Boeckh  beginnen  und  in  Bellermanns  Arbeiten  ihren  Ab- 
schluss  finden,  —  in  diesem  Eifer  hat  mein  Gegner  unterlassen  daran  zu 
denken,  dass  Ptolemäus  auch  im  15.  Kapitel  des  2.  Buches  noch  14  andere 
Tabellen  giebt,  die  Ziegler  vor  seiner  so  gänzlichen  Umgestaltung  der  raixoly- 
dischen  Tabelle  nothwendig  hätte  zu  Rathe  ziehen  müssen.  Hätte  er  dies  nicht 
unterlassen,  so  würde  er  sofort  gesehen  haben,  dass  bei  diesen  14  Tabellen  der 
gleichen  Manipulationen,  wie  sie  ihm  bei  der  mixolydischen  Tabellen  beliebten, 
unmöglich  sich  ausführen  lassen.  Denn  sie  sind  so  eingerichtet,  dass  es  ab- 
solut nicht  möglich  ist,  die  von  Ptolemäus  angegebenen  Zahlen  zu  verstellen. 
Unmittelbar  vor  eine  jede  Zahl  hat  hier  Ptolemäus  einen  der  8  ersten  Buch- 
staben des  Alphabetes  gesetzt,  von  denen  ein  jeder  einen  der  8  Klänge  eines 
mixolydischen  Oktachordes  von  der  Nete  bis  zur  Mese  bezeichnen  soll:  *  ist 
die  mixolydische  Nete,  jüf  die  mixolydische  Paranete  u.  s.  f.  bis  zum  Buchstaben  t( 
als  dem  Zeichen  für  die  mixolydische  Mese.  Aus  den  diesen  Buchstaben  bei- 
gefügten Zahlen  lässt  sich  ersehen,  welche  Intervallgrössen  von  den  durch  die 
Buchstaben  bezeichneten  Klängen  nach  der  Meinung  des  Ptolemäus  einge- 
schlossen sein  sollen.  Vgl.  0.  Paul,  Boetius  S.  358—  371.  Aus  einer  Vergleichung 
dieser  14  Tabellen,  welche  Ptolemäus  für  die  thetischen  Oktachorde  aufgestellt 
hat,  mit  den  7  von  ihm  für  die  thetischen  Pentekaidekachordc  aufgestellten 
Tabellen  erkennt  ein  jeder,  welcher  über  die  Puerilia  hinaus  ist. 
dass  ein  Acndcrungs versuch  an  den  letzteren  in  der  von  meinem 
Gegner  vorgenommenen  Umgestaltung  ein  Text-Frevel  allerun- 
sinnigster  Art  ist. 

Hier  wie  auch  an  anderen  Stellen  giebt  Ptolemäus  durch  seine  vorsorg- 
liche Wiederholung  des  nämlichen  Gegenstandes,  denselben  vor  Missverstäud- 
nissen  zu  schützen,  die  sicheren  Kriterien  über  Aechtheit  oder  Versehrtheit 
der  handschriftlichen  Ueberlieferung  seines  Textes.  Ptolemäus  selber  stellt 
auf  diese  Weise  späteren  Erklären»  das  Zeugniss  aus,  ob  er  von  ihnen  richtig 


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XIII.  Die  Systeme:  3.  Thesis. 


381 


oder  unrichtig  verstanden  sei:  dem  alten  Oxforder  Professor  der  Mathematik 
Dr.  Johannes  Wallis  ein  ausserordentlich  günstiges  —  ein  sehr  ungünstiges 
dem  späteren  deutschen  Erklärer,  Gymnasialdirektor  A.  Ziegler. 

Durch  das,  was  ich  noch  ausserdem  aus  Zieglers  Abhandlung,  als  ich  sie 
i.  J.  1866  zum  Zwecke  der  Herausgabe  der  zweiten  Auflage  meiner  griechischen 
Harmonik  durchnahm,  angemerkt  habe,  darf  ich  den  der  Aristoxenischen  ge- 
widmeten Raum  nicht  weiter  beeinträchtigen:  schon  das  Angeführte  stellt  klar 
genug,  was  es  mit  der  Ziegler'schen  Abhandlung  für  eine  Bewandniss  hat. 

Doch  dem  Geiste  des  neunzehnten  Jahrhunderts  scheint  die  sorgsame, 
auf  sachliches  Verständniss  ausgehende  Methode,  in  welcher  der  alte  eng- 
lische Mathematiker  und  zugleich  wacker  geschulte  Philologe  des  siebenzehnten 
Jahrhunderts  den  Ptolemäus  behandelte,  nicht  mehr  zu  behagen:  Friedrich 
Bellerinan,  Ziegler,  Fortlage  (der  nach  mündlicher  Mittheilung  sich  an  Ziegler 
anschlieast),  und  von  den  jüngeren:  Heinrich  Bellermann  (in  der  Polemik  gegen 
0.  Paul's  absolute  Musik),  Dr.  Hugo  Riemann  (Musik-Lexikon),  Joh.  Papa- 
stamatopulos  aus  Aetolien  (Studien  zur  alten  griechischen  Musik.  Jenenser 
Promotionssehrift  1878). 

Um  so  wärmere  Anerkennung  dem  Freunde  Oskar  Paul,  der  zu  einer 
Zeit,  wo  wir  persönlich  uns  noch  völlig  fremd  waren  und  unabhängig  von 
meinem  Vorgange,  in  seiner  „absoluten  Musik  der  Griechen",  die  Ptolemäische 
Onomasie  kata  Thesin  nach  der  Wallis'schen  Interpretation  gleich  mir  ihrer 
langen  Vergessenheit  zu  entreissen  suchte.  Ich  sage,  unabhängig  von  meinem 
Vorgange,  weil  die  grosse  Zahl  der  Uebrigen  entschieden  dafür  spricht,  dass, 
wenn  Paul  nicht  selbständig  durch  den  Ptolemäischcu  Text  auf  dieselbe  Inter- 
pretation wie  Wallis  gekommen  wäre,  er  schwerlich  durch  meine  noch  mangel- 
haft darstellende  griechische  Harmonik  des  Jahres  1863  zu  Wallis  hinüber  ge- 
lenkt wäre.  Oskar  Paul  und  ich,  wir  beide  sind  bis  jetzt  die  einzigen,  welche 
sich  öffentlich  für  Wallis  Interpretation  ausgesprochen  haben;  wir  beide 
sind  Märtyrer  für  dieselbe  gute  Sache,  für  dieselbe  Wahrheit  geworden.  Denn 
wie  mich  um  ihrer  Willen  Herr  Ziegler  angegriffen  und  verketzert  hat,  so  hat 
auch  Oskar  Paul  viel  Leids  um  ihretwillen  durch  Heinrich  Bellermann,  den 
Sohn  Friedrichs,  erdulden  müssen.  1 

Derselbe  macht  der  „absoluten  Musik  der  Griechen"  den  Vorwurf,  dass 
*ie  die  früher  geltende  einfache  und  natürliche  Erklärung  Friedrich  Beller- 
manns in  der  Kürze  wiederzugeben  oder  mit  Gründen  zu  beseitigen  verschmäht 
habe,  —  dass  die  betreffenden  Stellen  des  Ptolemäus  sehr  wohl  in  einem  ent- 
gegengesetzten Sinne  erklärt  werden  können,  wie  dies  neuerdings  von  A.  Ziegler 
in  einer  gründlich  (!)  wissenschaftlichen  Weise  geschehen  sei,  —  dass  ein 
grosser  Theil  der  in  der  absoluten  Harmonik  ausgesprochenen  Lehren  hinfällig 
sei,  falls  die  Westpharsehc  Theorie  nicht  haltbar  sein  sollte  (und  sie  sei  es 
sicherlich  nicht). 

Mit  Entschiedenheit  protestire  ich  gegen  den  Ausdruck  „Wcstphal'schc 
Theorie."    Denn  va  ist  die  200  Jahre  lang  verschollene  Interpretation  des 


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382 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


Jobannes  Wallis  (auch  Friedrich  Bellermann,  der  Vater,  hat  sich  nicht  im 
mindesten  um  sie  gekümmert),  welche  wir  beide,  ich  einerseits,  und  andererseits 
Oskar  Paul  der  Vergessenheit  zu  entziehen  suchten.  Bisher,  scheint  es,  mit 
keinem  Erfolge. 

Doch  weiss  ich,  dass  sich  die  Wahrheit  wohl  auf  eine  Zeit  lang,  aber 
nicht  auf  immer  wird  unterdrücken  lassen,  falls  nicht  das  Interesse  für  die  be- 
treffende Wissensehaft  gänzlich  erlöschen  sollte. 


I 

4. 

Continuirliohe  und  hyperbatisohe,  rationale  und  irrationale 

Systeme. 

Es  ist  S.  345  nachgewiesen,  dass  Aristoxenus  in  diesem  Abschnitte  ausser 
den  drei  Hauptkapiteln:  1.  Schemata  oder  Eide  der  Systeme,  2.  Synthesis  und 
3.  Thesis  der  Systeme  auch  noch  die  in  Abschn.  IV  angekündigte  vierte  und 
sechste  Eintheilung  der  Systeme  definirt  und  weiter  erläutert  haben  muss. 
denn  dort  in  Abschn.  IV  hatte  er  die  betreffende  Eintheilung  nur  dem  Namen 
nach  aufgeführt: 

„Die  Systeme  sind  viertens  dadurch  verschieden,  dass 
„die  einen  durch  ein  irrationales,  die  anderen  durch  ein  ratio  - 
„nalcs  Intervall  begrenzt  werden  

„Sechstens  durch  diejenige  Eintheilung,  nach  welcher 
„die  Systeme  in  continuirliche  und  hyperbata  zerfallen,  denn 
„jedes  System  ist  entweder  ein  continuirliches  oder  ein 
„hyperbaton 

Zu  den  letzten  Worten  des  Abschnittes  IV  sagt  der  Commeutar  Mar- 
quards  S.  243:  „Ueber  den  Unterschied  des  Hyperbaton  und  Continuir- 
liche n  sind  wir  fast  von  allen  Schriftstellern  im  Stiche  gelassen.  Erwähnt 
wird  er  überhaupt  nur  noch  von  Aristides  Quintiiianus  und  dem  Verfasser  der 
Introductio,  aber  weder  der  eine  noch  der  andere  giebt  einen  genügenden  Auf- 
sclüuss.  Aristides  p.  15,  2S  sagt:  td  |/.ev  ?'j?d>v  (seil,  t&v  ovsTTjudTw*)  tj- 
vc/_fj  <üc  x«  Iii  T&v  ^8*iYTtuv»  T*  o'unepßaTd  tu;  rd  Sid  xd>v  y.it  doefcf,;  {ac).u>* 
oojjxcva,  d.  i.  und  die  einen  von  Urnen  (seil,  den  Systemen)  sind  zusammen- 
hängend wie  die,  welche  in  auf  einander  folgenden  Klängen  fortschreiten  — 
und  in  der  Introductio  p.  16,  33  hebst  es:  oe  täv  e£f4;  xat  u-ep-Jaroü  oia- 
copa  otoloei  ouo"rri(uaTa  rd  oid  täv  e;f,;  <f%6ffwv  (xeXw&o-jfjieva  t&v  V  Ore^aiüv 
d.  i.  nach  dem  Unterschied  des  Aufeinanderfolgenden  und  Versetzten  aber 
werden  sich  die  in  aufeinanderfolgenden  Klängen  fortschreitenden  von  den  in 
versetzten  (Klängen  fortschreitenden)  unterscheiden.  In  beiden  Erklärungen 
haben  wir  immer  wieder  dieselben  Worte,  die  gerade  für  uns  der  Erklärung 
bedürfen.  Eiuigen  Anhalt  bietet  uns  natürlich  der  Gegensatz;  dass  ein  stetiges 
System  kein  anderes  sein  könne,  als  z.  B.  dies  e  f  g  a,  ist  klar;  wenn  es  nun 


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XIII.  Die  Systeme:  4.  Contiuuirlichc  und  hyperbatische  etc.  3S3 


aber  heisst,  ein  versetztes  sei  ein  nicht  stetiges,  so  bleiben  der  Möglichkeiten 
sehr  viele,  ja  ihre  Zahl  wächst  stets  mit  dem  Umfange  des  Systems;  also  eiu 
versetztes  wäre  demnach  e  g  f  a  oder  e  a  f  g  oder  bei  grösserem  Umfange 
e  a  f  h  u.  8.  w.  Bei  dem  gänzlichen  Mangel  bestimmterer  Angaben  werden 
wir  uns  mit  dieser  allgemeinen  Vorstellung  begnügen  müssen." 

So  Marquard.   Mehr  weiss  auch  ich  nicht  zu  sagen. 

Für  den  Unterschied  der  rationalen  und  irrationalen  Systeme 
kommt  es  zufolge  der  von  Aristoxonus  w\  IV.  Abschn.  gegebenen  Definition 
auf  die  Beschaffenheit  des  das  System  begrenzenden  Intervalles  an.  Irrationale 
Intervalle  kommen  bloss  in  den  Systemen  des  Chroma  malakon  und  des  Chroma 
hemiolion  vor,  die  übrigen  Tongeschlechter  und  Chroai  enthalten  nur  (gerade 
oder  ungerade)  rationale  Intervalle.  Für  das  Chroma  hemiolion  würden  sich 
also  aus  der  Aristoxenischen  Klassifikation  der  Quarten-,  Quinten-  und  Octaven- 
Eide  folgende  Beispiele  irrationaler  Systeme  ergeben: 

Zweites  Quarten-Eidos         e  f      a  a 

*•  *  *• 

Zweites  Quinten-Eidos         e  f      a     Ii  h 

Fünftes  Octaveu-Eidos         e  ?      a     hhc      e  v. 


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I 


Die  gemischten  und  ungemischten  Tongeschlechter. 

(Mi;t;  täv  y*"«uv). 
Prooünion  §  19. 

Den  Inhalt  dieses  Abschnittes  giebt  Aristoxenus  Prooimion  §  19  (ohne 
alle  Andeutung  über  die  Disposition)  folgendem! aas.sen  an: 

„Sind  die  Systeme  sowohl  nach  jedem  der  Tongeschlechter  wie  nach 
„jedem  ihrer  Unterschiede  aufgezahlt  worden,  so  wird,  da  die  Tonge- 
„schlechter  unter  sich  gemischt  werden,  zu  untersuchen  sein,  auf  welche 
„Weise  dies  letztere  geschieht-  Denn  eben  worin  diese  Mischung  besteht, 
„haben  (die  Früheren)  nicht  eingesehen-" 

Bezüglich  der  Textes -Kritik  ist  hier  nachzutragen,  dass  Marquard  ge- 
schrieben hat:  jjuyvj|a£v<dv  zdXiv  täv  ^evü>v  xau-cö  .  .  .  roiettai  T.pa^iiaxvjxi^.  Er 
bemerkt  im  kritischen  Commentare  S.  116  „Meibom  suchte  dieser  Stelle  durch  Aen- 
derung  des  zotcTtai  in  noieToftat  aufzuhelfen;  allein  der  Ausdruck  wird  dadurch 
nur  grammatisch  zurecht  gerückt,  während  er  dem  Sinne  nach  so  unerträg- 
lich bleibt  wie  vorher.  Was  ungefähr  gesagt  sein  soll,  begreift  man  wohl, 
aber  die  Sache  selbst,  von  welcher  hier  gesprochen  wird,  ist  zu  wenig  aufge- 
klärt (siehe  exeget.  Comm.),  als  dass  sich  der  Text  mit  Sicherheit  herstellen 
Hesse.  Ich  glaube,  dass  vor  rote  trat  Mehreres  ausgefallen  ist,  dessen  Ergän- 
zung ich  bisher  noch  nicht  gefunden  habe".  Nach  meiner  Ansicht  genügt  schon 
eine  Ergänzung  von  anderthalb  Worten.  Durch  das  Verschwinden  von  9  Buch- 
staben ist  aus 

-(ba  tponov)  i-j-o  tojto  rotetxai  ein  xcnxö  xcöxo  n. 

geworden,  die  verstümmelte  Lesart  der  auf  uns  gekommenen  Handschriften. 

Im  exegetischen  Commentare  S.  210  sagt  Marq.  von  der  herangezogenen 
Stelle  des  Prooimions:  „Auch  dieser  Theil  ist  in  den  erhaltenen  Excerpten 
nicht  mehr  behandelt,  und  es  ist  nicht  leicht,  sich  eine  Vorstellung  davon  zu 
macheu,  was  Aristoxenus  eigentlich  gemeint  habe  .  .  .  Offenbar  kommt  es 
darauf  an,  was  unter  dem  Mischen  der  Geschlechter  zu  verstehen  ist." 
Marq.  denkt  zuerst  an  Aristides  p.  29,  wo  die  Mixis  als  ein  Theil  der  Melo- 
poeie  genannt  ist,  —  dann  an  Aristides  p.  9,  Pseudo-Euklid  p.  5,  Pseudo-Niko- 
machus  p.  39,  wo  eine  Aufzahlung  sämmtlicher  überhaupt  im  Umfange  von 


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•  XIV.  Die  gemischten  und  ungemischten  Tongeschleehter.  385 


2  Oktaven  möglicher  Klänge  nach  ihrer  Reihenfolge"  gegeben  wird,  „<pft*r7« 
xa-ri  fJit;tv  t&v  fzum^.4' 

Was  Aristoxenus  unter  dem  Mischen  der  Geschlechter  „eigentlich  ge- 
meint habe",  darüber  giebt  eine  Parallelstelle,  nämlich  §  45  der  zweiten  Harmonik 
Auskunft:  „Jedes  Melos  ist  entweder  1.  ein  diatonisches,  oder  2.  ein  chro- 
matisches, oder  3.  ein  euharinonisches,  oder  4.  ein  aus  diesen  Arten  gemischtes, 
oder  endlich  5.  ein  ihnen  gemeinsames."  Marq.  selber  im  exegetischen  Com- 
mentare  zu  dieser  Stelle  S.  334  sagt  bezüglich  des  gemischten  Melos:  „Eine 
Erklärung  davon  ist  in  den  (Aristoxeuischeni  Exzerpten  nicht  enthalten,  wohl 
aber  in  der  Introductiou."    Pscudo-Euklid  p.  10  giebt  nämlich  die  Definition: 

Ein  bezüglich  der  Tongeschleehter  gemischtes  ist  ein  solches,  in  welchem 
sich  zwei  oder  drei  charakteristische  Eigenthümlichkeiten  verschiedener  Tonge- 
schleehter zeigen,  nämlich: 

1.  des  Diatonon  und  des  Chroma, 

2.  des  Diatonon  und  der  Harmonie, 

3.  des  Chroma  und  der  Harmonie, 

4.  oder  auch  des  Diatonon,  des  Chroma  und  der  Harmonie. 

Die  drei  ersten  Arten  sind  Beispiele  für  die  Mischungen,  in  welchen 
zwei  charakteristische  Eigenheiten  verschiedener  Tongeschlechter  vorkommen, 
die  letzte  für  Mischungen  mit  drei.  Marq.  S.  335  meint:  „ Selbst  ohne  be- 
istimmte Angaben  (des  Pseudo- Euklid)  würde  man  vermutheu,  dass  die  drei 
„Geschlechter  .  .  .  nicht  nur  jedes  für  sich,  sondern  auch  mit  den  andern  ver- 
bunden gebraucht  worden  seien.''  Darauf  construirt  er  Scalen,  welche  den 
vier  von  Pseudo-Euklid  angegebenen  Mischungen  entsprechen: 

1.  ..Das  aus  Diatonon  und  Chroma  gemischte  Geschlecht  inusste 
.jedenfalls  die  für  jedes  charakteristischen  Klänge  fis  und  g  enthalten,  also 

e   fis   g  a. 

2.  „Während  uns  die  vorstehende  Stimmung  sehr  natürlich  erscheint,  ist 
„uns  die  aus  der  Mischung  des  Diatonon  und  der  Enharmonik  ganz  fremd 
„  .  . .  Das  gemischte  Tetrachord  diese'r  Art  kann  nur  so  gestimmt  gewesen  sein 

e   e   g  a. 

3.  „Die  Mischung  des  Chroma  mit  der  Enharmonik  ist  uns  ebenfalls 

fremd 

* 

e    e    fis  a. 

4.  „Die  charakteristischen  Klänge  aller  drei  Ge schlechter  in  einen 
„einzigen  Tetrachord  zu  vereinigen  ist  nicht  möglich  . . .  Entweder  ist  also  auch  (?) 
„diese  Aufstellung  nur  aus  dem  Streben  nach  Vollständigkeit  hervorgegangen, 
„oder  was  sich  sehr  gut  denken  lässt,  die  charakteristischen  Klänge  sind  aut 
„den  Umfang  von  zwei  oder  mehreren  Tetrachorden  vertheilt  gewesen 

Ariitoienu»,  Melik  u.  Rhythmik.  25 


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386 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


- 


e   fis   g   a      h   h   eis  e 

V  V  < 

Chrom,  u.  Diaton.    Enharm.  u.  Chrom. 

„oder  ähnlich." 

Im  Allgemeinen  bin  ich  mit  der  von  Marq.  gegebenen  Construction  der 
vier  Scalen,  welche  der  von  Euklid  überlieferten  vierfachen  Mischungsart  ent- 
sprechen sollen,  durchaus  einverstanden.  Aber  nur  im  Allgemeinen,  im  Ein- 
zelnen nicht.  „Mehr  erfahren  wir  von  Aristoxenus  und  den  Schriftstellern, 
„welche  aus  ihm  geschöpft  haben,  über  diese  Mischungen  der  Geschlechter 
„nicht.  Eingehender  wurden  sie  nach  Aristoxenus  von  Ptolemäus  behandelt. 
„Da  wir  aber  keine  Berechtigung  haben,  die  Angaben  und  Resultate  des  Pto- 
lemäus, wie  Westphal  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  es  thut,  auch  auf  die 
„Zeit  des  Aristoxenus  zu  übertragen,  so  müssen  wir  die  Darstellung  dieser  auf 
„einen  anderen  Ort  versparen.  (Aum.  Westphal  hat  sich  in  diesem  wie  in 
„manchem  anderen  Punkte  zu  sehr  von  dem  Wunsche  positive  Resultate  zu 
„gewinnen  leiten  lassen  und  zu  viel  corabinirt)." 

Marq.  erklärt  S.  389  die  XII.  Prob.  27.  28.  für  unaristoxenisch ,  weil  dort 
eine  Stimmung  angenommen  werde,  wie  etwa  diese 

* 

e   e  g  a, 

,,wovon  wir  sonst  weder  bei  Aristoxenus  selbst  noch  bei  irgend  einem  seiner 
Compilatoren  irgend  eine  Spur  Anden  .  .  .  Hier  eine  Uebereinstimmung  her- 
zustellen, scheint  durchaus  unmöglich;  mit  Aenderungen  kann  auch  nicht  ge- 
holfen werden,  der  Widerspruch  bleibt." 

Wer  ist  hier  mit  sich  in  Widerspruch?  Aristoxenus?  0  nein!  Mar- 
quard  selber.  Marquard  hat  auf  S.  389  gänzlich  vergessen,  was  er  etwa  50  Seiten 
früher,  nämlich  S.  336,  als  Ansicht  des  „Aristoxenus  und  der  Schriftsteller, 
welche  aus  ihm  geschöpft  haben,  über  die  Mischungen  der  Geschlechter*'  ge- 
lehrt hat:  „Das  aus  Chroma  und  Diatonon  gemischte  Tetrachord  kann  nur  so 
gestimmt  gewesen  sein 

e   e  p  a." 

Diesen  verwunderlichen  Widerspruch,  der  seines  Gleichen  nicht  hat,  lässt 
sich  Marq.  zu  Schulden  kommen,  einfach  deswegen,  weil  ihm  entschwunden 
war,  was  er  50  Seiten  früher  richtig  gesagt  hatte.  Die  Aristoxenische  Har- 
monik aber  ist  von  Marq.  mit  Unrecht  des  Widerspruches  beschuldigt.  Denn 
was  Aristox.  XII.  Prob.  27.  28  lehrt,  das  hat  er  schon  vorher  §  57.  58  (nicht  nur 
in  der  zweiten,  sondern  auch  in  der  ersten  Harmonik)  ausgesprochen.  Marq. 
als  Herausgeber  des  Aristoxenischen  Textes  hat  jene  beiden  Stellen  nicht  nur 
drucken  lassen,  sondern  auch  den  Text  durch  Conjectural-Kritik  entschieden 
verbessert  und  richtig  ins  Deutsche  übersetzt;  aber  als  sachlicher  Commentator 
stellt  er  auf's  Entscliiedenste  in  Abrede,  dass  sich  bei  Aristoxenus  auch  nur 
die  geringste  Spur  von  dem  finde,  was  er  doch  selber  herausge- 
geben, emendirt  und  übersetzt  hat. 


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XIV.  Die  gemischten  und  ungemischten  Tongeschlechter. 


387 


Diese  Vergeßlichkeit  hat  sich  mehrfach  an  Marquard  gerficht. 

Denn  hätte  Marq.  jenen  von  ihm  herausgegebenen  und  übersetzten  Ab- 
schnitt nicht  aus  der  Erinnerung  verloren,  so  würde  er  S.  335  sich  gehütet 
haben,  von  der  ersten  der  vier  von  Pseudo- Euklid  genannten  Mischungsarten 
zu  sagen  (wie  analog  auch  von  der  vierten):  „Das  aus  dem  Diatonon  und 
Chroma  gemischten  Tetrachord  müsste  jedenfalls  wie 

e   fis   g  a 

klingen."  Denn  S.  74  hatte  ja  Marq.  eine  Stelle  des  Aristox.  drucken  lassen,  die  er 
ebenda  richtig  folgendennassen  übersetzt:  „Von  den  Intervallen  im  Tetrachord  ist 
„das  zwischen  Hypate  und  Parhypatc  dem  zwischen  Parbypate  und  Lichanos 
„entweder  gleich  oder  es  ist  kleiner,  grösser  aber  niemals."  In  der  Scala 
e  fis  g  a,  welche  nach  Marq.  Euklid's  erste  Mischungsart  erläutern  soll,  ist  das 
tiefste  Intervall  grösser  als  das  zweite,  was  Aristoxenus  nicht  blos  im  All- 
gemeinen durch  jenen  Ausspruch,  sondern  auch  noch  durch  ein  bestimmtes  als 
„ekmelisch"  von  ihm  hingestelltes  Beispiel  (Marq.  S.  76)  entschieden  in  Abrede  stellt. 

Was  die  von  Marq.  über  Ptolemäus  gegebene  Warnung  betrifft,  man 
müsse  sich  hüten,  die  Scalen  des  Ptolemäus  wie  Westphal  auf  Aristoxenus 
zu  übertragen,  so  werde  ich  mich  wohl  nicht  irren,  wenn  ich  annehme,  dass 
die  Lehre  des  Ptolemäus  dem  Gedächtnisse  Marquards  nicht  minder  gänzlich 
entschwunden  war,  wie  das,  was  er  aus  Aristoxenus  über  denselben  Gegen- 
stand (S.  74  seiner  Ausgabe)  hat  abdrucken  lassen.  Denn  sonst  müsste  Mar- 
quard wissen,  dass  genau  die  Hälfte  der  Scalen,  welche  Marq.  zur  Erläuterung 
der  vier  von  Euklides  aufgeführten  Mischungsarten  aufstellt, 
nämlich  die  zweite 

„e   e   g  a" 

und  (doch  ohne  die  oben  angemerkte  Unrichtigkeit!)  die  vierte 
„e   fis   g   a   h    h    eis   e    oder  ähnlich", 

dass  diese  auch  bei  Ptolemäus  unter  den  Scalen  sich  finden,  von  denen  Marq. 
die  Warnung  ausspricht,  man  müsse  sich  hüten,  sie  auf  die  Zeit  des  Aristoxe- 
nus zu  übertragen.  Und  dass  ferner  auch  die  erste  der  vier  Euklides'schen 
Mischungsarten  unter  den  Scalen  des  Ptolemäus  steht,  aber  nicht  so,  wie  sie 
Marq.  unrichtig  angegeben 

e   fis   g  a, 

sondern  so,  wie  Aristoxenus  die  Scala  verlangt,  (vgl.  S.  261  der  vorliegenden 

Ausgabe)  », 

e   e   fis  a. 

Bloss  die  dritte  der  von  Euklid  (nach  Aristoxenus)  aufgestellten  Mischuugs- 
arten,  nämlich  das  enharnionisch-chromatische  Tetrachord  finden  wir  bei  Pto- 
lemäus nicht,  denn  das  Enharmonion,  welches  schon  zu  Aristoxenus  Zeit  von 
den  meisten  Musikern  nicht  mehr  empfunden  wurde,  war  zu  Ptolemäus  Zeit 
ausser  Gebrauch.  Wie  es  Ptolemäus  mit  der  zweiten  Scala  hält,  welche 
nach  Aristoxenus  eine  diatonisch-enharmonische  ist,  darüber  vgl.  unten. 


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388 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


Dann  würde  Marq.  Rocht  haben,  wenn  er  gesagt  hätte:  man  darf  nicht 
jede  der  Aristoxenischen  Scalen  bei  Ptolemäus  wiederfinden  wollen.  Aber  die- 
jenigen Aristoxonus-Sealen,  welche  nun  einmal  auch  von  Ptolemäus  aufgeführt 
werden,  diese  bezüglich  der  Unterschiede  in  den  beiderseitigen  Stimmungs- 
angaben  der  Klange  zu  vergleichen,  dem  darf  sich  der  Forscher  über  antikes 
Melos,  darf  sich  namentlich  der  Exeget  des  Aristoxenus  nicht  entziehen,  denn 
nicht  nur  die  völlig  gleichen  Analogieen  sind  herbeizuziehen,  sondern  auch  die 
Differenzen  zwischen  analogen  Erscheinungen  sind  im  höchsten  Grade  lehrreich. 

Ptolemäus  gilt  nach  gewöhnlicher  Auffassung  als  Gegner  der  Aristoxe- 
nischen Doctrin  der  Harmonik.  Dies  ist  er  auch,  doch  nur  insofern,  als  Pto- 
lemäus bei  den  Bestimmungen  der  Klänge  durch  Zahlen  die  durch  die  Aku- 
stik gefundenen  Schwingungs- Verhältnisse  der  verschiedenen  Klänge,  Aristo- 
xenus dagegen  die  gleichschwebeude  Temperatur  der  Klänge  zu  Grunde  legt. 
Und  eben  hierin  zeigen  sich  die  Differenzen;  in  den  Thatsachen,  welche  sie 
wissenschaftlich  zu  erörtern  suchen,  stimmen  sie  überein.  Wir  dürfen  sagen: 
in  Beziehung  auf  diese  Thatsachen  hat  sich  Ptolemäus  der  Doctrin  des  Aristo- 
xenus angeschlossen,  so  sehr  er  auch  bezüglich  der  Zahlenbestimmungen  gegen 
denselben  polemisirt.  Nur  in  einigen  Punkten  war  die  AristoxenLsche  Doctrin 
durch  die  Veränderung  der  musikalischen  Praxis  zur  Zeit  des  Ptolemäus  anti- 
quirt,  wie  z.  B.  in  der  nicht  mehr  stattfindenden  Anwendung  des  Enharmonions. 

Ferner  zeigt  sich  auch  darin  bezüglich  der  von  beiden  (von  Aristoxenus 
und  Ptolemäus)  behandelten  Thatsachen,  eine  Differenz,  dass  einige  Scalen, 
welche  Aristoxenus  zufolge  dem  Excerpte  des  Pseudo-Euklides  als  Mischungen 
(jM;et;  töjv  -y£vü>v)  ansieht,  von  Ptolemäus  als  ungemischte  aufgefasst  werden. 
Der  Unterschied  der  verschiedenen  Klassifikation  unter  den  gemischten  und 
ungemischten  Scalen  ist  der,  dass  nach  Ptolemäus  eine  Mischung  nur  da  statt- 
findet,  wo  (mit  Marquard  zu  reden)  „die  charakterischen  Klänge  auf  den  Um- 
fang von  mehreren  Tetrachorden  vertheilt  sind",  d.  h.  wo  die  Octave  aus  zwei 
Tetrachordeu  verschiedener  Geschlechter  zusammengesetzt  ist.  Nur  die  vierte 
Kategorie  der  Mischungen,  welche  Pseudo- Euklid  namhaft  macht,  gilt  auch 
bei  Ptolm.  als  Mischung;  die  übrigen  nicht.  Bei  ihm  sind  gemischte  Scalen: 

Mischung  des  Chrotna  syntonon  und  des  Diatonon  toniaion 

21  :  22       11  :  12       6  :  7;       27  :  2«       ~  öTyT 
Mischung  des  Diatonon  malakon  und  des  Diatonon  toniaion: 

20:21       9:10       7:8;       27  :  28       tTs  &Tv»7 
Mischung  des  Diatonon  toniaion  und  des  Diatonon  ditoniaion 

27  :  28       TT«       8  :  9;       243:256       8  :  9       8  :  9; 
Mischung  des  Diatonon  toniaion  und  des  Diatonon  syntonon 

27  :  28       TTs       sT97      15  :  16       8:9       9  :  10; 
dagegen  eine  ungemischte  Scala  ist  die  des  Diatonon  toniaion 

27  :  28       TTh       8  :  9;       27  :  2S       778       8  :  9. 


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XIV.  Diu  gumischten  und  ungemischten  Tongeschlechter.  389 

Woher  bei  Ptolemäus  dem  Aristoxenus  gugenüber  die  Aunderung  in  der 
Xomenclatur  „gemischt",  können  wir  nicht  sagen.  Aber  dem  Aristoxenischen 
Begritie  nach  sind  alle  bei  Ptolemäus  vorkommenden  Tetrachorde  gemischte 
Tetrachorde :  in  jedem  Tetrachorde  kommen  Klänge  vor,  welche  verschiedenen 
Tongeschlechtern  charakteristisch  sind.  Also  in  der  Musik  des  Ptolemäischen 
Zeitalters  waltet  durchaus  der  Gebrauch  von  Tetrachorden  mit  gemischten 
Tongeschluchtern  vor.  Was  Marquard  S.  355  von  dur  Musik-Periode  des 
Aristoxenus  sagt:  „Selbst  ohne  bestimmte  Angaben  würde  man  vermuthen, 
dass  die  drei  Geschlechter  und  besonders  das  diatonische  und  chromatische, 
nicht  nur  judus  für  sich,  sondern  auch  mit  einander  verbunden  gebraucht 
worden  seien",  das  nimmt  Ptolemäus  für  seine  Zeit  aufs  bestimmteste  in  An- 
spruch. Diatonische  Scalen,  deren  Pentachorde  sammtlich  aus  „ix  Ijw  do-jv- 
Netwv  oiaorrijidTrov"  bestehen,  und  chromatische  (und  unharmonische),  deren 
Pentachorde  sämmtlich  aus  „ix  tpt&v  douvbköjv  oiaaTTju.dTtuv4«  bestehen,  wie 
Aristoxeuus  XII  Prob].  27.  28  sich  ausdrückt,  z.  B. 

Diaton.  e  f  g  a  h 
Chrom,   e   f  fis  a  h 

kommen  in  der  Epoche  des  Ptolemäus  in  der  musikalischen  Praxis  nicht  mehr 
anders  als  in  Verbindung  mit  gemischten  Tetrachorden  vor.  Sie  mögen  auch 
zu  Aristoxenus  Zeit  seltener  als  die  diatonischen  Scalen  „ix  Tpiwv  t(  terrdpor/', 
und  als  die  chromatischen  und  unharmonischen  „ix  Terrdptuv"  geweseu  sein, 
von  denen  es  bei  ihm  zweite  Harm.  §  57  heisst:  „xii  yd?  il  -oisj-rai  oiaipiaet; 
-tV/  T.'jxwy*  £fA(jiE)£t;  oa(vovTai".  Mit  anderen  Worten:  Die  Aristoxenische  Zeit 
wandte  Scalen  aus  gemischten  und  Scalen  aus  ungemischten  Tetrachorden  an, 
die  Ptolemäische  Zeit  nur  Scalen  aus  gemischten  Tttrachorden.  Das  Mischen 
nimmt  immer  überhand. 


Ganz  besonderen  Dank  sind  wir  dem  grossen  Mathematiker,  Astronomen, 
Akustiker  und  Geographen  aus  der  Zeit  Marc-Aurels  dafür  schuldig,  dass  er 
verschieden  von  dem  Verfahren  seiner  modernen  Collegen  auf  die  histo- 
rische Darstellung  seiner  Wissenschaft  so  sehr  bedacht  ist  und  uns  in  scaner 
Harmonik  zugleich  den  harmonisch-akustischen  Standpunkt  des  Pythagoras, 
des  Archytas,  des  Eratosthencs ,  (unter  Ptolemäus  Euergetes  und  Epiphanes, 
bis  196  oder  194  v.  Chr.),  des  Klaudios  Didymos  (unter  Kaiser  Nero)  darstellt 
So  erfahren  wir  durch  Ptolemäus,  dass  schon  sein  alter  Vorgänger  in  der 
Mathematik,  Geographie  und  Astronomie  aus  der  Zeit  der  Ptolemäer,  dass  Eratos- 
thenes,  der  gar  nicht  so  viel  jünger  als  Aristoxenus  ist,  bereits  einen  Stand- 
punkt der  praktischen  Musik  voraussetzt,  welcher  von  dem  Aristoxenischen  nicht 
gar  verschieden  ist,  denn  auch  Eratosthenes  berichtet  von  Tetrachord-Stim- 
raungen,  welche  wir  bereits  unter  die  gemischten  zahlen  müssen.  Auch 
schon  Archytas  legt,  merkwürdig  genug,  für  das  Diatonon  die  gemischte  Stim- 


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390 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


mung  des  Aristoxenus  zu  Grunde.  So  muss  ich  denn  die  Warnung  Marquardt 
„die  Angaben  und  Resultate  des  Ptolemäus,  wie  Westphal  bei  verschiedenen 
Gelegenheiten  es  thut,  auch  auf  die  Zeit  des  Aristoxenus  zu  übertragen"  auf 
das  Entschiedenste  zurückweisen.  Nein,  es  ist  Pflicht  für  den  Forscher  alter 
Musik,  es  ist  Pflicht  für  den  Herausgeber  und  Erklärer  des  Aristoxenus,  die 
Aristoxenischen  Angaben  über  die  Tctrachord-Stimmungen  mit  denen  bei  Pto- 
lemäus  vorkommenden  gewissenhaft  zu  vergleichen,  zumal  da  Ptolemäus  nicht 
blos  die  Musik  seiner  Zeit  (der  Zeit  Mark-Aurels)  im  Auge  hat,  sondern  auch 
aus  älteren  Berichterstattern  über  Musik  excerpirt,  welche  der  Aristoxenischen 
Zeit  näher  als  der  seinigen  stehen.  Und  bei  diesen  Berichten  über  Tetrachord- 
Stimmung  sind  dem  Forscher  die  Verschiedenheiten  im  Einzelnen  nicht  minder 
wichtig,  wie  etwaige  Uebcreinstimmung  bezüglich  allgemeiner  Thatsachen. 
Friedrich  Bellermann  hat  auch  dies  Verdienst,  dass  er  in  seiner  Herausgabe 
des  „Anonymus  de  music.  1841"  auf  die  Vergleiche  der  Aristoxenischen  Klang- 
Bestimmungen  mit  denen  des  Archytas,  des  Eratosthenes,  Didymus  und  Ptole- 
mäus energisch  eingegangen  ist  (p.  66  ff.,  besonders  p.  69).  Vgl.  auch  die 
hierauf  bezüglichen  Auseinandersetzungen  in  Bellermanns  „Tonleitern  und 
Musik-Noten  der  Griechen." 

Als  Marquard  davor  warnte,  bezüglich  der  gemischten  Scalen  des  Ari- 
stoxenus zur  Vergleichung  den  Ptolemäus  herbeizuziehen,  da  hatte  er  wohl  auch 
dies  vergessen,  dass  Bellermann  im  Anonymus  und  in  den  griechischen  Ton- 
leitern die  Tetrachord-Bestimmungen  des  Aristoxenus  mit  denen  des  Ptolemäus 
und  der  von  diesen  herbeigezogenen  älteren  Gewehrsmännern  längst  zu  Aristo- 
xenus herbeigezogen  hatte. 

Friedrich  Bellermann  kennt,  wie  schon  früher  bemerkt,  die  Methode 
mit  Hilfe  der  Logarithmen  die  Zahlenangaben  des  Aristoxenus  und  der 
Akustiker  auf  gleiche  Benennung  zu  bringen.  Die  Wurzel -Exponenten, 
welche  sich  aus  der  Aristoxenischen  Anzahl  der  enharmonischen  Diesen  er- 
geben und  ebenso  auch  die  Verhältnisszahleu  der  Akustiker  sind  in  Decimal- 
zahlen  umzuformen.  Nur  auf  diese  Weise  läsnt  sieh  ersehen,  wie  die  Aristoxe- 
nischen Tetrachord-Stimmungen  denen  der  Akustiker  entsprechen  und  wie  sie 
differiren.  Denn  aus  den  gleichnamigen  Tetrachord-Benennungen  der  beider- 
seitigen Quellen  lässt  sich  auf  die  thatsächliche  Gleichheit  der  entsprechenden 
Tetrachorde  noch  keineswegs  ein  Sehluss  machen. 

Wir  haben  schon  oben  bemerkt,  dass  Ptolemäus  von  Aristoxenus  &  igar 
darin  abweicht,  dass  er  den  Begriff  der  „gemischten"  und  der  „ungemischten" 
Scala  anders  fasst.  Die  beiderseitige  Abweichung  in  der  Nomenclatur  der 
einzelnen  Scalen  kennt  auch  Wallis  p.  153:  „Genus  quod  hic  exhibetur, 
e*t  Aristoxeni  Diatonum  intensum  (ouvtovgv),  quod  idem  est  cum  Ptole- 
maei  Diatono  diatonico ".  Ueberhaupt  ist  der  treffliche  englische  Gelehrte 
auch  in  die  Mischungen  des  Ptolemäus  vollständig  eingeweiht;  wir  können 
auch  hier  sachlich  wenig  Neues  beibringen.  Dass  er  auch  hier  die  von  Ptole- 
mäus angewandte  Nomenclatur  der  Klänge  richtig  als  thetische  Onomasie  inter- 


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XIV.  Die  gemischten  und  ungemischten  Tongesehlechter. 


391 


pretirt  hat,  genau  wie  ich  und  Oskar  Paul  es  gethan,  ist  schon  oben  S.  380 
von  mir  gesagt.  Wie  Sehade,  dass  nieht  auch  schon  Friedrich  Bellennann  die 
richtige  thetische  Onomasie  im  Sinne  des  alten  Wallis  gekannt  hat  Ich  hatte 
dann  sicherlich  für  diesen  Abschnitt  wohl  vieles  vorgefunden,  und  mich  man- 
cher mühseligen  Arbeit  nicht  zu  unterziehen  brauchen. 

Wir  geben  nunmehr  eine  Zusammenstellung  der  gemischten  und  unge- 
mischten Tetrachorde  des  Aristoxenus  mit  den  jedesmal  entsprechenden  Scalen 
des  Ptolemäus  und  der  früheren  Akustiker,  ohne  ein  Versuch  wagen  zu  können 
die  von  Aristoxenus  eingehaltene  Disposition  des  Abschnittes  XIV  wiederzu- 
geben. Wie  viel  von  dem,  was  Ptol.  über  den  Gebrauch  seiner  Scalen  angiebt, 
auch  schon  bei  Ar.  vorkam,  das  wissen  wir  ohne  Logarithmen-Rechnung  nicht. 

Auf  S.  259.  260  sind  die  sechs  ungemischten  Tetrachord-Systeme,  welche 
Aristoxenus  statuirt,  zusammengestellt.  Fünf  von  ihnen  haben  je  zwei  ver- 
schiedene Intervallgrössen,  eines  (das  Diatonon  malakon)  hat  deren  drei.  Nimmt 
man  zu  dem  Tetrachorde  noch  den  diazeuktischen  Ganzton  hinzu,  dann  werden 
die  Quarten-Systeme  zu  Quinten-Systemen,  deren  jedes  im  enharmonischen  und 
chromatischen  Geschlechtc  drei  verschiedene  Intervallgrössen,  im  Diatonon  ma- 
lakon deren  vier,  im  Diatonon  toniaion  nur  zwei  enthält. 

In  jedem  Tongeschlechte  giebt  es  höchstens  so  viel  unzusammengesetzte 
Intervallgrössen  wie  in  dem  Quinten-Systeme.  Dafür  hat  Aristoxenus  XII. 
Probl.  6  den  Nachweis  gegeben. 

Ausser  den  sechs  Quarten-  resp.  Quinten-Systemen,  von  denen  ein  jedes 
nicht  nur  einem  und  demselben  Tongeschlechte,  sondern  innerhalb  dieses  Ton 
geschlechtes  auch  einer  und  derselben  Chroa  angehört,  beruft  sich  Aristoxenus 
auch  noch  auf  sechs  andere  Quarten-  resp.  Quinten-Systeme,  in  deren  jedem 
die  charakteristischen  Unterschiede  zweier  verschiedener  Tongeschlechter  oder 
zwei  verschiedener  Chroai  desselben  Tongeschlechtes  vereint  sind.  Diese  letzte- 
ren sind  Systeme  gemischter  Geschlechter  oder  gemischter  Chroai. 

In  dem  kurzen  Exeerpte,  welches  Pseudö-Euklid  aus  dem  die  Mischung 
erörternden  Abschnitte  der  Aristoxenischen  Harmonik  gemacht  hat,  sind  zwei 
Hauptkategorien  der  Mischung  unterschieden: 

I.  Es  findet  in  der  nämlichen  Scala  eine  Mischung  zwei  verschiedener 
Geschlechter  statt:  1.  Diatonou  und  Chroma,  2.  Diatonon  und  Enharmonion, 
3.  Chroma  und.Euharmonium. 

II.  Es  findet  in  der  Scala  eine  Mischung  von  allen  drei  Geschlechtern  statt, 
des  Diatonon,  des  Chroma,  des  Enharmonion.  Unterarten  dieser  zweiten  Ka- 
tegorie hat  Pseudo- Euklid  nicht  angemerkt.  Es  fehlt  nun  offenbar  in  dem  Ex- 
cerpte des  Pseudo-Euklid  eine  dritte  Kategorie  der  Mischungen,  nämlich 

III.  Es  findet  in  der  nämlichen  Scala  eine  Mischung  verschiedener  Chroai 
des  nämlichen  Geschlechtes  statt. 

Von  den  sechs  gemischten  Quarten-  resp.  Quinten-Systemen,  auf  welche 
sich  Aristoxenus  beruft,  gehören  Xr.  1.  2.  4.  5  der  Kategorie  I,  No.  3  und  6 
der  Kategorie  III  an.   Es  sind  folgende: 


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392 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


1.  Chroma  hemiolion  und  Clironia  toniaion. 


-i — 


1  1  2,  1   J,  J  s/  Ii  ... 


2.  Chroma  malakou  und  Chroma  toniaion: 


IrJ  liJ  U  U  J  lij 

„Denn  auch  solche  Tetracliordcüithciliuigen  zeigen  sich  emmelisch4i  Ari- 
*toxenus  S.  261,  §  57. 


3.  Enharmonion  und  Chroma  toniaion: 


Xr. 


lij   liJ   lij   IvJ  Ii/ 


4.  Chroma  hemiolion  und  Diatonon  toniaion: 


vi'J  lij  Ii,)  (rj  (ij 


5.  Chroma  malakou  und  Diatoni  >n  toniaion: 


W  Ii,1  lij  IvJ  UJ 


6.  Euhannonion  und  Diatonon  toniaion: 


f*7 


i  '   h  ■    h  J 


ilj  Ii,.' 


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XIV.  Die  gemischten  und  ungemischten  Tongeschlechter.  393 

Die  Mischungen  Xo.  1.  2.  4.  5  erwähnt  Aristoxenus  selber  in  §  57.  58  der 
(ersten  und)  zweiten  Harmonik,  die  Mischungen  Xo.  3  und  6  nennt  das  Pseudo- 
Euklidißche  Exerpt.  Ausserdem  bezieht  sich  Aristoxenus  auch  im  Abschn.  XII 
Probl.  27  und  28  auf  die  Mischungen  aus  den  verschiedenen  Chroai  des  Chro- 
mas;  ebendaselbst  ist  auch  der  Mischung  Xo.  6  gedacht. 

In  jeder  dieser  sechs  Scalen  ist  die  zweite  Stufe  (die  Parhypatc)  ein  der 
modernen  Musik  fremder  Klang.  Von  den  auch  uns  geläufigen  Klängen  ent- 
halten die  drei  ersten  Scalen  bloss  die  Tonstufen  e  fis  a  h,  die  drei  letzten 
Scalen  die  Tonstufen  e  g  a  h 

Die  sechs  ungemischten  und  die  sechs  gemischten  Scalen  des  Aristoxenus 
bilden  das  gesammte  Material,  welches  uns  aus  den  Aristoxenischen  Werken 
über  die  fju;et;  der  Tongeschlechter  erhalten  ist.  Zur  Vergleichung  muss  her- 
beigezogen werden,  was  bei  Ptolemäus  über  das  enharmonische,  chromatische 
und  diatonische  Tetraehord  1.  des  Archytas,  2.  des  Eratostlu-nes,  3.  des  Di- 
dymus  überliefert  ist,  und  was  Ptolemäus  über  die  von  ihm  selber  constituir- 
ten  Tetrachorde  der  verschiedenen  Tongesehlechter  nach  ihren  Chroai  berichtet. 

ARCHYTAS: 


3 

:  4 

IG  :  15 

Enharmoniou: 

v 

a 

g 

i 

u 

-  — 

-    !*  :  8 

--> 

Chromatikon: 

e 

»  e 

m 

fis 

H 

n 

• 

32  :  27 

1 

Diatoiion: 

<■ 

1?  e 

f 

I 

a 

ERATOSTHENES: 

Enharmoniou: 

e 

n 

f 

tt 

a 

10  :  !♦ 

Chromatikon: 

e 

tt 

fis 

s 

a 

Diatonon : 

e 

32  :  27 

m  f 

f 

u 

■ 

DIDYMUS: 

.-  — 

ib  :  10 

Enharmoniou: 

e 

H  • 

u 

f 

i 

a 

Chromatikon: 

(  

e 

10  :  9 

H  f 

äi 

fis 

S 

a 

Diatouon: 

e 

32  :  27 

tt  ( 

V 

g 

s 

a 

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394 


4 

Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


PTOLEMAEUS: 

 16  :  15  - 


Enharmonion :        e      f$      e  if       *  f 

^_ — ~  10  :  9   4 

Chro.  malakon:      e      |j      e  |J     fis  J 

 8  :  7   * 

syntonon:      e  e  f}     fis  J 


  7  :  6   • 

Diat  malakon:       e      $      e      \f>     fis      f  a 

  32  :  27  — — 

+ 

toniaion:       e      |f      e       f      g      f  a 

'   32  :  27  ~ > 

ditoniaion:     e     |}}      f      |      g      |  a 

'   32  :  27   

syntonon:      e      }|j      f       §       g      \p  a 

5  :  6  * 

homaton:       e      {f       f      }J      g     ^0  a 

Wie  es  sich  mit  den  von  Archytas,  Eratosthenee,  Didymus  aufgestellten 
Tetrachordeintheilungen  bezüglich  ihrer  praktischen  Verwendung  verhielt,  dar- 
über ist  bei  Ptolemäus  nichts  überliefert.  Bezüglich  der  von  ihm  selber  auf- 
gestellten erläutert  Ptolcmäus  die  Verwendung  mit  einer  in  dem  Eingehen  auf 
Specialitäten  für  das  Alterthum  fast  beispiellosen  Gewissenhaftigkeit.  Für 
jede  der  sieben  Octavengattungen  stellt  er  zwei  Tabellen  (xaviSve;)  auf,  die 
eine  dizb  vrjrr;;,  die  andere  dizb  [xIct^.  Au  dem  rechten  Bande  eines  jeden 
Kanon  stehen  die  acht  Klange  der  Octave,  angedeutet  durch  die  acht  ersten 
Buchstaben  im  Alphabet:  a  bedeutet  je  nach  der  Ueberschrift  dr.b  vr/nr,;  oder 
drzb  utar^  entweder  die  Ncte  oder  die  Mcse  —  natürlich  nach  der  XIII,  3 
auseinandergesetzten  thetischen  Onomasie.   Die  14  xavive«  sind: 

Kav.  a.  Mi;oXu$iau  dr.b  vf,rrj;  Kav.  yj'.  Mt|o).'j?>iO'j  drö  jxeTr;; 

Kav.       A'jOioj  irJj  vf(TT(;  Kav.       Aub'wj  dzb  fi£<n;; 

Kav.  y'.  ^ojyIou  dr.b  v^-Yj;  Kav.  i.   «Dpufiou  dr.b  }*£air); 

Kav.  h'.  Aajplou  dnb  vTjTT^;  Kav.  ta'.  Aiupiov»  dnb  fjiorj; 

Kav.  e'.  'YsoXy&fo'j  4-6  vf^r/jc  Kav.  i.^  .  TttoX  joIou  dr.b  hegt,; 

Kav.  ;'.  'X-'jypjflrsj  dr.b  vfjTTj;  Kav.  if'.'Tr.Qypvf'wj  dr.b  plar^ 

Kav.      'T^oimpioy  drc6  vtjrr;;  Kav.      'VrcoSoipfou  dzö  jjtecr,;. 

In  jedem  Kanon  grenzt  Ptolemäus  fünf  oeXioia  oder  Columnen  ab,  für 
die  S.  388  angegebeneu  fünf  Mischungen.  Columnen  für  das  Enharmion,  für  das 
Ghroma  malakon  und  das  ungemischte  regelmässige  Diatonon  sind  durchgängig 
ausgelassen,  wonach  wir  anzunehmen  haben,  dass  diese  zu  Ptolemäus  Zeit  in  der 
Musik  ungebräuchlich  oder  doch  weniger  gebräuchlich  waren. 


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XIV.  Die  gemischten  und  ungemischten  Tongeschlechter.  395 


Ii.  IT.  f  |;        f.  8 

»  ?•  !•  I;  1?.  ».  I 

8.  ii  1*  i;   Hi>  8,  1 

lf>     ?>     1>    §5     {$»    I»  V* 

Für  die  acht  Klänge  der  Octaven  sind  in  jedem  Sclidion  betreffende 
Zahlen  angesetzt:  für  den  höchsten  die  Zahl  60,  für  den  tiefsten  die  Zahl  120; 
für  die  übrigen  Klänge  ist  von  ihm  die  jedesmalige  Zahl  nach  den  in  der 
Generalübersicht  S.  391  angegebeneu  Quotienten  ausgerechnet,  wobei  etwa 
sich  ergebenden  Bruclizahlen  nach  dem  von  den  Babyloniern  entlehnten  Sexa- 
gesimal-Systoine  bestimmt  werden  (heutzutage  wird  dasselbe  in  den  Zeitbestim- 
mungen der  Stunde  60  Minuten,  60  Secunden  u.  s.  w.  angewandt.  S.  Hanke 
zur  Geschichte  der  Mathematik  1874).  Wenn  nun  Ptolemäus  die  Anzahl  der 
Sechszigstel  angiebt,  so  begnügt  er  sich  dabei  mit  der  ungefähren  Zahl,  ähn- 
lich wie  es  von  uns  bei  deu  Deeimalbrüchcn  geschieht. 

- 

So  ist  tue  Beschaffenheit  der  Tabellen,  auf  welche  Ptolemäus  bei  seinen 
jezt  kürzlich  zu  besprechenden  Erörterungen  fortwährend  recurrirt.  Diese  Er- 
örterungen macht  Ptolemäus  zweimal,  nämlich  1,16  und  2,16.  In  der  ersten  Stelle 
geht  er  von  den  verschiedeneu  Kategorien  der  diatonischen  (chromatischen) 
Stiinmungsarteu  aus  (vgl.  oben  S.  38$),  uud  erörtert  dann,  in  welcher  der  bei 
den  Lyroden  und  Kitharoden  üblichen  Melopoeiearten  unter  Anführung  der 
diesen  eigenen  Termini  techniei  eine  jede  Stimmungsart  vorkommt.  In  der 
zweiten  Stelle  nimmt  Ptolemäus  die  verschiedenen  bei  den  Lyroden  und  den 
Kitharoden  üblichen  Musikgattungen  zum  Ausgangspunkte  und  führt  dann  aus, 
in  welcher  Stimmungsart  eine  jede  lyrodische  und  kitharodische  Melpoeiegattung 
ausgeführt  wird. 

Der  sachliche  Inhalt  beider  Stellen  1,16  und  2,16  ist  selbstverständlich 
derselbe:  das  Xämliche  ist  in  anderer  Form  noch  zum  zweiten  Mal  gesagt. 
Doch  sind  wir  dem  Ptolemäus  für  die  Wiederholung  zum  Danke  verpflichtet, 
denn  gerade  hier  ist  die  handschriftliche  Ueberlicferung  keine  ganz  genaue  und 
die  falschen  Lesarten  des  Textes  können,  wenn  auch  so  noch  einige  Dunkel- 
heiten bleiben,  durch  den  zweimaligen  Bericht  rectificirt  werden.  Dies  ist  ge- 
schehen in  meiner  griechischen  Harmonik  1867,  S.  439.  440.  Der  kritische 
Standpunkt  des  Herrn  Johannes  Papastamatopulos  aus  Aetolien,  (vgl.  oben 
S.  3811,  welcher  dies  nicht  gelten  lassen  will,  ist  mir  unfassbar. 


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390 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


Unter  den  Lyroilen,  von  welchen  Ptolemäus  redet,  sind  die  irgend  eine 
Melodie  auf  einem  Saiteninstrumente  accompagirenden  Iustnunentalisteu  zu 
verstellen,  unter  den  Kitharoden  die  sieh  selber  mit  der  Kithara  begleitenden 
Virtuosen  des  Sologesanges. 

In  der  Musik  der  Lyroden  und  der  Kitharoden  im  Ptolemäischen  Zeit- 
alter bildet  das  sogenannte  Diatonon  toniaion  die  allerhäufigstc  Seala.  Die 
Bezeichnung  toniaion  hat  einen  anderen  Sinn  als  bei  Aristoxenus  (vgl.  S.  390): 
sie  bedeutet  „einen  Gauzton  9  s  enthaltend'*  im  Gegensatz  zum  Ditoniaion 
(„mit  zwei  Ganztönen 

Die  Lybodex  haben  nach  Ptulemäus  zwei  Arten  der  Melopoeie;  die  eine 
begreift  die  sogenannten  Sterea  d.i.  die  harten  Comp« »sitionsarten,  die  andere 
die  sogenannten  Malaka  d.i.  die  weichen.  Für  die  Sterea  wird  da«  Diatonon 
toniaion  irgend  einer  Octavengattung,  für  die  Malaka  die  Mischung  des  Dia- 
tonon toniaion  mit  dem  Chroma  malakon  (so  ist  die  Lesart  der  Handscliriften 
nach  griech.  Harm.  1867,  S.  439.  zu  emeudireni  gewählt. 

Die  Melopoeie- Arten  der  Kitharoden  sind  nach  Ptolemäus  folgende: 

1.  die  sog.  Tritai  in  dem  Diatonon  toniaion  der  Hypodorischen  Octaven- 

gattung, 

2.  die  sog.  Hypertropa  im  Phrygischen  Diatonon  toniaion, 

3.  die  sog.  Parhypatai  in  der  Mischung  de*  malakon  Diatouon  der 

Dorischen  Octavengattung, 

4.  die  sog.  Tropoi  in  der  Mischung  des  Chroma  syntonon  der  Ilypo- 

dorischen  Octavengattung, 

5.  die  sog.  jlastiaioliaia  in  der  Mischung  des  Diatonon  toniaion  der 

Hypophrygischen  Octavengattung. 

Aus  dein  Vergleiche  der  Aristoxenischen  Scalen  mit  den  von  den  übrigen 
Gewährsmännern  aufgestellten  wird,  denke  ich,  sich  die  Berechtigung  der  Ansicht 
des  alten  Meibom  gegenüber  der  Bellermannsehen  ergeben,  wenn  jeuer  zur  ersten 
Aristoxenischen  Harmonik  XII,  Probl.  3*)  gelegentlich  der  Worte  „w;  izt 
w>>.i"  die  Bemerkimg  macht:  „An  hoe  non  arguit,  fre4uentissimum  fuisse  Ari- 
stoxeui  tempore  usum  tum  cnannonii  «juum  chromaticonmi  colorum?  Certe 
solius  theoriae  et  doctrinae  gratia  hoc  illum  non  dicere  loca  pln- 
rima  ostendere  possint.*'  Es  ist  beinahe  so.  als  ob  hier  Bellermann,  welcher 
die  Chroai  für  eitel  theoretische  Speculation  des  Aristoxenus,  die  aller  prak- 
tischen Grundlage  entbehre,  erklärt,  der  früher  lebende  und  Meibom  der 
spätere,  in  diesen  Dingen  gewissenhaftere  Forscher  gewesen  sei.  Wir  müssen 


*)  Für  die  Interpretation  dieses  Problems  habe  ich  es  oben  S.  267  bei 
der  Marquard'schen  Erläuterung  bewenden  lassen;  doch  sehe  ich  jetzt  wohl 
ein,  dass  dieselbe  ungenügend  ist.  Vielmehr  muss  ich  jenes  Problem  des 
XII.  Abschn.  der  ersten  Harmonik  auf  einen  analogen  Satz  bezieben,  wie 
Probl.  27.  28  im  XII.  Abschn.  der  zweiten  Harmonik.  Doch  würde  e«  hier 
nicht  am  Orte  sein,  das  oben  Versäumte  nachzutragen. 


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XIV.  Die  gemischten  und  ungemischten  Tongeschlechter.  397 

hier  ganz  und  gar  auf  die  Seite  Meiboms  treten,  wenn  uns  auch  für  viele 
Punkte  nicht  minder  ab  diesem  ersten  Begründer  des  wissenschaftlichen  Stu- 
diums antiker  Musik  die  Erklärung  fehlt.  Der  Vergleich  des  Aristoxenus  mit 
Ptolemäus  u.  s.  w.  wird  zeigen,  dass  die  praktische  Anwendung  der  Chroai 
immer  mehr  zunimmt. 

Um  nun  aber  die  Aristoxenischen  Angaben  mit  denen  des  Arehytas, 
Ptolemäus  u.  s.  w.  vergleichen  zu  können,  müssen  wir  die  von  diesen  letzteren 
angegebenen  Zahlen  mit  den  Aristoxenischen  auf  gleiche  Benennung  bringen. 
Da^s  dies  mit  Hülfe  der  Logarithmen-Rechnung  auszuführen  ist,  weiss  auch 
Friedrich  Bellermann  (vgl.  obenl.    Die  Formel  ist  z.  B.  für  die  Zahl  Jf 

24  24 

K  46       V»   ,               log.  1.02222 
log.  45  =  log.  1,02222  -  >—  

Die  jetzt  folgende  übersichtliche  Vergleichung  der  Aristoxenisehen  Scalen 
mit  denen  der  Akustiker,  in  welcher  R  =  *fr  ,  haben  wir  nach  folgenden  Ka- 
tegorien anzuordnen:  4 

I.  Scalen,  in  welchen  alle  Kliinge  unserer  modernen  Diatonik  enthal- 
ten sind. 

II.  Scalen,  in  welchen  der  diatonische  Klang  f  fehlt. 

III.  Scalen,  in  welchen  der  diatonische  Klang  g  ausgelassen  ist. 

IV.  Die  chromatischen  Scalen  der  Alten,  d.  i.  solche,  in  denen  der  diato- 

nische Klang  g  oder  gis  ausgelassen  ist. 
Iu  den  Scalen  der  zweiten,  dritten  und  vierten  Kategorie  ist  jedesmal  da, 
wo  die  Auslassung  eines  Klanges  der  diatonischen  Tonleiter  stattfindet,  ein 
..leiter fremder*'  Klang,  welcher  der  modernen  Musik  unbekannt  ist,  einge- 
schaltet. 

Wie  schon  früher  bemerkt,  weisen  die  griechischen  Scalen  so  vieles 
Fremdartige  auf,  für  welches  es  in  der  moderneu  Musik  durchaus  keine  Analogie 
giebt,  enthalten  so  viele  Klänge,  die  unser  Ohr  als  musikalische  Klänge  nie- 
mals gehört  hat  und  von  deren  Wirkung  wir  uns  keine  Vorstellung  machen 
können,  dass  wir  unsere  Werthschätzung  des  griechischen  Melos  sehr  herab- 
zustimmen geneigt  sein  möchten.  Es  ist  dies  genau  so  wie  es  A.  Ziegler  im  Ein- 
gänge des  gegen  mich  gerichteten  Aufsatzes  sagt.  Ich  sage,  dass  man  in  dieser 
Frage  weiter  sein  würde,  wenn  man  auf  Grundlage  der  Wallis'schen  Auffas- 
sung von  der  thetischen  Onomasie  ausgehend  energisch  weiter  gearbeitet  hätte. 

Ein  günstiges  Geschick  hat  es  gewollt,  dass  wir  über  den  historischen 
Ausgangspunkt  jener  uns  so  fremden  Klänge  der  griechischen  Musik  durch 
die  Zeugnisse  des  Aristoxenus  unterrichtet  sein  sollten.  Er  besteht  darin,  dass 
sich  die  archaische  Musikj)eriode  der  Hellenen  bestimmter  Scalen-Klänge  für 
die  Melodie  enthielt,  während  dieselben  der  gleichzeitigen  Instru- 
mentalbegleitung nicht  fehlten.  Es  hat  dies  Aehnlichkeit  mit  der  That- 
sache,  dass  sich  z.  B.  die  nationale  Musik  Schottlands  (die  gaelischen  Volks- 


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398 


Aristoxeuus  zweite  Harmonik. 


lieder  i  der  Quarte  oder  der  Septime  enthält,  oder  dass  den  Moll-Gesäugen  des 
russischen  Landvolkes  (hier  freilich  auch  in  den  begleitenden  Stimmen)  der 
Leitton  fehlt. 

Zunächst  sind  zwei  Thatsachen  der  archaischen  Musik-Periode  (Terpander 
und  Olympos)  hierher  zu  ziehen.  Sie  bestehen  darin,  dass  in  der  Musik  der 
Kithara  (Terpanders)  der  das  Hemitonion  des  Tetrachordes  nach  oben  begren- 
zende Klang  ausgelassen  wurde;  in  der  Aulos-Musik  (Olympos)  der  auf  das 
Hemitonion  folgende  Klang.  Die  Transpositions-Scala  ohne  Vorzeichnung  vor- 
ausgesetzt, wurde  also  im  Gesänge  der  Kitharoden  der  Ton  f  oder  c  ohne  Ver- 
wendung gelassen: 

e   [f]   g   a   h    [c]  d  e 
in  den  Melodien  der  Auleten  und  Auloden  der  Ton  g  oder  d: 

e   f  [g]   a   h   c   [d]  e. 

Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  sind  es  die  gemischten  Tiscligespräche  des 
Aristoxeuus  (vgl.  unten),  aus  welchen  Flntarch  in  seinem  Dialoge  über  die 
Musik  18—21  jene  so  unvergleichlich  werthvollen  Nachrichten  entnommen  hat. 

I. 

Vollständiges  (ungemischtes)  Diatotion, 


Aristoxcnus 
„Diatonon  touiaion" 


Pythag.  Eratosth.  „Diaton." 
Ptol.  „Diaton.  ditoniaion" 


Ptol.  „Diatonon  syntonon"; 
ähnlich  Didym.  „Diatonon'.- 


h  Ru 
a  R»° 
g  R° 
f  R7 
e  Ro 


P  14  03P10 
R»  P00»00 

R  1  804S50 
RO 


=  3 

=  8 


T>  I«  01910 
f 

R  ^«60800 


J 


=  1 


Obwohl  die  Musikreste  der  Kaiserzeit  (zufolge  der  bis  jetzt  geltenden  Ent- 
zifferung) als  Melopoeien  der  ungemischten  diatonischen  Scala  gelten,  so  ist 
doch  bei  Ptolemäus  von  solchen  Melopoeien  keine  Rede,  er  giebt  nur  Beispiele 
des  gemischten  Diatonon.  Tetrachorde  des  reinen  d.  h.  auch  bei  uns  gebräuch- 
lichen Diatonon  sind  bei  Ptolemäus  stets  mit  einem  heterogenen  Tetrachorde 
zu  einer  Mischung  vereint.  Und  zwar  ist  es  eine  doppelte  Form  des  diatonischen 
Tetrachordes,  welche  nach  Ptolemäus  zu  derartiger  Mischung  gebraucht  wird. 
1.  ein  Diatonon,  in  welchem  es  zwei  verschiedene  Ganztöne,  den  grossen  und 
und  den  Ideinen  Ganzton  giebt,  ein  Unterschied,  der  sich  zuerst  bei  Didymus 


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XIV.  Die  gemischten  und  ungemischten  Tongeschlechter.  399 


findet,  freilich  so,  dass  der  kleine  vor  dem  grossen  steht.  2.  ein  Diatonon,  in 
welchem  der  eine  Ganzton  genau  dieselbe  Grösse  wie  der  andere  hat.  Die  Auf- 
stellung dieses  Diatonons  wird  dem  alten  Pythagoras  zugeschrieben;  bei  Ptolem. 
heisst  dasselbe  „üiatonon  ditoniaion",  d.  i.  das  aus  zwei  (grossen)  Ganztönen 
8  :  9  gebildete  Diatonon.  Das  andere,  in  welchem  grosser  und  kleiner  Ganz- 
tou  (6  :  9  und  9  :  10)  abwechseln,  wird  von  Ptolemäus  „Diatonon  syntonon" 
genannt,  d.  i.  höheres  Diatonon :  die  grosse  Terze  g  ist  höher  als  der  gleichna- 
mige Klang  des  Pythagoreischen. 

Das  Diatonon  syntonon  stimmt  genau  mit  der  natürlichen  diatonischen 
bcala  unserer  Streichinstrumente  überein ;  es  steht  zu  vermuthen,  dass  das  nur 
gleich  grosse  Ganztonintervalle  enthaltende  Diatonon  des  Ptolemäus  mit  dem 
des  Aristoxenus  identisch  Ist:  es  ist  das  Diatonon  der  gleich  schwebenden 
Temperatur  (oben  S.  252). 

Das  Diatonon  des  Pythagoras  kommt,  wie  Ptolemäus  angiebt,  in  den 
die  Benennung  „Jastiaioliaia"  führenden  Melopoeien  der  Kitharoden  vor,  in 
welchen  es  mit  dem  heterogenen  Tetrachorde  des  sogenannten  Diatonon  to- 
niaion  gemischt  ist  und  zwar  für  die  Hypophrygische  oder  Jastische  Octaven- 
gattung. 

gahedeeg 

V  .   ,    )  V  1   /\  .  v  /  •  .  ✓  .  ' 

8  :  9  8  :  9     243  :  256     8  :  9         8  :  9       27  :  28  7:8 

Auch  für  die  Mischung  des  Diatonon  syntonon  mit  dem  nämlichen  Dia- 
tonon toniaion  stellt  Ptolemäus  für  jede  seiner  Octavengattungen  ein  Selidion 
auf,  aber  der  überlieferte  Text  läset  nicht  mehr  erkennen,  in  welcher  Art  von 
Melopoeie  diese  Mischung  im  Gebrauche  ist    Resigniren  wir  darauf! 


II. 

Auslassung  des  diatonischen  Klanges  g» 


a.  Enharmonion  b.  Diatonon  malakon 


iles  Aristox.     des  Archytas  1  des  Ptolemäus 

• 

des  Aristox. 

des  Ptolemäus 

i 

h  Ru           h  R»V3'10 
a  R'°          a  Ry«°»oo 

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a  RVM900 
fis  RV"4M 
e*  R1,09""4 
c  R° 

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400 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


a.  Enhartnonion, 

Obwohl  Aristoxenus  das  Enharmonion  an  die  erste  Stelle  der  drei  Klang- 
geschleehter  zu  setzen  pflegt,  so  hat  er  doch  kein  Hehl,  dass  es  zu  seiner  Zeit 
schon  fast  völlig  erloschen  ist.  Er  sagt  darüber  iu  der  ersten  Harmonik  §  52: 
„Dass  es  nämlich  eine  Compositionsweise  l  Melopoeie)  giebt,  welcher  eine  mit  der 
„Mese  einen  Ditonos  bildende  Lichauos  unerlasslich  ist,  ist  den  meisten  von  denen, 
„welche  sich  heut  zu  Tage  mit  Musik  beschäftigen,  nicht  bekannt,  doch  dürfte  es 
,.ihncn  bekannt  werden,  wenn  man  sie  darauf  hinführte;  denjenigen  ist  es  aber 
„hinlänglich  klar,  welche  mit  den  alten  Compositionsweisen  der  ersten  und 
„zweiten  Musikperiode  vertraut  sind.  Denn  die  bloss  an  die  heutige  Compo- 
sitionsweise gewohnten  schlicssen  natürlich  die  mit  der  Mese  einen  Ditonos 
„bildende  Lichanos  aus  (es  sind  dies  die  ineisten  unserer  modernen  Musiker) 
„und  wenden  statt  deren  stets  höhere  Lichanoi  an.  Der  Grund  davon  ist,  dass 
„sie  eine  Vorliebe  für  das  Weichliehe  [Stissliche]  haben;  verweilen  sie  doch  die 
„längste  Zeit  im  Chroma,  und  wenn  sie  einmal  in  die  Harmonik  hineingerät hen, 
„so  nahern  sie  dieselbe  dem  Chroma  an,  wohin  sie  nun  einmal  durch  ihren 
„Charakter  gezogen  werden." 

Genauer  handelt  darüber  die  cla-ssische  Stelle  in  den  gemischten  Tisch- 
gesprächen Plut.  de  mus.  11  uud  37,  das  enharmonische  Klanggeschlecht  sei 
dadurch  aufgekommen,  dass  der  alte  Aulet  Olympus  den  diatonischen  Klang  g 

  * 

ausgelassen  habe,  der  eigenartige  leiterfremde  Ton  des  Enharmonions  scheine 
aber  dem  Olympus  noch  unbekannt  gewesen  zu  sein.  Man  vergleiche  zunäclist 
die  angegebenen  Partieen  der  gemischten  Tischgespräche. 

In  der  gesammten  Musiksehriftstellcrei  des  Alterthums  finden  wir  nicht 
eine  einzige  so  zusammenhängende  musikgeschichtliche  Darstellung  wie  in  den 
Aristoxenischen  Berichten  über  das  erste  Aufkommen,  die  spätere  historische  Ge- 
staltung und  das  Erlöschen  unseres  Klanggeschlechtes.  Der  Ursprung  hat  in  der 
Besorgtheit  um  das  Ethos  der  Musik,  welches  die  Hauptvertreter  der  archai- 
schen Periode  ausgezeichnet  habe,  seinen  Grund.  Es  ist  der  „schöne  Typus*' 
der  Musik,  der  edle  Styl,  welcher  es  hervorgerufen  hat.  Im  weiteren  Ver- 
laufe der  Entwickelung  kommt  zwar  noch  der  Viertelton  hinzu,  von  welchem  uns 
einzusehen  unmöglich  ist,  wie  er  mit  der  ursprünglichen  Vereinfachung  der 
Scala  in  einem  Zusammenhange  steht,  ja,  den  wir  vom  Standpunkt«  der 
Beschaflenheit  unserer  modernen  Musik  aus  absolut  nicht  begreifen  können. 
Aber  Aristoxenus  muss  doch  wohl  auch  dies  im  Laufe  der  historischen  Ent- 
wickelung hinzugekommene  Moment  nicht  für  Ueberschreitung  des  schönen 
und  edlen  Musikstyles  halten,  sonst  hätte  er  das  Erlöschen  in  der  praktischen 
Musik  seiner  Zeit  nicht  so  sehr  beklagt,  wie  er  es  erste  Harmonik  §  52  und 
in  dem  Fragmente  bei  Plutarch  gethan  hat. 

Ueber  die  alte  Scala  des  Olympus  Folgendes: 

Das  Tetrachord  hat  zwar,  wie  sein  Name  besagt,  gewöhnlich  vier  Klänge 
(Aristox.  erste  Harm.  §  50).  Aber  es  kommt  auch  vor,  dass  es  nur  drei  Klänge 


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XIV.  Die  gemischten  und  ungemischten  Tongeschlechter. 


401 


enthält.  Dies  letztere  ist  die  Grundlage  derjenigen  Melos-Art,  welche  Aristox. 
zweite  Harm.  §  45  neben  den  drei  ungemischten  und  der  gemischten  als  fünfte 
aniUhrt. 


1.  Aidtovov  e  f 

2.  .XpcufAaTtxov  e  f 

3.  'Evapjxovtov  e  e  f 

4.  Mtxtov  z.  B.  e  e 

5.  Kotvov  e  f 


fis 


a 
a 
a 
a 
a 


Bellermann  im  Anonymus  p.  63  bemüht  sich  an  einem  Beispiele  zu  zeigen, 
wie  sich  aus  der  alten  Harmonik  d.  i.  dem  Koinon  des  Olympus  das  spätere 
Enharmoiiion  herausgebildet  hat,  z.  B.  aus  einer  die  Olympische  Verein- 
fachung der  Moll-Scala  darstellenden  (die  Klänge  g  und  d  unbenutzt  lassenden) 
Periode 


-«=-=) 

sei  zuerst  folgende  geworden 


dann  mit  Einschaltung  der  leiterfremden  Klänge  n  und  e 


3* 


IE!-. 


^3 


_L1 


Bellermann  fügt  hinzu:  „Atque  haec  sane  erat  depravatio  veteris  sim- 
plicis  musices,  cuius  simile  aliquid  non  raro  hodie  audire  a  cantoribus  et 
cantricibus  cogimur,  quum  vicinos  melodiae  sonos  interiacentibus  voce  perme- 
andis  coniungunt.  Itaque  quae  diatonica  tetrachorda  hos  habebant  sonos:  para- 
mesen,  triten.  paraneten,  neten,  omissa  ab  Olympo  paranete,  his  tantum  ute- 
bantur:  paramese,  tritc,  nete.  Deinde  vero  interiectus  intra  paramesen  et  triten 
sonus  ipse  trites  nomen  accepit,  unde  quae  trite  et  diatonici  et  Olympiaui  ge- 
ueris  fuerat,  paranete  vocabatur,  ut  recentioris  enarmonii  chordae  iisdem  qui- 
bus  diatonii  signarentur:  paramese,  trite,  paranete,  mese. 

Dem  entgegne  ich: 

Eine  depravatio  veteris  simplices  musices,  welche  der  Manier  unserer 
Sänger  und  Sängerinnen  zu  vergleichen  sei,  wenn  sie  von  einem  Tone  zum 
anderen  durchschleifen,  durfte  Bellennann  diese  besondere  Gestaltung  des 

Ariitoienua,  Melik  u.  Rhythmik.  26 


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402  Aristoxenus  zweite  Harmonik. 

• 

Enharmonions  auf  Grundlage  des  alten  Olympischeu  nicht  nennen,  wenn  er 
anders  den  Bericht  des  Aristoxenus  beachten  wollte.  Denn  schon  zur  Zeit  des 
Aristoxenus  ist  dies  Enharmonion,  wenn  auch  noch  nicht  vollständig  erloschen, 
doch  schon  sehr  im  Erlöschen  begriffen.  Man  kann  also  nicht  sagen,  dass  es 
eine  Neuerung  späterer  Zeit  sei  Und  Aristoxenus  bedauert  das  Verschwinden 
dieser  Melos-Gattung:  er  möchte  gern,  wenn  er  könnte,  sie  zurückhalten.  Er 
wird  also  nicht  das  Gefühl  gehabt  haben,  dass  es  mit  dem  „Typus  des  Schönen1' 
in  Widerspruch  stehe.  Gestehen  wir,  dass  uns  Wesen  und  Wirkung  dieser 
Enharmonik  etwas  durchaus  Unbekanntes  ist. 

Wer  es  zuerst  gewesen,  der  in  dem  Enharmonion  den  Halbton  e  f  durch 
das  eingeschaltete  e  getheilt  hat,  ist  uns  nicht  überliefert.  Aristox.  bei  Plut. 
de  mus.  11:  „Das  enharmonische  Pyknön  neben  der  Mese,  dessen  man  sich 
jetzt  bedient,  scheint  nicht  von  Olympus  herzurühren.  Es  läset  sich  das  leichter 
einsehen,  wenn  man  einen  Auleten  nach  archaischer  Weise  vortragen  hört, 
denn  ein  solcher  verlangt,  dass  das  auf  die  Mese  folgende  Halbtonintervall  a  b 
ein  unzusammengesetztes  sei  (kein  zusammengesetztes  a  a  b).  Solcher  Art 
seien  nun  die  Anfänge  der  enharmonischen  Compositionen.  Später  aber  sei 
das  Halbtonintervall  zertheilt,  sowohl  in  den  lydischen  wie  in  den  phrygischen 
Compositionen.'4 

v      [d]      cef      [g]      a      h  Ii  c 

[d]      cef       g        a      h  h  c  [d] 

Vielleicht  aber  ist  in  der  Stelle  Plutarch  de  mus.  10  der  Erfinder  des 
Enharmonion  überliefert,  (sie  ist  wie  das  Vorausgehende  aus  der  tö>v  iv  \xoj- 
oixij  ojvo^imyt,  des  Heraklides  entlehnt),  wenn  nämlich  die  Stelle  so  zu  lesen 
ist,  wie  ich  es  in  der  Ausgabe  der  Plutarchischen  Schrift  vorgeschlagen  habe. 
Sie  lautet:  „Kai  I1oX6}avt;<5to;  o  auXwöixoj;  irArpes.  h  Ii  T«p  opdlui  vofx«) 

x-g  <dvap|AONl<p)  (AcXoitotla  xiypTjxat,  xaftanep  ol  dpuovixol  «p«iv  ovx  £yotxev  o  äxst- 
jiu»;  eiTretv,  06  ^ap  clpiqxaaiv  ol  op/atol  Tt  zepl  Toy-co-j".  „Polymnastus  hat  aulo- 
dische  Nomoi  componirt  In  dem  Orthios  hat  er  die  (enharmonische)  Melopoeu* 
angewandt,  wie  die  Harmoniker  sagen.  Genau  aber  können  wir  es  nicht  be- 
haupten, denn  die  alten  Historiker  erwähnen  nichts  davon".  Dass  die  Stelle 
aus  Heraklides  Ponticus  entlehnt  ist,  kann  nicht  zweifelhaft  sein.  Heraklides 
selber  citirt  für  seine  Angaben  über  die  archaische  Musik  die  Schrift  des 
alten  Glaukus  aus  Rhegium  „repl  twv  dpyattuv  -oitjtäv  te  xat  fiojstxfiiv*',  aus  der 
er  seine  Angaben  über  Terpander,  Klonas,  Archilochus  und  was  vorher  über 
Polymnastus  gesagt  ist,  entnommen  hat.  Dieselbe  Schrift  des  Glaukus  Rhe- 
ginus  muss  es  sein,  welche  Heraklides  bei  der  über  Polymnast  gemachten  An- 
gabe im  Auge  hat:  vj  y«?  elp^xctsiv  ol  dpyoiol  xt  7Tepl  tctjto,j<\  Die  von  Hera- 
klides gewöhnlich  herbeigezogene  Quelle  sagt  Nichts  darüber  (sie  ist  freilich 
von  sehr  vorzüglicher  Autorität!);  nur  die  Harmoniker  sprechen  davon,  dass 
Polymnastus  einen  Nomos  orthios  in  ...  .  Melopoeie  componirt  habe.  Was 
die  „äpfwmxol"  geschrieben  haben  (Lasos  von  Hermione,  Epigonos  aus  Am- 


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XIV.  Die  gemischten  und  ungemischten  Tongeschlechter.  403 


hrakia,  Eratokles,  Pythagoras  von  Zakynthos,  Agenor  aus  Milet),  ist  uns  nicht 
ganz  unbekannt,  denn  Aristoxenus,  der  jüngere  Zeitgenosse  des  Heraklides, 
recurrirt  auf  sie  ja  häufig  genug.  „Sie  haben  nur  das  Enharmonische  Klang-  . 
geschlecht  behandelt,  das  chromatische  und  diatonische  haben  sie  unberück- 
sichtigt gelassen".  Wenn  sie,  wie  wir  hier  aus  Heraklides  lernen,  von  Polym- 
nastus  berichten,  dass  er  den  Nomos  orthios  in  einer  Melopoeic  componirt 
habe,  deren  nähere  Bezeichnung  in  der  handschriftlichen  Ueberlieferung  aus- 
gelassen ist,  so  kann  dies  nur  die  enharmonische  Melopoeie  gewesen  sein,  denn 
die  Enharmonik  war  die  einzige  Musik,  von  welcher  die  dpjiovixol  geredet  haben. 
Meine  Ausfüllung  der  Lücke  durch  (ivapjxovltp)  (uXoroiI?  wird  wohl  das  Rich- 
tige nicht  verfehlt  haben. 

In  demselben  Abschnitte  des  Plutarchischen  Dialoges  über  Musik  heisst 
es  ferner  von  Polymnastus:  „Zur  Zeit  des  Polymnastus  und  des  Sakadas  gab 
es  drei  Tonarten,  die  Dorische,  Phrygische  und  Lydische".  Diese  Notiz  tritt 
von  selber  mit  der  vorher  angeführten  Stelle  der  gemischten  Tischreden  des 
Aristoxenus  in  Zusammenhang:  Solcher  Art  sei  nun  die  Grundlage  der  en- 
harmonischen  Melopoeie  (nämlich  das  Genos  koinon  in  den  Opferspende- Melo- 
dieen  des  alten  Olympus).  Später  aber  sei  das  Halbton-Intervall  (durch  zwei 
Viertel-Töne)  zertheilt,  sowohl  in  den  Lydischen  wie  in  den  Phrygischen  Melo- 
poeien.  Dass  Polymnastus  der  erste  gewesen,  welcher  den  Halbton  in  zwei 
Vierteltöne  getrennt  bat,  dürfen  wir  aus  der  Mittheilung  der  alten  Harmouiker 
um  so  eher  zu  schliessen  berechtigt  sein,  weil  die  Lydische  und  Phrygische 
Octavengattungen,  für  welche  Aristoxenus  die  Zertheilung  des  Halbtones  zuerst 
vorgenommen  sein  lässt,  nach  dem  obigen  unverdächtigen  Zeugnisse  Plutarch 
de  mus.  1 1  bereits  zur  Zeit  des  Polymnastus  in  der  Melopoeie  zur  Anwendung 
kamen. 

Auch  darauf  können  wir  uns  für  Polymnastus  als  den  Erfinder  des  en- 
harmonischen  Klanggeschlechtes  berufen,  dass  man  auf  Polymnastus  auch  die 
Einführung  der  Intervalle  von  drei  und  fünf  enharmonischen  Diesen  zurück- 
führte, jener  eigenartigen  Intervalle,  welche  das  Wesen  des  Diatonon  malakon 
ausmachen.  Dass  aber  dies  Diatonon  malakon  auf  dieselbe  Grundlage  wie  das 
Enharmonion  ausgeht,  darüber  sogleich  das  Nähere. 

b.  Diatonon  malakon» 

Die  Aristox.  Stelle  bei  Plut.  über  das  Enharmonion  erwähnt  den  Spondeios- 
mo»,  die  Intervallgrösse  von  drei  enharmonischen  Diesen,  welche  das  eigen- 
artige Intervall  des  sogenannten  Diatonon  malakon  bildet.  Vermuthlich  ist  es 
dieses,  welches  sich  als  im  Aristoxenischen  Zeitalter  das  Enharmonion  bereits 
ausser  Gebrauch  gekommen  war  bei  den  Musikern  an  dessen  Stelle  eingedrängt 
liatte.  Jene  Widersacher  des  Enharmouions  machten,  wie  Aristoxenus  sagt, 
gegen  dasselbe  die  theoretische  Thatsache  geltend,  dass  die  enharmonische 
Diesis  kein  Intervall  ist,  welches  sich  durch  eine  Symphonie  bestimmen  lässt 
(vgl.  S.  292— 97).  ,.Sie  wissen  aber  nicht,  dass  aus  dem  nämlichen  Grunde  auch 

26* 


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404 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


die  dritte,  fünfte  und  siebente  Intervallgrösse  (von  3,  5,  7  enharmonischen 
Diesen)  ausgeschlossen,  und  dass  überhaupt  jedes  ungerade  Intervall  als  un- 
brauchbar verworfen  werden  müsste,  da  keines  von  ihnen  durch  Symphonie 
bestimmt  werden  kann  .  .  .  Am  meisten  verwenden  jene  Widersacher  des  En- 
harmonions  gerade  solche  Tetrachordstimmungen,  in  welchen  die  meisten  Inter- 
valle entweder  ungerade  oder  irrationale  sind." 

Augenscheinlich  gehört  das  Diatonon  malakon  zu  den  Klangge- 
schlechtern, welche  Aristoxenus  hier  im  Auge  hatte.  Dasselbe  beruht  auf  dem- 
selben Princip  wie  das  Enharm.  Auch  im  Diat.  mal.  wird  von  den  diatonischen 
Klängen  der  Ton  g  ausgelassen.  Auch  hier  wird  gleichsam  zum  Ersatz  des- 
selben ein  leiterfremder  Klang  eingeschaltet,  doch  nicht  ein  iu  der  Mitte  des 
Halbtonintervall  es  e  f  angenommener  Schallton  e;  vielmehr  bleibt  der  Halbton 
wie  noch  zu  Olympus  Zeiten  ungetheilt,  dagegen  wird  zwischen  f  und  a  der 
Klang  fis  eingeschaltet,  welcher  mit  f  ein  Intervall  von  drei  enharmonischen 
Diesen,  mit  a  ein  Intervall  von  fünf  enharmonischen  Diesen  bildet.  Es  sind 
die  beiden  ungeraden  Intervalle,  welche  von  Aristoxenus  in  der  betreffenden 
Stelle  ausdrücklich  unter  denjenigen  genannt  werden,  welche  den  Gegnern  des 
Enharmonions  so  sehr  benagten.  Aristides  p.  28  und  ßacchius  p.  1 1  belehren 
uns,  dass  das  Intervall  von  drei  Diesen  beim  Abwärtsschreiten  „Eklysis",  beim 
Aufwärtsschreiten  „Spondeiasmos",  das  Intervall  von  fünf  enharmonischen 
Diesen  „Ekbole"  genannt  worden  sei.  Bacchius  schreibt  diese  Intervalle  der 
„Harmonia"  zu.  Dies  ist,  wenn  es  nicht  auf  einem  Missverständnisse  der 
Quelle  beruht,  räthselhaft  genug:  war  es  doch  das  Diatonon  malakon,  aber 
nicht  das  Enharmonion,  dem  der  Spondeiasmos  und  die  Ekbole  angehörten. 
Aber  so  viel  ist  klar,  dass  beide  Klangarten  auf  demselben  zuerst  von  Olym- 
pus aufgebrachten  Principe  des  Tivo;  xotV>v  (dem  Auslassen  des  auf  den  Halb- 
ton folgenden  Ganztones)  beruhten.  Und  so  darf  man  beide  Klanggeschlechter 
in  ein  und  dieselbe  Kategorie  setzen.  Dies  etwa  dürfte  jener  auffallenden  Notiz 
des  Bacchius,  dass  die  Intervalle  von  3  und  5  Diesen  der  „Harmonie*"  ange- 
hörten, als  richtige  Thatsache  zu  Grunde  liegen. 

Während,  nicht  gesichert  ist,  wer  im  Enharmonion  zuerst  den  Viertelton 
eingeschaltet  hat,  haben  wir  über  den  Erfinder  des  Diat.  malakon  eine  ganz 
sichere  Notiz.  Denn  bei  Plut.  de  mus.  29  in  demselben  Abschnitte,  welcher  von 
den  Neuerungen  des  Terpander,  Archilochus,  Polymnastus,  Olympos,  Laso»,  Me  ■ 
lanippides,  Philoxenos,  Timotheus  sehr  dankenswerthe  Notizen  bringt,  lesen 
wir:  „rio/.'jjxvaaTü)  ofc  t4v  ft'  v>t:oX,j£iov  vjv  'hoii.s^fuvov  tovov  dvattdlast  xai  Ixau- 
atv  vtal  ix$u\ifi  mtä  uei^tu  T.trMr^Ahn  tpaolv  oitov."  „Auf  den  Polym- 
nastus führen  sie  den  Tonos  zurück,  welcher  jetzt  Hypolydisch  genannt  wird, 
ferner  die  Eklysis  und  Ekbole  (die  Intervalle  von  3  und  5  Diesen),  und  sagen, 
dass  er  ...  .  viel  grösser  gemacht  habe."  Polymnastus  war,  wie  wir  aus  der- 
selben Plutarchischen  Schrift  c.  9—10  erfahren,  ein  Aulet  und  Aulode  aus  Ko- 
lophon,  wie  der  Name  besagt  zum  Dörfer  naturalisirt ,  zugleich  mit  Thaletas, 
Xenodamos,  Xenokritos,  Sakadas  einer  der  Begründer  der  zweiten  musischen 


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XIV.  Die  gemischten  und  ungemischten  Tongeschlechter.  405 

Katastasis  zu  Sparta,  ein  Componist  aulodischer  Nomoi,  nach  den  Harmoni- 
ken) auch  eines  Nomos  Orthios,  dessen  Compositionen  zu  Athen  im  Aristopha- 
nischen Zeitalter  noch  eben  so  wenig  vergessen  waren  wie  die  des  alten 
Olympus. 

In  jener  Stelle  bei  Plut.  de  mus.  29  ist  hinter  IxfalAp  uothwendig  eine 
Lücke  in  der  handschriftlichen  Ucberlieferung  vorhanden.  Denn  wie  kann  von 
jenen  dem  Diatonon  malakon  eigentümlichen  Intervallen,  welche  nur  3  und  5 
kleinste  Diesen  enthalten,  gesagt  werden,  Polymnastos  habe  sie  viel  grösser 
gemacht?  Auch  nur  um  eine  einzige  kleinste  Diesis  vergrössert,  wäre  ja 
die  Eklysis  zum  Ganztone,  die  Ekbole  zum  Trihemitonion  geworden!  Was  aus- 
gefallen ist,  mag  etwa  die  „Anzahl  der  Tonoi"  gewesen  sein.  Denn  dass  es 
Polymnastus  mit  der  Aufstellung  der  Tonoi  zu  thun  hatte,  zeigt  der  Anfang 
der  Stelle,  wonach  Polymnastus  den  zuerst  so  genannten  Tonos  Hypodorios, 
welcher  später  Hypolydios  genannt  worden  sei,  eingeführt  haben  soll. 

Wir  dürfen  aus  Aristoxenus'  ap.  Plut.  mus.  37  die  Folgerung  ziehen,  dass  zu 
seiner  Zeit  das  Diat.  mal.  (3  und  5  Diesen!)  von  den  Musikern  mit  Vorliebe  prak- 
tisch angewandt  wurde.  Auch  zu  Ptolemäus  Zeit  gehörte  es  zu  den  am  häu- 
figsten vorkommenden  Klanggeschlechtern.  Es  ist  schon  früher  darauf  hin- 
gewiesen worden,  dass  das  Ptolemäische  von  dem  Aristoxenischen  Diatonon 
malakon  in  dem  zweiten  und  dritten  Klange  des  Tetrachordes  differirt.  Bei 
Ptolemäus  stehen  jene  Klänge  etwas  tiefer  als  bei  Aristoxenus:  nach  des 
enteren  Angabe  bildet  der  Ton  a  mit  ns  das  Intervall  des  übermässigen  Ganz- 
tones 8:7,  das  übermässige  ns  mit  e  das  Intervall  6  :  7.  Beide  Intervalle 
sind  theoretisch  auch  in  der  natürlichen  Scala  der  Modernen  vertreten.  Doch 
in  unserem  Melos  ohne  Anwendung.  Sang  man  bei  den  Alten  die  Ekbole  a  fis, 
so  war  das  nach  der  Ptoleinäischen  Angabe  genau  dieselbe  Intcrvallgrösse, 
wie  wenn  wir  von  dem  Klange  h  zu  dem  Kirnbergerschen  Klange  i  (s.  u.  IV) 
hinaufschreiten  wollten  —  jedenfalls  ein  gerade  nicht  wohlthuendes  Aufwärts- 
steigen, welches  sich  für  unsere  Musik  nicht  qualifiziren  will.  Aber  ganz  unzwei- 
deutig ist  die  mehrmals  vorkommende  Aussage  des  Ptolemäus,  dass  die  soge- 
nannten Malaka  der  Lyroden  durchgängig  in  der  Mischung  jenes  Klangge- 
schlechtes mit  dem  Diatonon  toniaion  ausgeführt  wurden,  nicht  minder  bei  den 
Kitharodeu  die  mit  dem  Namen  Parhypatai  bezeichneten  Melopoeieu: 

e  f  fis  a  h  h  d  e 

21:22       11:12       8:7        »:9       27:28        7:H  8:9 

und  ferner  auch  die  sogenannten  Tropoi  der  Kitharodeu: 

ahhde  ffisa 

*   "  'v  /v   .  

8:9        27:28       7:8        8:9       21:22       11:12  6:7 

An  dem  Kirnbergischen  Klange  i  hatte  demnach  die  Ptolemäische  Zeit 
ein  grosses  Wohlgefallen.    Aber  auch  schon  in  der  Epoche  des  Aristoxenus 


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- 


406  •  Aristoxenus  zweite  Harmonik. 

war  man  einem  jenem  Kirnbergerschen  i  mindestens  sehr  ähnlichen  Klange 
zugethan. 


III. 

Chromatische  Scalen,  d,  i,  Scalen  mit  Atislassttng  des  diaton. 

Klanges  zwischen  fis  und  a. 


Arißtoxenus :  Chrotna  toniaion  gemischt  mit 
Enharm.        malakon  hemiolion 

ungemischt 

Archytas  „Chromatikon*' 
Ptol.  „Chroma  malakon'' 

h  R14 

h  Ru 

h  R14 

h  R14 

h  RI4»»> 

a  R10 

a  Rl0 

a  R10 

a  R10 

a  RV40M 

fis  R* 

fisR4 

fis  R4 

fis  R4 

fis  R<,omo 

S  R1 

V  R1,»38 

%  R1,5 

f  R* 

e  R° 

e  R° 

e  R° 

e  Ro 

e  Ro 

- 

Denken  wir  uns  eine  in  folgender  Weise  durch  Auslassung  von  Klängen 
vereinfachte  diatonische  Scala 

c      d      [e]      f      g      a      [h]  c 

in  welcher  nicht  wie  im  Enharmonion  der  höhere  Grenzklang  des  Halbtoues, 
sondern  der  tiefere  Grenzklang  desselben  ausgelassen  ist,  so  ergiebt  sich  das 
Grundprincip  des  Chromas.  Freilich  ist  wohl  zu  berücksichtigen,  dass  wir  in 
der  bisher  zu  Grunde  gelegten  Tonart  ohne  Vorzeichnung  die  Klänge  e  und  h 
als  stehende  Klänge  des  Tetrachordes  fassen  müssen,  welche  einer  Auslassung 
eben  so  wenig  wie  einer  Veränderung  unterworfen  werden  können.  Deshalb 
ist  die  Scala,  welche  die  antike  Theorie  zur  Darstellung  des  Chromas  wählt, 
in  Wahrheit  eine  Scala  mit  8^8 

a      h      [eis]      d      e      fis      [gis]  a 

Diese  Scala  haben  wir  als  die  Grundlage  des  Chromas  festzuhalten. 

Aristoxenus  kennt  im  Ganzen  6  Arten  chromatischer  Tetrachorde  resp. 
Pentachorde.  Drei  derselben  sind  ungemischt,  S.  259,  drei  derselben  sind  ge- 
mischt S.  892,  entweder  eine  Mischung  des  Chroma  toniaion  mit  dem  Enharm. 
oder  eine  Mischung  des  Chroma  toniaion  einerseits  mit  dem  Chroma  malakon 
andererseits  mit  dem  hemiolion. 

Das  ungemischte  Chroma  toniaion  und  die  drei  gemischten  Chromate 
haben  das  Gemeinsame,  dass  auf  diesen  Tetrachorden  resp.  Pentachorden  stets 
der  Ton  fis  vorhanden  ist. 


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XIV.  Die  gemischten  und  ungemischten  Tongeschlechter.  407 

• 

Im  höchsten  Grade  beachtenswerth  ist,  dass  das  einzige  von  Archytas 
aufgeführte  Chroma  nicht  das  Chroma  toniaion,  überhaupt  keines  der  unge- 
mischten Chromata  des  Aristoxenus,  sondern  das  aus  zwei  chromatischen  Chroai 

gemischte  „ 

e     e     fis  a 

ist,  dasselbe,  was  bei  Ptolemäus  „Chroma  malakon"  heiast.  Die  Parhypate  im 
Chroma  des  Archytas  kommt,  der  Tonstufe  nach,  der  Parhypate  des  Aristoxe- 
nischen  Chroma  malakon  am  nächsten: 

nach  Aristoxenus  =  R«,™3383 
nach  Archytas      =  R»  »MIS. 

Nicht  unberücksichtigt  darf  bleiben ,  dass  der  nämliche  Klang  der  chro- 
matischen Parhypate  von  Archytas  auch  für  die  enharmonische  Parhypate  an- 
gegeben wird.  Das  ist  zwar  nicht  die  Annahme  des  Aristoxenus,  aber  Aristo- 
xenus spricht  von  solchen  Musikern,  die  bezüglich  der  Grenze  schwanken, 
welche  zwischen  dem  Enharmonion  und  dem  Chroma  besteht:  „wann  das  En- 
harmonion  in  das  Chroma  übergeht  (dritte  Harmonik  §  7). 

Der  Musiker,  auf  welchen  die  Notirung  der  frühesten  Transpositions-Scalen 
zurückgeht  (Polymnast?  ),  hat  die  Notenzeichen  so  gewählt,  dass  das  Pyknon  des 
Enharmonion  auf  dieselbe  Weise  wie  das  Pyknon  des  Chromas  notirt  wird, 
mit  dem  einzigen  Unterschiede,  dass  der  chromatische  Oxypyknos  einen  diakri- 
tischen Strich  erhält,  welcher  dem  enharmonischen  Oxypyknos  fehlt.  Die 
chromatische  Parhypate  also  hat  mit  der  enharmonischen  Parhypate  das  Noten- 
zeichen durchaus  gemeinsam. 

Tetrachord  des  Archytas. 

Enharm.  e  e  f  a 
Chroma    e      e  fis  a 

Antike  Notirung  des 
Enharm.   TL!  C 
Chroma    TL  "IC 

Diese  Notirung  des  chromatischen  Tetrachordes  ist  die  allgemeine  grie- 
chische, welche  nach  der  Ueberlieferung  ohne  Unterschied  für  alle  chromati- 
schen Chroai  angewandt  wird.  Der  Noten-Erfinder  hat  also  bei  seiner  Nö- 
rting des  Chromas  nicht  das  Chroma  toniaion 

e      f      fis  a 

vor  Augen,  sondern  dasselbe  Chroma,  welches  Archytas  als  das  einzige  Chro- 
matikon bei  seinen  akustischen  Zahlen-Bestimmungen  berücksichtigt:  nach 
Aristoxenus'  Auffassung  eine  Mischung  des  Chroma  malakon  und  des  Chroma 
toniaion  „*.i\  ^dp  at  totay-at  Staipdaet;  t&v  ttv^wv  ippeXct;  ^alvovrat"  (zweite 


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408  Aristoxenus  zweite  Harmonik. 

Harm.  §  57).  Diese  Mischung  also,  wie  sie  das  einzige  Chromatikon  ist,  von 
welchem  Archytas  Rechenschaft  giebt,  ist  zugleich  diejenige,  welche  der  Noten- 
erfinder einzig  und  allein  von  den  chromatischen  Chroai  berücksichtigt  hat 
—  der  beste  Beweis,  dass  dieselbe  auch  schon  vor  Aristoxenus  überaus  häufig 
gewesen  sein  muss. 


IV.  • 

Auslassung  des  diatonischen  Klanges  /. 

(Gemischtes  Diatonon). 


Aritox.  Diatonon,  gemischt  mit 

Archytas  „.Diatonon" 

Eiiharm. 

Chrom,  malakon 

Chrom,  hemiol. 

Ptol.  „Diatonon  toniaion." 

h  R" 

h  R" 

h  RM 

h  R14,03*1 

a  R»° 

a  R"> 

a  R10 

a  R»,»»o9« 

g  R4 

g  Rd 

g  R6 

g  RV«" 

e  R' 

*e'  R1,3" 

*• 

e  R1,6 

e  R> 

e  R° 

e  R° 

e  R° 

e  Rp 

Terpanders  Diatonon* 

Aehnlich  wie  mit  der  von  Olympus  herrührenden  Vereinfachung  des 
Diatonons  verhält  es  sich  mit  jener,  welche  von  dem  Kitharoden  Terpander 
noch  in  der  archaischen  Musikperiode  der  Griechen  vorgenommen  worden  ist. 
Worin  das  vereinfachte  Diatonon  des  alten  Terpanders  bestand,  darüber  sagt  Plut. 
de  mus.  28:  „Diejenigen,  welche  darüber  Bericht  erstatten  [damit  ist  z.  B. 
der  alte  Glaukos  aus  Rhegium  in  seiner  Schrift  repi  dpyouov  ttot^tiuv  tc 
xi\  \ivj9\xw*  geineint]  haben  dem  Terpander  als  Erfindung  die  Dorische  Nete 
zugeschrieben,  deren  sich  Terpanders  Vorgänger  für  die  Melodie  nicht  be- 
dienten. 

Hyp.  Meae  Nete 

e  fgahede 

Griech.  Rhythm.  und  Harm.  1S67,  S.  295  sagte  ich:  „Aber  bei  dieser  Neuerung 
bewies  er  sich  zugleich  als  eine  sehr  conservative  Natur;  er  mochte  den  alten 
Umfang  von  sieben  Tönen  nicht  überschreiten  und  entfernte  daher  einen  der 
bereits  existireuden  Töne,  nämlich  dieTrite,  den  Ton  „cu.  Aristot  Probl.  19,  32: 
?tt  irrä  T(aav  al  yopoai  tg  dpyatov  .  erc  i£e).ujv  rr;v  Tpirr(y  Tepitavopo;  tt^v  vfjTTjV 
npo3£&T(xfi.  So  gab  es  also  zwei  Arten  des  Heptachordes :  ein  Vorterpandrische 
ohne  die  Octave  c,  und  eine  Terpandrische  m  it  der  Octave,  aber  ohne  die  Trite  c. 
Beide  Arten  hat  Aristot.  Probl.  19,7  im  Auge:  Ali  xi  oi  dpyatoi  ema/öpfa-j; 


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« 

XIV.  Die  gemischten  und  ungemischten  Tongeschlechtcr.  409 

roiouvrc;  dpjxovia;  tt,v  u-arv  <tiX  oü  tt4v  vt,tt^  x*Td).nr<w;  rfoepov  toüto  ^eüoo;, 
dfx'fÖTcpa  ?dp  xrcehnov,  t^v  oe  Tpbr4v  cgjjpou?  .  .  .  Aristoteles  sieht  die  Sache 
so  an,  als  ob  jene  dp/atot  bereits  das  spätere  Oktachord  vor  sich  gehabt  hätten, 
und  fragt,  wie  es  komme,  dass,  wenn  sie  Melodieen  von  sieben  Töneu  machten, 
sie  die  Hypate,'  aber  nicht  die  Nete  dagelassen  hätten,  denn  das  bedeutet 
xati/.inov.  |  Im  umgekehrten  Sinne  „weglassen"'  ist  xatiXirov  in  der  Parallelstelle 
19,47  gebraucht).  Dies  ist  die  vorterpandrische  Form.  Dann  fragt  er,  ob  sie 
nicht  vielmehr  beide  Töne,  die  Hypate  und  Nete,  dagelassen  und  die  Trite 
entfernt  hätten;  —  dies  ist  die  terpandrische  Form.  Die  letztere  hat  Philolaos 
ap.  Nicomach.  Mus.  p.  17  vor  Augen  unter  folgender  Bezeichnung  der  einzel- 
nen Töne: 

**       *       B       c       ?  o  S 

£    g   $  1   s-  gl 

e     f    g     a     h  de 

Das  ganze  Octavensystem ,  von  ihm  dpfxovia  genannt,  besteht  —  so  sagt 
er  —  aus  einer  Quarte  und  Quinte,  von  denen  die  erstere  bei  ihm  den  Namen 
o/.Xaßd,  die  letztere  den  Namen  ot'  <i£eiä>  führt,  —  alte  Terminologieen ,  die 
wir  wohl  auf  Terpander  oder  seine  Schule  ziunickführen  dürfen.  „Von  der 
„ündta  bis  zur  jiisa  (von  e  zu  a)  ist  eine  Quarte,  von  der  \iiia  bis  zur  vedra 
„(von  a  zum  höheren  e)  eine  Quinte,  von  der  !jtAzi  zur  tplta  (von  e  zu  h)  eine 
„Quinte,  von  der  Tptta  zur  ved-a  (von  h  zum  höheren  e)  eine  Quarte,  von  der 
„piea  zur  Tpl-ra  (von  a  zu  h)  ein  Ganzton." 

Die  Vereinfachung  des  Melos  im  Olympischen  Enharmonium  und  im  Ter- 
panderschen  Diatonon  beruhte  auf  ein  und  demselben  Principe:  jeder  der  beiden 
alten  Künstler  Hess  einen  der  nach  unserer  Anschauung  wesentlichen  Klänge  der 
diatonischen  Scala  unbenutzt.  Der  Aulet  Olympus  liess  den  auf  das  Hemitonion 
folgenden  diatonischen  Klang,  der  Kitharode  Terpauder  zwar  nicht  den  auf  das 
Hemitonion  folgenden  Klang,  wohl  aber  den  höheren  Grenzklang  des 
Hemitonions  selber  unbenutzt.  Das  Tetrachord  des  Olympus  enthielt  auf  diese 
Weise  neben  der  Mese  ein  unzusainmengesetztes  Ditonos-Inten*all,  die  Scala 
des  Terpander  neben  der  Hypate  ein  unzusammeugesetztes  Trihemitonion,  — 
„unzusammengesetzt''  im  technischen  Sinne  des  Aristoxenus  S.  290  u.  316. 

Denken  wir  uns  die  Scala  ohne  Vorzeichnung,  so  lässt  das  Enharmonion 
des  Olympus  den  Klang  g  unbenutzt,  das  Diatonon  Terpander«  den  Ton  f. 

Enhannonion  des  Olympus 

Ditonos 
e      f~lg]  a, 

Diatonon  des  Terpander 

Trihemitonion 

e~  IfT  ~~g  a 


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410 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


Die  Olympische  Klang- Vereinfachung  erhält  sich  als  unverrückbare  Grund- 
lage der  Enharmonik  bis  in  die  Zeit  des  Aristoxenus,  wo  dies  Klang-Geschlecht 
bereits  zu  erlöschen  begonnen  hat.  Die  Vereinfachung  Terpanders  besteht 
noch  in  der  Zeit  des  Ptolemäus  als  wesentliche  Tetrachord-Grundlage  in  der 
Musik  der  Kitharoden. 

Diatonon  des  Archytas, 

gemischtes  Diatonon  des  Aristoxenus. 

Die  in  der  archäischen  Periode  von  Olympus  einerseits  und  von  Terpan- 
der  andererseits  gegebene  Grundlage  wird  weiterhin  modificirt  durch  Einschal- 
tung eines  Klanges,  welcher  der  Scala  an  sich  durchaus  fremd  ist  —  wir  können 
sagen,  durch  Einschaltung  eines  leiterfremden  Klanges:  das  Trihemitonion 
wird  statt  eines  unzusammengesetzten  ein  zusammengesetztes  Intervall,  indem 
zwischen  e  g  der  leiterfremde  Klang  e  eingeschaltet  wird. 

e      e      [f]      g      a  h 

Der  Tarentiner  Archytas,  Piatos  Lelirer  und  älterer  Heimathsgenosse  des 
Aristoxenus,  ist  es,  auf  weichen  Ptolemäus  die  früheste  akustische  Zahlenbe- 
stitnmung  des  durch  den  leiterfremden  Klang  im  Enharmonion  und  Diatonon 
gebildeten  kleinen  Intervalle»  zurückfuhrt.  Für  das  Ohr  des  Archytas,  auf 
dessen  richtiges  Empnuden  und  Beurtheilen  wir  uns  schon  verlassen  müssen, 
klang  die  Grösse  des  kleinen  Intervalles  im  Diatonon  genau  so  wie  im  En- 
harmonion. Beides  bezeichnet  er  durch  die  Verhältnisszahl  27  :  28.  Die  beider» 
seitigen  kleinen  Intervalle  im  Enharmonion  und  Diatonon  haben  in  der  Kunst- 
sprache der  Musiker  dieselbe  Bezeichnung  „Diesis".  Dass  man  die  Diesis  des 
Enharmonions  als  „kleinste  Diesis"  (als  Tetartemorion  des  Ganztones)  specia- 
lisirte,  die  Diesis  des  betreifenden  Diatonon  dagegen  als  „kleinste  chromatische 
Diesis"  (Tritemorion  des  Ganztones),  das  rührt  erst  von  Aristoxenus  her,  nach 
dessen  Angaben  sich  das  kleine  Intervall  des  Enharmonions  durch  das  Ver- 
hältniss 

(iÜ° :  (v.)1  *  1 : 1'02932, 

das  kleine  Intervall  des  betreffenden  Diatonons  dagegegen  durch 

(v'J° :  (v f-  1 :  ~ 

genau  ausdrücken  lässt.  Als  Archytas  für  die  beiden  Intervalle  seine  aku- 
stischen Untersuchungen  anstellte,  da  ergab  sich  ihm  für  beide  ein  und  das- 
selbe Verhältniss: 

27  :  28  =  1  :  1,03703. 

Wer  dürfte  wohl  mit  diesen  beiden  alten  Gewährsmännern  betreffs  der 
.gar  kleinen  Differenz  bei  ihrer  Bestimmung  der  kleinsten  Intervalle  rechten 
wollen?  Ptolemäus  that  es,  obwohl  auch  er  das  kleine  Intervall  der  Enharmo- 
nik nicht  mehr  in  der  Praxis  zu  hören  bekam. 


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XIV.  Die  gemischten  und  ungemischten  Tongeschlechter.         41 1 

Für  unser  an  moderne  Musik  gewöhntes  Ohr  würde  ohnehin  der  Unter- 
schied ein  unendlich  kleiner  sein:  nur  etwa  mit  Hülfe  unserer  genauesten 
akustischen  Instrumente  vermöchten  wir  derartige  Tonempfindungen  wahr- 
zunehmen. Die  Griechen  des  klassischen  Alterthums  hatten  einen  ausge- 
bildeten Gehörsinn,  da  sie  ja  jene  kleinen  Intervalle  in  ihrer  Musik  praktisch 
verwandten.  Erst  zur  Zeit  des  Aristoxenus  erklärten  sich  manche  Musiker, 
wie  dieser  berichtet,  für  unfähig,  den  vierten  Theil  des  Ganztones  als  solchen 
empfinden  zu  können  und  verwarfen  deshalb  die  enharm.  Musik,  während  sie 

t 

Musikgattungen  mit  anderen  kleinen  Intervallen,  welche  Aristoxenus 
ungerade  und  irrationale  nennt,  noch  mit  Vorliebe  anwandten.  Wir  haben 
bezüglich  der  in  Rede  stehenden  Differenz  des  Aristoxenus  und  Archytas  uns 
an  die  Erklärung  des  ersteren  zu  erinnern,  dass  das  Megethos  derartiger  In- 
tervalle ein  variabeles  sei.  Daraus  müssen  wir  schliessen,  dass  die  durch  leiter- 
fremde Klänge  gebildeten  kleinen  Intervalle  der  Tetrachorde  in  der  Praxis  mit 
kleinen  Modifikationen  von  den  vortragenden  Künstlern  ausgeführt  werden 
konnten,  vorausgesetzt,  dass  sich  das  Intervall -Megethos  innerhalb  einer  be- 
stimmten Grenze  hielt. 

Mit  Hinweglassung  der  höheren  Deeimalstcllen  können  wir  also  sagen, 
dass  wenn  die  Parhypate  e  =  1  angesetzt  wird,  dass  dann  die  Parhypate  e  des 
betreffenden  Diatonon  nach  Aristoxenus  =  1 ,039,  nach  Archytas  ein  sehr  wenig 
tiefer  =»  1,037,  d.  i.  dieselbe  Klanghöhe,  welche  nach  Archytas  der  Parhypate 
des  enharmonischen  Tetrachordes  zukommt. 

Ueber  die  Klanghöhe  des  nach  der  Hypate  e  eingeschalteten  leiterfremden 
Klanges  e  besteht  also  zwischen  Archytas  und  Aristoxenus  eine  Differenz  um 
nur  zwei  Tausendstel  des  Ganztones! 

« 

Die  Lichanos  des  in  Rede  stehenden  Diatonon  ist  der  diatonische  Klang  g 
von  Aristoxenus  nach  gleichschwebender  Temperatur,  von  Archytas  nach  der 
natürlichen  Stimmung  angesetzt.  —  Nach  Archytas  bildet  die  Parhypate  e 
mit  der  Lichanos  g  ein  Verhältniss  wie  7  :  8.  Dies  akustische  Verhältniss  7  :  8 
ist  auch  der  modernen  Akustik  wohlbekannt.  Denn  in  der  natürlichen  Scala 
der  Töne  erscheint  zwischen  der  kleinen  Terz  e  g  (5  :  6)  und  dem  grossen 
Ganzton  c  d  (8 :  9)  ein  Klang,  welcher  sieh  den  Schwingungszahlen  nach  zu  g 
wie  7  :  6  und  zu  ~c  wie  7  :  8  verhält;  es  ist  ein  Ton,  den  man  als  ein  um  ein 
merkliche«  zu  tief  klingendes  b  oder  zu  hoch  klingendes  a  bezeichnen  kann, 
und  für  den  Kirnberger  die  Benennung  i  einzuführen  versucht  hat.  Dies  In- 
tervall i  c  ist  es,  welches  dasselbe  Megethos  wie  das  antike  e  g  hat ,  der  über- 
mässige Ganzton.  Doch  obwohl  die  moderne  Theorie  ein  solches  Intervall 
kennt  (die  Versuche  Kirnberger's,  dasselbe  auch  praktisch  in  der  Orgelmusik 
zu  verwenden,  sind  erfolglos  geblieben),  so  liegt  uns  doch  die  bei  den  Griechen 
vorkommende  Anwendung  dieses  Tones  im  Diatonon  des  Archytas  eben  so 
fem,  wie  die  des  enharmonischen  Vierteltones. 


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412 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


Trotzdem  ist  dies  Diatonon  mit  dem  grossen  Ganztone  in  der  Mitte  des 
Tetrachordes,  welches  uns  seinem  Wesen  und  seiner  Wirkimg  nach  durchaus 
tinfassbar  ist,  das  einzige  Diatonon,  welches  von  Archytas  aufgeführt  wird. 
Ein  anderes  nennt  er  nicht. 

Aristoxenus  nennt  noch  andere.  Denn  auch  das  gemischte  Diatonon  (des 
Archytas)  wird  mehrere  Male  von  ihm  als  emmelisch  bezeugt.  Ihm  zu  Liebe 
statuirt  er  (§  107)  drei  Kategorien  des  Diatonon:  mit  zwei,  drei,  vier  verschie- 
denen Intervallgrossen,  von  denen  die  erste  das  ungemischte  Diatonon  (syn- 
tonon  oder  toniaion)  ist,  das  zweite  das  aus  dem  Terpandrischen  entwickelte 
gemischte  Diatonon  des  Archytas,  das  dritte  das  auf  der  Vereinfachung  des 
Olympus  beruhende  Diatonon  malakon  ist.  Vgl.  S.  838  ff. 

In  der  Musikjieriode  des  Ptolemäus  hat  das  Diatonon  des  Archytas  we- 
nigstens in  der  Kithardik  nnd  Lyrodik  alle  anderen  Klanggeschlechter  ver- 
drängt. Es  war  das  einzige,  welches  hier  auch  ohne  Combination  mit  anderen 
Tetrachordstimmungen  vorkam.  So  wandten  es  die  Kitharoden  in  den  ,,Tritai" 
für  die  hypodorische  Octavengattung,  in  den  „Hypertropa"  für  die  phrygisehe 
Octavengattungan;  die  LyToden  in  den  „Sterea"  einer  jeden  Octavengattung  an. 
Combinirt  mit  dem  Chroma  malakon  kam  es  bei  den  Kitharoden  in  den  „Malaka4* 
vor,  bei  den  Lyroden  ebenfalls  combinirt  in  den  „Tropoi"  und  „Jastiaioliaia." 

Das  ungemischte  Diatonon  („mit  zwei  verschiedenen  Intervallgrössen" 
Aristox.)  liessen  die  Kitharoden  und  Lyroden  nur  in  Combinationen  mit  an- 
deren Tetrachordeintheilungen  hören.  Da«  fällt  uns  freilich  schwer  genug  zu 
glauben,  aber  wir  müssen  es  wohl.  Denn  wir  würden  keinen  Grund  haben, 
die  mehrfach  wiederholten  Angaben  des  Ptolemäus  zu  bezweifeln.  Unser  Ge- 
fühl wird  durch  die  Parhypate  e  belästigt,  die  wir  vom  Standpunkte  unserer 
Musik  nicht  verstehen.  Aber  auch  Aristoxenus  hat  das  Pentachord  e  e  g  a  h 
durch  sein  „Diatonon  mit  drei  verschiedenen  Intervallgrössen"  sanetionirt, 
nicht  minder  wie  das  Euharmonion  e  e  f  a  h,  dessen  Verschwinden  bei  seinen 
Zeitgenossen  er  sichtlich  beklagt.  Auch  dem  musikalischen  Gefühle  des  Aristox. 
nach  muss  sich  das  gemischte  Diat.  innerhalb  des  schönen  Styles  gehalteu  haben. 

Archytas,  welcher  dies  Diatonon  als  das  einzige  aufführt,  mag  wohl  wie 
Ptolemäus  die  Musik  der  Kitharoden  zu  Grunde  gelegt  haben.  Bezüglich  der 
Kitharoden  haben  wir  wohl  zu  beachten,  dass  die  alte  Kitharodik  Terpanders 
für  das  in  Rede  stehende  Diatonon  den  Ausgangspunkt  gegeben  hat. 

Auch  hier  ist  die  griechische  Notirung  von  gleichem  Interesse  wie  für  das 
Chroma  des  Archytas.  Schon  Friedrich  Bellerman,  der  Semantologe,  hat  er- 
kannt, dass  die  diatonischen  Noten  zur  genauen  Bezeichnung  der  Klänge  e  f 
g  a  ebenso  wenig  passend  sind,  wie  die  chromatischen  Noten  für  die  Klänge 
e  f  fis  a.  Bellermann  glaubt  geradezu  von  Fehlern  reden  zu  müssen,  welche 
die  Alten  bei  der  Notirung  dieser  Scalen  sich  hätten  zu  Schulden  kommen 
lassen.  Aber  wenn  man  die  Klänge  zu  Gruude  legt,  welche  Archytas  bei  seiner 
akustischen  Bestimmung  des  Chromas  und  Diatonons  im  Sinne  hatte,  dann 
ist  die  griechische  Notirung  dieser  beiden  Tongeschlechter  wenigstens  für  die 


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XIV.  Die  gemischten  und  ungemischten  Tongeschlechter.  413 


älteren  Scalen  —  für  die  b-Scalen  —  absolut  fehlerlos.  Für  das  Chroma  haben 
wir  dies  schon  oben  angedeutet.  Ebenso  leicht  ist  es  für  das  Diatonon  zu 
zeigen.  Legt  man  nämlich  das  (gemischte)  Diatonon  des  Arehytas  zu  Grunde, 
dessen  Parhypatc  genau  dieselbe  ist  wie  die  des  Enharmonion  (und  Chroma 
malakon),  dann  kann  die  Notirung  keine  andere  als  folgende  sein: 


.  1 

Enharm.  e 


Diaton. 


s 

2 

x  5 

£  .sä 
S  J 

e  f 

* 

e 


3  • 

9  O 

Mi  ^" 

>>  58 


=  (2  j 

E  uj  3 

E  uj 

i  I 


s 

c 

F  C 


Die  streng  genommen  nur  für  das  gemischte  Diatonon  (des  Arehytas) 
geltenden  diatonischen  Noten  werden  beibehalten,  wenn  man  die  Hypate,  Par- 
hypate,  Lichanos,  Mese  des  ungemischten  Diatonon  toniaion  oder  Diatonon 
malakon  notiren  will,  z.  B. 


3 
& 


3 


5 


3 


s 


efga  EuFC 

Aristox.  bemüht  sich  in  der  zweiten  Harm.  §  53  b.  c  dem  interpellirenden 
Zuhörer  zu  zeigen,  dass  man  die  Klangnamen  Hypate,  Parhypate,  Lichanos  u.  s.  w. 
für  alle  Chroai  und  Klanggeschlechter  beibehalten  müsse,  ohne  hier  eine  Aen- 
derung  der  Nomenclatur  vorzunehmen  vgl.  S.  173.  Aehnlich  war  die  Anschauung 
des  Xotenerfinders,  welcher  für  die  eine  Chroa  eines  Klanggeschlechtes  dieselben 
Noten  wie  für  die  andere  ausreichend  erachtete.  Hatten  sich  ja  für  die  ver- 
schiedenen Musikgattungen  (z.  B.  Kitharodik,  Aulodik,  Orchestik)  immer  be- 
stimmte Chroai  geltend  gemacht,  die  sich  betreffenden  Falles  für  den  ausfüh- 
renden Musiker  von  selber  verstanden. 

Dans  aber  vom  Archytischen  Diatonon  die  Noten  für  alle  übrigen  Dia- 
tonons  entlehnt  worden  sind  — ,  muss  man  hieraus  nicht  schliessen,  dass  jenes 
gemischte  Diatonon.  des  Arehytas  schon  bald  nach  Terpanders  Zeit,  d.  i.  in  der 
Periode  der  zweiten  Spartanischen  Musik-Katastasis  zu  kanonischem  Ansehen 
gelangt  war?  Zur  Zeit  Terpanders,  welcher  zu  dem  gemischten  Diatonon  die 
Grundlage  gab,  war  das  Notenalphabet  noch  nicht  erfunden  (trotz  Plutarch  de 
mus.  7  vgl.  griech.  Hann.  1867  8.323);  das  dorische  Alphabet  für  die  Instru- 
mentalnoten  herbeigezogen  zu  haben,  darauf  dürfen  erst  die  Vertreter  der 
zweiten  spartanischen  Katastasis,  namentlich  Polymnastus  Anspruch  erheben. 


XV. 


Die  Scala-Töne. 

Vgl.  Prooim.  §  20. 

§  20.   „Darauf  erfolgt  die  Erörterung  der  Scala-Töne,  da  die  System« 
„für  deren  Unterscheidung  nicht  ausreichen." 

Ungeachtet  der  wörtlichen  Uebereinstimmung  dieser  Inhaltsangabe  mit 
dem  Beginn  der  entsprechenden  des  Prooimions  dritter  Harmonik  fehlt  uns  jeder 
Anhaltspunkt,  um  zu  ermitteln,  wie  und  nach  welcher  Disposition  Aristoxenus 
den  Absehn.  XV.  behandelt.  Die  mittelbar  auf  Aristoxenus  zurückgehenden 
Musiker  geben  kaum  mehr  als  eine  Aufzählung  der  Scala-Töne  nach  den  drei 
Tongeschlechtern,  zum  Theil  auch  mit  Tabellen  der  griechischen  Noten.  Obwohl 
Aristoxenus  eher  eine  Philosophie  des  Melos,  als  ein  Encheiridion  giebt,  .so  ist 
doch  ungeachtet  seiner  die  Semantik  desavouirenden  Bemerkung  (dritte  Harmo- 
nik §  24)  schwer  in  Abrede  zu  stellen,  dass  Aristoxenus  nicht  auch  seiner  Har- 
monik eine  Uebersicht  der  Noten  beigegeben  habe.  Denn  Vitruvius  Pollio  de 
arch.  5,  4  will  solche  Tabellen  bei  Aristoxenus  gesehen  und  von  dort  her  für 
»ein  Werk  entlehnt  haben.  Er  sagt:  „Itaque  ut  potero  quam  apertissime  ex 
Aristoxeni  scripturis  interpretabor  et  eius  diagramma  subscribam  finitiones- 
que  sonituum  designabo,  utique  qui  diligentius  attenderit  faciliue  percipere 
possit. 


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XVI. 

Die  verschiedenen  Stimm-Klassen.    (Bass,  Bariton,  Tenor  .  .  .  )■ 

Vgl.  Prooim.  §  21. 

§  21.  „Jedes  System  wird  alif  einer  bestimmten  Stimmlage  ausgeführt. 
„Wenn  nun  auch  das  System  an  und  für  sich  hierdurch  nicht  verändert  wird, 
„so  wird  doch  dem  auf  ihm  genommenen  Melos  durch  die  Eigentümlichkeit  der 
„Stimmlage  ein  nicht  unbedeutender,  sondern  ein  sehr  grosser  Wechsel  zu  Theil. 
„Deshalb  wird  derjenige,  welcher  die  Harmonik  darzustellen  unternimmt,  so 
„weit  es  angemessen  ist  (d.  h.  soweit  es  die  natürliche  Beschaffenheit  der  Sy- 
„steme  selber  erheischt)  über  die  Stimmlage  im  Allgemeinen  und  im  Beson- 
deren zu  reden  haben." 

• 

Der  Anonymus,  welchen  Ruelle  im  Abschnitt  von  den  Systemen  als 
gleichwertig  mit  dem  Pseudo-Euklid  zur  Esgänzung  des  Aristoxenus  herbei 
gezogen  (ich  meinerseits  ergänzte  dort  aus  Pseudo-Euklid),  ist  der  einzige  unter 
allen  indirekt  [aus  der  Schrift  des  den  Meister  neu  bearbeitenden  Aristoxe- 
neers  der  römischen  Kaiserzeit}  excerpirenden  Musikern,  welcher  das  im  XVI.  Ab- 
schnitte Enthaltene  der  Hauptsache  nach  überliefert;  obwohl  sich  auch  bei 
Pseudo-Euklid  und  Aristides  einige  darauf  bezügliche  Notizen  finden. 

Der  Anonymus  lehrt  nämlich: 

§  68.  Es  giebt  vier  Topoi  der  (Vokal-  und  Instrumental-)Stimine 
1.  hypatoeides,  2.  mesoeides,  3.  netoeides,  4.  hj-perboloeides. 
In  den  ersten  Topos  (hypatoeides)  setzt  man  fünf  Tetrachorde : 

zwei  Hypolydische,  zwei  Hypophrygische,  ein  Hypodorisches; 
in  den  zweitenTopos  (mesoeides)  drei  Tetrachorde: 

zwei  Dorische,  ein  Phrygisches; 
in  den  dritten  Topos  (netoeides)  zwei  Mixolydische,  ein  Hyper- 

mixolydisches. 

Hyperboloeides  ist  jeder  Topos  vom  Hypermixolydischen  Tonos  an, 

§64.  Der  Topos  hypatoeides  beginnt  von  der  Hypodorischen  Hypate 
meson  und  reicht  bis  zur  Dorischen  Hypate  meson. 


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416 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


Der  Topos  mesoeides  beginnt  von  der  Phrygischen  Hypate  meson 

und  reicht  bis  zur  Lydisehen  Mese. 
Der  Topos  netoeides  beginnt  mit  der  Lydisehen  Mese  und  reicht 

bis  zur  Lydisehen  Xete  svnemmenon. 
Was  darauf  folgt  ist  der  Hyperboloeides. 

■ 

Mit  wahrhafter  Meisterschaft  der  Conjectural-Kritik  hat  Friedrich  Beller- 
mann diese  durch  die  handschriftliche  Ueberlieferung  mehrfach  geschadigte 
Partie  in  der  vorliegenden  Weise  restitnirt.  Wir  denken,  mit  zweifelloser 
Richtigkeit.  Zur  Erklärung  sagt  BeHermann:  „Intrieatus  locus,  cuius  difficul- 
tates  indicare  licet,  non  expedire."  Und  weiterhin:  „Itaque  hunc  totum  locum, 
mihi  quidem  omnino  desperatum,  lectoris  acumini  relinquo  expediendum." 

Fr.  Bellermann  selber  ist  der  Entdecker  der  Thatsache  (welche  seiner- 
seits auch  Fortlage  entdeckt  und  in  demselben  Jahre  mit  Bellermann  veröffent- 
licht hat»,  dass  die  Notenzeichen,  mit  welchen  die  Griechen  ihre  Transpositions- 
Scalen  notiren,  genau  auf  demselben  Principe  beruhen,  wie  unsere  modernen 
Noten,  sofern  diese  durch  b  um  einen  Halbton  erniedrigt  oder  durch  &  um 
einen  Halbton  erhöht  werden.  Der  griechischen  Notenschreibung  zufolge 
werden  wir  durchaus  in  unserem  Rechte  sein  fbloss  Oskar  Paul  bestreitet  es), 
wenn  wir  den  Proslambanomenos  der  Hypodorischen  Transpositions  -  Scala 
unserem  grossen  F  gleichsetzen.  Dazu  kommt  die  andere  wichtige  Entdeckung 
Fr.  Bellermanns,  dass  die  griechische  Stimmung  um  eine  kleine  Terz  tiefer 
steht  als  die  unserige,  dass  also  der  Hypodorische  Proslambanomenos,  welcher 
mit  Rücksicht  auf  die  Xotirung  einem  grossen  F  entspricht,  dem  Klange 
nach  identisch  mit  unserem  grossen  D  ist.  Stellen  wir  nun  zwei  Tonleitern 
unter  einander:  die  obere  diejenige,  deren  Klänge  der  griechischen  Notirnng 
nach  sich  ergeben;  die  untere  Tonleiter,  deren  Klänge  ein  jeder  eine  kleine 
Terz  tiefer  als  der  darüber  stehenden  der  oberen  Tonreihe  ist: 

hypat.      mesoeid.  netoeid. 


Schreibung:  Bcdesfgasbcde 
Klang  •  G  A   H  c    d   e    f    g   a   h  c 

In  dem  Folgenden  werden  wir  uns  bloss  an  dem  griechischen  Notirungs- 
werthe  der  Klänge  halten  und  die  Differenz  der  antiken  und  modernen  Stim- 
mung nicht  weiter  urgiren. 

I.  Der  Topos  hypatoeides,  begrenzt  von  den  Noten  B  und  d,  d.  i. 
den  Klängen  G  und  H:  an  ihm  partieipiren,  wie  der  Anonymus  richtig  angiebt, 
2  Hypolydische,  2  Hypophrygische,  1  Hypodorisches  Tetrachord.  Dieser  To- 
pos hypatoeides  ist  nach  Pseudo-Euklides  Darstellung  ein  wesentliches  Er- 
forderniss  für  den  Tropos  tragikos.  d.  h.  für  die  Weise  des  tragischen  Chor- 


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XVI.  Die  verschiedenen  Ktimm-Klassen. 


417 


liedes  —  denn  die  tragischen  Monodieen  (Solo-Partieen  oder  Arien)  gehören  dem 
Topos  mesoeides  an. 

Jene  tiefen  Töne  erfordern  nothwendig  einen  bassirenden  Chor :  es  ist  zwar 
nicht  gut  denkbar,  dass  die  tragischen  Chorlieder  bloss  auf  jene  wenigen 
Töne  beschninkt  gewesen  sein  sollten;  aber  soviel  scheint  wohl  festzustehen: 
der  Topos  hypatocides  der  alten  Griechen  ist  die  Bassstimme,  sowohl  im  Ge- 
lange wie  bei  den  Instrumenten.  Im  Abschnitte  von  der  Melopocie  sagt 
Pseudo-Euklides  p.  21:  „In  dem  Tropos  tragikos  oder  hypatocides  zeigt  sich 
Hoheit,  Glanz  und  Adel,  männliche  Erhebung  der  Seele,  heldenmüthige  Thatkraft 
und  ähnliche'Affecte  dieses  Charakters."  Diesen  Eindruck  machten  also  die  Chor- 
gesiinge  der  Griechen  auf  den  Zuhörer  —  die  Tiefe  der  Klänge  scheint  für  die 
Erregung  dieser  Stimmung  ein  nicht  unbedeutendes  Moment  gewesen  zu  sein. 
So  konnte  denn  auch  Aristoxenus  im  Prooimion  §21  sagen:  „Wenn  auch  das 
System  an  und  für  sich  dadurch  nicht  geändert  wird,  so  wird  doch  durch  die 
Eigenthiimlichkeit  der  Stimmlage  dem  Melos  ein  nicht  geringer,  sondern  sehr 
grosser  Wechsel  (Nüancirung)  zu  Theil." 

II.  Der  Topos  mesoeides  begreift  den  Tonumfang  es  f  g  as  b,  kann 
ausgeführt  werden  sowohl  von  Bassstimmen  wie  von  Tenorstimmen,  um  von  den 
Baritonisten  abzusehen  (und  zwar  von  beiden  mit  fast  gleicher  Bequemlichkeit). 
Denn  die  sämmtlichen  fünf  Töne  von  e  bis  h  gehören  der  Mittelstimme  des 
Basses  und  die  drei  hohen  der  Mittelstimme  des  Tenors  an.  Fügen  wir  ausser 
dem  Tone  c  unten  noch  den  Ton  d  und  oben  dessen  Octave  d  hinzu,  so  erhalten 
wir  die  nämliche  Octave,  welche  nach  Ptolemäus  die  allgemein  (d.  h.  für  alle 
Stimmen)  sangbare  ist;  nur  dass  von  den  hier  fehlenden  Tönen  das  untere  d 
nicht  für  alle  Tenoristen,  das  obere  d  nicht  für  alle  Alfisten  gleich  bequem  ist. 
Der  t4t:o;  [xesoeior,;  enthält  also  diejenigen  Töne  der  von  Ptolemäus  2,  11 
bezeichneten  Octave,  welche  ohne  Ausnahme  für  alle  und  jede  Stimme, 
Bass,  Bariton,  Tenor,  Alt,  Sopran  mit  gleich  grosser  Leichtigkeit  und  Bequem- 
lichkeit zu  singen  sind.   (Griech.  Rhythm.  u.  Harm.  1867  S.  368.  380). 

Dieser  Stirn  m-Klasse  gehört  die  dithyrambische  Melopoeie  an :  das  sind  die 
Compositionen  ruhigen  Charakters,  durch  welchen  „Seelenfrieden,  ein  freier  und 
friedlicher  Zustand  des  Gemüthes  bewirkt  wird.  Dem  werden  angemessen 
sein  ^üe  Hymnen,  Päane,  Enkomien,  Trostlieder  und  ähnliches"  Pseudo-Euklid 
p.  21.  Die  hier  angeführten  Gattungen  der  chorischen  Lyrik  werden  also 
als  Nebengattungen  des  Dithyrambus  gefasst,  wobei  wir  nicht  sowohl  an  die 
Dithyramben  der  späteren  Zeit,  als  vielmehr  an  die  ruhiger  gehaltenen  Dithy- 
ramben des  Pindar  und  der  klassischen  Periode  zu  denken  haben.  Die  Me- 
lodieen  also,  in  welcher  diese  Chorliedcr  gesungen  werden,  bewegen  sich  vor- 
zugsweise in  den  Tönen  von  e  bis  a.  Insofern  also  der  Chorodidaskalos  ge- 
nöthigt  war,  sich  bei  der  Ausführung  des  Chores  zugleich  der  Bass-  und  Tenor- 
stimmen, oder  bei  Knabenchören  der  Alt-  und  Sopran-Stimmen  sich  zu  bedienen, 

fanden  diese  verschiedenen  zusammensingenden  Stimmen  in  der  Tonlage  von 
ArlitoxenuB,  Mellk  u.  Rhythmik.  27 


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418  Aristoxenus  zweite  Harmonik. 

e  bis  h  einen  überall  für  sie  passenden  x6tz<k.  Und  berücksichtigt  man,  dass 
die  meisten  Töne  dieses  Umfanges  immer  der  Mittelstimnie  angehören  (sowohl 
bei  Bassisten  als  Tenoristen  vgl.  oben),  so  kann  man  sagen,  dass  die  Bezeich- 
nung dieser  Stimmlage  als  t<St:o;  tjau-/aortx6;  auch  vom  Standpunkte  unserer 
Musik  ganz  richtig  ist,  denn  die  Mittelstimnie  ist  für  alle  Stimmklassen  die 
ruhige  (vgl.  Marx,  Compositionslehre  S.  342).  Selbstverständlich  wird  es  indess 
häufig  genug  vorgekommen  sein,  dass  der  hesyehastischc  Chorgesang  jene  Grenze 
nach  unten  und  oben  hin  wenigstens  um  einige  Töne  überschritten  hat.  am 
häufigsten  wird  wohl  der  noch  für  alle  Stimmen  sangbare  Ton  c  hinzugekom- 
men sein.  • 


III.  Der  Topos  netoeides  umfasst  die  Töne  b  c  d  es,  welche,  wie  der 
Anonymus  richtig  bemerkt,  2  Tetrachorden  der  Mixolydischen  und  1  Tetrachorde 
der  Hypermixolydischon  Transpositionsscala  angehören.  Diese  Klänge  sind 
demjenigen  Tropos  Melopoiias  wesentlich,  welchen  man  wie  Pseudo-Euklid  p.  21 
und  Aristides  p.  28  berichten,  nach  seinem  vornehmsten  Eidos  den  Tropos  nomi- 
kos,  d.  h.  die  Compositionsmanier  des  Nomos,  und  nach  seinem  bewegten  Cha- 
.  rakter  den  Tropos  systaltikos  nannte.  Auch  der  Bassist  kann  jene  vier  Töne 
hervorbringen,  aber  nur  in  seiner  hohen  Stimmregion.  Wir  müssen  not- 
wendig annehmen,  dass  ein  Nomos,  d.  i.  ein  Sologesang  religiösen  Charakters 
an  den  grossen  Nationalfesten  vorgetragen,  unmöglich  bloss  auf  die  vier  an- 
gegebenen beschränkt  sein  konnten.  Die  darüber  hinausgehenden  Melodieen 
werden  von  Bassisten  nicht  mehr  gesungen.  Dagegen  passen  alle  diese  Töne  ganz 
eigentlich  für  den  Tenor,  welcher  sogar  jene  sämmtlichen  vier  Töne  des  Topos 
netoeides  noch  in  seiner  Mittelstimme  hat.  Daraus  gewinnen  wir  das  Resultat, 
dass  die  Melodieen  des  auf  den  Topos  netoeides  basirten  Tropos  nomikos  oder 
systaltikos  Tenoristen  erforderten.  Ausser  dem  Nomos  gehören  nach  Pseudo- 
Euklid p.  21  hierher  auch  die  dpamxd,  Op-fjvoi,  olxxoi  xal  tä  irapanX-riata.  Solche 
Klassen  der  Vokalmusik  wurden  bei  den  Griechen  also  vorwiegend  durch 
Tenorstimmen  ausgeführt.  Der  auf  Aristoxenus  zurückgehende  Berichterstatter 
sagt  von  dem  systaltischen  Topos  der  Melopoeie:  das  Gcmüth  werde  dadurch 
in  eine  weichliche  und  weibische  Stimmung  gebracht;  er  werde  für  erotische 
Affecte,  für  Klagen  und  Jammer  und  ähnliches  geeignet  sein.  Es  ist  dies  wohl 
diejenige  Erregtheit,  welche  wir  Sentimentalität  nennen.  Auch  die  Sologesänge 
der  Tragödie  sind  zu  dem  systaltischen  Ethos  hinzu  zu  rechnen.  Dies  alles 
also  wurde  bei  den  Griechen  von  Tenoristen  ausgeführt  Was  Aristoxenus 
von  den  im  Topos  netoeides  ausgeführten  Melopoeien  sagt,  stimmt  mit  der  Er- 
klärung, welche  Marx  a.  a.  O.  S.  384  von  dem  Charakter  des  Tenors  giebt,  „der 
Tenor  ist  jünglinghaft,  bald  für  schmelzende  Innigkeit,  bald  für  glühende  Leiden- 
schaft erregt;  der  Bass  männlich  reifer,  von  kernig  nachhaltiger  Kraft,  würdig 
und  ruhig,  aber  gewaltsamer  Ausbrüche  der  Leidenschaft  fähig;  —  der  Tenor 
wie  der  Discant  heller,  beweglicher,  der  Bass  wie  der  Alt  dunkler,  ruhiger." 

Ungefähr  denselben  Eindruck  machten  die  verschiedenen  Stimmklassen 
(der  Vokal-  und  Instrumentalmusik)  auch  auf  die  Griechen  wie  wir  nicht  an- 


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XVT.  Die  versclüedenen  Stimm-Klaasen.  419 


dere  nach  den  Trümmern  der  Aristoxenisehen  Charakteristik,  welche  sich  bei 
Pseudo-Euklid  und  Aristides  finden,  anzunehmen  haben.  Deshalb 

1.  Bass-Stimmen  für  den  tragischen  Chor; 

2.  eine  Stimmklasse,  an  der  sich  Bassisten  und  Tenoristen  betheiligen 
können  (eine  mittlere  Stimmklasse,  mesoeides  Topos)  für  die  lyrischen  Chöre 
des  Pindar  u.  s.  w.; 

3.  Tenorstimmen  für  die  Sologesänge  der  Bühne  und  der  Agonal-Coucerte. 

So  verstehen  wir,  weshalb  Aristoxenus  im  Prooimion  'sagen  konnte: 
,,Wenn  auch  das  System  an  und  für  sich  dadurch  nicht  verändert  wird,  so 
wird  doch  durch  die  Eigentümlichkeit  der  Stimmlage  dem  Melos  eine  gar  nicht 
unbedeutende,  vielmehr  eine  recht  grosse  Mannigfaltigkeit  zu  Theil." 


27* 


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XVII. 


Die  Transpoeitiona-Scalen. 

Prooim.  §  22. 

§  22.  „Haben  wir  aber  über  die  Systeme  und  die  Eigentümlichkeit  der 
„Stimmlagen  gehandelt,  dann  ist  auch  über  die  Transpositionsscalen  zu  sprechen, 
„nicht  in  der  Weise,  dass  wir  gleich  den  Harmonikern  die  Katapyknosis  zu 
„Grunde  legen. 

„Ueber  diesen  Abschnitt  haben  einige  von  den  Harmonikern,  doch  ohne 
„ihn  besonders  zu  behandeln  und  nur  um  das  Diagramm  auf  dem  Wege  der 
„Katapyknosis  herzustellen,  in  der  Kürze  und  nach  Zufall  einiges  bemerkt,  über 
„das  Allgemeine  hat  jedoch  kein  einziger  gesprochen;,  dies  ist  uns  aus  dem 
„Vorausgehenden  (über  die  Meinungen  der  Harmoniker)  klar  geworden." 

So  scheint  der  Text  des  Aristoxenus  wörtlicher  als  oben  auf  S.  218  wieder- 
gegeben werden  können. 

In  der  Vorlesung,  welche  in  dem  Vorlesungs-Cyklus  über  „das  Melos" 
der  Harmonik  unmittelbar  vorausging,  den  „oofcai  äpj.iovtxcüV,  wie  Aristoxenus 
selber  sie  nennt  (vgl.  S.  200),  hatte  dieser  auch  das  Historische  bezüglich  der 
Doctrin  von  den  Transpositionsscalen  behandelt,  wie  die  angezogene  Steile  des 
Prooimions  zur  ersten  Harmonik  besagt.  Wir  sind  so  glücklich,  gerade  über 
diese  von  den  Früheren  über  die  Transpositionsscalen  gehegte  Meinungen  die 
Hauptsache  zu  kennen,  denn  in  dem  Prooimion  zu  seiner  dritten  Harmonik 
hat  Aristoxenus  diese  Meinungen  ausführlicher  recapitulirt.  Auch  wir  werden 
in  der  dritten  Harmonik  des  Aristoxenus  ausführlicher  darauf  ein- 
zugehen haben. 

Die  Disposition,  welche  Aristoxenus  dem  Abschn.  XVII  gegeben  hat,  ist 
uns  völlig  unbekannt.  Doch  von  dem  allgemeinen  sachlichen  Inhalte  ist  uns 
nicht  weniges  durch  die  späteren  auf  Aristoxenus'  Doctrin  zurückgehenden 
Musikschriftsteller  zugekommen.  Durch  keinen  mehr  als  wieder  durch  Pseudo- 
Euklid und  Aristides,  deren  jeder  hierbei  des  Aristoxenus  namentlich  Erwäh- 
nung thut. 


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XVII.  Die  Transpositions-Scaleu. 


421 


Pseudo-Eüklip  excerpirt: 

Das  Wort  Tonos  hat  in  der  Musik  vierfache  Bedeutung:  Klangstufe,  Inf  er' 
vall,  Trans positionsscala  des  Systeme*,  Klanghöhe. 

a)  Von  der  Klangstufe  gebrauchen  den  Ausdruck  „Tonos"  diejenigen, 
welche  die  Phormynx  siebentönig  nennen,  tcie  Terpander  und  Jon. 

Terpander: 

Jetzt  viertönige  Lieder  verschmähend,  beginnen  wir  neue. 
Hymnen  ertönen  zu  lassen  auf  sieben  der  Phorminx-Saiten. 

b)  Als  Inf  ervall  bedeutet  Tonos  den  Ganzton ,  z.  B.  wenn  wir  sagen: 
von  der  Afese  bis  zur  Parumese  ist  ein  Tonos. 

c)  Als  Tran* positionsscala  wenn  wir  sagen:  Dorischer,  Phrygischer,  Ly- 
discher  Tonos. 

d)  Ah  Tonhöhe  wenn  wir  Hochion,  Mittelton,  Tiefton  sagen. 

Transpositionsscalen  icerden  von  Arisioxenus  der  Zahl  nach  13  statuirt 

1.  Der  Hypermixolydischc  Tonos,  auch  Hyperphrygisch  genannt. 
2.  3.  Zwei  Mixolydische,  ein  hoher  und  ein  tiefer. 

Der  Hoch- Mixolydische ,  wird  auch  Hyper-Jastisch  genannt. 
Der  Tief- Mixolydische  auch  Hyper- Dorisch  genannt. 
4.  5.  Zwei  Lydische,  dn  Hoch-Lydischer 

und  ein  Tief '•  Lydischer ,  welcher  auch  Aeolisch  genannt  wird. 
6.  7.  Zwei  Phrygische,  ein  Hoch- Phrygischer,  welcher  auch  Jost  Lieh  heisst. 
Ein  Tief- Phrygischer. 
8.  Ein  Dorischer. 
9.  10.  Zwei  Hypo- Lydische : 

Ein  Hoch-Hypolydischer. 

Ein  Tief- Hypo- Lydischer,  welcher  auch  Hypo-Aeolisch  genannt  wird. 
11.  12.  Zwei  Hypo- Phrygische,  von  denen  der  Tief  Hypo- Phrygische  auch 
Hypo-Jastisch  genannt  wird. 
13.  Hypo- Dorisch. 

Von  diesen  ist  der  höchste  der  Hyper-Mixolydische. 

Die  folgenden  stehen  von  dem  höchsten  bis  zum  tiefsten  je  um  einen  Halb- 
ton von  einander  ab. 

Die  Parallel- Tonoi  je  um  ein  Trihemitonion. 

Analog  wird  es  sich  auch  mit  dem  Abstände  der  Übrigen  Tonoi  verhalten. 

Der  Hypo- Mixolydische  ist  eine  ganze  Octav  höher  als  der  Hypo- Dorische. 

Hierzu  fügeii  wir  den  Berieht  des  Aristides,  welcher  mit  Paeudo-Euklides 
aus  der  nämlichen  Quelle  schöpfte: 

Der  Begriff  von  Tonos  ist  in  der  Musik  ein  dreifacher:  a)  dasselbe  wie 
Klangstufe  (Tasis),  bj  eine  Infercallgrösse,  c)  ein  bestimmter  Tvopos  des  Systems. 
Hiervon  ist  jetzt  zu  reden. 


■ 


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422 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


Nach  Aristoxenus  giebt  es  dreizehn  lonoi,  deren  Proslambanomenoi  in 
einer  Octave  enthalten  sind,  nach  den  Neueren  fünfzehn. 

Nach  Aristoxenus  Benennung  sind  es  folgende-. 

1.  Min  Hypo- Dorischer. 
2.  3.  Zwei  Hypo-Phrygische,  der  eine  Tief-Hypophrygisch,  auch  Hypo- 

Jastisch  genannt,  der  andere  Hoch-Hypophrygisch. 
4.  5.  Zwei  Hypo- Lydische,  der  eine  Tief-Hypolydisch,  auch  Hypo- Aeolisch 
genannt,  der  andere  Hoch-Hypolydisch. 
6.  Ein  Dorischer. 

7.  8.  Zwei  Phrygische,  der  eine  Tief-Phrygisch,  auch  Jaslisch  genannt,  der 
andere  Hoch-Phrygisch. 
9.  10.  Zwei  Lydische,  der  eine  Tief-Lydisch,  jetzt  Aeolisch,  der  andere 
Hoch- Lydisch. 

11.  12.  Zwei  Mixolydische ,  der  eine  Tief-Mixolydisch,  jetzt  Hyper-Dorisch, 
der  andere  Hoch-Mixolydisch,  jetzt  Hyper-Jasfisch. 

13.  Hyper-MixolydUch,  auch  Hyper-Phrygisch; 
Diesen  werden  von  den  Neueren  noch  hinzugefügt  ■. 

14.  Hyper- Aeolisch. 

15.  Hyper- Lydisch. 

Ein  jeder  von  diesen  Tonoi  ist  um  einen  Halbion  höher  als  der  voraus- 
gehende; tcill  man  aber  von  dem  höchsten  Tonos  an  beginnen,  so  ist  der  folgende 
um  einen  Halbton  tiefer  als  vorausgehende. 

Die  Berichte  des  Pseudo-Euklid  und  Aristides  unterscheiden  sich  äusscr- 
lich  darin,  das«  das  Verzeichnis  des  Euklid  mit  dem  höchsten,  das  des  Ari- 
stides mit  dem  tiefsten  Tonos  beginnt.  Auch  der  Anonymus  p.  28  beginnt 
wie  Euklides  seine  Verzeichnisse  der  Tonoi  mit  dem  höchsten  TonoB.  Ebenso 
auch  Bacchius.  Alypius  ortinet  seine  Verzeichnisse  nach  den  parallelen  Trans- 
positions-Scalen,  wie  sie  Pseudo-Euklid  nennt.  Dieselbe  Anordnung  lag  auch 
dem  verstümmelten  Verzeichnisse  des  Gaudentius  zu  Grunde,  nicht  minder  auch 
dem  des  Anonymus. 

Ich  habe  keinen  Grund  gefunden,  von  meiner  nunmehr  dreissigjfthrigen 
Ueberzeugung  abzugehen,  dass  Bellermann  dass  Richtige  dargethan,  wenn  er 
sagt,  dass  mit  Bezug  auf  die  Notenzeichen  der  Hypo-Dorische  Proslambano- 
menos  genau  unserem  F  entspricht,  während  die  Stimmung  der  grieehischen 
Sealen  um  eine  grosse  Terz  tiefer  als  die  unserige  sei.  Bezüglich  der  Notirung 
ist  also  der  Tonos  Hypodorios  identisch  mit  unserer  zwei  Octaven  des  Basses 
umfassenden  F-Moll-Scala. 


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XVII.  Die  Transpositions-Scalen.  423 

1    *     1    1    *  11 
Hypodor.  F  G  As   B   c   des   es   f  g  as   b   c   des   es  f 


114    11      *  1 
Tief-Hy]>ophry.  (Hypoiast )      Fis  Ais  H    A  eis   d    e   fis  gia  a    Ii  eis    d     e  Iis 

11*11*  1 
Hoeh-Hypophryg.  GAB     c    d    es   fgabedesf  g 

111*11  i 
Tief-Hypolyd.  (Hypoaeol.)     Gis  Ais  H   eis  dis   e  fis  gis  ais  h   eis  dis   e    fis  gis 

l    1    1    *    1    1  * 

Hoch-Hypolyd.  A   H  c     de    fgahede    f    g  a 


4     llli  11 


Dor.  B   c  des  es    f  ges  as   b    c  des  es   f  ges  as  b 


Ii     111      J  1 
Tief-Phryg.  (Jast.)  H  eis   d    e   fis  gis  a    h   eis   d    e   fis    g    a  h 

1    *     111}  1 
Hoeh-Phryg.  .  c    d    es    f  g   as   b   c    d    es    f   g    as    b  c 


11*111  1 

Tief-Lyd.  (Aeol.)  eis  dis   e   fis  gis  a    h  eis  dis   e   fis  gis    a    h  eis 

11*111* 
Hneh-Lyd.  d    e    f    g    a   b    c    d    e     f    g    a    b     c  d 


1        *      1     1   *    1  1 

Mixolyd.  es    f  ges  as   b  ces  des  es   f  ges  as   b    ces  des  es 

1     *    1     1     i    l  1 
Hoeh-Mixolyd.  (Hyp.-Jast.)      e   fis   gäbe    d    e   fis   g    a     h    c     d  e 


1     i     l     1    *  11 
Hyper-Mixolyd.  (Hyp.-Phr.)      f    g   as   b    c  des  es    f    g   as    b     e   des  es  f 


11*11       \  1 
Hyper-Aeol.     fis  gis  a   h    eis   d    e   fis  gis  a    h    eis    d    c  fis 


11*11     \  1 
Hypcr-Lyd.       g    a    b    c    d    es    f    g    a    b    e     d    es     f  g 


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424 


Aristoxeuus  zweite  Harmonik. 


Parallele  Transpositionsscalen  nennen  die  Alten  die  nächst  benachbarten 
Scalen  des  Quarteu-Cirkels,  welche  mit  einander  in  der  xoivcuvla  xatd  Tetprfyopoa 
stehen.  In  dieser  Tetracliord- Verwandteehaft  stehen  z.  B.  die  Hyperdorisehe, 
die  Dorische  und  die  Hypodorische  Scala.  Die  Verwandtschaft  ist  so  zu  fassen, 
dass  die  Hyperdorische  Hypate  hypaton,  (d.i.  Unter-Quarte)  zugleich  die  Do- 
rische Mese,  (d.  i.  Tonica),  ist  —  die  Dorische  Hypate  hypaton  zugleich  die  Hy- 
podorische Mese.  —  Die  höhere  Octave  der  Hypodorischen  Scala  heisst  Hyper- 
phrygisch,  und  es  stehen  nun  wiederum  Hyperphrygisch,  Phrygisch  und  Hypo- 
phrygisch  in  derselben  Tetrachordgemeinschaft.  Genau  so  verhält  es  sieh  mit 
der  Hyperlydischcn,  Lydischen  und  Hypolydischen  Scala  u.  ».  f.  Dies  ist  das 
Princip,  nach  welchem,  wie  oben  gesagt,  die  Scalen- Verzeichnisse  bei  Alypius 
Gaudentius  und  dem  Anonymus  I  angeordnet  sind. 

Aristoxeuus  selber  aber  hat  die  Tonoi  nicht  nach  ihrer  Verwandtschaft, 
sondern  genau  wie  Bach  in  seinem  wohltemj)crirten  Claviere  nach  ihrem  A  b  - 
stände  um  einen  Halb  ton  geordnet.  Wie  wir  aus  dem  Prooiuiion  der 
dritten  Harmonik  erfahren,  waren  schon  vor  ihm  (bei  den  alten  Harmonikern) 
auf  die  Transpositionsscalen  die  Namen  der  Octaven-Gattungen  oder  Harmo- 
nieen  übertragen  worden.  Irgeud  ein  bestimmter  Abschnitt  eines  jeden  Tonos 
ist  nämlich  identisch  mit  der  dem  Tonos  gleichnamigen  Octaven-Eidos.  Boeckh 
war  der  erste,  welcher  erkannte,  dass  der  in  Rede  stehende  Abschnitt  eines 
jeden  Tonos  mit  solchen  griechischen  Vocal- Noten  bezeichnet  wird,  welche  die 
umnodificirten  Buchstaben  des  ionischen  oder  neu-attischen  Alphabetes  sind. 
Unser  Verzeichniss  auf  S.  423  zeichnet  die  in  Rede  stehenden  Abschnitte  eines 
jeden  Tonos  durch  eine  darunter  stehende  gerade  Linie  aus. 

Das  Princip,  die  Transpositionsscalen  nach  den  Octavengattungen  zu  be- 
nennen, ist  älter  als  Aristoxeuus.  Doch  bestand  in  der  früheren  oder  frühesten 
Nomenclatur  der  Tonoi  nicht  völlige  Identität  mit  der  späteren  von  Aristoxenus 
vertretenen. 

Plutarch  de  mus.  29  excerpirt  aus  einer  anonymen  Quelle,  wahrscheinlich 
einer  Aristoxenischen  Schrift:  „floXvjAvaoToj  Ii  t&v  Ö'öttoXüoiov  vüv  ovo(jia!|ö(jL£viv 
xövov  dlvaTtÖiaat."  „Auf  Polymnastos  [einen  alten  Auloden  aus  der  Reihe  der 
Begründer  der  zweiten  musischen  Katastasis  Spartas]  führt  man  den  Tonos 
zurück,  welcher  jetzt  der  Hypolydios  genannt  wird."  Aus  der  dritten  Ari- 
stoxeniBchen  Harmonik  §  19  (vgl.  unten)  ergiebt  sich,  dass  dieser  Tonos  des 
Polymnastos  die  Transpositionsscala  in  A  ist,  welche  weil  sie  über  der  in  B 
beginnenden  Dorischen  Transpositionsscala  lag,  früher  „Tonos  Hypodorios" 
i  genannt  wTurde,  später  aber  die  Benennung  „Hypolydisch"  erlüelt.    Das  durch 

„Hypo"  gebildete  Com|K>situm  diente  also  früher  zur  Bezeichnung  der  „unmit- 
telbar" (d.  i.  in  diesem  Falle  einen  Ganzton  tiefer  liegende  Scala).  späterhin 
aber  bedeutete  es  die  um  ein  Quarten-Intervall  tiefer  liegende  Scala.  Aristox. 
scheint  es  nicht  zu  sein,  durch  welchen  die  letztere  Bedeutung  von  „Hyj>o"  • 
zuerst  eingeführt  wurde,  denn  in  d6m  weiterhin  zu  erörternden  Scalen- Ver- 
zeichnisse der  eine  Hexas  von  Transpositionsscalen  statuirenden  alten  Harmo- 


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XVII.  Die  Transpositions-Scalen. 


425 


niker  findet  sich  der  Name  Tonos  Hypophrygios  für  die  in  G  beginnende 
Transpositionsscala  bereits  in  der  späteren  Bedeutung:  „eine  Quarte  tiefer" 
als  der  Tonos  Phrygios.  Vgl.  Dritte  Harmonik. 

Aristoxenus  aber  scheint  es  gewesen  zu  sein,  der  die  in  der  Zeit  nach 
Polymnastos  die  dem  „Hypo"  beigelegte  Bedeutung  consequent  durchgeführt  hat: 
Dorisch  .  .  .  Hy po-Dorisch ,  Phrygisch  .  .  .  Hypo-Phrygisch ,  Lydisch  .  .  . 
Hypo-Ly disch.  Damit  war  deY  Anfang  gemacht  für  die  Kategorie  der  paral- 
lelen Tonarten  im  Sinne  der  Alten  (vgl.  S.  424).  Die  Bezeichnung  „Hyper" 
aber  wandte  Aristoxenus  noch  nicht  von  der  um  eine  Quarte  höheren  Scala, 
sondern  noch  ähnlich  wie  Polymnastos  bei  seinem  Tonos  Hypolydios  von  der 
unmittelbar  höheren  Scala  an,  wie  aus  dem  Aristoxenischen  Tonos  „Hyper-Mixo- 
lydios"  hervorgeht  S.  423. 

Eine  bedeutungsvollere  und  folgereichere  Neuerung  des  Aristox.  ist  die, 
dass  er  für  den  Umfang  einer  ganzen  Oetav  auf  jeden  der  Grenztöne  der  in  ihr 
enthaltenen  zwölf  Halbtonintervalle  eine  Transpositionsscala  und  somit  statt  der 
unmittelbar  vor  ihm  angenommenen  7  Touoi  deren  13  statuirte.  Die  sieben 
überlieferten  Scalen  entsprachen  genau  unseren  b-Touarten  und  der  Scala  ohne 
Vorzeichnung.  Die  Kreuz -Tonarten  aufgebracht  zu  haben,  auf  diesen  Fort- 
schritt hat  Aristoxenus  den  Anspruch  zu  erheben.  Auch  für  die  Notirung  der- 
selben muss  Aristoxenus  verantwortlich  gemacht  werden.  Bei  den  früheren 
Tonoi  war  die  Notirung  darin  mangelhaft,  dass  man  in  ihnen  streng  genommen 
nur  das  enharmonische  Klanggeschlecht  und  das  auf  Terpanders  Vereinfachung 
basirte  gemischte  Diatonen  richtig  bezeichnete,  während  alle  übrigen  Klang- 
geschlechter  und  Mischungen  in  der  Notation  nicht  vou  einander  gesondert 
werden  konnten.  Vgl.  S.  407.  413.  Die  Kreuz-Tonarten  dagegen  sind  recht 
eigentlich  für  die  Notation  ungemischter  diatonischer  Musik  geeignet. 

Aristoxenus  bewies  weit  grössere  Umsicht  als  der  mehrere  Jahrhunderte 
später  lebende  Ptolemfius,  der  eine  Rückkehr  zu  den  sieben  vor-Aristoxehischeu 
Tonoi  versucht.  Aristoxenui* ,  wie  so  oft  hat  er  auch  hier  prophetisch  in  die 
Musik  der  Zukunft  hineingegriffen.  Unser  grosser  Joh.  Seb.  Bach  ist  es,  wel- 
cher zum  ersten  Male  für  ewige  Zeit  die  sämmtlichen  Scalen  des  Aristoxenus 
aus  der  Theorie  in  die  Praxis  eingeführt  hat. 

Für  die  Benennung  der  von  ihm  hinzugefügten  JJ  -  Tonarten  blieb  Aristo- 
xenus bei  dem  einmal  bestehenden  Principe  der  Terminologie.  In  den  b- Ton- 
arten war  die  jedesmalige  von  f  bis  f  reichende  Octav  die  den  Namen  des 
Tonos  bestimmende  Octavengattung.  Den  Namen  der  Tonarten  bestimmte 
Aristoxenus  nach  der  um  einen  Halbton  tiefereu  Octav  von  e  bis  e.  Und  hier- 
nach unterschied  er  für  das  Hypophrygischc ,  Hypolydische ,  und  Lydische  je 
einen  „Tonos  barytoros"  (alsfl-Tonart)  und  einen  „Tonos  oxyteros"  (als  b-Ton- 
art).  Einen  Halbton  oberhalb  der  Mixolydischen  Scala  (es  Moll)  liess  er  als 
e  Moll  Tonart  den  Tonos  „Mixolydios  oxyteros44  folgen.  Als  obersten  und 
letzten  Tonos  der  Octave  F  bis  f  statuirte  er  als  höheres  f  Moll  den  Tonos 
Hyj)ermixolydios. 


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420 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


Schon  zu  Lebzeiten  des  Aristoxenus  wurde  gegen  das  von  ihm  aufge- 
stellte System  der  g-  Tonarten  aufs  heftigste  angekämpft,  wie  auch  sonst  der 
geniale  Neuerer  bei  aller  seiner  Umsicht,  Klarheit  und  Gewissenhaftigkeit  so 
vielfach  von  seinen  Zeitgnossen  falsch  verstanden  wurde.  In  unserem  Falle 
ist  uns  zufällig  überliefert,  mit  welchen  Vorwürfen  und  Schmähungen  ihn  ein 
College  aus  der  Schule  des  Aristoteles,  der  um  die  Geschichtsschreibung  der 
Musik  wohl  verdiente  Heraklides  Ponticus,  wegen  der  fl-  Tonarten  überschüt- 
tete. Es  mochte  wohl  auch  ein  wenig  kleinlichsr  Missgunst  dem  Heraklides 
die  Feder  führen. 

„Zu  verachten  sind"  —  so  schreibt  er  ap.  Athen.  14,625  d.  —  „dieje- 
nigen, welche  die  Unterschiede  der  Octavengattungen  einzusehen  nicht  im 
„Stande  sind,  sondern  lediglich  der  Höhe  und  Tiefe  der  Klänge  folgend  über 
„der  Mixolydischen  Harmonie  eine  höhere  und  wiederum  über  dieser  eine  an- 
„dere  statuiren."  [Ueber  dem  Tonos  Mixolydios  (in  es)  hatte  Aristoxenus  den 
Tonos  Mixolydios  oxyteros  (in  e)  und  über  diesen  den  Hypermixolydios  (in  f )  an- 
genommen], „Ich  sehe  nämlich,  dass  nicht  einmal  das  (höhere)  Hypo-Phrygische 
„(libb.  Hyperphrygische )  ein  eigenes  Ethos  hat,  obwohl  es  Leute  giebt,  welche 
„behaupten,  eine  andere  neue  Hypo-Phrygische  Harmonie  erfunden  zu  haben. 
„Was  nämlich  eine  Harmonie  sein  soll,  muss  eine  eigene  Art  von  Ethos  oder  Pa- 
„thos  haben,  wie  z.  B.  die  Lokristi,  welche  bei  einigen  Zeitgenossen  des  Sinio- 
„nides  und  Pindar  in  Aufnahme,  späterhin  aber  in  Missachtung  kam.14 

Heraklides*  deutet  mit  dem  „Erfinder  neuer  Transpositionsscalen"  auf  den 
Aristoxenus  so  unverblümt,  dass  es  der  Nennung  des  Namens  nicht  bedurfte. 
Seine  Meinung  ist,  dass  nur  solche  Transpositionsscalen  zulässig  sind,  welche 
(von  F  bis  f)  ein  besonderes  Eidos  der  Octave  aufweisen.  Die  Lokristi,  die- 
selbe Octavengattung  wie  die  Hypodorische,  wird  wenigstens  harmonisch  als 
eine  von  diesem  verschiedene  Octavengattung  behandelt.  Was  aber  Aristoxe- 
nus tieferes  Hypolydisch  nennt,  die  Scala  in  Fis,  repräsentirt  keine  eigentüm- 
liche Octavengattung,  daher  kann  es  auch  keine  derartige  Transpositionsscala 
geben.  Daher  die  widersinnige  Anschuldigung,  Aristoxenus  (kein  anderer  ist 
gemeint)  wisse  nicht,  was  Octavengattung  sei. 

Der  energische  Denker  war  seinen  Zeitgenossen  zu  weit  vorangeschritten, 
als  dass  sie  fähig  gewesen  wären,  ihn  zu  verstehen.  Gab  es  doch  noch  im 
letzten  Deceunium  Gelehrte,  welche  gegen  die  geniale  Aufstellung  des  Chrouos 
protos  in  ähnlicher  Weise  wie  Aristoxenus'  damalige  Widersacher  poleinisirten, 
deneu  er  in  einem  Abschnitte  der  vermischten  Tischgespräche  mit  einem  Verse 
aus  Ibycus  antwortet. 

Dass  Aristoxenus  es  gewesen,  welcher  die  Tonoi  durch  die  Kreuztonarten 
vervollständigt  (direkte  Ueberlieferungen  aus  diesem  Abschnitte  seiner  Har- 
monik fehlen  uns  ja),  steht  mit  dem  ganzen  Wesen  seiner  Arbeiten  in  so  ge- 
nauem Zusammenhange,  dass  wir  zufolge  den  Exeerpten  des  Pseudo-Euklid  und 
Aristides  nicht  daran  zweifeln  können.  Auf  wen  anders  auch  Hessen  sich  diese 
Tonoi  zurückführen?    In  der  griechischen  Harmonik  v.  J.  1867  dachte  ich 


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XVTI.  Die  Transpositions-Scalen 


427 


auch  an  den  Athener  Stratonikus,  doch  die  aus  Phanias  stammende  Notiz  bei 
Athenaeus  8,  352  c  xai  tq  iidpafipa  «yveuT^oato  ißt  zu  kärglich,  um  darauf  zu 
bauen. 

Von  den  #  -  Tonarten  scheint  zuerst  die  e  Moll-Scaia,  von  Aristoxenus 
„höheres  Mixolydisch"  genannt,  als  Tonart  der  Kitharoden  und  Auleten  in  Ge- 
brauch gekommen  zu  sein.  Vir  lesen  bei  Plut.  de  mus.  37 :  'Ap-jeiou;  jxsv  f  dp 
xol  xMctctv  enöeival  tozl  ^aot  ttq  eU  -rfjv  fiouaix^v  Ttapavofxla  Cr^AiÄoat  xe  tö  rpä»- 
tov  toi;  irXelosi  täv  szto  yprjoaoöat  rap'  a-itof;  t«5vo»v  (Ubb.  yopö&v)  xai  itapa[Mfco- 
XjoidCetv  inyeipfjoavro."  Die  Argivei  waren  demnach  unwillig,  als  in  einem 
musischen  Agon  ein  Kitharode  oder  Aulet  auftrat  und  die  alte  Heptas  der 
Tran^positionsscalen  überschreitend  sich  in  einer  über  den  Tonos  Mixolydios 
liegenden  Scala  bewegte.  Das  Wort  7rapa{u;oX-jotdC6iv  kann  nichts  anderes  als 
ein  Hinausgehen  über  den  Tonos  Mixolydios  bezeichnen. 

Ware  in  der  obigen  Stelle  des  Heraklides  das  Wort  Hyperphrygios  die 
richtige  Lesart  (wir  haben  dafür  das  auch  gleich  darauffolgende  Wort  Hypophryg. 
gesetzt),  dann  hätten  wir  wohl  anzunehmen,  dass  bereits  bei  Aristoxenus  der 
Ausdruck  Tonos  Hyperphrygios  neben  Hyper-Mixolydios  gebraucht  worden  sei, 
und  unsere  obige  Angabe  über  die  Anwendung  des  Ausdruckes  „Hypcr"  in 
den  Aristoxenischen  Tonoi  würde  zu  modificiren  sein.  Aber  gegen  die  Richtig- 
keit der  Lesart  Hyperphrygios  spricht  es  sehr,  dass  alsdann  Aristoxenus  auf 
den  Namen  der  Transpositiousscala  den  Namen  einer  Octavcngattung  über- 
tragen hätte,  welche  mit  dem  betreffenden  Tonos  in  ganz  und  gar  keiner  Be- 
ziehung steht.  Dies  lässt  sich  von  Aristoxenus,  der  ja  von  dem  Vorwurfe  des 
Heraklides  die  Octavengattungen  nicht  zu  kennen  frei  wie  kein  anderer  ist, 
nicht  voraussetzen. 

Noch  viel  weniger  dürfen  wir  es  dem  Aristoxenus  zutrauen,  dass  er  es  sei, 
welcher  das  „Tief-Lydische"  auch  als  „Aeolisch",  das  „Tief-Phrygische"  auch 
als  „Jas tisch'1  bezeichnet  habe,  da  die  betreffenden  Ausschnitte  der  Hypoly- 
dischen  dieser  Transpositionsscalen  mit  der  J astischen  und  Aeolischen  Harmonie 
(Octaven-Eidosi  durcliaus  nichts  gemein  haben.  In  der  That  drückt  sich  Aristides 
so  aus:  „Tief-Lydisch,  welches  jetzt  Aeolisch  genannt  wird".  Es  ist  dieser  die 
Benennung  Aeolisch  hinzufügende  Zusatz  eine  Bemerkung  zu  dem  im  Anfange 
Gebrauchten:  „Nach  Aristoxenus'  Benennung  sind  die  Tonoi  .  .  Das  eine 
ist  dem  anderen  gegenüber  gestellt.  Ebenso  sagt  Aristides  vom  Ticf-Mixoly- 
dischen,  „welches  jetzt  Hyperdorisch  heisst",  vom  Hoch-Mixolydischen,  „wel- 
ches jetzt  Jastisch  heisst." 

Es  ist  auf  Grund  der  angezogenen  »Sätze  des  Aristides  wohl  kaum  eiu 
Zweifel  daran  verstattet,  dass  die  ungehörigen  Benennungen  Jastisch  und  Aeo- 
lisch wohl  erst  durch  den  Musiker  aufgekommen  sind,  welcher  die  Zahl  der 
dreizehn  Aristoxenischen  Tonoi  durch  die  höhere  Octave  des  Tief-Hypophry- 
gischen,  genannt  Hypo- Jastisch  (in  fis)  und  die  höhere  Octave  des  Hoch-Hypo- 
phrygischen,  genannt  Hyper-Lydisch  (in  g)  erweiterte.  Und  eben  jener  Theo- 
retiker scheint  kein  anderer  als  derjenige  gewesen  zu  sein,  auf  welchen  wir 


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428 


Aristoxenus  zweite  Harmonik. 


uns  schon  melirmals  bezieben  mussteu:  ein  dem  Namen  nach  uns  unbekannter 
Aristoxeneer,  welcher  das  System  seines  Meisters,  wie  es  scheint,  nach  der 
dritten  Harmonik  umarbeitete  und  die  Quelle  wurde,  aus  welcher  l'seudo- 
Euklid  und  Gaudentius,  die  beiden  Anonymi  Bellermanns,  Alypius  und  zum 
Theil  auch  Aristides  ihre  harmonischen  Compendien  verfasst  haben. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  ist,  was  offen W  aus  derselben  Quelle  d«r 
erste  Anonymus  über  die  verschiedene  Verwendung  der  Transpositionsscaleu 
in  den  verschiedenen  Zweigen  der  Musik  excerpirt  hat:  1.  Orchestische  Mu6ik, 
d.  i.  Chorgesang,  2.  Kitharodik,  3.  Auletik,  4.  Hydrauletik.  Die  folgende  Ta- 
belle stellt  diese  Vertheiluug  der  Transpositionsscalen  unter  die  vier  musika- 
lischen Kunstzweige  übersichtlich  nach  der  griech.  Harm.  1863  zusammen. 


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XVII.  Die  Transpositions-Scalen. 


429 


Uebersicht  der  griechischen  Transpoaitionsscalen  oder  Tonoi. 


A. 

Die  zwölf  Transpoaitionsscalen  der  gleichsohwebenden 

Temperatur. 

nach  dem  QuinUncirke)  geordnet 


life-^E  e*  Mixolydiach,  Hyperdorisch 


a 

o 

2 

2 


B  Dorisch 


^^JE  F  Hypodorisch 


c    Phrygbch  . 
^y^m  Q  Hypophrygisth 
^-yzzzzi  d  Lydisch    .  . 

A  Hypolydisch 


o 


O 
-i 

a 

Ii 


:3i 


:ipf—  =  e   Hoch-Mixolyd.,  Hyperiastisch    .  . 


3 

g 
M 

5 

OB 

O 
> 

U.  g 

e 

6 
o 
fl 

o 
s* 

s 

s 


o 

in.  i  s 
es 


<-»- 

er 

p 

i 

o 
a. 


^jjp=  H  Tief-Phrygisch,  lastisch  .  .  . 
pjSjj£==  Fit  Tief-Hypophrygisch,  Hypoiast. 

eis  Tief- Lydisch,  Aeolisch  .    .    .  . 
Tj^  GwTief-Hypolydiscb,  Hypoäolisch 


Dazu  drei  Transpoaitionssoalen  in 
höherer  Oetave. 


/  Hypermixolydisch,  Hyperphryg. 


ungebräuch- 
lich 


I^Me=  >  Hypcräolisch  Auletik 

^=£$^-=  g  Hyperlydisch  Hydrauletik 


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430  Aristoxenus  zweite  Harmonik. 

Bedürfte  Friedrich  Bellermanns  Interpretation  der  griechischen  Transpo- 
sitionsscalen  überhaupt  noch  einer  Stütze  für  ihre  Glaubhaftigkeit,  so  fände 
sie  dieselbe  in  überraschender  Weise  in  den  vorstehenden  Angaben  des  Ano- 
nymus. Deun  die  sieben  Scalen,  welche  unseren  b-Tonarteu,  einschliesslich 
der  Scala  ohne  Vorzeichnung  entsprechen,  (es  sind  diejenigen,  welche  Ptolemäus 
als  die  allein  zu  Recht  bestehenden  anerkennt  und  die  auch  von  Bacchius  als 
die  sieben"  Tonoi  besonders  hervorgehoben  werden)  dienen  dem  musikalischen 
Kunstzweige  der  Orc  he  st  ik,  d.  h.  dem  Chorgesange.  Die  Kitharodik  bringt 
die  in  Tetrachord-Gemeinschaft  (vgl.  oben)  stehenden  Transpositionsscaleu  von 
einem  b  bis  zu  drei  Kreuzen  zur  Anwendung.  Die  Auletik  die  in  Tetrachord- 
Gemeinschaft  stehenden  Scalen  von  Einem  b  bis  zu  zwei  Kreuzen.  Die  Ton- 
arten von  drei  b  bis  zu  Einem  Kreuze  gehören  der  Hydr auletik  an.  Dazu 
kommen  von  den  beiden  naeh-Aristoxenischen  Scalen  noch  die  Hyper-Aeolische 
(höhere  Scala  mit  drei  Kreuzen)  für  die  Auletik  und  die  Hyper-Lydische 
(höhere  Scala  mit  zwei  b)  für  die  Hydrauletik.  Die  Orchestik,  also  auch  die  Chor- 
gesänge Pindars,  der  Tragödie  und  Komödie,  enthalten  sich  der  Kreuztonarten, 
um  in  unserem  d.  i.  Bellermann'schcn  Sinne  zu  reden.  Au«  der  dritten  Har- 
monik des  Aristoxenus  ergiebt  sich,  dass  diese  sieben  Tonarten  die  ältesten 
waren  —  das  orchestische  Melos  bleibt  also  bis  über  die  Aristoxeuische  Zeit 
hinaus  in  seinen  Transpositionsscaleu  couservativ.  Die  zu  jener  Siebenzahl 
neu  hinzugekommenen  Kreuztonarten  gehören  der  Solomusik  der  Auletik,  noch 
mehr  aber  der  Kitharodik  an.  Hierin  liegt  an  sich  eine  schöne  Vernünftigkeit 
innerer  Wahrheit,  welche  durchaus  zu  Gunsten  der  Bellermann 'sehen  Inter- 
pretation der  Tonoi  sprechen  muss,  denn  jede  andere  Interpretation,  welche 
den  Hypodorischen  Proslambanomenos  nicht  gleich  F  setzt,  geht  dieser  Logik 
verlustig.  Die  Einzige  Inconvenienz,  welche  dem  Bellermann'schen  F  des  hy- 
podorischen Proslambanomenos  entgegenstand,  dass  nämlich,  wie  Bellermann 
selbst  gesteht,  nur  die  griechischen  Kreuztonarten  richtig  notirt  sein  würden, 
die  b-Tonarten  aber  sämmtlich  unrichtig:  diese  Inconvenienz  fallt  nach  der  von 
mir  S.  407.  412  geltend  gemachten  Thatsnche  hinweg.  Der  griechische 
Notenerfinder  hat  sämmtliche  Transpositionsscaleu  richtig  no- 
tirt —  ohne  auch  nur  einen  einzigen  Fehler. 

Die  gebräuchlichsten  der  griechischen  Tonoi  waren  der  Lydische  und 
Hypolydische  (mit  Einem  b  und  ohne  Vorzeichen),  denn  nur  diese  zwei  kommen 
zugleich  in  allen  vier  Kunstzweigen  des  alten  Melos  vor.  In  der  That  sind  die 
sämmtlichen  Melodiereste  des  Griechenthums,  welche  uns  erhalten  sind,  in 
diesen  TranspoBitionssealen  notirt. 


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xvm. 

Die  Hetabole. 

Vgl.  Prooimion  §  23. 

Von  diesem  letzten  seiner  achtzehn  Abschnitte,  welche  Aristoxenus  in 
den  beiden  ersten  seiner  Harmoniken  behandelte  und  in  welchem  er  die  inner- 
halb eines  Melos  eintretenden  Aenderungen  erörterte,  ist  nicht  einmal  das  In- 
haltsverzeichniss  des  Prooimion  so  vollständig,  dass  es  verständlich  erhalten 
wäre.  Wir  geben  es  daher  auf,  da  es  für  die  Aristoxenische  Darstellung  des 
XVIIL  Abschn.  an  jedem  Fingerzeige  von  seiner  Seite  fehlt,  hier  etwa  das- 
jenige, was  von  Pscudo-Euklid  und  den  übrigen,  die  auf  Aristoxenus  zurück- 
gehen, über  Metabole  überliefert  wird,  zusammenzustellen.  Denn  meine  Bear- 
beitung des  Aristoxenus  soll  keineswegs,  wie  dies  Reilermann  bei  seinem  Ano- 
nymus beabsichtigt  hat,  ein  Speicher  für  alle  analogeu  Stelleu  der  übrigen 
Musikschriftsteller  sein,  sondern  nur  dasjenige,  was  zur  Interpretation  der  Ari- 
stoxenischen  Fragmeute  gehört,  sollte  von  mir  herbeigezogen  werden. 


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Nachschrift  zur  zweiten  Harmonik: 

Abschn.  XIII.  XIV. 

Erst  jetzt,  wo  der  Satz  der  zweiten  Harmonik  abgeschlossen,  werde  ich 
durch  die  Freundlichkeit  der  Verlagsbuchhandlung  in  den  Stand  gesetzt,  mir  die 
Kenntniss  der  ,,Histoire  et  Theorie  de  la  musique  de  l'antiquite  par  Fr.  Aug. 
Gevaert,  Gand  1875.  1881"  zu  verschaffen,  ein  Werk,  welches  mir  während 
der  Abfassung  meiner  Arbeit  in  Moskau  unzugänglich  blieb.  Die  unbedingte 
Zustimmung,  welche  das  grosse,  an  eigenen  gelehrten  Forschungen  so  über- 
aus reichhaltige  Werk  dos  Vorstehers  des  Brüssler  Couservatoriums  (vgl. 
Hiller,  Persönliches  und  Musikalisches)  meiner  schon  1863.  1867  dargelegten 
Interpretation  der  thetischen  Onomasie  und  meiner  darauf  basirten  Auffassung 
der  gemischten  Tongeschlechter  und  der  harmonischen  Bedeutung  der  Octaven- 
gattungen  zollt,  darf  mich  —  so  denke  ich  —  hinreichend  entschädigen  gegen- 
über all'  den  Unbilden,  welche  mir  genau  die  nämlichen  Resultate  meiner  For- 
schungen bei  deutschen  Gelehrten  und  deutschen  Musikforschern  eingetragen 
haben.  Der  berühmte  Direktor  des  Musikconservatoriums  in  Brüssel  ist  mit 
dem  deutschen  Gymnasialdirektor  in  Polnisch- Lissa  freilich  der  Ansicht,  dass 
„die  Art  wie  Westphal  die  thetische  Onomasie  versteht  und  zu  weiteren  Fol- 
gerungen benutzt,  eine  gänzliche  Umwälzung  in  die  bisherigen  Anschauungen 
über  griechische  Musik"  hinein  bringe.  Aber  er  ist  so  weit  entfernt,  dies  mit 
Ziegler  als  einen  mich  treffenden  Tadel  auszusprechen,  dass  er  vielmehr  erklärt, 
erst  mit  den  aus  der  thetischen  Onomasie  gezogenen  Folgerungen  beginne  das 
Studium  der  griechischen  Musik,  bis  dahin  von  nicht  mehr  als  höchstens  blos  an- 
tiquarischem Interesse,  zum  ersten  Male  auf  Punkte  von  wirklich  musikalischer 
Bedeutung  einzugehen  und  komme  erst  jetzt  dahin,  ein  integrirender  Theil  der 
Musikgeschichte  zu  werden,  während  sie  früher  für  Musikforscher  nicht  das 
mindeste  wissenschaftliche  Interesse  hatte  haben  können:  „La  musique  des 
anciens,  quo  j'avais  consideree  jusque-la  comme  un  sujet  absolument  denue. 
d'interet,  m'apparut  tout  a  coup  sous  un  jour  nouveau:  j'y  vis  un  objet  d'etude 
attachant  et  digne  de  toute  l'attcntion  du  musicien."  Die  unumwundenste  An- 
erkennung dem  gelehrten  Musiker  und  Musikhistoriker  unseres  Flamländischen 
Bmderstamraes,  der  ein  würdiger  Nachfolger  der  alten  Contrapunktiker  seines 
Heimatslandes  nicht  bloss  vor  heutigen  deutschen  Musikforschern  (S.  381),  son- 
dern auch  vor  deutschen  Philologen  eine  grössere  Scharfsichtigkeit  gewissen- 
hafter methodischer  Forschung  voraus  hat. 


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AßlSTOXENÜS  THEORIE  DES  MELOS. 

SIEBENTHEILIGE  HARMONIK. 


Art 


.  Melik  u.  Rhythmik. 


28 


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Die  beiden  18-theiligen  Werke  über  das  Melps  (erste  und  zweite  Harm.) 
hat  Aristoxenus  in  der  vorliegenden  Harmonik  zu  einem  7-theiligen  umgearbeitet, 
indem  er  die  „Eingangs- Abschnitte"  ausliess  und  dafür  als  letzten  Abschnitt 
„die  Mclopoeie"  hinzufügte,  den  er  früher  als  eine  von  der  Harmonik  getrennte 
Schrift  (Vorlesung)  behandelt  hatte. 

Das  erste  harmonische  Werk  des  Aristoxenus,  in  gleicher  Weise  auch 
das  zweite,  der  stete  Doppelgänger  des  ersten,  enthielt  zwei  Haupt-Theile,  von 
denen  4er  erste  die  Elemente  der  Harmonik  im  Umrisse  behandelte:  „td  h 
dpXV  (topische  Bewegung  der  Stimme  Höhe  und  Tiefe  u.  s.  w.)  während  der 
zweite  Haupttheil  die  in  Euklidischer  Manier  streng  beweisenden  „oxoiyeia" 
enthielt  Der  erste  Haupttheil  begann  mit  einem  die  einzelneu  Abschnitte  der 
ganzen  Darstellung  angebenden  Prooimion. 

Von  dem  siebentheiligen  harmonischen  Werke  des  Aristoxenus  ist  in  den 
Handschriften  nichts  als  das  Prooimion  erhalten.  Die  handschriftliche  Ueber- 
lieferung  giebt  demselben  die  Ueberschrift: 

'ApiOTO^ivou  otpfiovtx&v  oroiyetouv  d. 

Schon  Didymus  aus  dem  Anfange  der  römischen  Kaiserzeit  citirt  bei 
Porphyr,  ad.  Ptolem.  210  eine  Stelle  des  Prooimions  „iv  Ttp  irpooi|xlu>  toü  irptu- 
to*j  töjv  dpp.oxtxä>v  ercotyetav." 

Gegen  die  Aechtheit  des  Titels  liegt  nicht  das  mindeste  Bedenken  vor. 
Das  Werk  enthält  in  der  That  (freilich  in  gänzlich  veränderter  Anordnung) 
nur  eine  solche  Darstellung,  welche  dem  in  der  ersten  und  der  zweiten  Harmonik 
enthaltenen  zweiten  Haupttheile  d.  i.  den  nicht  im  Umrisse  darstellenden,  sondern 
streng  beweisenden  und  ausführlichen  Stoicheia  entspricht  Zu  einer  dem  ersten 
Haupttheile  jener  beiden  Werke  entsprechenden  Partie  ist  im  vorliegenden 
Werke  ga»kein  Platz:  in  diesem  Werke  kann  unmöglich  irgendwo  von  der 
topischen  Bewegung  der  Stimme  gehandelt  sein.  Auch  Porphyrius  aus  dei 
Zeit  des  Diokletian ,  welcher  ad  Ptolem.  p.  297  unser  erstes  Buch  der  dritten 
Harmonik  als  „rp&xov  tö>n  dp[AOvmd>v  oror/ettov"  citirt,  kannte  dasselbe  nur  so, 
dass  darin  mit  dem  Abschnitte  von  den  Tongcschlechtern  begonnen  wurde, 
nicht  mit  der  Lehre  vom  Klange:  er  berichtet  p.  258,  dass  Aristoxenus  eben 
deshalb  von  einigen  seiner  Nachfolger  getadelt  werde,  weil  er  sofort  mit  den 
Tongeschlechtern  den  Anfang  mache. 

28* 

» 

- 

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436  Aristoxenus  siebentheilige  Harmonik. 

Ja,  wie  mochte  Aristoxenus  dazu  gekommen  sein,  dass  er  in  -seiner  dritten 
Darstellung  der  Lehre  vom  Melos  die  so  ausserordentlich  lehrreichen  und 
werthvollen  Auseinandersetzungen  von  der  topischen  Bewegung  der  Stimme 
aus  der  ersten  und  der  zweiten  Darstellung  der  melischen  Wissenschaft  zu 
wiederholen  verschmäht?  Weshalb  hat  er  in  der  dritten  Darstellung  die  Ab- 
schnitte xd  £v  dp/jg  so  vollständig  ausgelassen? 

Im  Prooimion  §  25  sagt  Aristoxenus: 

"Oft  iort  jx£po?  Tf]c  ay(A7:dloTf)4  £',>v£oea>s  xö  EtaioöaveoBoi  xöv  p.e- 

■yeööv  out&v,  i\iyßri  (*£v  ira>s  xal  is  dp/T). 

Auch  in  der  „dpyj?]"  will  Aristoxenus  gesagt  haben,  dass  die  genaue  Auf- 
fassung der  Iutervallgrössen  kein  Theil  der  gesammten  Musik- Wissenschaft  ist. 
Welche  Stelle  hat  Aristoxenus  im  Auge,  an  der  er  dergleichen  gesagt  habe? 
Das  Wort  dpyij  kann  hier  nicht  verstanden  werden  wie  in  dem  §  2  desselben 
Prooünions:  „3£).xiov  8e  xi\  r^iv  spalvexai,  xaÖdrcep  e(rc©{i.ev  £v  dpyr),  xo  r.poubi- 
vai."  Denn  mit  diesen  Worten  recurrirt  Aristoxenus  auf  die  ersten  Anfangs- 
worte des  Prooimions  §  1.  Dem  Prooimion  aber  kann  unmöglich  in  demselben 
Werke  ein  Eingangsthcil  vorausgegangen  sein,  da  das  Prooimion  selber  den 
ersten  Eingang  bildet. 

Wir  werden  mit  Notwendigkeit  darauf  hingeführt,  dass  jenes  Citat  §  25 
ähnlich  verstanden  werden  will  wie  jene  Stellen  im  Prooimion  der  ersten  Har- 
monik, in  welchen  sich  Aristoxenus  mit  Hinweisungen  wie.  „ii  tot;  f^TrpooÖEV*  auf 
die  „M&ai  x&v  äp|AOvtxä>v"  beruft,  jene  Auseinandersetzung  der  Ansichten  der 
Harmoniker,  welche  neben  der  ersten  Harmonik  eine  als  selbstständige  Schrift 
geltende  Einleitung  bildete,  wie  wir  dieses  S.  200  nachgewiesen  haben. 

So  gab  es  auch  neben  der  siebentheil.  Harmonik,  welche  den  Titel  „ipjAovtxd 
OTOixeta"  trügt,  noch  eine  besondere  ihr  als  Einleitung  dienende  Darstellung 
der  „ Eingangs- Abschnitte  der  mejischen  Wissenschaft",  die  im  Ganzen  den- 
selben Inhalt  wie  die  Eingangs- Abschnitte  (xd  iv  dp/tj)  der  ersten  und  zweiten 
Harmonik  hatte,  aber  ausserdem  auch  noch  manches  dort  nicht  Vorkommende 
enthalten  mochte,  wie  z.  B.  das  in  dem  betreffenden  §  25  der  siebentheiligen 
Harmonik  von  Aristoxenus  kürzlich  Rccapitulirte. 

Von  den  18  Abschnitten  der  ersten  Harmonik  gehören  die  ersten  zehn 
sammt  dem  Prooimion  dem  ersten  Haupttheil  au  (xoi;  iv  dpyjj),  die  darauf  fol- 
genden acht  Abschnitte  den  Stoicheia.  Die  letzteren  arbeitet  Aristoxenus  in  der 
siebentheiligen  Harmonik  in  der  Weise  um,  dass  er  Abschn.  XI  (die  einfachen  und 
zusammengesetzten  Intervalle)  und  XII  (die  emmelische  Zusammensetzung  der 
Intervalle)  zum  II.  Abschnitte  rcepi  oiaox7)|Adxa)wereint,  der  in  der  ersten  Harmonik 
enthaltenen  Auseinandersetzung  über  die  Stimmlagen  (XVI)  keinen  besonderen 
Abschnitt  widmet,  sondern  etwa  im  Anschlüsse  an  Abschn.  I  repl  ^ö^ms  be- 
handelt So  werden  zunächst  die  acht  letzten  Abschnitte  der  ersten  Harmonik 
in  der  siebentheiligen  auf  sechs  Abschnitte  reducirt  und  diesen  als  siebenter 
ein  Abschnitt  zepl  ^eUrotia;  angehängt,  dem  früher  ein  eigenes  Werk  (Vor- 
lesung) gewidmet  war. 


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Aristoxenuw  siebentheilige  Harmonik. 


437 


Stoicheia 
erster  u.  zweiter  Harmonik 

XIV.    |a($£U  täv  yev&v 


Stoicheia. 
Siebentheilige  Harmonik. 

I.    repl  yev">v 


XI.  Einfache  und  zusammengesetzte  Intervalle. 

XII.  Emmelische  Zusammensetzung  der  einfachen. 


II.   Tiepi  SiaoxTjfjiaTajv 


XV.  Die  Klänge  der  Scala. 

XVI.  Die  verschiedenen  Stimmlagen. 


ni.  rspl  <pt)6Y7tov 


Xin.   Die  Systeme. 


IV.  7<1  ouor/)fxata 


XVn.  Die  Tonoi. 


V.  -6  zepl  to'j;  tovoj; 


XVIU.  Die  Metabole. 


VI.  repl  |A6TißoXfj; 


VII.  rtpl  (i.eXo7Wila«. 


In  den  gemischten  Tischreden  (Plut.  de  mus.  c.  33)  nennt  Aristoxenus 
sechs  Theile  der  Harmonik,  genau  die  hier  vorstehenden  I— VI  der  dritten 
Harmonik.  Die  Melopoeie  wird  dort  nicht  genannt.  Müssen  wir  demzufolge 
annehmen,  dass  es  ausser  der  ersten,  zweiten  und  dieser  siebentheiligen  Har- 
monik noch  eine  dieser  Harmonik  gleichförmige  sechstheilige  Behandlung  des- 
selben Gegenstandes  gegeben  habe,  in  welche  die  Melopoeie  noch  nicht 
aufgenommen  war  ? 


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ERSTES  BUCH. 


Prooimion. 

§  1.  Es  scheint  zweckmässig,  wenn  wir  uns  im  Voraus  mit 
den  wesentlichsten  Eigentümlichkeiten  unserer  Disciplin  bekannt 
machen.  Denn  auf  diese  Weise  lernen  wir  gleichsam  vorher  den 
Weg  kennen,  den  wir  zu  durchschreiten  haben;  werden  wissen, 
auf  welcher  Stelle  desselben  wir  uns  befinden,  und  somit  leichter 
vorwärts  kommen*);  wir  entgehen  aber  auch  der  Gefahr,  uns  von 
unserem  Gegenstande  eine  verkehrte  Vorstellung  zu  machen.  Dies 
letztere  war,  wie  Aristoteles  stets  zu  erzählen  liebte,  bei  der  Mehr- 
zahl von  Plato's  Zuhörern  der  Fall,  wenn  dieser  seine  Vorlesung 
über  das  Gute  hielt.  Ein  jeder  kam  nämlich  in  der  Voraussetzung, 
hier  das  zu  finden,  was  er  unter  die  Güter  des  menschlichen  Daseins 
rechnete:  Reichthum,  Gesundheit,  Körperkraft  oder  irgend  sonst  ein 
vorzügliches  Glücksgut;  wenn  aber  nun  die  Auseinandersetzungen 
über  Mathematik,  Arithmetik,  Geometrie,  Astronomie  zum  Vorschein 
kamen  mit  dem  schliesslichen  Resultate,  dass  es  nur  Ein  Gutes  gebe**) 
da  kam  ihnen  das  freilich  sehr  unerwartet:  sie  missachteten  dann 
den  Gegenstand  oder  sprachen  sich  gar  tadelnd  über  ihn  aus.  Und 
was  war  der  Grund?  Sie  hatten  denselben  nicht  im  Voraus  kenneu 
gelernt,  sondern  waren  wie  die  Eristiker  (Wortstreiter  von  Profession) 
blos  auf  den  Namen  hin  voll  Erwartung  herbeigekommen***);  hätte 
man  ihnen  im  Voraus  den  Gegenstand  klar  bezeichnet,  so  hätten  ihn 
diejenigen,  welche  an  der  Vorlesung  Theil  zu  nehmen  beabsichtigten, 
kennen  gelernt  und  wären,  falls  er  ihnen  behagte,  bei  dem  gefassten 
Vorsatze  geblieben.  Aus  diesem  Grunde  liebte  es  nun  auch  Aristoteles 
selber,  denjenigen,  welche  bei  ihm  hören  wollten,  Inhalt  und  Wesen 
der  betreffenden  Disciplin  im  Voraus  auseinanderzusetzen. 


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Prooimion.  439 

*)  Ein  sonderbares  Zusammentreffen,  dass  ebenso,  wie  Aristoxenus  seine 
dritte  Harmonik,  unter  den  modernen  Musiktheoretikern  der  berühmte  Matthe- 
son  seinen  „Vollkommenen  Capellmeistcr  (Hamburg  1739)"  einleitet.  Denn  hier 
heisst  es  in  einer  freilich  selbstverständlich  weitschweifigeren  Ausdrucksweise 
als  in  dem  knappen  Style  des  Aristotelikers  §  1.  „Wer  reisen  will,  thut  sehr  wohl 
daran,  dass  er  sich  mittelst  einer  guten  Land-  oder  See-Karte  denjenigen  Weg, 
welchen  er  zu  nehmen  gedenkt,  in  etwas  vorher  bekannt  macht:  und  die  Orte, 
worauf  er  zustossen  muss,  nach  ihrer  Lage  und  Beschaffenheit,  so  wie  sie  einander 
folgen,  überhaupt  in  Erwägung  zieht,  ehe  er  den  Fuss  aus  der  Stelle  setzet,, 
§  2.  Eben  also  handelt  ein  Lehrbegieriger  klüglich,  der  willens,  ist,  in  dieser 
oder  jener  Wissenschaft  mit  gutem  Glücke  fortzuschreiten ,  wenn  er  sich  die 
zu  seinem  Endzwecke  nöthigen  Stücke,  in  einem  allgemeinen  Entwurf,  zum 
Voraus  dergestalt  bemerke,  dass  er  einen  so  richtigen  als  kurzen  Begriff  von 
der  ganzen  Sache  auf  einmal  erlangen,  und  seinen  Lauf  desto  gewisser  voll- 
enden möge." 

•*)  Richtig  die  Uebersetzung  von  Ch.-Em.  Euelle  p.  47:  „Mais  quand  on 
voyait  que  ses  discours  roulaient  sur  les  sciences  teile  que  rarithmetique,  la 
geometrie,  rastronomie,  et  enfin  sur  ce  theme  que  „le  bien  c'est  l'unite,"  a 
mon  avis,  l'etade  de  questions  de  cette  sorte  trompait  singulierement  l'attente 
de  son  auditoire."  Paul  Marquard  giebt  die  Uebersetzung:  „Als  nun  aber  die 
Erörterungen  über  Mathematik  und  Zahlen,  Geometrie  und  Astrologie  und 
dass  die  Grenze  ein  Gut  ist  zum  Vorschein  kam  .  .  ."  Schon  der  aller- 
früheste  Uebersetzer  v.J.  1562  kennt  den  Sinn:  „Verum  ubi  sermones  prodiere 
de  diseiplinis,  ac  numeris,  et  Geometria  atque  Astrologia,  denique  quod 
bonum  illud  non  nisi  unum  sit,"  immane  quam  absurda  iis  uideri  oratio 
caepit."   Meibom:  „denique  Unum  tantum  esse  bonum." 

***)  Ruelle  :  „Bs's'approchaicnt,  et,  bouche  b&inte,  ä  la  maniere  des  plai- 
deurs,  ils  atteudaient  le  titre  meme  de  la  Conference. 

§  2.  Und  auch  mir  scheint  es,  wie  ich  zu  Anfang  (§  1)  bemerkte, 
zweckmässig,  dass  eine  allgemeine  Kenntniss  dessen,  was  ich  Har- 
monik nenne,  vorausgehe,  weil  sonst  oft  eine  zweifache  Irrung  statt- 
finden kann.  T)ie  einen  denken,  die  Disciplin  sei  etwas  gar  Grosses 
und  reiche  aus  für  die  gesammte  musikalische  Bildung,  und  was 
noch  mehr  ist,  es  glauben  einige  sogar,  dass  sie  durch  den  Besuch 
der  Vorlesung  nicht  nur  Musiker,  sondern  auch  in  ihrem  Charakter 
veredelt  würden,  und  zwar  glauben  sie  dies  deshalb,  weil  sie  miss- 
verstanden, was  wir  in  unseren  Vorlesungen  (über  Melopoie)*),  wenn**) 
wir  in  den  einzelnen  Arten  der  Melopoeie  zu  componiren  unternahmen, 
zu  erörtern  pflegten,  dass  nämlich  die  eine  Compositionsweise  nach- 
theilig, die  andere  vortheilhaft  auf  den  Charakter  einwirke,  —  ein 


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440  Aristoxenus  siebentheilige  Harmonik '§  2—7. 

Missverständniss,  bei  welchem  sie  den  vorteilhaften  Einfluss,  den 
die  Musik  insgesammt***)  gewähren  kann,  ganz  und  gar  nicht  erfasst 
haben. 

•)  Vgl.  oben  S.  189. 

**)  3t<xv  iretptdfxeöa  zu  lesen  statt  des  handschriftlichen  3ti  it. 

***)  Zti  (xai)  xad'  8<jov  [xouatx^  Marq.  uach  den  Handschriften.  Dies  ist 
corrapt  für  xctd'  5Xov  {aouoix^.  Die  ursprüngliche  Lesart  ist  aus  einer  in  den 
Text  gekommenen  Randglosse  xal  tö  6Xov  ttj;  (Aouotxfj;  herzustellen. 

§  3.  Andere  aber  halten  unsere  Disciplin  mit  Nichten  für  etwas 
Grosses,  sondern  vielmehr  für  etwas  höchst  Unbedeutendes  und  be- 
suchen die  Vorlesung  nur.  deswegen,  weil  sie  nicht  ganz  und  gar 
des  Gegenstandes  unkundig  bleiben  wollen. 

Aber  keines  von  beiden  ist  das  richtige,  denn  die  Harmonik 
darf  auf  ihrem  gegenwärtigen  Staudpunkte  weder  gering  geachtet, 
noch  aber  auch  in  der  Weise  überschätzt  werden,  als  ob  sie  wie 
einige  glauben  für  Alles,  was  sich  auf  Musikkenntniss  bezieht,  aus- 
reichend sei.  Denn  ausser  Harmonik  gehört,  wie  ich  stets  sage*), 
noch  vieles  andere  in  die  Sphäre  des  Musikers:  sie  ist  ebenso  wie 
die  Rhythmik,  die  Metrik,  die  Organik  nur  ein  blosser  Theil  von 
dem,  was  zum  Bereiche  des  Musikers  gehört,**) 

Wir  haben  nunmehr  von  der  Harmonik  selber  und  von  ihren 
Theilen  zu  reden. 

*)  So  z.  B.  in  den  vermischten  Tischreden  Plutarch  de  mus.  33.  Marq. 
übersetzt:  „Viele  andere  Dinge  nämlich  giebt  es  noch  für  den  Musiker  als 
was  immer  gesagt  wird."  In  der  handschriftlichen  Ueberlieferung  fehlt  das 
Wort  tovto  „HoXXd  Y<ip  S^)  xal  Itepa  brcdp^ei     (touto)  xaftaTrep  del  "kiytzai". 

**)  jx£po;  t)  dpfiovtx-j)  rfj;  toü  (aouuixoü  ISeco;  wie  erste  Harmonik  §  1  a&TT) 
Die  Disciplin  der. Harmonik  im  Allgemeinen. 

• 

§  4.  Im  Allgemeinen  ist  zu  merken,  dass  sich  nach  unserer 
Auffassung  die  Theorie  der  Harmonik  auf  die  Art  und  Weise  bezieht, 
wie  in  einem  jedem  (musikalischen)  Melos  die  (Vocal-  oder  Instru- 
mental-*) Stimme  der  natürlichen  Beschaffenheit  nach  auf-  und  ab- 
steigend die  (verschiedenen)  Intervalle  setzt.  Wir  unsererseits  Ham- 
ich  behaupten,  dass  die  Stimme  eine  in  der  Natur  begründete 


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Prooimion.  441 

Bewegung  ausführt  und  dass  die  Intervalle  von  ihr  nicht  nach  Be- 
lieben und  Zufall  gesetzt  werden. 

*)  Zu  lesen  „Y^voiievou  £v  cpojvijj  tc  (<£vBp<o-tv7))  xotl  äpfdvoic. 

§  5.  Und  hierfür  versuchen  wir  Beweise  zu  geben  in  Ueber- 
einstimmung  mit  der  Wirklichkeit,  aber  nicht  in  der  Manier  unserer 
Vorgänger,  von  denen  die  Einen,  auf  fremdes  Gebiet  abschweifend, 
die  sinnliche  Wahrnehmung,  weil  sie  flicht  genau  sei,  unberücksich- 
tigt lassen  und  dagegen  abstracte  Reflexionsgründe  und  die  Be- 
hauptung aussprechen,  die  Tonhöhe  und  Tontiefe  bestehe  in  gewissen 
Zahlen-  und  Geschwindigkeitsverhältnissen,  die  aller  unpassendsten 
und  der  Wirklichkeit  widersprechendsten  Sätze  aufstellend,  während 
die  anderen  von  unseren  Vorgängern  [Lasos?]  ihre  Sätze  ohne  Be- 
gründung und  Nachweis  in  Form  von  Orakelsprüchen  aussprechen. 
Wir  dagegen  machen  den  Versuch  Axiome  aufzustellen,  welche 
allen  der  Musik  Kundigen  augenfällige  Wahrheit  sind,  und  dann  für 
das  aus  diesen  Axiomen  Folgende  den  Beweis  zu  geben. 

So  bezieht  sich  nach  unserer  Auffassung  die  Theorie  der  Har- 
monik im  Allgemeinen  auf  jedes  musikalische  durch  Vocal-  oder 
Instrumentalstimme  hervorgebrachte  Melos. 

§  6.  Zurückzuführen  aber  ist  unsere  DiscipÜn  auf  zweierlei, 
auf  die  durch  das  Gehör  vermittelte  sinnliche  Wahruelunung  und  auf 
die  Denkthätigkeit.  Mit  dem  Gehöre  prüfen  wir  die  Grösse  der 
Intervalle,  mit  unserem  Denken  untersuchen  wir  die  jedesmalige 
Bedeutung  derselben. 

§  7.  Man  muss  sich  nun  gewöhnen,  jedes  genau  zu  unter- 
suchen. In  der  Geometrie  pflegt  man  zu  sagen:  „dies  sei 
eine  gerade  Linie";  aber  mit  solchen  Worten  kann  man  bei  den 
Intervallen  nicht  fertig  werden.  Die  Kratt  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmung ist  es  keineswegs,  deren  der  Geometer  bedarf;  sein  Auge 
bedarf  nicht  der  Uebung,  das  Gerade  oder  das  Krumme  und  der- 
gleichen schlecht  oder  gut  zu  beurtheilen,  vielmehr  ist  dies  die 
Sache  des  Zimmermanns,  des  Drechslers  und  anderer  Beschäftigungen ; 
für  den  Musiker  dagegen  hat  die  Schärfe  der  sinnlichen  Beobach- 
tung fast  die  Stellung  einer  obersten  Fundamentalbedingung,  denn 


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442  Aristoxenus  siebentheilige  Harmonik  §  7—10. 

es  ist  nicht  möglich,  bei  ungenügender  sinnlicher  Wahrnehmung  über 
das,  was  man  nicht  wahrnimmt,  richtig  zu  sprechen.  Es  wird  dies 
beim  Fortgange  unserer  Untersuchung  klar  werden. 

Ueber  Aristoxenus  Verhältnis«  zur  Geometrie  vgl.  oben  S.  801.  302. 

§  8.  Es  ist  nun  weiter  zu  berücksichtigen,  dass  es  die  Wissen- 
schaft der  Musik  mit  Unveränderlichem  und  Veränderlichem  zu  thun 
hat,  etwas  was  sich  auf  die*  gesammte  Musikwissenschaft  und  auf 
jeden  ihrer  Theile  bezieht.  So  nehmen  wir  gleich  beim  Unterschied 
der  Tongeschlechter  wahr,  dass  das  umschliessende  (Intervall)  unver- 
änderlich ist,  während  die  mittleren  sich  ändern.  Wir  nennen 
ferner,  ohne  dass  die  Intervallgrösse  sich  ändert,  das  eine  Intervall 
„Hypate  und  Mese",  das  andere  „Paramesos  und  Nete",  denn  bei 
unveränderter  Intervallgrösse  können  sich  die  Bedeutungen  der 
Töne  verändern.  Und  ferner  giebt  es  bei  derselben  Intervallgrösse, 
z.  B.  der  Quarte,  der  Quinte  und  anderen  jedesmal  mehrere  Sche- 
mata. Und  ebenso  findet  bei  ein  und  demselben  Intervalle,  je  nach- 
dem es  an  dieser  oder  jener  Stelle  vorkommt,  entweder  eine  Meta- 
bole  statt  oder  nicht  (S.  113  ff.). 

§  9.  Auch  in  der  Theorie  der  Rhythmen  sehen  wir  vieles  dieser 
Art.  Constant  ist  das  Verhältniss,  durch  welches  der  Takt  bestimmt 
wird,  aber  die  Taktgrösse  ist  variabel  unter  dem  Einflüsse  der  Agoge. 
Constant  die  Taktgrösse,  aber  die  Taktart  wird  ungleich.  Dieselbe 
Taktgrösse  gilt  als  Monopodie  und  Dipodie;  —  auch  die  Taktunter- 
schiede der  Diairesen  und  der  Schemata  entstehen  auf  Grund  einer 
constanten  Grösse. 

Ueberhaupt  aber  führt  die  fthythmopoeie  mannigfache  Bewe- 
gungen aller  Art  aus,  während  die  Takte,  wodurch  wir  den  Rhythmus 
markiren,  einfache  sind  und  stets  dieselben  bleiben. 

Bei  dieser  Eigentümlichkeit  der  Musikwissenschaft  ist  es  nöthig, 
auch  in  Beziehung  auf  das  Hermosmenon  die  Reflexion  wie  die 
sinnliche  Wahrnehmung  an  ein  richtiges  Scheiden  des  Unveränder- 
lichen und  Veränderlichen  zu  gewöhnen. 

§  10.*)  Dass  aber  das  Verstehen  eines  jeden  Melodumenon  mit 
dem  Gehör  und  mit  der  Reflexion  jedem  Unterschiede  nach  den  Vor- 
gängen Folge  leistet**) 


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Prooimiou. 


443 


denn  in  einem  Werden  tritt  das  Melos  wie  die  übrigen  Stücke 
der  Musik  zu  Tage; 

denn  aus  diesen  zwei  Kräften  resultirt  das  Verständniss  der 
Musik,  aus  der  sinnlichen  Wahrnehmung  und  dem  Gedächtnisse: 
wahrzunehmen  haben  wir  das  Geschehende,  im  Gedächtnisse  zu  be- 
halten was  geschehen  ist  Auf  andere  Weise  kann  man  das,  was 
in  der  Musik  vorgeht,  nicht  auffassen.***) 

*)  Was  im  §  10  enthalten  ist,  steht  in  den  Handschriften  hinter  dem 
ersten  Satze  des  §  23.  Der  §  10  enthält  drei  abgerissene  lückenhafte  Sätze, 
von  denen  Marq.  S.  145  sagt:  „Die  hier  vorhandenen  Lücken  sind  nicht  von 
der  Art,  dass  sie  nur  der  Nachlässigkeit  eines  Abschreibers  zuzuschreiben 
wären." 

**)  toü  YT*0!*^01»  «apaxoXouftei  Vgl.  §  12  „el  fjiXXo|*6v  äxoXou&eiv  toi;  ft-j- 
vo|iivau  lv  toi;  fhtat  oia'f opat;".  Ueber  die  irapa-AoXoüö^oi;  in  der  Musik  spricht 
Aristoxenus  bei  Plutarch  de  mus.  35. 

••*)  Marquard  S.  327  giebt  die  Erläuterung:  „Dieser  Satz  ist  dem  von  Ari- 
stoteles [?]  und  seiner  Schule  aufgestellten  Systeme  der  Künste  entlehnt,  welches 
von  Westphal  zuerst  aus  der  Verborgenheit  hervorgezogen  und  in  seiner  Har- 
monik §  1  ff.  näher  entwickelt  ist.  Darnach  bildet  die  Musik  mit  der  Orchcstik 
und  Poesie  die  Klasse  der  praktischen  Künste,  d.  h.  derjenigen,  welche  zu  ihrer 
Vergegenwärtigung  noch  einer  besondern  darstellenden  Thätigkeit  des  TrpaxTi- 
xdv  bedürfen,  während  die  andere  Klasse,  Architektur,  Plastik  und  Malerei 
durch  den  Act  des  Schaffens  auch  sogleich  den  Sinnen  wahrnehmbar  werden, 
sogleich  fertig  sind  und  daher  apotelestische  genannt  werden.  9  Hinter  diesem 
scheinbar  äusserlichen  Unterschied  liegt  der  tiefere  der  Ruhe  und  Bewegung, 
in  welchen  die  Idee  des  Schönen  zur  Darstellung  kommt.  Das  innerste  Wesen 
der  apotelestischen  Künste  ist  die  Ruhe:  in  einem  einzigen  Moment  erfasst  der 
Künstler  die  Idee,  daher  ist  das  Werk  fertig,  sobald  er  sie  in  den  Stoff  hinein- 
gebildet hat,  und  wie  es  in  einem  einzigen  Momeute  coneipirt  ist,  so  sind  wir 
auch  im  Stande,  es  in  einem  Moment  zu  erfassen,  mit  einem  Blicke,  wir 
schauen  es  an. 

Das  Lebenselement  der  praktischen  Künste  dagegen  ist  die  Bewegung; 
die  Idee  tritt  nicht  im  räumlichen  Nebeneinander,  sondern  in  zeitlicher  Aus- 
dehnung, im  Nacheinander,  in  die  Wirklichkeit,  und  so  allein  kann  der  Künst- 
ler sie  auch  nur  erfassen  und  dem  an  sich  schon  flüssigen  Stoff  einbilden.  Wrir 
können  dergleichen  Kunstwerke  daher  auch  nicht  mit  einem  Blick,  in  einem 
Moment  erfassen,  wir  schauen  sie  nicht  an,  wir  lesen  sie,  d.  h.  wir  nehmen 
ein  Stück  derselben  nach  dem  andern  mit  den  Sinnen  auf,  und  Aristoxenus  hat 
daher  sehr  Recht,  wenn  er  sagt,  die  Harmonik  wie  alle  Musik  trete  in  einem 
Werden  zu  Tage.  Es  ist  sehr  zu  beklagen,  dass  diese  Stelle  gerade  so  höchst 
mangelhaft  erxccrpirt  ist,  wir  würden  sonst  vielleicht  noch  weitere  Aufschlüsse 
über  jenes  System  erhalten.  Jedenfalls  hat  Westphal  sehr  Recht,  ihm  grosses 


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444  Aristoxenu8  sicbeutheiligc  Harmonik  §  11. 

Lob  zu  spenden;  ein  eingehendere*  Nachdenken  führt  von  diesen  Gesichts- 
punkten aus  zu  sehr  klaren  und  unzweifelhaften  Resultaten.  (Vergl.  auch  den 
Aufsatz  „Apologisinen"  in  der  deutschen  Musikzeitung.  Wien  1862  No.  50—52).'* 
Aus  der  vorliegenden  Stelle  der  dritten  Harmonik  ergiebt  sich,  dass  der- 
jenige Aristoteliker,  welcher  den  Unterschied  der  x£yvat  dTtoxeXeaxtxal  aufgestellt 
hat,  nicht  Lucius  oder  Lucilius  von  Tarrha  ist,  den  ich  griech.  Harm.  1864,  §  1 
darunter  vermuthete,  sondern  kein  anderer  als  Aristoxenus.  In  welchem  seiner 
Werke  hat  Aristoxenus  darüber  gesprochen?  In  einem  seiner  Sammelwerke? 
Den  oüfAfjitxTa  ay|jiTtoxixd? 

Die  sieben  Theile  der  Harmonik. 

§  11.  Die  Wissenschaft  nun,  welche  wir  Harmonik  nennen, 
ist  kurz  zu  sagen  eine  derartige,  wie  wir  sie  eben  angedeutet.  Sie 
zerfällt  in  sieben  Abschnitte. 

Wie  sich  die  sieben  Theile  der  als  dritte  Harmonik  vorliegenden  Stoicheia 
zu  den  letzten  acht  Theilen  der  in  der  ersten  und  der  zweiten  Harmonik  vor 
liegenden  Abschnitte  verhalten,  ist  S.  437  angegeben. 

Die  Abschnitte  der  dritten  Aristoxenischen  Harmonik  sollen  folgende  sein : 
a  fevfy    ß'  Ttepi  oiaorTjfidtwv.    •(  Ttepl  h'  Ttepl  ovoxTjfAdxcov.    e'  ?ö  Ttepl 

x*5vou;.       Ttepl  (j.eTaßoXfj;.    £.  Ttepl  peXoTtottac 

Dieselben  Abschnitte  mit  Ausnahme  des  siebenten  zählt  Aristoxenus  in 
den  gemischten  Tischreden  Plut.  de  mus.  p.  33.  'H  fiiv  dp(xo>tx-?j  *  ^evöv  xe  toü 
■fjpliocfUvou,  ß'  xal  Siaarr.jjidTtuv,   f'  xal  cuox7)|AdxcDV,   5'  xal  <fUn<ov,    t  xal 
veuv,       xal  fAtraßoXtuv  <rj3TT)|j.axtxdr«  iaxi  fvajaTixTj. 

Diese  Abschnitte  legt  auch  Ptolemäus  zu  Grunde.   VgL  oben  S.  368. 

Die  mittelbar  auf  Aristoxenus  zurückgehenden  Musikschriftsteller  der 
Kaiserzeit  haben  sammtlich  die  acht  Abschnitte  der  dritten  Harmonik,  doch 
mit  der  höchst  auffallenden  Abweichung,  dass  sie  sämmtlich  den  dritten  Ab- 
schnitt des  Aristoxenus  zum  ersten  machen.  Schon  dies  allein  dürfte  als  Be- 
weis gelten,  dass  sie  nicht  unmittelbar  die  Aristoxenische  Schrift,  sondern  die 
nach  derselben  gemachte  Umarbeitung  eines  Aristoxeneers  vor  Augen  hatten. 

Pseudo- Euklid:  a'  Ttepl  ^Ö<$yy<»v.  ß'  Ttepl  5iaoTt)p.dxa>v.  f  Ttepl  frvä». 
5'  Ttepl  ovarrjjxdTtov.   t  Ttepl  t<Sv«jv.       Ttepl  fiexaßoXfj;.    C'  Ttepl  («XoTtötlac. 

Aristidcs:  a'  Ttepl  cpftö^Y^v.  ß'  Ttepl  5ioTnjfjidtajv.  f'  repl  ov»anj{xdxujv. 
h'  Ttepl  Ytvdiv.    e'  7tepl  xövaiv.    c'  Ttepl  fiexaßoX-f);.    C  Ttepl  peXoTtotlac. 

Alypius  nennt  folgende  Abschnitte:  a'  Ttepl  (p&ö^aiv.  ß'  Ttepl  StaaTTjjxdtuiv. 
l'  Ttepl  o'j»xirj|i.dTaiv.  h'  Ttepl  Yevdiv.  e'  Ttepl  xövow.  «'  Ttepl  jiexaßoX-fj;.  C  *spl 
fieXoTtoita;. 

Gaudentius  p.  1:  'Apfiovixol  X^ot  etöi  jxev  ouxot  •  a'  Ttepl  fBänout.  ß'  xal 
fcta<mf)jj.aTa.  f'  xal  ouar^fiata.  (§'  xal  "jeV/}).  t  x<5vo'jc  xe.  t  xal  jAexaßoXac. 
C  xal  (xeXoTtoita;  xaxd  itdvxa  xd  y^t)  dpjAOvla;. 


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Prooimion. 


445 


Anonymus  §  20.  KccpdXata  r?]«  dp|j.ONtxf(c  iirzi  •  o'  Ttepl  yMfyas.  [i'  zept 
oiaar»)fidTtüv.  y'  repl  ouoT/(p.aTa)v.  5'  irepl  yev&v.  e'  repl  tövujv.  c'  irepl  ixeTO- 
ßoXäiv.    C'  ~epi  (JteXorotta;. 

Anonymus  §  31.  Td  xuptc&Tata  eirrd  tfvra  •  a'  7tepl  <pJMyyaiv.  fi'  i»pi  oiaatTj- 
(xdTrov.  y'  repl  ouarrjixdTwv.  I'  itepi  yev&v.  e'  Trcpl  xovaiv.  c'  *epl  {AeraßoXäv. 
C  :cepl  aO?f,;  rfjc  fieXoirotfa;. 

Man  sieht,  dass  die  Anordnung  der  späteren  Musikschriftsteller  unter 
einander  nur  darin  abweichen,  dass  bei  Pseuthv Euklid  zuerst  die  Gene  darauf 
folgend  die  Systemata  behandelt  wurden,  eine  Varietät,  welche  dem  Pseudo- 
Euklid  durchaus  individuell  ist;  natürlicher  ist  die  Anordnung  bei  seinen  Ge- 
nossen. 

Es  wäre  wohl  nöthig  und  vielleicht  nicht  ohne  Nutzen,  das  Verhältniss 
dieser  Musikschriftsteller  zu  ihrem  Originale  und  einer  etwa  noch  daneben  be- 
nutzten Quelle  ins  Einzelne  zu  verfolgen.  Doch  müssen  wir  davon  an  dieser 
Stelle  abstehen.  Aristides  bearbeitet  «eine  Quelle  am  freiesten.  Er  thut  dies 
als  Platouiker:  vgl.  p.  5,  wo  er  sich  auf  den  philosophischen  Standpunkt  des 
Timäus  stellt.  Das  von  allen  diesen  Musikern  gemeinsam  benutzte  Werk  des 
Aristoxeneers  legt  als  Hauptwerk  des  Aristoxenus  dessen  dritte  Harmonik  zu 
Grunde.  Doch  da  nicht  wenige  seiner  Excerptoren  vor  dem  ersten  Abschnitte 
über  die  Phthougoi  noch  die  in  der  ersten  Harmonik  vorkommende  Unterschei- 
dung der  continuirlichen  und  diaatematischen  Bewegung  der  Stimme  berühren 
(Euklid  p.  2,  Aristides  p.  7,  Nikomodus  p.  3,  Gaudentius  p.2,  Bacchius  p.  2), 
so  ist  anzunehmen,  dass  auch  diese  Partie  in  der  von  ihnen  gemeinsam  be- 
nutzten Quelle  gestanden  hat.  Porphyrius  ad.  Ptolem.  p.  258  berichtet,  dass 
Aristoxenus  von  einigen  getadelt  werde,  weil  er  in  seiner  dritten  Harmonik 
sofort  mit  den  Tongeschlechtern  den  Anfang  mache.  Die  Vcrmuthung  liegt 
nahe,  dass  der  die  dritte  Harmonik  umarbeitende  Aristoxeneer  eben  derjenige 
war,  welcher  es  nicht  billigte,  dass  in  den  Stoicheia  der  dritten  Harmonik  die 
wichtigen  Auseinandersetzungen  über  die  Bewegungsarten  der  Stimme  u.  s.  w. 
nicht  mit  aufgenommen  waren,  und  der  deshalb  diese  Punkte  im  Anfang  seines 
Auszuges  aus  dem  Anfange  der  ersten  Harmonik  hinzufügte.  Bei  diesem  Ab- 
schnitte über  die  beiden  Bewegungsarten  der  Stimme  wendet  sich  einer  der 
in  Rede  stehenden  Musikschriftsteller  von  der  Arbeit  des  umarbeitenden  Ari- 
stoxeneers zu  dem  Uroriginale  d.  i.  der  ersten  Harmonik  des  Aristoxenus.  Auch 
Aristides  hat  in  diesem  Abschnitte  die  Besonderheit,  dass  er  p.  7  ausser  den 
beiden  in  der  ersten  Harmonik  vorkommenden  Bewegungsarten  der  Stimme, 
noch  eine  dritte  nennt  — :  ausser  der  oiwe-^t  und  der  otaaTtjfAaTtx"?)  noch  die 
piei},  „7j  td;  Täiv  Ttoajud-ccDv  dvayvd»sei;  zoioufjiedo".  Dieselbe  auch  bei  Porphy- 
rius als  „dvayvüjorix-f)". 


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44G  Aristoxenus  siebentheilige  Harmonik  §  12—17. 

L 

Die  Tougeschlechtcr. 

§  12.  Einer  und  zwar  der  erste  von  ihnen  ist  die  Unterschei- 
dung der  Tongeschlechter  und  der  Nachweis,  was  da  unveränderlich 
und  was  veränderlich  ist,  um  diese  Unterschiede  entstehen  zu  lassen. 

Noch  niemals  ist  dies  von  irgend  Jemand  unterschieden  wor- 
den. Denn  die  Harmoniker  handeln  nicht  von  den  zwei  übrigen 
Tongeschlechtern,  sondern  blos  von  der  Enharmonik.  Diejenigen, 
welche  sich  mit  den  Instrumenten  beschäftigten,  beachteten  zwar 
jedes  der  drei  Tongeschlechter,  aber  schon  dies,  wann  aus  der  En- 
harmonik das  Chroma  zu  werden  beginnt  und  dergl.  hat  keiner  von 
ihnen  bemerkt,  denn  da  sie  nicht  auf  jegliche  Art  der  Melopoeie  be- 
dacht und  auch  nicht  gewohnt  waren,  derartige  Unterschiede  genau  zu 
erörtern,  so  beachteten  sie  die  Tongeschlechter  nicht  in  Betreff  der 
einzelnen  Chroai  und  hatten  auch  nicht  eingesehen,  dass  bei  den 
Unterschieden  der  Tongeschlechter  gewisse  Topoi  für  die  veränder- 
lichen vorhanden  waren. 

Dies  ist  es  etwa,  weshalb  früher  die  Tongeschlechter  nicht  be- 
stimmt waren;  dass  sie  aoer  bestimmt  werden  müssen,  wenn  wir 
den  durch  sie  gegebenen  Unterschieden  nachgehen  wollen,  ist  selbst- 
verständlich. 

II. 

Die  Intervalle. 

§  13.  Das  eben  Angegebene  bildet  also  den  ersten  Abschnitt. 
Der  zweite  besteht  in  der  Lehre  von  den  Intervallen,  wobei  wir, 
soweit  es  möglich  ist,  keinen  der  dort  vorkommenden  Unterschiede 
auslassen  dürfen. 

Nahezu  die  meisten  dieser  Unterschiede  sind,  um  es  kurz  zu 
sagen,  bisher  noch  nicht  berücksichtigt  worden;  aber  es  ist  nicht 
zu  verkennen,  dass  so  oft  uns  eine  der  noch  fehlenden  und  nicht 
beachteten  Intervall  Verschiedenheiten  entgegen  tritt,  wir  alsdann 
auch  die  in  den  Melodumena  vorkommenden  Verschiedenheiten 
nicht  verstehen  werden. 


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Prooimion.  447 

in. 

Die  Scala-Klänge. 

§  14.  Doch  reichen  die  Intervalle  nicht  für  die  Erkenntniss 
der  Klänge  aus.  Denn,  um  es  kurz  zu  sagen,  es  sind  zwei  in  dem- 
selben Intervalle  von  einander  abstehende  Klänge  an  der  einen  Stelle 
der  Scala  von  einer  anderen  Geltung  als  an  der  anderen  Stelle, 
und  so  wird  der  dritte  Theil  der  ganzen  Disciplin  in  der  Lehre  von 
den  Klängen  der  Scala  bestehen,  welche  es  sind  und  welches  der  sie 
kennzeichnende  Unterschied  ist,  und  ob  es,  wie  die  meisten  annehmen, 
blos  verschiedene  höhere  und  tiefere  Tonstufen  sind,  oder  ob  sie 
noch  eine  besondere  Bedeutung  haben,  und  insbesondere,  worin 
diese  besondere  Bedeutung  (Dynamis)  besteht  Denn  nichts  von  dem 
allen  haben  diejenigen,  welche  darüber  handeln,  klar  erkannt. 

Die  Systeme. 

§  15.  Ein  vierter  Abschnitt  wird  die  Darstellung  der  Systeme 
sein,  nach  ihrer  Zahl,  ihrer  Beschaffenheit  und  ihrer  Zusammen- 
setzung aus  Intervallen  und  Scala-Tönen. 

Zweierlei  haben  die  Vorgänger  bei  den  Systemen  nicht  berück- 
sichtigt. Einmal  haben  sie  nicht  untersucht,  ob  die  Systeme  auf 
jede  Weise  aus  Intervallen  zusammengesetzt  werden  und  ob  keine 
Zusammensetzung  widernatürlich  ist;  sodann  sind  die  bei  den 
Systemen  sich  ergebenden  Unterschiede  in  ihrer  Gesammtheit  noch 
von  keinem  aufgezählt  worden. 

§  16.  Denn  was  das  erstere  betrifft,  es  ist  von  unsern  Vor- 
gängern noch  kein  Wort  über  das  Emmelische  und  Ekmelische  ge- 
sagt.*) Rücksichtlich  des  Emmeliseheu  und  Ekmelischen  aber  ist  die 
Anordnung  der  Intervalle  eine  ähnliche  wie  sie  beim  Sprechen  in  Be- 
zug auf  die  Anordnung  der  Buchstaben  besteht;  denn  nicht  durch 
jede  Art  von  Zusammensetzung  der  nämlichen  Buchstaben  entsteht 
eine  Sylbe  —  durch  die  eine  entsteht  sie,  durch  die  andere  nicht. 

§  1 7.  Und  die  Unterschiede  der  Systeme  betreffend,  so  haben 
es  die  einen  überhaupt  nicht  unternommen,  sie  aufzuzählen,  son- 


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448  Aristoxeuus  siebentheilige  Harmonik  §  17—20. 

dem  von  denselben  blos  über  die  sieben  (Okta)chorde,  die  von  ihnen 

* 

sogenanten  Harmonien,  eine  Untersuchung  augestellt.  Diejenigen 
aber,  welche  es  unternommen,  haben  sie  in  keiner  Weise  vollständig 
aufgezählt,  wie  der  Zakynthier  Pythagoras  und  der  Mitylenäer  Agenor. 

*)  Der  letzte  Satz  des  §  16  steht  in  den  Handschriften  hinter  §  17. 

V. 

Die  Transpositions-Sealen. 

§  18.  Ein  fünfter  Abschnitt  ist  die  Darstellung  der  Transpo- 
sitions-Sealen, auf  welchen  die  Systeme  beim  Spielen  oder  Singen 
genommen  werden. 

Bezüglich  ihrer  hat  keiner  gesagt,  auf  welche  Weise  sie  zu  neh- 
men und  nach  welchem  Gesichtspunkte  der  Anzahl  nach  zu  bestimmen 
sind;  vielmehr  gleichen  die  Angaben  der  Harmoniker  über  die 
Transpositions-Sealen  genau*)  den  verschiedenen  Arten  die  Monats- 
tage zu  zählen,  z.  B.  wenn  die  Korinther  den  10.  haben,  so  haben 
die  Athener  den  5.  und  wieder  andere  den  8. 

§  19.  Aehnlich  nämlich  heisst  es  bei  den  einen  unter  den  Har- 
monikern: 

die  hypodorisehe  in  [A]  ist  die  tiefste  Transpositions-Seala, 

die  dorische  in  [B]  steht  einen  Halbton  höher  als  jene; 

die  phrygisehe  in  [c]  einen  Ganzton  höher  als  die  dorische, 

die  lydische  in  [d]  um  dasselbe  Intervall  höher  als  die  phrygisehe, 

die  mixolydische  in  [es]  um  einen  Halbton  höher  als  diese.**) 

Die  anderen  aber  fügen  mit  Rücksicht  auf  die  Bohrlöcher  der 
Auloi  den  genannten  noch 

die  hypophrygische  in  [G] 
nach  der  Tiefe  hinzu. 

§  20.    Andere  lassen  die  drei  tiefsten,  nämlich: 

die  hypophrygische  in  [G],***) 
die  hypodorische  in  [A|, 
die  dorische  in  [B] 
je  um  drei  Diesen  auseinanderliegen,  und  dann  ferner: 

die  phrygisehe  in  [c]  von  der  dorischen  um  einen  fianzton, 
die  lydische  in  [d]  von  der  phrygischen  um  drei  Diesen, 
die  mixolydische  in  [es]  von  der  lydischeu  um  drei  Diesen, 


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Prooimion. 


449 


jedoch  nach  welchem  Gesichtspunkte  sie  den  Abstand  der  Trans- 
positions-Scalen  in  dieser  Weise  feststellen,  das  sagen  sie  nicht. 
Dass  aber  eine  solche  Katapyknosis  etwas  Ekmelisches  und  in  jeder 
Hinsicht  Unbrauchbares  ist,  wird  sich  im  Fortgange  unserer  Disciplin 
klar  herausstellen. 

*)  Ein  Vergleich  der  Zählung  der  Tage  mit  Thatsachen  der  Musik  auch 
bei  Guido  Micrologus  cap.  5,  auf  welche  K.  Schleicher  über  das  Verhältnis« 
der  griech.  z.  modernen  Musik  (Cöthen,  Gymn.  Programm  1878,  S.  12)  aufmerk- 
sam macht :  „Nam  sicut  finitis  Septem  diebus  voces  easdem  repetimus  ut  Semper 
primum  et  octavum  diem  eundem  dicatnus ,  ita  octava«  semper  voces  easdem 
esse  figuramus  et  dicimus,  quia  naturali  eas  concordia  sentimus". 

**)  Der  vorliegende  Paragraph  ist  einer  der  wichtigsten  der  siebentheiligen 
Harmonik.  Er  enthält  Beiträge  zur  älteren  Geschichte  der  Transpositionsscalen. 
Die  allerfrüheste  Epoche  derselben  hat  Ptolemäus  2,  6  im  Auge:  „Man  kannte 
blos  die  Dorische,  Phrygisehe  und  Lydische  Scala,  welehc  je  um  einen  Ganz- 
ton von  einander  abstehen."  Das  waren  im  Ganzen  folgende  6  Scalen  (eine 
jede  im  Systema  diezeugmenon  und  im  Systema  synemmenon): 

d  moll 

d     e     f     gäbet!     e     f    g  a 
g  moll 

d  j?  e     f  ]   g     a     b     c     d    es    f  g 
c  moll 

cdesfgasbc     d    es    f  g 
fmoll 

c   jd   es]    f    g    as    b     c   des  es  f 
B  moll 

B    c    dos   es    f   ges   as   b     c   des   es  f 
es  moll 

B  Ö  c   des]  es    f    ges   as   b   as   des  es 

Hier  sind  bereits  (—  freilich  nur  mit  Zuhülfenahme  der  Synaphe  — )  alle 
durch  Tetrachord- Gemeinschaft  (S.  424)  verwandten  Tonarten  von  1  b  bis  6  b 
enthalten.  Die  Tonart  ohne  Vorzeichen  (in  der  Notirung  der  Alten  ist  sie  um 
nichts  einfacher  als  die  Scala  mit  einem  b)  war  in  jener  alten  Trias  der 
Tonoi  noch  nicht  vorhanden.  Dagegen  bildet  diese  die  erste  und  tiefste  Scala 
in  der  von  Aristoxenus  an  erster  Stelle  mitgctheiltcn  Peutas  der  Tonoi.  frei- 
lich noch  nicht  mit  ihrem  späteren  Namen  Hypolydiseh,  sondern  als  „Tonos 
Hypodorios,"  d.  h.  derjenige  Tonos,  welcher  um  einen  Halbton,  nicht  wie  in 

dem  späteren  Systeme  um  eine  Quarte  unterhalb  des  Doriscken  liegt.  An 
Arlutoxenu»,  Mellk  u.  Rhythmik.  29 


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450 


Aristoxenus  siebeutheilige  Harmouik  §  18—20. 


zweiter  Stelle  berührt  Aristoxenus  eine  weitere  Entwickerang,  eine  Hexas  der 
Tonoi,  in  welcher  oberhalb  der  damals  sogenannten  Hypodorischen  noch  eine 
tiefere  Scala,  die  Hypophrygische,  hinzugekommen  sei.  In  eine  dritte  Kategorie 
stellt  Aristoxenus  diejenigen,  welche  rücksichtlich  der  Reihenfolge  und  der  Be- 
nennung dieselbe  Hexas  der  Tonoi  annahmen,  aber  die  drei  tiefsten  Tonoi  und 
nicht  minder  auch  die  drei  höchsten  je  den  einen  von  dem  anderen  um  drei 
Diesen  abstehen  Hessen.  So  erhalten  wir  mit  der  zu  Anfang  genannten  Notiz 
des  Ptolemäus  vier  Kategorieen  von  Transpositionsscalen.  Fügen  wir  zu  den- 
selben noch  die  sieben  Transpositionsscalen ,  welche  Aristoxenus  bei  seinen 
Zeitgenossen  vorfand,  und  welche  späterhin  Ptolemäus  für  allein  berechtigt 
erklärt  (vgl.  S.  425),  so  ergeben  sich  im  Ganzen  fünf  Kategorien  von  Tonoi. 


Trias 

Pentas 

Hexas 
in  zwei  Formen. 

Heptas 

1  F  Hypodor. 

1  G  Hypophryg. 

2  G  Hypophryg. 

1  A  Hypodor. 

2  A  Hypodor. 

3  A  Hypolyd. 

1  B  Dor.  diez.  5  b 
syn.  6  b 

2  B  Dor. 

3  B  Doriseh 

4  B  Dorisch 

2  c  Phryg.  diez.  3  b 
syn.  4  b 

3  c  Phryg. 

4  c  Phryg. 

5  c  Phrygisch 

3  d  Lyd.  diez.  1  b 
syn.  2  b 

4  d  Lyd. 

5  d  Lydisch 

6  d  Lydisch. 

5  es  Mixolyd. 

6  es  Mixolyd. 

7  es  Mixolyd. 

Die  von  mir  gegebene  Interpretation  der  Aristoxenischen  Stelle  beruht 
auf  der  Textes -Constituirung,  welche  ich  bereits  im  Jahre  1863  in  der  griech. 
Harmonik  veröffentlicht  habe.  Meibom's  Text  verlangt  folgende  Uebersetzung: 

.,Denn  ebenso  nehmen  einige  der  Harmoniker  von  den  Tonoi 

den  Hypodorisehen  als  den  tiefsten  an, 
um  einen  Halbton  höher  als  diese  (sie!)  den  Mixolydischen, 
um  einen  Halbton  tiefer  als  diese  den  Dorischen, 
um  einen  Ganzton  tiefer  als  den  Dorischen  den  Phrygischen, 
in  gleicher  Weise  um  einen  anderen  Ganzton  tiefer  als  den  Phry- 
gischen  den  Lydischen. 

Ich  hatte  das  zweimalige  toütwv  des  Meibom'schen  Textes  zu  tojtoj  emen- 
dirt  und  das  Wort  jit^Xuoio*  in  eine  andere  Zeile  gestellt.  Die  erste  meiner 
Aenderungen  steht  jetzt  auch  im  Texte  Marquards,  mit  der  für  mich  erfreu- 


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Prooimion. 


451 


liehen  Bemerkung,  dass  die  Lesart  toOtov  auch  durch  die  dritte  Hand  des  Mure, 
und  den  Riccard.  bestätigt  werde :  [Marquard  sagt,  diese  beiden  Handschriften 
hätten  das  Wort  hineincorrigirt;  es  ergiebt  sich  aus  S.  XL1X  des  Vorwortes, 
weshalb  ich  dieser  Auffassung  durchaus  nicht  beipflichten  kann.]  Etwas  wei- 
teres als  das  verkehrte  tovitcuv  der  anderen  Handschriften,  sagt  Marquard,  dürfe 
in  der  Stelle  nicht  geäudert  werden. 

Aendert  man  nicht,  dann  sind  es  folgende  Scalen,  welche  Aristoxenus 
in  der  ersten  Kategorie  (Pentas)  der  Harmoniker  nennen  würde: 


Diese  Deutung  giebt  auch  Marquard  der  handschriftlich  überlieferten 
Stelle  des  Aristoxenus,  in  welcher  den  alten  Harmonikera  eine  Pentas  der 
Tonoi  vindicirt  wird.  Marquardt  Worte  sind:  „es  war  bei  ihnen  „Mixolydisch" 
A  moll  und  „Hypodorisch"  Gismoll,  eine  Aufstellung,  die  um  so  verkehrter 
war,  als  dadurch  Scalen  hineinkamen,  die  praktych  überhaupt  nie  im  Gebrauch 
gewesen  sind,  so  weit  wir  schliessen  können." 

Marquard  sieht  also  recht  wohl  die  „Verkehrtheit"  dessen  ein,  was  Ari- 
stoxenus als  Tran8po8itionsscalen-Lehre  der  Harmoniker  angiebt.  Aber  er 
schützt  die  handschriftlich  überlieferte  Stelle  eben  deshalb,  weil  sie  den  Ari- 
stoxenus „Verkehrtes'4  berichten  lässt.  „Aristoxenus  will  uns  gerade  ein  Bei- 
spiel von  der  heillosen  Confusion  in  der  Anordnung  der  Tonarten  geben"  S.  144. 
Wäre  es  keine  heillose  Confusion,  dann  würde  eiue  „Polemik  von  Seiten  des 
Aristoxenus  gegen  frühere  Entwickclungsstufen,  die  an  sich  durchaus  berech- 
tigt gewesen  wären,  sehr  abgeschmackt  sein  .  .  .  Ganz  etwas  anderes  ist  es, 
die  theoretischen  Arbeiten  der  früheren  Harmoniker  zu  geissein;  dazu  hatte 
er  gutes  Recht."  Marquard  S.  314  glaubt,  wenn  Aristoxenus  so  geschrieben  hätte, 
wie  ich  die  Handschrift  emendire,  dann  würde  der  Vergleich  zwischen  den 
Zählungen  der  Tonoi  bei  den  Harmonikern  und  der  abweichenden  Zählung  der 
Monatstage  in  den  verschiedenen  griechischen  Staaten  abgeschmackt  sein. 
Sehen  wir! 

Marq.  S.  144:  „Aristoxenus  will  uns  gerade  ein  Beispiel  von  der  heillosen 
Confusion  in  der  Anordnung  der  Tonarten  geben;  er  musstc  also  schon  solche 
Aufstellungen  wählen,  welche  so  von  einander  abweichen,  wie  die  Zählung  der 
Monatstage,  d.  h.  solche,  in  welcher  die  Einen  z.  B.  den  zweiten  Ton  nenneu, 
welchen  die  andern  als  den  fünften  zählen." 

Aristoxenus  sagt:  „Es  herrscht  bei  den  Harmonikern  eine  solche  Ver- 
schiedenheit in  der  Aufzählung  und  Benennung  der  Transpositionsscalen,  dass 


Hypodorisch 
Mixolydisch 


Gis  Moll  i 


Dorisch 


Phrygisch 
Lydisch  . 


2t>* 


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452 


Aristoxenus  siebentheilige  Harmonik  §  18—20. 


„sie  an  das  Schwanken  erinnert,  welches  unter  den  griechischen  Staaten  in 
„der  Zählung  der  Monatstage  besteht.  Was  bei  den  Korinthern  der  zehnte 
„Monatstag  ist,  ist  bei  den  Athenern  der  fünfte  und  wieder  bei  anderen  der 
„achte.   Ebenso  machen  es  die  Ilarmoniker  mit  den  Tonoi." 

Dieser  Vergleich  des  Aristoxenus  ist  gerade  bei  meiner  Constituirung  des 
Textes  vollständig  richtig.  Denn  der  Tonos  Dorios  (in  der  alten  Trias  der 
Tonoi  von  unten  der  erste)  ist  in  der  Peutas  der  zweite,  in  der  Hexas  der 
dritte  —  in  der  Heptas  ist  er  zum  vierten  geworden.  Aehnlich  der  Tonos 
Phrygios  (in  der  alten  Trias  der  zweite)  ist  in  der  Pentas  der  dritte,  in  der 
Hexas  der  vierte  —  in  der  Heptas  ist  er  zum  fünften  geworden.  Das  ist  un- 
gefähr dasselbe  wie  der  Monatstag,  welcher  bei  den  Korinthern  der  zehnte  ist, 
bei  den  Athenern  als  der  fünfte,  und  wieder  bei  den  andern  als  der  achte  ge- 
rechnet wird.  Auch  in  der  Bedeutung  eines  und  desselben  Namens  der  Tonoi 
herrscht  Verschiedenheit  ,  insofern  die  Vertreter  der  Pentas  die  Scala  in  A 
Hypodorisch  nennen,  wälirend  die  Vertreter  der  Heptas  für  dieselbe  Scala  den 
Terminus  Hypolydisch  gebrauchen. 

Marquard  verlangt  S.  144,  dass  bei  den  Harmonikern  in  der  Annahme 
der  Transpositions-Scalcn  eine  „heillose  Confusion"  bestanden  haben  müsse, 
denn  sonst  wäre  die  Polemik  des  Aristoxenus  „sehr  abgeschmackt",  und  eben 
aus  diesem  Grunde  verschmäht  er  meine  Conjectur,  von  welcher  er  sagt:  „die 
Resultate,  welche  Westphal  gewinnt,  sind  in  diesem  Falle  wie  noch  in 
anderen  von  sehr  bestechender  Art,  allein  um  so  nachdrücklicher 
muss  darauf  hingewiesen  werden,  dass  die  Unterlagen,  auf  denen 
sie  mit  ausserordentlichen  Scharfsinn  und  umfassender  Gelehr- 
samkeit ausgeführt  sind,  nicht  sicher  sind". 

Die  Unterlage  meiner  Conjectur,  welche  nach  Marquard  „nicht  eicher" 
ist,  war  folgende.  Die  Verschiedenheit  in  der  Zählung  der  Monatstage  bei  den 
einzelnen  griechischen  Stämmen  hat  sicherlich  ihre  historische  Berechtigung  — 
nicht  minder  auch  die  Discrepanz  unter  den  Vorgängern  des  Aristoxenus  be- 
züglich der  Systeme  der  Tonoi.  Aristoxenus  macht  in  seiner  Harmonik  den 
Versuch,  ein  neues  rationelles  System  der  Tonoi  an  Stelle  der  alten  zu  setzen 
—  ein  System  der  Tonarten,  ähnlich  demjenigen,  welches  Joh.  Scb.  Bach  durch 
sein  wohlt.  Clav,  in  die  moderne  Musik  für  ewige  Zeiten  eingeführt  hat.  Auch 
Aristoxenus  ist  mit  seinem  Svsteme  der  Scalen  für  die  Musik  des  Alterthums 
durchgedrungen,  obwohl  dasselbe  an  Claudius  Ptolemäus  einen  Widersacher 
hatte,  ebenso  wie  Aristoxenus  auch  schon  bei  Lebzeiten  von  seinem  alten  Mit- 
schüler aus  dem  Aristotelischen  Lyceum  dieser  Neuerung  wegen  aufs  heftigste 
angegriffen  worden  war.  Denn  wenn  wir  bei  Athenäus  14,625  D  als  Worte 
des  Heraklides  Ponticus  lesen:  „7.abw  -rr*s;  '^aatv  zllrp  d;Ejj>Tjy.jvai  xnvty  äp- 
(jLOviotv  -jro'ipy-yiov",  so  ist  das  sicherlich  ein  Angriff  des  Heraklides  auf  Aristo- 
xenus, welcher  das  „Tief-Hypophrygisehe  als  neue  Tonart4'  aufgebracht  hatte. 
Auch  nach  dem  Berichte  des  Euklides  und  Aristides  ist  Aristoxenus  derjenige, 
welcher  zuerst  von  eiuem  „tovo;  'jm-jpvYiG;  .tJap-jTepo;",  also  einer  „xatv^j  ipnovla 


■ 


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Prooimion. 


453 


uro-fpüfto;*'  d.  i.  der  Transpositions-Scala  gis  Moll  gesprochen  hat.  Wenn 
Heraklides  dies  in  sarkastischer  Weise  seinein  alten  Mitschüler  vorwirft,  so  meint 
er:  dieses  Hoch-Hypophrygisch  des  Aristoxenus  sei  als  Harmonie,  d.  i.  als 
Octavengattuiig  von  dem  Tief-Hypophrygischen  lg  Moll)  nicht  verschieden  und 
daher  werthlos;  aus  demselben  Grunde  wie  auch  späterhin  Ptolemaus  die 
Transpositions-Scala  gis  Moll  neben  g  Moll  für  eine  nicht  berechtigte  erklärte. 

Das  ist  es,  was  nach  Marq.  die  ,. nicht  sichere  Unterlage4'  .meiner  Con- 
jectur  sein  soll/  Aristoxenus  soll  im  Prooimion  seiner  siebentheiligen  Harmonik 

—  so  will  es  Marquard  —  die  Notiz  gegeben  haben,  da»«  schon  lange  vor  ihm 
diejenigen  unter  den  Harmonikern,  welche  sich  nur  zu  fünf  Transpositions- 
Scalcn  bekannten,  als  unterste  Grundlage  der  Tonoi  bereits  eine  Scala  in 
gis  Moll  angenommen  haben,  —  eine  aus  dem  Kreise  jener  Kreuz-Tonarten, 
welchen  eben  Aristoxenus  erst  durch  seine  Harmonik  Eingang  verschaffen  will, 

—  eine  rationelle  Neuerung,  um  derentwillen  er  von  Heraklides  mit  den  unge- 
rechtesten härtesten  Vorwürfen  überschüttet  wurde.  Gerade  um  die  Not- 
wendigkeit seiner  rationellen  Neuerung  zu  motiviren,  giebt  A.  im  Prooimion 
eine  Notiz  von  den  bisher  und  früher  angenommeneu  Transpositions-Scalen. 
Und  da  soll  das  früheste  System  der  Harmoniker  gerade  mit  einer  Kreuzton- 
Scala  als  der  ersten  und  tiefsten  begonnen  haben!  Wer  dies  für  unmöglich 
hält,  der  wird  nichts  dagegen  haben,  dass  ich  die  ganze  Schwierigkeit  durch 
eine  möglichst  eiufache  Umstellung  einer  einzigen  Zeile  des  handschriftlichen 
Textes  beseitige. 

***)  Ausser  der  verkehrten  Stellung  von  töv  [j.t£oXuöiov  ist  in  der  hand- 
schriftlichen Ueberlieferung  noch  ein  zweiter  alter  Fehler. 

"Excpot  oe  rcpo;  tot;  etpr^evot;  tov  yjtocppJYiov  auXöv  zpo;TiSHaotv  izl  to  (Üapv». 
Das  Wort  aüXov  halte  ich  für  verdorben.  Denn  Aristoxenus  wird  nicht  so  un- 
genau geschrieben  haben,  dass  die  Hannouiker  den  genannten  Scalen  den 
Hypophrygischen  Aulos  hinzugefügt  hätten.  Er  hätte  doch  Hypopbrygi- 
schen  Tonos  sagen  müssen.  Es  liegt  die  Annahme  nahe,  dass  hier  ein  Ver- 
sehen ähnlich  wie  erste  Harmonik  §  50  vorliege.  Zu  dem  fehlerhaften  aüXöv 
wurde  am  Rande  die  richtige  Lesart:  rpö;  rJ,v  töiv  auXeüv  TpuTCTjOiv  hinzugefügt, 
so  dass  die  richtige  Ueberlieferung  folgende  war: 

"Krepot  Ii  rpi;  xot;  cfptj^^oi;  töv  u-o^pu^  rrpö;  xf,v  t&v  aüXwv  Tpu- 
rrtjoiv  ßX£T:ovT6;  zpooTiBeiai. 

Dann  hiess  es  weiter : 

Ol  Se  au  tpei;  }t£v  tou;  ^apuTobou;  tptol  oiioeatv  a-'  dXXfjXaiv  yujpt!//jatv, 
t<4v  te  uzotppuYtov  xni  tov  ü-ooeuptov  xo\  töv  0(6ptov,  tov  oe  9 pi-fiov  dzb  toü  Seupiou 
TOvtp,  tov  hi  XuStov  drJj  toü  ©puflou  zaXiv  tptt;  otiaei;  deiOTaotv  ■  ai3auT<u;  oe  xal 
tov  pii^oXuotov  toü  Xuotor  ti  0  ect'i  zpö;  S  ßXenovri;  out«  roieJo&ai  t?)v  oiaaTiaiv 
t&v  tovoiv  zpoTEOüfiTjvrai,  oüoev  6ipt,X70tv  • '3Tt  oe  iartv  t)  xaTazüxvqai;  dxpieX^;. 

Nachdem  die  Randbemerkung  in  den  Text  gedrungen,  wodurch  nun  die 
Lesart  ol  U  au  Ttpoc  t*,v  :äv  aüX&v  TpuzTjaiv  .  .  .  entstanden  ist,  ist  ein 
Widerspruch  vorhanden.  Denn  gleich  darauf  ist  gesagt  „tI  0  isTi  zpo;  8  £X£zovte; 


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454  Aristoxeuus  siebentheilige  Harmonik  §21 — 25. 

i 

ojtto  zoieic&ai  -po-re&üfxtjvrai ,  oOSsvelp-fjxaaiv,  Es  kann  also  in  demselben 
Satze  nicht  vorher  Tipö;  t9|v  tpyTnrjjiv  jttiitovre;  gestanden  haben.  Vielmehr  muss 
xt  5'  l<n\  zpo;  5  $\ir.wez  mit  Bezug  auf  die  Intervalle  von  drei  Diesen  gesagt 
sein:  Weshalb  sie  die  Scalen  drei  Diesen  abstehen  liessen,  haben  sie  nicht 
gesagt.  Dass  dergleichen  Intervalle  von  dichtgedrängten  Diesen,  (die  xaTa- 
7v6xvoo3i;)  ekmelisch  ist,  wird  im  Weiteren  klar  werden". 


Die  Metabole. 

§  21.  Da  die  Melodumcna  theils  einfacher  Art  sind,  theils 
eine  Metabole  enthalten,  so  ist  auch  noch  über  die  Metabole  zu 
reden,  und  zwar  zuerst,  was  Metabole  ist  und  wie  sie  entsteht,  — 
wenn  z,  B.,  sage  ich,  in  der  regelmässigen  Ordnung  der  Melodie  eine 
Aenderung  eintritt  — ,  sodann,  wie  viele  Arten  der  Metabole  es  im 
Ganzen  giebt  und  bei  welchen  Intervallen  sie  eintreten. 

Hierüber  ist  noch  von  keinem  ein  Wort  gesagt,  weder  mit 
noch  ohne  "Beweis. 

VII. 

Die  Melopoeie. 

§  22.    Ein  letzter  Theil  wird  der  von  der  Melopoeie  sein  .  . 

Denn  da  mittels  der  nämlichen,  an  sich  indifferenten  Scala-Klänge 
viele  Melodien  aller  Arten  zum  Vorschein  kommen,  so  wird  es 
offenbar  die  Praxis  sein,  durch  welche  dies  geschieht. 

Die  Parasemantik  und  die  Theorie  der  Auloi  als  gemeinschaft- 
liches Ziel  der  Harmonik. 

§  23.  Die  Wissenschaft  der  Hermosmenon  wird  nun,  wenn  sie 
die  aufgeführten  Abschnitte  durchlaufen  hat,  eben  darin  ihr  Ziel 
haben.  Was  aber  Einige  als  Ziel  hinstellen:  Die  einen  die  Para- 
semantik d.  i.  die  Fertigkeit,  das  Componirte  zu  notiren,  die  sie 
für  den  Zweck  des  Verständnisses  aller  Melodumena  ausgeben,  die 
anderen  die  Theorie  des  Auloi  und  die  Fähigkeit,  Entstehungsweise 
und  Veranlassung  alles  dessen,  was  auf  den  Aiüoi  zum  Vorschein 
kommt,  angeben  zu  können;  —  das  sind  lediglich  Behauptungen 
von  solchen,  die  völlig  in  die  Irre  gegangen  sind. 


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Prooimion. 


455 


a)  Die  Parasemaiitik. 

§  24.  Die  Parasemaiitik  ist  nicht  das  Endziel,  sondern  nicht 
einmal  ein  Theil  der  harmonischen  Disciplin,  es  müsste  sonst  auch 
das  Endziel  der  Metrik  darin  bestehen,  in  den  verschiedenen  Metren 
sehreiben  zu  können.  Wenn  es  aber  ebenso  wie  bei  den  Metren  ist, 
wo  es  nicht  nothwendig  ist,  dass  z.  B.  derjenige,  welcher  in  Jamben 
schreiben  kann,  auch  die  Theorie  der  Jamben  versteht,  —  wenn 
es  sich,  sage  ich,  ebenso  bei  den  Melodumena  verhält  (und  es  ist 
ja  wie  wir  sehen  nicht  nöthig,  dass  der,  welcher  ein  phrygisches 
Melos  schreibt,  auch  die  Theorie  der  phrygischen  Tonart  kennt!), 
dann  wird  sicherlich  die  Parasemaiitik  nicht  das  Ziel  der  in  Rede 
stehenden  Wissenschaft  sein. 

§  25.  Dass  aber  das  Gesagte  wahr  und  dass  derjenige,  wel- 
cher Melodien  niedersclireibt,  bloss  die  Intervallgrösse  zu  beachten 
brauche,  wird  wohl  bei  folgender  Darlegung  klar  werden. 

Der  die  Intervalle  notirende  setzt  nämlich  keineswegs  bei  jedem 
Intervall-Unterschiede  ein  anderes  Notenzeichen.  So  verhält  es  sich 
bei  den  verschiedenen  durch  die  Tongeschlechter  bedingten  Ein- 
theilungen  der  Quarte, 

im  diatonischen  Geschlechte  wird  der  Halbton  a  b  durch  C  ^  notdrt, 
im  enharuioni8cheu  Geschlechte  der  Viertelton  aa  durch  dasselbe  Zei- 
chen u.  s.  w.; 

ferner  bei  den  verschiedenen  durch  die  wechselnde  Reihenfolge  der 

unzusammengesetzten  Intervalle  hervorgebrachten  Schemata, 

z.  B.  die  Note  C,  d.  i.  a,  kann  ebensowohl  den  ersten  Ton  der  Hypodo- 
rischen wie  den  sechsten  Ton  der  Lydischen  "Octavengattung  bezeichnen, 
kann  ebensowohl  die  Prime  von  A-Moll  wie  die  Sexte  oder  Unter-Terz 
von  c-Dur  sein. 

Dasselbe  ist  auch  von  verschiedenen  Dynameis  (Geltungen) 
zu  sagen,  welche  durch  die  natürliche  Beschaffenheit  der  Tetra- 
chorde  bewirkt  werden,  denn  das  Tetrachord  der  Nete  und  Para- 
mese*) wird  oft  durch  dieselben  Noten**)  wie  das  der  Mese  und 
Hypate  (einer  anderen  Transpositions-Scala)  ausgedrückt. 

die  Noten  für  f  c  sind  Nete  und  Paramese  der  Dorischen  (B-Moll)  und  zu- 
gleich Mese  und  Hypate  des  Hypermixolydisehen  (f-Moll); 

die  Noten  für  c  g  sind  Nete  und  Paramese  des  Hypodorischen  (F-Moll)  und 
zugleich  Mese  und  Hypate  des  Phrygischen  (c-Moll); 


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45G 


Aristoxenus  siebentheilige  Harmonik  §  25—28. 


die  Noten  für  d  a  sind  Nete  und  Paramese  des  Hypophrygisehen  (G-Moll) 

und  zugleich  Mese  und  Hypate  des  Lydischen  l  B-Moll); 
die  Noten  für  e  h  sind  Nete  und  Paramese  des  Hypolydischen  (A-Moll)  und 

zugleich  Mese  und  Hypate  des  Hypoiastischen  (e-Moll); 
die  Noten  für  eis  gis  sind  Nete  und  Paramese  des  Hypoiastischen  (Fis-Moll) 

und  zugleich  Mese  und  Hypate  des  Aeolischen  (cis-Moll); 
die  Noten  für  dis  eis  sind  Nete  und  Paramese  des  Hypoaeolischen  (Gis-Moll) 

und  zugleich  Mese  und  Hypate  des  Mixolydischen  (Es-Moll). 

*)  Zu  lesen:  „rb  7<if>  vf,^;  xat  (zapajjicrj;  xoi  xo)  uioTj;  xai  brArrf, 
Marq.:  „xö  -jap  vt(xt);  xai  fiitnj;  (xat  xö  T*pi\i.i<xrfi)  %a\  \trAvtfi".  Marquard  än- 
dert die  Stelle  so,  dass  sie  von  Quinten  reden  würde.  Er  nennt  es  selber 
8.  336  eine  grosse  Schwierigkeit,  dass  nur  „jene  Intervalle  Quinten  sind, 
„welche  man  mit  der  Nennung  der  Tetrachorde  eigentlich  (?)  nicht  binreichend 
„bezeichnet,  da  sie  eiuen  Ton  mehr  als  diese  enthalten".  Eben  deshalb  muss 
die  Stelle  nicht  in  der  Marquard'schen  Weise,  sondern  so  hergestellt  werden, 
dass  sich  Quarten  ergeben,  wie  wir  dies  gethan.  Wollte  man  gar  nichts  än- 
dern, und  xö  fao  vTj-rr,;  xol  pior,;  xal  ürdxT);  xw  auxui  -fpifZTu  ar^etm ,  sondern 
von  «pOoYYoi  verstehen,  so  würde  dies  sachlich  für  die  Nete  (diez.)  der  Hypo- 
doriseben,  die  Mese  der  Pbrygischen,  die  Hypate  (nies.)  der  Hypermixolydischeii 
passen,  die  samintlich  mit  der  Note  E  d.  i.  c  bezeichnet  werdeu. 

**)  Ist  aber  xi  ^i77!»  u-  s-  w->  w*e  es  d°ch  nicht  anders  sein  kann, 
von  einem  Tetrachorde,  nicht  vom  <p&<$Yfo;  zu  verstehen,  so  muss  es  heisseu 
xoi;  auroi;  fpdytxai  07)(Ae(oi;  statt  x<ji  auxöi  fpitf erat  der  Handschriften. 

Auch  die  zwischen  Nete  und  Paramese  liegenden  Intervallgrössen 
haben  in  allen  diesen  Fällen  dieselben  Noten  wie  die  bezüglichen 
zwischen  Mese  und  Hypate  liegenden. 

»So  bleibt  die  verschiedene  Geltung  der  Töne  durch  besondere 
Noten  unbezeichnet,  die  mithin  lediglich  zur  Angabe  der  Intervall- 
grössen, aber  zu  nichts  .anderem  gesetzt  werden. 

Dass  aber  das  Auffassen  bloss  der  Intervallgrössen  nicht  ein- 
mal ein  Theil  unserer  gesammten  Wissenschaft  ist,  habe  ich  schon 
in  der  den  Stoicheia  vorausgehenden  Darstellung  der  Eingangsab- 
schnitte (vgl.  S.  436)  bemerkt.  Es  wird  dies  leicht  einzusehen  sein,  wenn 
ich  noch  hinzufüge,  dass  weder  die  Geltungen  der  Tetrachorde, 
noch  der  Scalen-Töne,  noch  die  Unterschiede  der  Tongeschlechter, 
noch  die  Unterschiede  —  um  es  kurz  zu  sagen  —  des  Unzusam- 
mengesetzten und  Zusammengesetzten,  noch  auch  das  Ametabolische 
und  Metabolische,  noch  die  Arten  der  Melopoeie,  noch  irgend  etwas 
anderes  (der  Art)  bloss  durch  die  Intervallgrössen  fasslich  ge- 
macht wird. 


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Prooimion. 


457 


§  26.  Haben  nun  die  sogenannten  Harmoniker  diese  ihre  An- 
sicht aus  Unwissenheit  festgehalten,  dann  lässt  sich  ihr  Charakter 
nicht  tadeln,  aber  sicherlich  muss  dann  ihre  Unwissenheit  eine 
gewaltig  grosse  sein.  Wussten  sie  aber,  dass  das  Notiren  nicht 
der  Zweck  der  in  Rede  stehenden  Disciplin  ist,  und  haben  sie  diese 
ihre  Ansicht  aus  Gefälligkeit  gegen  die  Laien  und  um  irgend  etwas 
Materielles  als  Ziel  anzugeben,  aufgestellt,  dann  werde  ich  sie 
einer  grossen  Verwerflichkeit  des  Charakters  beschuldigen  müssen. 
Denn  einmal  glauben  sie  alsdann,  dass  der  Laie  zum  Richter  in 
der  Wissenschaft  zu  bestellen  sei,  so  abgeschmackt  es  auch  ist, 
dass  ein  und  derselbe  etwas  erst  lernen  und  gleichzeitig  auch  be- 
urtheilen  soll.  Sodaun  aber  haben  sie,  wenn  sie  nach  ihrer  Ansicht 
eine  äusserliche  Fertigkeit  als  Ziel  des  Wissens  setzen,  gerade 
das  Umgekehrte  von  dem,  was  sie  thun  sollten,  gethan,  da  ja 
vielmehr  eine  jede  äusserliche  Fertigkeit  das  Wissen  zu  ihrem 
letzten  Ziele  hat.  Und  wenn  dies  Wissen  ein  tieferes,  gleichsam 
der  innersten  Seele  angehöriges  ist.  welches  weder  leicht  erfasst 
werden  kann,  noch  auch  dem  grossen  Haufen  zugänglich  ist,  so 
wird  dadurch  die  Richtigkeit  meiner  Behauptung  nicht  beinträchtigt. 


b)  Die  Theorie  der  Aidoi. 

§  27.  Nicht  minder  verwunderlich  als  die  eben  besprochene 
ist  die  bezüglich  der  Blasinstrumente  aufgestellte  Ansicht.  Sie  lässt 
nämlich  unbeachtet,  dass  dasjemge,  wodurch  alles  zum  Auloi-Spiele 
gehörige  —  Hände,  Stimme,  Mund,  Athem  u.  s.  w.  —  bestimmt  und 
beurtheilt  wird,  etwas  ganz  anderes  ist  als  die  blossen  todten  In- 
strumente. Macht  man  nicht  das  erstere,  sondern  das  Beurtheilte 
zur  Hauptsache  und  zum  Endzwecke,  so  wird  man  jedenfalls  die 
Wahrheit  verfehlen. 

§  28.  So  ist  die  Zurückfuhrung  des  Hermosmenon  auf  die 
Instrumente  ein  grosser  und  ganz  und  gar  wunderlicher  Irrthum. 
Denn  nichts  von  dem,  was  bei  den  Instrumenten  zum  Vorschein 
kommt,  ist  der  Grund  für  die  Eigenthümlichkeiten  des  Hermos- 
menon und  die  in  ihm  sich  zeigende  Ordnung  und  Gesetzmässigkeit. 
Wenn  nämlich  z.  B.  die  Quarte,  die  Quinte  und  Octave  ein  sympho- 
nisches Intervall  bildet,  und  wenn  die  übrigen  Intervalle  ihre  be- 


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458 


Artetoxenus  siebentheilige  Harmonik  §28—31. 


stimmte  Grösse  haben,  so  liegt  der  Grund  hierfür  nicht  darin,  dass 
die  Auloi  Löcher  und  Höhlungen  haben  u.  s.  w.,  noch  darin,  dass 
der  Aulete  ein  bestimmtes  Verfahren  theils  mit  den  Händen,  theils 
mit  anderen  das  Hinauf-  und  Hinabsteigen  ermöglichenden  Mitteln 
zur  Anwendung  bringt.  Denn  trotz  alledem  ist  es  dem  Auleten 
nichtsdestoweniger  unmöglich,  die  gesetzmässige  Ordnung  des  Her- 
mosmenon  genau  zu  erreichen;  nur  einzelnes  ist  es,  was  sie  mit 
Aufwendnng  aller  jener  Mittel,  indem  sie  wegnehmen  (?)  und  seit- 
wärts biegen  (?)  und  mit  dem  Athem  in  die  Höhe  treiben  und  nach- 
lassen, richtig  treffen  können,  sodass  es  (meistens)  eigentlich  das- 
selbe besagen  will,  wenn  das  Publikum  beim  Aulosspiel  „gut"  oder 
„schlecht"  ruft. 

Bestimmte  Töne,  meint  Aristoxenus,  wird  der  Aulete  auf  seinem  In- 
strumente niemals  ganz  rein  —  d.  h.  dem  Hermosmenon  genau  entspre- 
chend —  angeben  können,  wenigstens  für  den  Kenner  nicht,  wenn  auch 
da«  grosse  Publikum  keiueu  Anstoss  daran  nimmt.  Auf  den  Saiteninstru- 
menten kann  man  sie  völlig  genau  angeben,  ebenfalls  mit  der  Singstimme. 
Auch  bei  uns  lassen  sich  bestimmte  Töne  nur  auf  den  Streichinstrumenten, 
nicht  auf  den  Blasinstrumenten  genau  angeben. 

§  29.  Dies  dürfte  nun  aber,  wenn  die  Zurückfuhrung  des  Her- 
mosmenon auf  ein  Instrument  richtig  wäre,  nicht  der  Fall  sein. 
Vielmehr  müsste  das  Melos  alsdann  [beim  Zurückführen  auf  die 
eigentümliche  Natur  der  Auloi]  unerschütterlich  fest  und  fehlerlos 
richtig  sein.  Aber  weder  der  Aulos  noch  irgend  ein  anderes  Instru- 
ment wird  jemals  das  Wesen  des  Hermosmenon  überall  richtig  fest- 
halten, denn  die  wunderbare  Ordnung  desselben  lässt  sich  überhaupt 
auf  einem  Instrumente  nur  insoweit  zur  Anschauung  bringen,  als 
das  Gehör,  von  dessen  Ermessen  dies  wie  auch  alles  übrige  in  der 
Musik  abhängig  ist,  die  Instrumente  regulirt.  Der  aber  ist  thöricht, 
der  da  meint,  weil  er  täglich  dieselben  Bohrlöcher  und  dieselben 
angespannten  Saiten  sieht,  so  sei  hier  auch  das  unveränderliche 
und  seine  bestimmte  Ordnung  bewahrende  Hermosmenon  zu  finden. 
Denn  wie  auf  den  Saiten,  so  ist  auch  bei  den  Bohrlöchern  der  Auloi 
das  Hermosmenon  nur  dann  zu  finden,  wenn  man  es  durch  die 
Thätigkeit  der  Hände  und  durch  Abstimmen  hineingebracht  hat. 
Dass  aber  kein  Instrument  sich  von  selber  stimmt,  sondern  dass 
das  Gehör  dies  vollbringt,  bedarf  keiner  Worte,  da  es  (an  sich)  klar  ist 


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Prooimion.  459 
• 

Wunderlich  also  ist  es,  dass  man  nicht  einmal  mit  Rücksicht 
auf  die  vorliegende  Auseinandersetzung  von  der  hier  in  Rede  stehen- 
den Ansicht  abgeht,  —  sieht  doch  ein  Jeder,  dass  die  Auloi  ver- 
änderlich sind  und  niemals  dieselbe  Beschaffenheit  behalten,  son- 
dern dass  vielmehr  Alles,  was  darauf  vorgetragen  wird,  den  Ur- 
sachen gemäss,  auf  Grund  deren  es  zur  Ausführung  kommt,  sich 
ändert. 

§  30.  So  ist  es  nun  klar,  dass  es  keinen  Grund  giebt,  das 
Melos.  auf  die  Auloi  zurückzuführen;  denn  (wie  wir  gesehen)  wird 
weder  dies  Instrument  die  natürliche  Ordnung  des  Hermosmenon 
einhalten,  noch  würde,  wenn  Jemand  durchaus  der  Ansicht  sein 
wollte,  es  müsste  das  Hermosmenon  auf  ein  Instrument  zurückge- 
führt werden,  der  Aulos  das  passende  Instrument  sein,  da  dieser 
sowohl  seiner  Anfertigung  wie  seiner  Technik  und  eigenartigen 
Natur  nach  den  meisten  Schwankungen  unterliegt. 

Schlussbcmerkung  über  Methode  und  Ausgangspunkt  der 

Un  tersuehung. 

5  31.  Dies  etwa  ist  es,  womit  wir  uns  über  die  sogenannte 
harmonische  Disciplin  im  Voraus  bekannt  zu  machen  hätten.  In- 
dem  wir  nun  in  Begriff  sind,  den  die  Stoicheia*)  darstellenden  Theil 
der  Disciplin  in  Angriff  zu  nehmen,  müssen  wir  vorher  Folgendes 
erwägen.  Es  lässt  sich  nicht  vortragen,  wenn  nicht  dreierlei**),  was 
ich  jetzt  angeben  werde,  vorhanden  ist: 

1.  Die  Thatsachen  selbst  müssen  genau  festgestellt  werden; 

2.  hierbei  muss  das  Frühere  (Porphyr  ad  Ptol.  p.  210.  211) 
von  dem  Späteren  richtig  geschieden  sein; 

3.  es  muss  der  Sache  gemäss  erkannt  werden,  was  sich  (erst)  als 
Schlussfolge  ergiebt  und  was  in  die  Kategorie  des  allgemein 
Angenommenen  gehört. 

*)  Marquard  S.  152:  „Die  Ausschliessung  der  Worte  -epl  -za  oror/eia  ist 
das  gelindeste  Mittel  die  Stelle  lesbar  zu  machen.  Wie  die  Worte  überliefert 
sind,  kann  sie  Aristoxenus  unmöglich  geschrieben  haben.  Denn  jeder,  welcher 
sie  unbefangen  liest,  wird  zunächst  meinen,  die  äpfxovtx^  xaXoupswj  noa^a-rtla 
sei  etwas  Anderes  als  die  o-rai/cta."  Der  unbefangene  Leser  soll  an  dieser 
Meinung  festhalten,  denn  eine  jede  andere  würde  irrig  sein.  Ruelles  Ueber- 
setzung  p.  67  ist  ganz  richtig:  „Voilä  donc  les  questions  prelimiuaires  qu'il  fau- 


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460  Aristoxenus  siebentheilige  Harmonik  §  31—33. 

dra  examiner  successiveinent  dans  le  traite  d'harmonique.  Maintenant,  si  Ton 
a  projete*  de  s'appliquer  a  traiter  des  Clements,  on  doit  se  penetrer  auparavant 
de  plusieurs  choses." 

Die  erste  und  ebenso  auch  die  zweite  Darstellung  der  Harmonik  des  Ari- 
stoxenus zerfallt  in  zwei  Haupt-Theile,  die  er  selber  bezeichnet: 

den  ersten:  „rd  h  dpyf/4, 
den  zweiten:  „sroiyeta", 

vgl.  S.  184  ff..  Die  dritte  Darstellung  der  Harmonik,  von  der  in  den  Hand- 
schriften Nichts  als  das  Prooimion  auf  uns  gekommen  ist,  soll  laut  des  Titels 
nur  den  zweiten  Theil  (die  „oToiyEia'.4)  enthalten;  die  den  „arotyeia"  vorangehende 
Partie  „td  eV  dp/fj"  hatte  Aristoxenus  in  einer  eigenen  Schrift,  welche  eine 
Art  Einleitung  zur  dritten  Harmonik  bildete,  und  aufweiche  er  §25  mit  dem 
Citate  „dv  dp/7-"  verweist,  dargestellt. 

Auf  diese  Weise  will  auch  der  Anfang  des  §  31  verstanden  sein.  Es  ist 
ein  Unterschied  zwischen  der  Ttepl  rf,;  ipjAovixfj;  xaXojuivrj;  -paY(Aateia  und  der 
«epl  td  OTor/eia  r.pi-fpz-da.  Das  erstere  die  Gesammtheit,  das  zweite  ein  Theil 
der  Gesammtheit: 

'H  irept  Tfj;  dpfj.ovty.fj;  »aXoujxfvT;;  ~paY|AiT£ia : 

a)  xd  lv  dpyjrj 

b)  ttj  itepi  xd  ototyela  -paYfiateta. 

Auch  von  demTheile  a)  würde  Aristoxenus  die  Bezeichnung  TßayiMvzti* 
gebrauchen  können,  ft  tcdv  £v  dpyg  Trps-fjxaTEia.  wie  er  auch  die  einleitende 
Schrift  ,,&<5;at  appovixcto"  als  iz^oL^axtia  bezeiclmet. 

» 

•*)  Marquard  S.  332:  „Die  UnerläKslichkeit  der  ersten  Bedingung,  welche 
Aristoxenus  hier  für  die  Erkenntniss  der  Musik  aufstellt,  die  genaue  Auffas- 
sung der  Erscheinungen,  hat  er  vorher  schon  genügend  betont  (p.  48,  2  =  sieben- 
theilige Harm.  §  6  unserer  Ausgabe). 

Was  mit  der  zweiten,  dass  man  innerhalb  der  Erscheinungen  die  frü- 
heren und  späteren  richtig  trennen  soll,  gemeint  sei,  lässt  sich  bei  der  Kürze 
des  Ausdruckes  und  bei  der  gänzlichen  Verschiedenheit  unserer  Methode  schwer 
sagen.  Vielleicht  sind  unter  den  früheren  diejenigen  verstanden,  welche  un- 
mittelbar sich  der  Wahrnehmung  aufdrängen,  unter  den  späteren  dagegen  die, 
welche  erst  durch  Combination  und  weiteres  Eindringen  in  den  Stoff  wahrge- 
nommen werden. 

Mit  der  dritten  Forderung  will  Aristoxenus  wohl  sagen,  man  müsse 
methodisch  beobachten,  was  in  der  Musik  das  stets  sich  Gleichbleibende  sei 
und  was  in  jedem  einzelnen  Falle  sich  anders  gestalte.  Jenes  würdo  z.  B. 
sein,  dass  jede  Compositum  entweder  diatonisch  oder  chromatisch  oder  enhar- 
monisch  ist,  dies  dagegen  wie  in  jedem  einzelnen  Falle  ein  jedes  der  Ge- 
schlechter gebraucht,  wie  sie  mit  einander  vermischt  werden  u.  s.  w.  Und 
darin  hat  A.  allerdings  sehr  Recht,  dass  eine  Erkenntniss  nicht  möglich  sein 


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Prooimion. 


401 


wird,  wenn  man  das  in  einem  Falle  nur  Zufällige  für  etwas  Wesentliches  und 
Allgemeines  hält." 

Ruelle  p.  67  übersetzt:  „La  premiere,  c'est  de  recueillir  avec  soin  les 
faits  d'experience;  la  deuxieme,  c'est  de  determiner  convenableinent ,  parmi 
ces  faits,  ceux  qui  sont  au  premier  rang  et  eeux  qui  sont  au  second  [Rappro- 
cher  de  ee  passage  remarquable  le  chap.  1  de  la  Poetique  d'Aristot.  Cp.  Pla- 
tou,  Phae<lr.,  p.  264,  B.];  la  troaic-me,  c'est  d'envisager  de  la  meme  maniere 
le  fait  qui  se  produit  et  eelui  qui  est  reconnu." 

§  32.  Da  man  bei  jeder  aus  einer  Reihe  von  Sätzen  (rpoßXrj- 
u-ara)  bestehenden  Wissenschaft  von  Axiomen  (apyjit)  auszugehen 
hat,  aus  welcher  die  übrigen  (tot  ixera  ta;  ap/a;)  bewiesen  werden 
müssen,  so  wird  es  nothwendig  sein,  dies  nach  folgenden  zwei  Ge- 
sichtspunkten zu  thun: 

1.  es  muss  ein  jedes  Axiom  (2xarrov  to>v  ap)rosiou>v  -po,3Xf)(ia- 
?wv)  eine  augenscheinliche  Wahrheit  sein.  Das,  was  einen 
Beweis  verlangt,  kann  nicht  die  Stelle  eines  Axioms  haben. 

2.  es  muss  von  Seiten  der  sinnlichen  Wahrnehmung  als  etwas 
aufgefasst  werden,  welches  zu  den  ersten  von  den  beiden 
Theilen  der  harmonischen  Wissenschaft  gehört. 

§  33.  Beim  Anfange  müssen  wir  überhaupt  uns  hüten,  dass 
wir  nicht  dadurch  auf  ein  fremdes  Gebiet  gerathen,  dass  wir  von 
irgend  einer  Stimme  oder  von  der  Bewegung  der  Luft  beginnen, 
aber  auch  nicht  durch  zu  enge  Begrenzung  des  Umfanges  vieles 
von  dem  was  nothwendig  ist  fortlassen. 

Man].  333:  „Von  der  Bewegung  der  Luft  gingen  die  Pythagoreer  aus, 
um  zu  einer  Definition  von  Schall  und  Klang  zu  gelangen.  Auch  die  späteren 
Mathematiker  sind  bei  dieser  Methode  geblieben,  welche  für  ihren  Standpunkt 
durchaus  richtig  war,  wie  z.  B.  Euklid  in  der  Sectio  canonis  und  Andere.  Es 
ist  oben  an  verschiedenen  Stellen  darauf  hingewiesen  worden,  wie  Aristoxenus 
als  Musiker,  der  es  mit  dorn  Klang  nur  als  Material  für  die  Kunst  zu  thun 
hat,  eine  Untersuchung  über  das  Wesen  des  Klanges  nothwendig  ausschliessen 
musste." 

Dann  nagt  Marq.  weiter:  „Die  Fortsetzung  dieser  Zurückweisung,  welche 
in  unseren  Exzerpten  fehlt,  uns  aber  bei  Porphyrius  p.  193  erhalten  ist,,  ent- 
hielt ein  Beispiel  für  ein  solches  nach  Aristoxenus'  Meinung  verkehrtes  Zurück- 
gehen auf  deu  Uraufang." 

Die  Stelle  des  Porphyrius  über  Xenokrates,  in  welcher  Marq.  ein  Aristo- 
xenisehes  Fragment,  welches  eich  unmittelbar  an  das  Ende  unseres  Prooimions 
anschliesse,  zu  finden  vermeint,  ist  folgende: 


■ 

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462 


Aristoxenus  siebentheilige  Harmonik  §  33. 


Aus  demselben  Grunde  machen  es  auch  einige  dem  Xenokrates  zum 
Vorwurfe,  dass  er  in  seiner  Darstellung  der  Dialektik  mit  der  Stimme 
beginnt,  denn  sie  glauben,  dass  weder  die  Definition  der  Stimme  als  einer 
Luftbewegung  noch  die  darauf  folgende  Eintheilung  der  Stimme  in  eine 
aus  Lauten  (SylbenJ  und  eine  aus  Intervallen  und  Tönen  bestehende  mit 
der  Dialektik  etwas  zu  thun  habe,  da  dies  Alles  ja  der  Dialektik  fern 
stehe  und  da  mühin  derjenige,  welcher  auf  diese  Weise  die  Dialektik  be- 
ginnt, nichts  anders  thue,  als  dass  er  einige  mit  der  Lehre  von  der  Dia- 
lektik durchaus  nicht  zusammenhängende  Theorien  herbeigezogen  habe. 

Von  Herzen  würde  ich  diesen  Fund  des  Herrn  Marq.  beglückwünschen, 
wenn  dies  wirklich  ein  Fragment  des  Aristoxenus  wäre.  Hat  doch  gerade  über 
der  siebentheiligen  Harmonik  des  Aristoxenus  in  der  Textesüberlieferung  ein 
gar  zu  böser  Unstern  gewaltet;  jedes  auch  noch  so  kleine  Fragment  müsste 
willkommen  sein.  Aber  dass  die  Stelle  des  Porphyrius  aus  Aristoxenus  herge- 
nommen sei,  ist  durchaus  unsicher,  ja  unwahrscheinlich.  Denn  Süsser  lieh 
spricht  nichts  dafür,  dass  Porphyrius  noch  über  das  uns  handschriftlich  er 
haltenc  Prooimion  hinaus  aus  Aristoxenus  excerpirt  habe.  Im  Anfange 
zwar  wird  Aristoxenus  von  Porphyrius  genannt:  Apiox'S-jevoc  fisv  ovv  zapfjf- 
Ysi>.e  %<iH)xj'j   otTv  h  Tili  ap/eoftai  zaparr^pEtv  8t:(d;   ;j^te  el;   ttjv  urepoptav 

-tzrtujjiev  arA  tivo«  <p<ov?j;  ddpo;  Aber  das,  was  dann  über  Xenokrates 

folgt,  kann  ebenso  gut  irgendwo  anders  hergenommen  sein,  als  aus  Aristo- 
xenus. Ein  Süsseres  Zeugniss  für  den  Aristoxenischen  Ursprung  ist  nicht  im 
mindesten  vorhanden.  Noch  schlechter  aber  würde  es  mit  einem  inneren 
Grunde  stehen  dies  dem  Aristoxenus  zu  vindiciren,  denn  der  dem  Xenokrates 
gemachte  Vorwurf ,  dass  dieser  für  -die  Dialektik  Ungehöriges  herbeigezogen 
habe,  betrifft  nicht  bloss  das  von  Xenokrates  aus  einem  Pythagorcer  Herbei- 
gezogeue (Stimme  als  Luftbeweguug) ,  sondern  auch  die  von  Xenokrates  aus 
Aristoxenus  herbeigezogene  Eintheilung  der  Stimme  in  Singstimme  und  Sprech - 
stimme.  Psychologisch  würde  es  nicht  wohl  motivirt  sein,  wenn  Aristoxenus 
selber,  der  diesen  Unterschied  von  Sprechen  und  Singen  unter  Allen  zuerst 
erkannt  und  damit  eine  höchst  wichtige  Thatsache  zuerst  richtig  beleuchtet 
hat,  an  Xenokrates  getadelt  hätte,  dass  dieser  im  Anfange  seiner  Dialektik  sich 
auf  jene  Aristox.  Unterscheidung  des  Sprechens  und  Singens  bezogen  habe. 
Weshalb  im  Prooimion  der  siebentheiligen  Harmonik  sagen:  „Deshalb  machen 
es  auch  einige  der  Dialektik  des  Xenokrates  zum  Vorwurfe  .  .  .",  wo  durchaus 
keine  in  der  Sache  liegende  Veranlassung  vorhsinden  ist,  den  Xenokrates  zu 
erwiihnen  — ,  wo  vielmehr  der  Faden  der  Darstellung  in  einer  empfindlichen 
Weise  dadurch  unterbrochen  sein  würde? 

Wäre  die  über  Xenokrates  handelnde  Stelle  von  Aristoxenus  geschrieb«u, 
so  hätte  dieser  gegen  die  früher  von  ihm  selber  aufgestellten  Lehren  von  der 
ojvey^;  und  lw3rrip'xzvtA\  ?uwj;  xwjoi;  einen  Tadel  ausgesprochen.  Dies  fühlt 
auch  Marquard  S.  333:  „Ueber  den  Widerspruch,  in  welchem  diese  Abweisung 
gewissermassen  mit  dem  eigenen  Verfahren  (p.  10,  32  ff.  =  Erste  Harm.  §25) 


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Prooimion. 


403 


zu  stehen  scheiut,  siebe  Excurs  XVIII."  Dort  lehrt  Marquard  S.  389,  es  finde 
sich  in  unseren  den  Namen  des  Aristoxenus  tragenden  Excerpten  mancher 
Widerspruch  gegen  die  Doctrin  des  Aristoxenus,  z.  B.  das  gemischte  Diatonon, 
welcher  von  dem  Anhänger  eines  anderen  als  des  Aristoxenischen  Systemes 
herrühre  (!!).  Von  einem  solchen,  also  nicht  von  Aristoxenus  selber,  soll  denn 
auch  die  Stelle  über  Xenokrates  geschrieben  sein. 

Wir  können  dieser  Stelle  über  Xenokrates  als  eines  Aristoxenischen  Frag- 
mentes der  dritten  Harmonik  um  so  leichter  entbehren,  als  wir  im  Stande  sind, 
dem  handschriftlich  überlieferten  Prooimion  noch  ein  Fragment  aus  dem  diesem 
Prooimion  folgenden  ersten  Abschnitte  aus  Boetius  hinzuzufügen.  Gern  ge- 
stehe ioh,  dass  mir  dies  Fragment  ohne  den  persönlichen  Verkehr  mit  Freund 
Oskar  Paul,  dem  vortretflicheu  Interpreten  des  Boetius,  entgangen  wäre. 


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Die  drei  Klanggeschlechter. 

Aus  Boetii  de  institutione  musica  5, 16. 


§  34.  Die  Quarte  zerlegt  Aristoxenus  folgendermassen  in  Klang- 
geschlechter. 

Den  Ganzton  theilt  er  in  zwei  Theile  und  nennt  diese  Hälfte  ein 
Hemitonion. 

Er  theilt  ihn  in  drei  Theile:  den  Drittheil  nennt  er  Diesis  des 
Chroma  malakon. 

Er  theilt  ihn  in  vier  Theile:  (den  vierten  Theil  nennt  er  enhar- 
monische  Diesis). 

Den  vierten  Theil  des  Ganztones  um  seine  Hälfte  d.  i.  um  den 
achten  Theil  des  Ganztones  vergrössert,  nennt  er  Diesis  des  Chroma 
hemiolion. 

§  35.  Nach  Aristoxenus  zerfallen  die  Klanggeschlechter  in 
zwei  Haupt-Kategorien:  die  eine  das  Genos  malakoteron  (genus 
mollius),  die  andere  das  Genos  syntonoteron  (genus  incitatius).  Das 
erstere  ist  das  Enharmonion,  das  andere  das  Diatonon.  Zwischen 
diesen  beiden  in  der  Mitte  steht  das  Chromatikon,  in  welchem  die 
Eigenschaften  des  malakoteron  und  des  syntonoteron  vereint  sind. 

Fasst  man  die  einzelnen  Klanggeschlechter  zusammen,  so  er- 
hält man  der  Zahl  nach  sechs:  1.  ein  enharmonisches;  2.  3.  4.  drei 
chromatische,  nämlich  ein  Chromatikon  malakon,  ein  Chromatikon 
hemiolion  und  ein  Chromatikon  toniaion;  5.  6.  zwei  diatonische» 
nämlich:  ein  Diatonon  malakon  und  ein  Diatonon  syntonon.  Die 
gesammte  Tetrachordtheilung  ist  nach  Aristoxenus  folgende. 


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I.  Die  drei  Klanggeechlechter.  465 

§  36.  Da,  wie  vorher  bemerkt,  der  vierte  Theil  des  Ganz- 
tones die  Benennung  enharmonische  Diesig  erhalten  hat,  und  da 
Aristoxenus  nicht  die  Klänge  selber  mit  einander  vergleicht,  son- 
dern den  Unterschied  der  Klänge  und  Intervalle  durch  Maasse  be- 
stimmt, so  setzt  er  den  Ganzton  auf  12  Maasseinheiten  an.  Davon 
erhält  der  vierte  Theil  des  Ganztones,  die  enharmonische  Diesis, 
drei  Masseinheiten,  also  drei  Zwölftel  (Dodekatemoria)  des  Ganz- 
tones. Da  aber  die  Quartensymphonie  aus  der  Verbindung  zweier 
(Tanztöne  und  eines  Halbtones  besteht,  kommen  auf  die  ganze 
Quarte  12+12+6  Dodekatemoria.  Doch  weil  es  häufig  der  Fall  ist 
dass  wenn  man  bis  zu  Octaven  geht,  nicht  ganze  Zahlen,  sondern 
Bruchzalden  sich  ergeben,  so  wollen  wir  das  ganze  Quarten-Intervall 
auf  60  Einheiten  ansetzen:  und  zwar  den  Ganzton  auf  24,  den 
Halbton  auf  12,  den  Viertelton,  d.  i.  die  sogenannte  Diesis  enhar- 
monios  auf  6,  den  Achtelton  (das  Ogdoemorion)  auf  3  dieser  aller- 
kleinsten  Masseinheiten.  Nehmen  wir  aber  die  Diesis  des  Chroma 
hemiolion,  d.  h.  den  achten  Theil  (von  24)  verbunden  mit  dem 
vierten  Theile  (von  24),  so  wird  sich  dieselbe  auf  9  Maasseinheiten 
bestimmen  lassen. 

§  37.  Nachdem  nun  dieses  festgesetzt  ( —  fährt  Aristoxenus 
fort  — )  muss  gezeigt  werden,  dass  die  drei  Klanggeschlechter: 
Kuharmonion ,  Chromatikon,  Diatonon  augenscheinlich  die  Eigen- 
heiten haben,  dass  die  in  ihnen  vorkommenden  Intervalle  theils 
Pykna  zu  nennen  sind,  theils  nicht  Ein  Intervall  des  Enharmonions 
und  Chromatikons  kann  ein  Pyknon  sein,  ein  Intervall  des  Diatonons 
aber  kann  nicht  Pyknon  sein. 

Apykna  sind  vorhanden,  wenn  die  zwei  Intervalle  einen  Ge- 
sammtumfang  haben,  welcher  gleich  oder  grösser  als  der  des  übrig 
bleibenden  dritten  Intervalles  der  Quarte  ist. 

Pykna  sind  vorhanden,  wenn  zwei  tiefere  Intervalle  das  höher 
gelegene  dritte  in  der  Grösse  des  Umfanges  nicht  tibertreffen. 

§  38.  So  wird  nun  nach  Aristoxenus  das  enharmonische 
Tetrachord  getheilt  in 

e  e  f  g 

6  i\  4S 

Arittoxeuut,  Melik  u.  Rhythmik.  ?{\ 


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Aristoxenus  siebcutheilige  Harmonik. 


so  dass  zwischen  der  Hypate  („gravem  nervum")  und  der  Parhypate 
(„prope  gravem")  der  vierte  Theii  des  Ganztones,  Diesis  enharmonios 
genannt,  eingeschlossen  liegt.  Die  übrigen  Maasseinheiten,  welche  von 
den  60  nach  Abzug  der  beiden  enharmonischen  Diesen  übrig  bleiben, 
betragen  48:  sie  umfassen  das  zwischen  der  Lichanos  und  der  Nete 
gelegene  Intervall  („inter  tertium  a  gravi  nervo  atque  acutissimum 
quartum");  die  den  Umfang  der  beiden  tieferen  Intervalle  bezeich- 
nenden Zahlen  sind  in  ihrer  Summe  (6  +  6  —  12)  kleiner  als  die  das 
dritte  Intervall  bezeichnende  Zahl  48. 

§  39.   Das  Tetrachord  des  Chroma  malakon  ist 

e  e  f  a; 

8  8  44 

denn  der  Ganzton  enthält  wie  gesagt  24  Maasseinheiten,  der  dritte 

♦ 

Theil  des  Ganztones  heisst  Diesis  des  Chroma  malakon. 
§  40.    Die  Qarte  des  Chroma  hemiolion  ist 

e         »•         f  a; 
9         9  42 

denn  die  Diesis  des  Chroma  hemiolion  ist  der  achte  Theil  des  Ganz- 
tones vereint  mit  dem  vierten,  d.i.  von  24  Einheiten  sind  es  6-1-3 
Einheiten. 

§  41.  Die  Theilung  des  Chroma  ton iaion  nach  Aristoxenus 
ist  folgende 

e         f        fvi         a , 
12        12  36 

so  dass  er  für  die  beiden  ersten  Intervalle  je  einen  Halbton  an- 
nimmt, für  das  dritte  Intervall  dasjenige,  was  nach  Abzug  der  bei- 
den Halbtöne  von  der  Quarte  übrig  bleibt. 

§  42.  In  allen  diesen  Tetrachorden  sind  die  beiden  Intervalle, 
die  der  Hypate  zunächst  liegen,  zusammengenommen  kleiner  als  das 
dritte  nach  der  Höhe  zu  liegende  Intervall.  Sie  sind  nämlich  wie 
gesagt  in  die  Kategorie  der  Pykna  zu  setzen.  Die  Pykna  gehören 
dem  Genos  enharmonion  und  chromatikon  an. 

§  43.  Die  diatonische  Theilung  ist  eine  zweifache.  Und  zwar 
die  des  Diatonon  malakon  ist 


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I.  Die  drei  Klaiiggeschlechter. 


467 


e         f         ffs         a  . 
12        18  30 

so  dass  12  den  Halbton  bezeichnet,  18  den  Halbton  und  dazu  den 
Viertelton,  30  aber  das  übrig  bleibende  Intervall  der  Quarte.  Von 
jenen  Intervallen  ist  18  +  12  =  30  und  wird  diese  Zahl  nicht  von 
der  übrig  bleibenden  Grösse  übertroffen. 

§  44.  Die  Theilung  des  Diatonon  syntonon  ist  der  Art, 
dass  es  einen  Halbton  und  zwei  Ganztöne  umfasst 

e         f        g  a. 
12        24  24 

Die  beiden  unteren  Intervalle  24  -f  12  =  36  werden  an  Gesaramt- 
grösse  nicht  von  dem  übrig  bleibenden  Theile  der  Quarte,  welcher 
nach  der  Höhe  zu  liegt,  übertroffen,  sind  vielmehr  grösser  als  dieser. 


§  45.  Die  vorher  beschriebene  Tetrachord-Eintheilung  des  Ari- 
stoxenus  ist  in  der  folgenden  Tabelle  enthalten: 


Ijüliiirrn. 

Chroma 
malakon 

Chroma 
hemiolion 

Chroma 
toniaion 

Diatonon 
malakon 

Diatonon 
syntonon 

a  > 

a  , 

* i 

a  1 

al 

a. 

48 

44 

42 

36 

30 

24 

1, 

'»< 

fis  ; 

n"s< 

g< 

6 

c  ( 

8 

*• 

v.  i 

9 

12 

18 

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* 

f . 

f  < 

f  < 

6 

8 

.2 

12 

12 

e  i 

e  j 

e  > 

0- 

e  > 

Im  Auszuge  findet  »ich  dies  bei  Boetius  erhaltene  Fragment  des  Ari- 
stoxenus  auch  bei  Ptolemäus  I,  12,  Porphyrius  p.  311,  Aristides  p.  19flf.,  aus 
denen  die  betreffenden  Stellen  in  der  Ausgabe  des  griechischen  Textes  mit- 
getheilt  sind. 

Einen  Fortschritt  können  wir  nun  freilich  in  der  Aufstellung  der  Sexa- 
gesimal-Rechnung  und  dem  Aufgeben  der  Rechnung  nach  enharmonischen 
Diesen  als  kleinsten  Masseinheiten  nicht  erblicken,  da  sie  auch  die  etwaigen 
Bruchtheile  der  enharmonischen  Diesis,  auf  deren  Vermeidung  Aristoxenus  so 

sehr  bedacht  ist.  aufs  allerbequemste  als  Exponenten  der  Zahl  y  zur  fasslichen 

30  • 

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4üS 


Aristoxenus  siebentheilige  Harmonik. 


«- 

i 
i 


Anschauung  bringen  können,  wie  dies  in  unseren  Erläuterungen  der  ersten  und 
zweiten  Harmonik  geschehen  ist.  Das  Alterthum  aber  war  mit  der  Logarithmen- 
Rechnung  noch  unbekannt,  und  so  wählte  Aristoxenus  in  der  siebentheiligen 
Harmonik  die  Sexagesimal-Rechnung  als  einen  schlechten  Nothbehelf. 


Die  so  äusserst  bequemen  Tennini  „Barypyknos,  Mesopyknos,  Oxypyknos 
Apyknos"  hat  sich  unsere  Interpretation  der  ersten  und  der  zweiten  Harmonik 
des  Aristoxenus  zwar  anzuwenden  gestattet.  Aber  im  Texte  dieser  beiden  Werke 
kommen  die  genannten  Termini  nirgends  vor  (bloss  Apyknos  in  der  sicherlich 
überarbeiteten  Stelle  erste  Harm.  XII.  Probl.  1):  im  Abschnitt  XI,  wo  sie  so 
ausserordentlich  willkommen  sein  würden,  hat  sich  Aristoxenus  noch  stets  durch 
weitläufigere  Umschreibungen  helfen  müssen.  Dem  Aristides  und  Genossen  sind 
die  kürzeren  Tennini  durchweg  geläufig.  Mithin  müssen  wir  dieselben  für 
eine  von  Aristoxenus  erst  in  der  siebentheiligen  [oder  sechstheiligen?]  Harmonik 
aufgebrachte  Terminologie  erklären.  Der  Terminus  „syntonon"  statt  „toniaion" 
wird  ebenfalls  eine  Neuerung  der  siebentheiligen  oder  sechstheiligen  Harmonik 
sein. 

Der  erste  der  beiden  von  Bellermann  herausgegebenen  Anonymi  gehört 
nicht  zu  den  aus  der  siebentheiligen  Harmonik  schöpfenden  Aristoxeueern, 
da  ihm  entschieden  die  erste  achtzehntheilige  Harmonik  Hauptquelle  ist,*) 


*)  Dass  auch  dem  uns  nicht  mehr  vorliegenden  Musiker  KJeonides  nicht 
die  siebentheilige,  sondern  die  achtzehntheilige  Harmonik  vorlag,  ersehe  ich  aus 
der  diesem  Musiker  gewidmeten  vortrefflichen  Arbeit  Karl  von  Jan's,  die  mir 
erst  jetzt  zu  Gesichte  kommt. 


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Aristoxeuus 

SYMPOSION 


ODEK 


VERMISCHTE  TISCHREDEN. 


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Wir  haben  zwei  Titel  dieser  dialogischen  Schrift. 

Plntarch  „non  posse  suaviter  vivi"  p.  1095a  berichtet: 

T,In  seinem  Symposiom  unterhält  sich  Theophrost  über  die  Sympho- 
nieen,  Aristoxenus  über  die  Veränderungen,  Aristoteles  über  Homer." 

Hier  heisst  der  Titel  Symposion,  in  welchem  sich  Aristoxenus  über  die 
Veränderungen  (irepl  fxeTafJoXwv)  unterhalten  habe.  Darunter  sind  nicht  die 
Metabolai  im  technischen  Sinne  der  Musik,  denen  Aristoxenus  den  Abschn.  XVIII 
seiner  ersten  und  zweiten  Harmonik  und  den  Abschn.  VI  seiner  siebentheiligen 
Harmonik  widmet,  sondern  die  Veränderungen  zu  verstehen,  welche  die  Musik 
von  ihrem  Beginne  in  der  archaischen  Zeit  ihre  verschiedenen  Entwickelungs- 
epochen  hindurch  bis  in  die  Musikperiode  des  Aristoxenus  erfahren  hat.  Von 
diesen  Veränderungen  der  Musik  ist  in  den  meisten  Fragmenten  der  dialo- 
gischen Schrift  die  Rede. 

Der  zweite  Titel  wird  von  Athen.  14,  632a  überliefert  „Vermischte  Tisch- 
reden", „oüjjtfjLtxTa  oufjtroTtxd." 

.  Ausser  diesen  beiden  Stellen  des  Plutarch  und  Athenäus  besitzen  wir 
keine  Quellen-Xaehrichten  über  dies  Aristoxenische  Werk.  Doch  schon  Osann 
im  „Anecdotum  Romanum"  macht  gelegentlich  des  von  ihm  aufgefundenen 
Aristoxenisehen  Fragmentes  über  die  Helikonische  Ilias  darauf  aufmerksam, 
«lass  die  in  Plutarch's  Musikdialoge  vorkommenden  Aristoxenisehen  Stellen 
aus  dessen  Symmikta  sympotika  herrühren  möchten.  Genauer  hat  sich  darüber 
Osann  nicht  aussprechen  mögen. 

In  meiner  Ausgabe  der  betreffenden  Schrift  Plutarchs,  Breslau  18t>5,  habe 
ich  den  Versuch  unternommen,  die  darin  aufgenommenen  Berichte  älterer 
Musikschriftsteller  den  verschiedenen  Quellen  zuzuweisen. 

Die  Art  und  Weise,  wie  ich  für  einen  grosscu  Theil  die  vermischten 
Reden  des  Aristoxenus  augfindig  gemacht  habe,  will  ich  aus  meiner  Ausgabe 
des  Dialoges  nicht  wiederholen.  Widersprüche  sind  meinen  damaligen  Unter- 
suchungen nicht  entgegengestellt.  Auch  die  zusammenhängende  Stelle  cap.  32  a.  ff., 
welche  ich,  ohne  mich  auf  ein  Äusseres  Citat  stützen  zu  können,  den  vermisch- 
ten Tischreden  zuliess,  bezeichnet  Marquard  Aristoxenus  S.  232  als  ein  ohne 
Zweifel  dem  Aristoxenus  angehöriges  Fragment.  So  fehlt  mir  vorläufig  eine 
Veranlassung,  meine  die  gemischten  Tischreden  betreffenden  Behauptungen 
zu  limitiren.  Vielmehr  muss  icli  auch  c.  12  der  Plutarchischen  Schrift  jenem 
Werke  zuweisen,  nicht  minder  wie  die  unmittelbar  vorausgehende  und  nach- 
folgende Partie. 


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472  Aristoxenus  Vermischte  Tischreden. 

■ 

Doch  fehlt  mir  heute  die  Zuversicht,  die  ich  im  Jahre  1865  auf  S.  6  der 
Erläuterungen  zu  Plutarchs  Schrift  aussprach,  bezüglich  einer  von  mir  vorge- 
nommenen Umstellung  des  Textes:  „Liest  der  Leser  die  einzelnen  Blätter 
(27.  und  28)  in  der  Reihenfolge  der  vorliegenden  Angabe,  so  wird  ihm  hier 
Alles  im  vollen  Zusammenhange  erscheinen."  Vielmelir  bekenne  ich,  dass 
meine  Ucbersctzung  der  Worte  des  c.  36  'ü  a&TÖ;  hi  >.öyo;  xai  izi  täv  zaö&v 
tu>v  uzö  tt,;  -otT(7txT(;  3T4[Aatvofjiev(uv  ev  toi;  zoujpaoiv  mir  sehr  zweifelhaft  er- 
scheint. Ich  will  aber  jetzt  keine  andere  Uebersetzung  versuchen,  da  sich  mir 
seitdem  (es  sind  18  Jahre)  trotz  wiederholten  Nachdenkens  nichts  besseres  er- 
geben hat. 


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I.  Gegensatz  der  alten  und  neuen  Musik. 

Athcnaeus  14,  p.  632  h. 
Aristoxcuus  sagt  in  den  vermischten  Tischreden: 

Wir  thun  dasselbe,  wie  die  Einwohner  von  Paestum  am  Tyr- 
rhenischen  Meerbusen.  Einstmals  Hellenen  sind  sie  in  Barbarei  ver- 
sunken und  zu  TyiThenern  oder  Römern  geworden  und  Laben  ihre 
alte  hellenische  Sprache  und  Cultur  aufgegeben.  Bloss  eines  der 
alten  hellenischen  Feste  feiern  sie  noch;  da  kommen  ihnen  die 
nationalen  Namen  und  Bräuche  wieder  in  den  Sinn  und  unter 
Jammern  und  Thränen  verlassen  sie  einander.  Ebenso  wollen  auch 
wir  jetzt,  wo  die  Theater  in  Barbarei  versanken  und  diese  Musik  des 
vulgären  grossen  Publikums  zu  einer  tiefen  Stufe  des  Verderbnisses 
herabgekommen  ist,  hier  in  unserem  nur  Wenige  umfassenden 
Kreise  der  alten  Musik,  wie  sie  einst  war,  gedenken. 

Plut.  non  ik>88C  suaviter  vivi,  p.  1095  a. 

In  seinem  Symposion  unterhalt  sich  Theophrast  über  die  Symphoniecn, 
Aristoxenus  über  die  Veränderungen,  Aristoteles  über  Homer. 

Themist.  or.  33. 

Der  Musiker  Aristoxenus  versuchte  die  bereits  in  der  Verweichlichung 
befindliche  Musik  zu  kräftigen,  er  selber  war  Freund  einer  Harmonisirung  von 
männlichem  Charakter  und  mahnte  seine  Schüler  unter  Beiseitlassung  des 
weichlichen  Styles  auf  Melodien  von  männlichem  Wesen  eifrig  bedacht  zu  sein. 
Einer  der  Genossen  fragte  ihn  nun: 

Was  werde  ich  davon  haben,  wenn  ich  die  neue  und  gefällige 
Musik  tibersehe  und  mit  Eifer  die  alte  treibe? 

Du  wirst  weniger  in  den  Theatern  singen,  denn  die  Kunst  kann 
nicht  zugleich  der  Menge  wohlgeiällig  und  alt  sein. 


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474 


Aristoxeuus  Vermischte  Tischreden. 


i 
i 


Aristoxenus  min  dieser  Auffassang  huldigend,  kümmerte  sich  nicht  um 
die  Missachtung  des  Volkes  und  des  Pöbels.  So  oft  es  unmöglich  war  zugleich 
bei  den  Gesetzen  der  Kunst  zu  bleiben  und  eine  dem  Publikum  gefallige  Cotn- 
position  zu  machen,  entschied  er  sieh  für  die  Kunst,  statt  für  das  Wohlge- 
fallen bei  den  Menschen. 

Plut.  de  inus.  31. 

Dass  es  rücksichtlich  der  Unterweisung  und  des  Lernens  eine 
richtige  und  eine  verkehrte  Behandlung  giebt,  hat  Aristoxenus  ge- 
zeigt Unter  seinen  Zeitgenossen  war  Telesias  aus  Theben,  der  in 
seiner  Jugend  in  der  edelsten  Musik  unterrichtet  war  und  unter 
anderen  Werken  berühmter  Meister  namentlich  die  des  Pindar, 
Dionysius  aus  Theben,  Lampros  und  Pratinas  und  der  übrigen 
Lyriker,  welche  sich  zugleich  vortrefflich  auf  die  Begleitung  der 
Melodie  verstanden,  kennen  gelernt  hatte,  ein  ausgezeichneter  Aulete 
und  auch  in  den  übrigen  Zweigen  der  gesammten  Kunst  gut  be- 
wandert. Dieser  wurde  im  reiferen  Alter  von  der  bunten  Bühnen- 
Musik  so  sehr  gefesselt  dass  er  jene  vortrefflichen  Meister,  nach 
denen  er  erzogen  war,  missaehtete  und  sich  dem  Style  des  Philoxenus 
und  Timotheus  zuwandte,  und  zwar  gerade  dem  allermanirirtesten, 
worin  die  meisten  Neuerungen  waren.  Als  er  nun  daran  ging  zu 
componiren  und  es  in  beiderlei  Weisen,  der  Pliiloxenischen  und 
Pindarischen  versuchte,  konnte  er  im  Style  des  Philoxenus  durchaus 
nichts  zu  Stande  bringen,  —  so  sehr  wirkte  die  gute  Jugend- 
bildung in  ihm  nach. 

Plut.  de  mus.  12  b. 

Krexos  und  Timotheus  und  Philoxenus  und  ihre  Zeitgenossen 
streben  in  unwürdiger  Weise  nach  Neuem,  indem  sie  sich  dem  Style 
hingeben,  der  dem  grossen  Publikum  gefällt  und  jetzt  der  Agonen- 
Preis-Styl  genannt  wird.  Beschränkung  der  Töne,  Einfachheit  und 
Würde  der  Musik  gehört  durchaus  der  alten  Zeit  an. 

Plut.  de  mus.  26. 

Aus  dem  Bisherigen  ist  einleuchtend,  dass  den  alten  Hellenen 
mit  Recht  die  erziehende  Kraft  der  Musik  vor  allem  am  meisten 
am  Herzen  lag.  Sie  waren  der  Ansicht,  das  Gemüth  der  Jugend 
durch  Musik  zur  Beobachtung  des  Schicklichen  bilden  und  stimmen 
zu  müssen,  weil  sie  die  Musik  für  ein  Mittel  hielten,  das  unter  allen 


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II.  Bewusstc  Einfachheit  der  alten  Meister. 


475 


Umständen  zu  jeder  ernsthaften  Unternehmung  und  vorzugsweise  in 
Kriegsgefahren  förderlich  sei.  Für  diesen  Fall  gebrauchten  sie  ent- 
weder die  Auloi  wie  die  Lakedaemonier,  bei  welchem  das  sogenannte 
Kastor-Lied  auf  dem  Aulos  geblasen  wurde,  so  oft  die  Schlacht- 
ordnungen die  Feinde  angriffen.  Oder  es  geschah  der  Anmarsch 
gegen  den  Feind  unter  den  Klängen  der  Lyra,  wie  von  den  Kretern 
zu  lesen  ist,  dass  sie  lange  Zeit  hindurch  eine  Art  von  Musik  beim 
Anrücken  zum  Kampfe  gebraucht  haben.  Sonst  bediente  man  sich, 
wie  in  unseren  Tagen  noch,  der  Salpingen.  Die  Argeier  wandten 
beim  Ringkampfe  ihres  Sthenienfestes  den  Aulos  an,  einem  Kampf- 
spiele, das  ursprünglich  dem  Danaos  zum  Andenken  gestiftet,  später 
dem  Zeus  Stenios  zu  Ehren  geweiht  sein  soll. 

Uebrigens  ist  auch  heute  noch  Brauch,  dass  zum  Fünfkampf 
der  Aulos  geblasen  wird;  zwar  wird  nichts  gewähltes,  nichts  alt- 
klassisches vorgetragen,  nichts  was  in  früherer  Zeit  im  Gebrauche 
war,  wie  die  sogenannten  Endronie,  welche  Hierax  zu  diesem  AVett- 
kampfe  componirt  hatte,  —  aber  wenn  auch  unbedeutende  schwache 
Musikstücke,  so  wird  doch  immerhin  Auleten-Musik  gemacht. 

II.  Bewusste  Einfachheit  der  alten  Meister. 

Plut.  de  inus.  18—21. 

Nicht  Unkenntniss  war  der  Grund,  dass  Olympus  und  Terpander 
und  ihre  Nachfolger  für  beschränkten  Umfang  und  geringes  Ton- 
gebiet eine  Vorliebe  hatten  und  Yieltönigkeit  und  Mannigfaltigkeit 
verschmähten.  Dies  geht  aus  den  Compositionen  des  Olympus  und 
Terpander  und  der  demselben  Style  Folgenden  hervor.  Denn  bei 
ihrer  Tonbeschränkung  und  Einfachheit  zeichnen  sie  sich  so  sehr 
vor  den  formen-  und  tonreichen  Compositionen  aus,  dass  die  Manier 
des  Olympus  für  Niemand  erreichbar  ist,  und  dass  er  die  in  Yiel- 
tönigkeit und  Vielförmigkeit  sich  bewegenden  Coraponisten  weit  hinter 
sich  zurück  lässt. 

Dass  sich  die  Alten  beim  Tropos  spondeiazon  [für  die  Melodie] 
der  Trite  (c)  nicht  aus  Unkenntniss  derselben  enthielten,  das  geht 
aus  der  Verwendung  dieses  Klanges  für  die  Begleitung  hervor,  denn 
sie  würden  ihn  nicht  als  symphonischen  Accordton  (Quinte)  zur 
Farhypate  (f)  gebrauchen,  wenn  sie  ihn  nicht  anzuwenden  wüssten. 


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470 


Aristoxenua  Vermischte  Tischreden. 


Offenbar  hat  die  Schönheit  des  Eindrucks,  welcher  im  Tropos  spon- 
daikos  durch  Nichtanwendung  der  Trite  (c)  entsteht,  ilir  Gefühl 
darauf  geführt,  die  Melodie  [mit  Uebergehung  der  Trite  c]  auf  die 
Paranete  d  hinüberschreiten  zu  lassen. 

Ebenso  verhält  es  sich  mit  der  Nete  e.  Denn  auch  diese  ge- 
brauchten sie  in  der  Begleitung  als  diaphonischen  Aocordton  (Se- 
cunde)  zur  Paranete  d  und  als  symphonischen  Accordton  (Quinte) 
zur  Mese  a,  für  die  Melodie  aber  erschien  er  ihnen  im  Tropos 
spondaikos  unpassend. 

Und  nicht  bloss  die  beiden  genannten  Töne  (c  und  d)  haben 
sie  in  dieser  Weise  verwandt,  sondern  auch  die  Nete  des  Synem- 
menon-Systemes,  denn  in  der  Begleitung  gebrauchten  sie  die  Nete 
synemmenon  (a)  als  diaphonischen  Accordton  zur  Paranete  (g,  als 
Secunde)  und  zur  Parhypate  (c,  als  Sexte),  und  als  symphonischen 
Accordton  zur  Mese  (e,  als  Quarte)  und  zur  Lichanos  (d,  als  Quinte); 
doch  wenn  ihn  einer  als  Melodieton  angewandt  hätte,  über  den 
würde  man  sich  wegen  des  durch  diesen  Ton  bewirkten  Ethos  ge- 
schämt haben. 

Auch  die  Phrygischen  Compositionen  beweisen,  dass  jeirer  Ton 
(Nete  synemmenon  a)  dem  Olympus  und  seinen  Nachfolgern  nicht 
unbekannt  war,  denn  sie  wandten  ihn  nicht  bloss  in  der  Begleitung 
an,  sondern  in  den  Metroa  und  einigen  auderen  Phrygischen  Com- 
positionen auch  für  die  Melodie. 

Auch  in  Beziehung  auf  die  Töne  des  Hypaton-Tetrachordes  ist 
es  klar,  dass  man  sich  dieses  Tetrachordes  nicht  aus  Unkenntniss 
desselben  enthielt,  denn  bei  den  übrigen  Tonarten  verwandte  man 
dieselben,  sicherlich  also  kannte  man  sie,  aber  aus  sorgsamer  Scheu 
für  das  Ethos  enthielt  man  sich  derselben  bei  der  Dorischen  Ton- 
art,- vor  deren  charakteristischer  Schönheit  man  Ehrfurcht  trug. 

Etwas  ähnliches  findet  sich  auch  bei  den  Tragödien-Componisten. 
Das  chromatische  Tongeschlecht  und  die  dazu  gehörige  Rhythmik 
wird  nämlich  bis  jetzt  von  der  Tragödie  noch  nicht  angewandt 
wärend  es  doch  in  der  Kitharistik,  obwohl  diese  um  viele  Menschen- 
alter älter  ist,  von  Anfang  an  gebraucht  wurde.  Dass  aber  das 
Chroma  älter  ist  als  die  Enharmonik,  steht  fest;  freilich  muss  man 
den  Ausdruck  „älter"  im  Hinblicke  auf  die  Beanlagung  der  mensch- 
lichen Stimme  und  auf  die  Anwendung  gebrauchen,  denn  was  das 


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II.  Bewusete  Einfachheit  der  alten  Meister. 


477 


Wesen  der  Tongeschlechter  an  sich  betrifft,  so  ist  keines  älter  als 
das  andere.  "Wer  also  sagen  will,  Aeschylus  und  Phrynichus  hätten 
sich  deshalb  des  Chroma  enthalten?  weil  sie  dasselbe  noch  nicht 
gekannt  hätten,  wird  der  nicht  thörieht  seinV 

Ein  solcher  wird  auch  sagen  können,  dass  auch  Pankrates 
das  chromatische  Tongeschlecht  nicht  gekannt  habe,  denn  auch 
dieser  hat  sich  für  gewöhnlich  des  Chromas  enthalten,  hat  es  aber 
in  einzelnen  Compositionen  angewandt;  sicherlich  hat  er  sich  dort 
desselben  nicht  aus  Unkenntniss,  sondern  aus  Vorbedacht  enthalten, 
denn  wie  er  selbst  sagte,  war  er  ein  Anhänger  des  Pindarischen 
und  Simonideischen  und  überhaupt  des  von  den  jetzt  Lebenden  als 
alt  bezeichneten  Compositionsstyles. 

Dasselbe  gilt  auch  von  dem  Mantineer  Tyrtaeus,  dem  Korin- 
thier  Andreas,  dem  Phlyasier  Thrasyllus  und  vielen  anderen,  die 
sich  alle,  wie  wir  wissen,  mit  Vorbedacht  des  Chromas,  der  Meta- 
bole,  des  weiten  Tonumfanges  und  manches  anderen,  was  an  Ryth- 
men,  Tonarten  und  Metren  üblich  ist,  sowohl  als  Componisten  wie 
als  ausführende  Musiker  enthalten  haben.  So  war  der  Megarenser 
Telephanes  den  Syringen  dergestalt  abhold,  dass  er  seineu  Instru- 
mentenmachern  niemals  gestattete,  dieselben  auf  die  Auloi  als  Mund- 
stück aufzusetzen,  ja  hauptsächlich  um  der  Syringen  willen  hat  er 
sich  sogar  vom  Pythischen  Agon  ferngehalten. 

Ueberhaupt :  will  man  demjenigen,  welcher  irgend  eine  Kunstform 
nicht  anwendet,  auf  Grund  dieser  Nichtanwendung  hin  den  Vorwurf 
der  Unkenntniss  machen,  dann  wird  man  sofort  auch  vielen  der  jetzt 
Lebenden  einen  solchen  Vorwurf  machen  müssen:  z.  B.  den  Dorio- 
nianern,  die  den  Styl  des  Antigenides  verschmähen,  wird  man  Unbe- 
kanntschaft  mit  diesem  Style  vorwerfen,  weil  sie  ihn  mcht  anwenden, 
und  umgekehrt  den  Antigenidianern  aus  dem  gleichen  Grunde  Un- 
bekann  tschaft  mit  dem  Style  des  Dorion,  und  ebenso  den  Kitharoden 
Unbekann tschaft  mit  dem  Style  des  Timotheus,  denn  sie  sind  so 
ziemlich  zu  der  Sohlenleder-Manier  und  den  Compositionen  des 
Polyeidos  herabgesunken. 

Andererseits  wird  man,  wenn  man  nicht  (bloss  die  grössere 
Einfachheit,  sondern)  auch  die  grössere  Mannigfaltigkeit  der  Kunst- 
mittel einer  richtigen  und  einsichtigen  Prüfung  unterzieht,  bei  einer 
Vergleichung  von  ehemals  und  jetzt  zu  dem  Ergebnisse  kommen, 


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478 


Aristoxenus  Vermischte  Tischreden. 


dass  auch  damals  die  Anwendung  einer  Mannigfaltigkeit  in  den  Kunst- 
formen üblich  war.  In  Bezug  auf  die  Rhythmopoeie  nämlich  wand- 
ten die  Alten  eine  grössere  Formfülle  an.  Die  Neueren  haben  eine 
Vorliebe  für  viele  Töne,  die  Aelteren  für  mannigfaltige  Rhythmen. 

Also  wenigstens  rhythmische  Mannigfaltigkeit  stand  bei  ihnen 
in  grossem  Ansehen  und  auch  in  Beziehung  auf  den  Verein  des 
Gesanges  mit  der  Instrumentalmusik  fand  damals  ein  grösserer 
Formenreichthum  statt. 

Es  ist  demnach  klar,  dass  sich  die  Alten  nicht  aus  Unkennt- 
niss,  sondern  mit  Vorbedacht  der  durch  weit  auseinander  liegende 
Tonstufen  in  ihrem  natürlichen  Laufe  abgebrochenen  Melodien  ent- 
halten haben.  Und  was  ist  daran  auffallend?  Auch  vieles  andere 
im  Leben  ist  einem,  wenn  man  es  nicht  verwendet,  deshalb  noch 
keineswegs  unbekannt;  man  hat  sich  demselben  vielmehr  bloss  ent- 
fremdet, nachdem  es  als  unpassend  für  manche  Dinge  nicht  in 
Anwendung  kommt. 


Von  Olympus  nahmen  die  Musiker  an,  wie  Aristoxenus  sagt, 
dass  er  der  Erfinder  des  enharmonischen  Tongeschlechtes  sei,  denn 
vor  ihm  habe  es  nur  diatonische  oder  chromatische  Compositionen 
gegeben.  Sie  denken  sich,  dass  diese  Erfindung  folgendermassen 
vor  sich  gegangen  sei.  Als  Olympus  sich  im  diatonischen  Ton- 
geschlechte  bewegte  und  die  Melodie  öfters  nach  der  diatonischen 
Parhypate  f  hinführte,  bald  von  der  Paramese  h  aus,  bald  vpn  der 
Mese  a  und  dabei  die  diatonische  Lichanos  g  unberührt  Hess,  da 
wurde  er  auf  die  Schönheit  des  Ethos  aufmerksam,  und  indem  er 
die  nach  dieser  Analogie  aufgestellte  Scala  bewundernd  sich  zu 
eigen  machte,  componirte  er  in  derselben  Melodieen  dorischer 
Tonart. 


Er  habe  dabei  weder  die  der  Diatonik,  noch  die  der  Chromatik, 
noch  auch  die  der  (späteren)  Euharmomk  eigenen  Töne  berührt. 
Das  seien  die  Anfänge  der  enharmomschen  Compositionen.  Sie  stellen 


III.  Die  Eiiharinonik. 


Plut.  de  mus.  11. 


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III.  Die  Enhannouik.  470 

als  den  Anfang  der  enharmonischen  Compositionen  die  Opfer-Spende- 
Melodie  (das  Spondeion)  hin,  in  welcher  keine  der  Tetrachordein- 
theilungen  die  den  drei  Tongeschlechtern  eigenen  Töne  darbietet. 
Das  enharmonische  Pyknon,  dessen  man  sich  jetzt  bedient  scheint 
nicht  von  dem  genannten  Componisten  herzurühren. 

Es  lässt  sich  das  leichter  einsehen,  wenn  man  einen  Auleten 
nach  archaischer  Weise  vortragen  hört,  denn  ein  solcher  verlangt, 

dass  das  auf  die  Mese  folgende  Halbton-Intervall  ein  unzusammen- 

* 

gesetztes  sei  (kein  zusammengesetztes  aab).  Später  aber  sei  das 
Halbton-Intervall  (durch  die  in  der  Mitte  angenommene  kleinste 
Diesis)  zertheilt,  sowohl  in  den  Lydischen,  wie  in  den  Phrygischen 
Compositionen. 

Olympus  aber  stellt  sich  als  Förderer  der  Kunst  dar,  indem 
er  eine  bei  den  Früheren  noch  nicht  vorhandene  und  noch  unbe- 
kannte Kunstfonn  eingeführt  hat  und  Begründer  des  schönen  Styls 
hellenischer  Musik  geworden  ist 

Plut.  de  mus.  37. 

Obwohl  es  drei  Tougeschlechter  gibt,  die  von  einander  durch 
die  Grösse  der  Intervalle  und  durch  die  Stufen  der  Töne,  und  ebenso 
auch  durch  die  Eintheilung  der  Tetrachorde  verschieden  sind,  so 
haben  dennoch  die  Alten  in  ihren  Schriften  bloss  ein  einziges  Ton- 
geschlecht behandelt.  Meine  Vorgänger  haben  nämlich  weder  das 
chromatische  noch  das  diatonische,  sondern  bloss  das  enharmonische, 
und  auch  von  diesem  kein  grösseres  Tonsystem  als  bloss  die  Octave 
berücksichtigt  Denn  dass  es  nur  eine  einzige  Art  der  Harmonik 
gibt,  darin  waren  fast  alle  einverstanden,  während  man  sich  über 
die  verschiedenen  Arten  der  beiden  anderen  Tongeschlechter  nicht 
einigen  konnte. 

Die  jetzt  Lebenden  aber  haben  das  schönste  der  Tongeschlechter, 
dem  die  Alten  seiner  Ehrwürdigkeit  wegen  den  meisten  Eifer  wid- 
meten, ganz  und  gar  hintangesetzt,  sodass  bei  der  grossen  Mehrzahl 
nicht  einmal  das  Vermögen,  die  enharmonischen  Intervalle  wahr- 
zunehmen, vorhanden  ist:  sie  sind  in  ihrer  leichtfertigen  Trägheit 
soweit  herabgekommen,  dass  sie  die  Ansicht  aufstellen,  die  enhar- 
monische Diesis  mache  überhaupt  nicht  den  Eindruck  eines  den 


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480 


Aristoxenus  Vermischte  Tischreden. 


Sinnen  wahrnehmbaren  Iutervalles,  und  dass  sie  dieselben  aus  den 
Melodien  ausschliessen.  Diejenigen,  so  sagen  sie,  hätten  thöricht 
gehandelt,  welche  darüber  eine  Theorie  aufgestellt  und  dies  Ton- 
geschlecht in  der  Praxis  verwandt  hätten.  Als  sichersten  Beweis 
für  die  Wahrheit  ihrer  Behauptung  glauben  sie  vor  allem  ihre  eigene 
Unfähigkeit,  ein  solches  Intervall  wahrzunehmen,  vorbringen  zu  müssen. 
Als  ob  alles,  was  ihrem  Gehör  entginge,  nicht  vorhanden  und  prak- 
tisch nicht  verwendbar  sei!  Sodann  machen  sie  auch  die  Thatsache 
geltend,  dass  jene  Intervallgrösse  nicht  wie  der  Halbton,  der  Ganz- 
ton u.  s.  w.  durch  Symphonien  bestimmt  werden  könne.  Sie  sehen 
nicht,  dass  dann  auch  die  Intervalle  von  3,  5,  7  Diesen  verworfen 
und  überhaupt  alle  ungeraden  Intervalle  als  unbrauchbar  bei  Seite 
gelassen  werden  müssten,  weil  man  keines  derselben  durch  Sympho- 
nien bestimmen  kann,  d.  i.  alle  diejenigen,  welche  ein  ungerades 
Multiplum  der  kleinsten  Diesis  sind.  Daraus  würde  folgen,  dass 
alle  Tetrachord-Eintheilungen,  ausser  derjenigen,  in  welcher  nur  ge- 
rade Intervalle  vorkommen,  unnütz  seien,  d.i.  alle  ausserdem  syntonon 
Diatonon  und  dem  Chroma  toniaion.  Man  müsste  denn  rücksicht- 
lich des  Spondeiasmos  syntonoteros  annehmen,  dass  derselbe  dem 
syntonon  Diatonon  angehöre.  Offenbar  aber  würde  der  etwas  Un- 
wahres und  etwas  Ekmelisches  annehmen,  der  dieses  behaupten 
würde.  Etwas  Unwahres,  weil  jener  um  eine  Diesis  kleiner  als  der 
zum  Ausgangspunkte  angenommene  Ganzton;  etwas  Ekmelisches, 
weil  wenn  man^das  dem  syntonoteros  Spondeiasmos  eigene  Intervall  in 
das  Toniaion  setzen  wollte,  zwei  Diastemata  toniaia,  das  eine  ein- 
lach, das  andere  zusammengesetzt,  aufeinander  folgen  würden* 

Mit  dergleichen  Aussprüchen  und  Behauptungen  widersprechen 
jene  Musiker  nicht  nur  der  augenscheinlichen  Thatsache,  sondern 
stehen  sogar  mit  sich  selber  in  Widerspruch,  denn  es  zeigt  sich, 
dass  sie  gerade  solche  Tetrachordstimmungen  verwenden,  in  welchen 
die  Intervalle  entweder  ungerade  oder  irrationale  sind.  Denn  stets 
sind  bei  ihnen  die  Lichanoi  und  Paraneten  zu  tief  gestimmt,  und 
auch  von  den  unbeweglichen  Tönen  stimmen  sie  einige  tiefer,  indem 
sie  mit  ihnen  zugleich  die  Triten  und  Paraneten  zu  einem  irratio- 
nalen Intervalle  herabstimmen.  Und  mit  einer  solchen  Scala  glauben 
sie  den  meisten  Beifall  zu  finden,  bei  welcher  (wie  dies  jeder  mit 
richtigem  Gehör  begabte  einsieht)  die  meisten  Intervalle  irrational 


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IV.  L>laugung  de»  musikalischen  Kunsturtlieils.  481 

■ 

und  nicht  bloss  die  beweglichen,  sondern  auch  die  unbeweglichen 
Töne  zu  tief  gestimmt  sind. 

Vgl.  oben  S.  249  und  S.  400  ff. 

IV.  Erlangung  des  musikalischen  Kunsturthells. 

Plut.  de  mus.  32  a  ff. 

Um  nun  ein  musikalisches  Urtheil  zu  gewinnen,  muss  man 
zuerst  die  Zusammengehörigkeit  der  einzelnen  Theile  der 
Musik  richtig  ins  Auge  fassen.  Da  es  nämlich  drei  Theile  giebt, 
in  welche  die  gesammte  Musik  nach  der  gewöhnlichen  Eintheilung 
zerfällt,  so  muss  derjenige,  welcher  der  Musik  sich  Widmet,  mit  der 
auf  diese  drei  Theile  sich  beziehenden  Compositionskunst  und  mit  der 
diese  Compositionen  wiedergebenden  Interpretationskunst  vertraut 
sein.  Die  Harmonik  vermag  nicht  derjenige  zu  beurtheilen,  welcher 
sich  bloss  die  Kenntniss  der  Harmonik  erworben  hat,  sondern  nur 
derjenige,  welcher  zugleich  die  sämmtlichen  Theile  der  Musik  und  die 
Musik  als  Ganzes,  sowie  auch  die  Verbindung  und  Zusammensetzung 
der  Theile  im  Auge  hat  Wer  bloss  Harmoniker  ist,  der  ist  in  enge 
Schranken  eingeschlossen.  Ueberhaupt  muss  bei  der  Beurtheilung 
der  einzelnen  Theile  der  Musik  unser  Gehör  und  unser  Urtheil  [mit 
den  Tönen,  Takten  und  Textesworten]  zugleich  mit  fortschreiten, 
und  weder  vorauseilen  wie  die  raschen  und  leicht  erregbaren,  noch 
zurückbleiben  wie  die  langsamen  und  schwer  beweglichen  Naturen. 
Auch  giebt  es  Naturen,  in  welchen  beide  Fehler  zugleich  vorkom- 
men, indem  sie  nämlich  in  Folge  einer  angeborenen  Unregelmässig- 
keit bald  zurückbleiben  und  bald  vorauseilen.  Das  sind  die  Fehler, 
von  denen  sich  unser  Auffassungsvermögen,  wenn  es  gleichen  Schritt 
halten  soll,  fernhalten  muss.  Denn  dreierlei  ist  es,  was  immer 
gleichzeitig  von  unseren  Ohren  aufgenommen  werden  muss:  der 
Ton,  das  rhythmische  Zeitmaass  und  die  Sylben  des  vorgetragenen 
Textes  —  gleichsam  die  kleinsten  Grössen  der  drei  Bestaudtheile 
der  Musik.  Aus  dem  Fortschreiten  der  Klänge  ergiebt  sich  uns 
das  melische  Element,  aus  dem  Fortschreiten  der  Taktabschnitte 
der  Rhythmus,  aus  dem  Fortschreiten  der  Sylben  der  poetische  Text. 
Mit  dem  Fortschreiten  dieser  drei  Elemente  muss  auch  unsere  Auf- 
fassung gleichen  Schritt  halten. 

ArlHtoKU.u*.  Melik  u.  Rhythmik.  31 


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482 


Aristnxenus  Vermischte  Tischreden. 


Was  nun  ferner  zu  bedenken  ist,  ist  dies,  dass  zur  Erlangung 
des  richtigen  musikalischen  Kunsturtheiles  die  Kenntniss  der 
musikalischen  Theorie  und  Technik  nicht  ausreicht.  Denn 
die  einzelnen  Theile  der  gesammten  Musik,  als  da  sind:  Kenntniss 
der  Instrumente  und  des  Gesanges,  Geübtheit  des  Gehörs  in  Bezug 
auf  Töne  und  Takt,  Theorie  der  Harmonik  und  Rhythmik,  Ver- 
ständniss  der  Melodie-Begleitung  und  des  poetischen  Textes  und  was 
man  sonst  noch  an  einzelnen  Theilen  der  Musik  aufzählen  kann  — 
das  Alles  macht  Niemanden  zugleich  zu  einem  vollkommenen  Mu- 
siker und  Kritiker.  Weshalb  man  hierdurch  noch  kein  Kritiker 
wird,  wollen  wir  einzusehen  versuchen. 

Wir  ersehen  dies  erstens  daraus,  dass  dasjenige,  was  unserem 
musikalischen  Urtheile  vorgeführt  wird,  theils  Selbstzweck,  theils 
Mittel  zum  Zweck  ist.  Selbstzweck  ist  einerseits  jede  Composition 
als  solche  betrachtet,  also  jedes  durch  Gesang  oder  Aulos-  oder 
Kitharaspiel  vorgetragene  Musikstück,  andererseits  die  eine  solche 
Composition  uns  vorführende  Kunst  des  Virtuosen  (Interpretation), 
also  das  Aulosspiel,  der  Gesang  u.  s.  vv.  Mittel  zum  Zweck  ist 
Alles  Einzelne,  was  auf  den  genannten  Zweck  Bezug  hat  und  zur 
Erreichung  desselben  noth wendig  ist:  dahin  gehören  die  einzelnen 
Bestandtheile  des  musikalischen  Vortrags. 

Wir  ersehen  es  zweitens  aus  der  Compositionskunst,  denn  mit 
dieser  verhält  es  sich  ebenso  (auch  hier  ist  das  was  Selbstzweck  und 
was  bloss  Mittel  zum  Zweck  ist  zu  unterscheiden). 

[Was  nämlich  den  ersten  dieser  beiden  Punkte  anbetrifft],  so 
wird  man  beim  Anhören  eines  Auleten  beurtheilen,  ob  die  Auloi 
zusammenstimmen  oder  nicht,  ob  die  Mehrstimmigkeit  verständlich 
oder  unverständlich  ist.  Alles  derartige  ist  aber  nur  ein  einzelner 
Hestandtheil  des  auletischen  Vortrags  —  es  ist  nicht  Selbstzweck, 
sondern  nur  ein  Mittel  den  Zweck  zu  erreichen.  Denn  neben  diesen 
und  allen  anderen  Einzelheiten  des  auletischen  Vortrages  wird  man 
die  ethische  Wirkung  desselben  auf  unser  Gemüth  zu  beurtheilen. 
haben,  ob  diese  dem  Geiste  der  vorliegenden  Composition,  welche 
der  Virtuose  zur  Darstellung  hat  bringen  wollen,  angemessen  ist 
oder  nicht. 

Dasselbe  gilt  auch,  um  nun  auf  den  zweiten  Punkt  einzugehen,  von 
den  Fehlem  (?),  welche  von  der  Compositionskunst  beim  Nieder- 


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IV.  Erlangung  des  musikalischen  Kunsturthoils. 


4S3 


schreiben  in  den  Musikstücken  begangen  werden.  Klar  wird  das 
werden,  wenn  man  eine  jede  der  theoretischen  Musik-Disciplinen 
ihrem  Inhalte  nach  näher  sich  ansieht.  Die  Harmonik  nämlich  be- 
handelt die  Tongeschlechter,  Intervalle,  Systeme,  die  Töne,  die  Ton- 
arten und  die  Üebergänge  aus  einem  Systeme  in  das  andere,  aber 
weiter  erstreckt  sie  sich  nicht,  so  dass  man  nicht  einmal  suchen 
darf,  aus  der  Disciplin  der  Harmonik  zu  erkennen,  ob  der  Com- 
ponist  in  einer  dem  Charakter  der  Tonarten  entsprechenden  Weise 
den  Anfang  in  hypodorischer,  oder  den  Schluss  in  mixolydischcr  und 
dorischer,  oder  die  Mitte  in  hypophrygischer  und  phrygischer  Ton- 
art gesetzt  hat,  denn  auf  derartige  Fragen  geht  die  Disciplin  der 
Harmonik  nicht  ein,  da  sie  die  Bedeutung  des  (einer  jeden  Tonart) 
eigentümlichen  Charakters  unberücksichtigt  lässt.  Aber  noch  vieles 
Andere  lässt  sie  vermissen.  Denn  weder  die  Theorie  des  chroma- 
tischen, noch  des  enharmunischen  Tongeschlechtes  giebt  die  Bedeu- 
tung von  deren  eigentümlichem  Charakter  an,  dessen  Erreichung 
doch  der  eigentliche  Selbstzweck  der  Composition  ist  und  in  Folge 
dessen  die  Composition  in  bestimmter  Weise  auf  uns  einwirkt: 
vielmehr  ist  dies  dem  Componisten  anheim  gestellt  Offenbar 
ist  auch  das  Tonsystem  der  harmonischen  Disciplin  etwas  anderes 
als  die  Vocal-  oder  Instrumentalstimme  der  in  dem  Tonsysteme 
sich  bewegenden  Melopoeie,  deren  Behandlung  der  Harmonik  nicht 
angehört.  Ebenso  verhält  es  sich  nun  auch  in  Beziehung  auf  die 
Rhythmen,  denn  von  keinem  Rhythmus  wird  jemals  die  Theorie  die 
Bedeutung  seines  eigentümlichen  Charakters  angeben,  auf  den  es 
doch  bei  dem  Zwecke  der  Composition  ankommt. 

Wemi  ich  hier  wiederholt  von  eigentümlichem  Charakter  spreche, 
so  tue  ich  das  mit  Hinblick  auf  die  Wirkung,  welche  die  Musik 
auf  unser  Oemüth  ausübt.  Der  Grund  dieser  Wirkung  besteht,  sage 
ich,  entweder  in  der  bestimmten  Art  und  Weise,  wie  die  Töne  oder 
wie  die  Taktzeiten  zusammengestellt  sind,  oder  in  der  Verbindung 
des  Harmonischen  mit  dem  Khvthmischen,  oder  beide  Ursachen 
wirken  zusammen.  So  ist  von  Olympus  die  in  phrygischer  Tonart 
gesetzte  Enharmonik  mit  dem  Paeon  Kpibatus  verbunden.  Hierdurch 
wurde  nämlich  die  Wirkung  des  Anfängst eiles  im  Komos  auf  Athene 
hervorgebracht.  Indem  dann  im  weiteren  Verlaufe  des  Stückes  bloss 
der  Rhythmus  in  kunstreicher  Weise  verändert  und  statt  des  paeo- 

31* 

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484 


Arisfoxcnus  Vermischt«'  Tischreden. 


irischen  der  trochäische  Rhythmus  genommen  wurde,  wurde  die 
Olympische  Enharmonik  festgehalten.  Aber  obwohl  das  enharmo- 
nische  Tongeschlecht  und  die  Phrygische  Tonart  und  ausserdem  das 
ganze  Tonsystem  beibehalten  wurde,  so  wurde  doch  die  Wirkung 

eine  völlig  andere,  denn  derjenige  Theil,  welcher  genannt 

wird,  ist  im  Nomos  der  Athene  von  dem  Anfangstheile  der  ethischen 
Wirkung  nach  durchaus  verschieden. 

Wer  mit  der  Kenntniss  der  musikalischen  Theorie  und  Technik 
das  richtige  musikalische  Urtheil  verbindet,  der  wird  offenbar  der 
vollendete  musische  Künstler  sein.  Ein  Musiker,  welcher  die  do- 
rische Tonart  kennt,  ohne  dass  er  den  eigenthümlichen  Charakter 
ihrer  Anwendung  zu  beurtheilen  versteht,  der  wird  nicht  wissen, 
was  er  componirt  und  nicht  einmal  im  Stande  sein,  das  Ethos  der 
Tonart  festzuhalten.  Ebenso  verhält  es  sich  auch  mit  der  gesummten 
Rhythmik.  Wer  den  Paeonischen  Rhythmus  kennt,  wird  deshalb, 
weil  er  bloss  die  Bildung  des  paeonischen  Taktes  kennt  noch  nicht 
die  Eigentümlichkeit  seiner  Anwendung  kennen.  So  muss  denn  nun 
derjenige,  welcher  unterscheiden  will,  was  irgend  einer  musikalischen 
Kunstform  eigentümlich  und  nicht  eigentümlich  ist,  zum  mindesten 
zweierlei  wissen:  einmal  muss  er  das  Ethos  kennen,  um  dessentwillen 
die  Composition  gemacht  ist,  andererseits  dasjenige;  aus  welchem 
die  Composition  besteht  —  Das  Gesagte  wird  genügend  darthun, 
dass  weder  die  Harmonik,  noch  die  Rhythmik,  noch  irgend  eine 
andere  Disciplin,  welche  einen  einzelnen  Theil  der  Musik  bildet,  an 
sich  ausreicht,  das  Ethos  der  in  ilir  behandelten  Kunstformen  zu 
erkeunen  und  das  Weitere,  was  hiermit  zusammenhängt,  zu  beur- 
theilen. 

V.  Rhythmische  Neuerungen  der  archaischen  Zeit. 

Plut.  de  mus.  12. 

Auch  über  die  Rhythmen  giebt  es  eine  Ueberlieferung.  Denn 
Arten  und  Unterarten  der  Rhythmen  wurden  hinzuerfunden,  auch 
neue  Allen  der  Metropoeien  und  Rhythmopoeien. 

Zuerst  nämlich  führte  die  (rhythmische)  Neuerung  des  Terpan- 
der  eine  schöne  Weise  in  die  musische  Kunst  ein. 

Dann  wandte  nach  der  von  Tcrpander  aufgebrachten  Weise 
Polymnastus  eine  neue  an,  doch  so,  dass  er  am  schönen  Style  festhielt 


v 


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VI.  Urber  die  rhythmische  Primär- Zeit. 


485 


Ebenso  auch  Thaletas  undSakadas,  denn  auch  diese  waren  treffliche 
Meister  in  der  Rhythmopoeie,  die  den  schönen  Styl  nicht  verliessen. 

Es  giebt  auch  eine  Neuerung  des  Alkinan  und  des  Stechichorus, 
die  ebenfalls  nicht  vom  schönen  Style  sich  entfernten. 

VI.  "Ueber  die  rhythmische  Primiir-Zelt. 

Porphyr,  zu  Ptolem.  p.  25ö. 

U«'ber  die  Unbegrenztheit  der  Tonstufen  hat  auch  Aristoxenus  vielfach 
gesprochen.  Iu  der  Abhandlung  über  die  Tonoi  sagt  er  folgendermaassen  .  .  . 
In  derjenigen  über  die  Primär- Zeit  den  Vorwurf,  der  ihn  von  einigen  treffen 
könnte,  widerlegend,  schreibt  er  folgendes: 

Wenn  bei  einem  jeden  der  Rhythmen  die  Arten  des  Tempo 
unendlich  sind,  dann  werden  auch  die  Primär-Zeitcn  eine  unendlich 
verschiedene  Dauer  haben.  Das  ist  aus  dem  Vorhergesagten  klar. 
Das  nämliche  wird  der  Fall  sein  auch  bezüglich  der  zweizeitigen, 
3-zeitigcn  und  4-zeitigen  und  der  übrigen  rhythmischen  ZeitgrÖssen, 
denn  einer  jeden  der  Priinär-Zeiten  wird  auch  die  2-zeitige  und  die 
3-zeitige  und  jede  der  übrigen  angemessen  sein. 

Man  muss  sich  hier  nun  in  Acht  nehmen  vor  der  Irrung  und 
der  durch  sie  hervorgebrachten  Verwirrung,  denn  leicht  kann  einer, 
welcher  durch  musikalische  Kenntnisse  nicht  unterstützt  wird  und 
solcher  Theorien,  welche  wir  darlegen,  unkundig,  in  der  Sophistik  da- 
gegen hinreichend  bewandert  ist,  wie  es  irgendwo  bei  Ibykus  heisst: 

„mit  rasendem  Zornesmunde 
mir  Hader  entgegen  bringen", 

indem  er  (der  musikunkundige  Sophist)  sagt,  es  sei  ungereimt,  wenn 
einer  die  Rhythmik  eine  Wissenschaft  nenne  und  sie  gleichwohl  aus 
unbestimmten,  imaginären  Elementen  (Primär-Zeit)  bestehen  lasse, 
denn  das  Unbestimmte  sei "  das  Gegentheil  aller  Wissenschaft.  Ich 
denke,  es  wird  dir  jetzt  klar  sein,  dass  wir  des  Unbestimmten  nicht 
für  unsere  rhythmische  Wissenschaft  bedürfen.  Denn  wir  setzen 
nicht  Takte  aus  unbestimmten  ZeitgrÖssen  zusammen,  sondern  viel- 
mehr aus  •begrenzten,  begrenzt  durch  Grösse  und  Anzahl  und  durch 
Maass  und  Ordnung  in  ihrem  Verhältnisse  zu  einander.  Und  wenn 
wir  keine  derartigen  Takte  annehmen,  so  statuiren  wir  auch  keinen 
derartigen  Rhythmus,  da  alle  Rhythmen  aus  Takten  zusammenge- 
setzt sind. 


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486 


Aristoxenus  Vermischte  Tischreden. 


Ucberhaupt  nun  ist  festzuhalten,  welcher  von  den  Rhythmen 
auch  genommen  werde,  z.  B.  der  Trochäus:  in  irgend  einem  be- 
stimmten Tempo  angesetzt,  wird  er  aus  der  Zahl  jener  unbestimmten 
Primär-Zeiten  Eine  bestimmte  für  sich  in  Anspruch  nehmen.  Der- 
selbe Fall  ist  es  auch  bezüglich  der  zwei-zeitigen,  denn  der  Rhyth- 
mus wird  auch  von  diesen  Eine,  welche  der  genommenen  Prima  r- 
Zeit  symmetrisch  ist,  in  Anspruch  nehmen.  Es  ist  also  offenbar,  dass 
niemals  die  Rhythmik  als  eine  Wissenschaft  sich  zeigen  kann,  welche 
von  der  Idee  der  Unbegrenztheit  und  Unbestimmtheit  Gebrauch 
macht 

Man  muss  sich  nun  überzeugen,  dass  auch  bezüglich  der  har- 
monischen Wissenschaft  das  nämliche  zu  sagen  sein  wird.  Klar 
nämlich  ist  uns  auch  dieses  geworden,  dass  zwar  bezüglich  aller 
Intervalle  die  Grössen  unbestimmt  sind,  aber  dass  bei  dieser  Un- 
bestimmtheit der  Pykna  dieses  oder  jenes  System  in  dieser  oder 
jener  Chroa  zur  Ausführung  gebracht  irgend  ein  bestimmtes  Mege- 
thos  beanspruchen  wird;  nicht  minder  auch  wird  von  den  das  Pyk- 
non  überragenden  Intervallen,  die  an  sich  unbestimmt  sind,  ein  jedes 
irgend  Ein  Megethos,  welches  dem  genommenen  Pyknou  symmetrisch 
ist,  fiir  sich  in  Anspruch  nehmen.  „Ueherragend"  nenne  ich  ein 
solches  wie  das  Intervall  der  Mese  und  Liehanos. 

Der  Rhythmik  des  AriBtoxenus  kann  dieses  Bruchstück  nicht  angehören. 
Denn  obwohl  dieselbe  keineswegs  vollständig  uns  vorliegt,  ist  doch  gerade 
die  Lehre  von  der  Primär-Zeit  dort  im  Ganzen  lückenlos  erhalten,  so  dass  fiir 
das  vorliegende  Fragment  „Ueber  die  Primär-Zeit"  dort  absolut  kein  Platz  ist. 
Was  die  Form  der  Darstellung  in  diesem  bei  Porphyrius  erhaltenen  Bruch- 
stücke betrifft,  so  muss  sich  dieselbe  zwar  mehrfach  mit  derjenigen  der  theo- 
retischen Schriften  über  Rhythmik  und  Melik  berühren,  denn  wir  haben  hier 
die  dem  Aristoxenus  eigen thüinlichen  Begriffe  und  Deductionen.  Aber  eine 
auffallende  Verschiedenheit  zeigt  die  individuelle  Färbung,  der  erregte  fast 
leidenschaftliche  Ton,  von  welchem  wir  in  jenen  theoretischen  Darstellungen 
des  Aristoxenus  nichts  bemerken.  Nirgends  kommt  dort  eine  Wendung  wie 
hier:  „Ich  denke,  es  wird  dir  jetzt  klar  sein",  vor  —  eine  Beziehung  auf  eine 
anwesende  Person,  an  die  sich  Aristoxenus  mit  seinen  Auseinandersetzungen 
wendet.  Das  kann  nur  einer  der  dialogischen  Schriften  des  Aristoxenus  an- 
gehören. Dem  wird  auch  die  grössere  Lebendigkeit  der  Darstellung,  das  Ci- 
tiren  von  Dichterversen  (Ibykus)  entsprechen.  Alles  weist  darauf  hin,  dass 
Porphyrius  dies  au*  einer  Schrift  wie  Athenäus  14,  p.  632  und  Themist.  or.  33 
entlehnt  hat. 


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* 


Die  harmonischen  Grundsätze  der  Melodie-Begleitung 
nach  Aristoteles  und  Aristoxenus. 

(Zu  Abschn.  II,  S.  475). 

Der  willkürlichen  Annahme,  dass  der  tiefste  Klami  der  sieben  Oclavcnscalen 
die  harmonische  Bedeutung  der  Tonica  habe,  widerspricht  die  Bescliaffenhcit 

der  Mixolydischen. 

Von  den  sieben  Octavengattungen  der  Griechen  bedient  »ich  die  moderne 
Musik  eigentlich  nur  einer  einzigen,  welche  vom  tiefsteu  Intervalle  bis  zum 
höchsten  genau  mit  dem  Lydiachen  Schema  der  Alten  übereinstimmt.  Ks 
ist  dies  das  Schema  der  modernen  Dur-Seala.  Unsere  Moll-Scala  stimmt  am 
meisten  mit  dem  Hypodorischen  Octaven-Eidos  überein;  doch  nur  unser  ab- 
steigendes Moll,  denn  das  aufsteigende  verändert  den  sechsten  und  siebenten 
Klang  durch  Halbton-Erhöhung. 

Die  Musik  der  sogenannten  christlichen  Kirchentöne  bedient  sieh  dagegen 
solcher  Octaveu-Scalen ,  unter  denen  auch  die  übrigen  Octavengattuugeu  der 
Griechen  vertreten  sind.  Auch  die  antiken  Nomenclaturen  sind  für  unsere 
Kirchentöne  üblich  geblieben,  jedoch  mit  folgender  Veränderung  der  Bedeu- 
tung »1er  griechischen  Benennungen. 

Altgriechische  Octaven-Eide. 


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•5      ä  a.  J  S 


Christliche  Kirchentöne. 

Vgl.  Jourij  v.  Arnold  die  alten  Kirchenmodi  historisch   und  akustisch 
entwickelt.  1879. 


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488 


Aristoxenus  Vermischte  Tischreden. 


Der  tiefste  Ton  der  jedesmaligen  Octave  hat  für  das  System  der  Kirehen- 
töne  immer  die  harmonische  Geltung  der  Prime.  der  dritte  Klang  die  der  Terz, 
der  fünfte  Klang  die  der  Quinte  oder  Dominante.  Diejenigen  Kirchentöne. 
bei  denen  der  dritte  Klang  der  Octave  eine  grosse  Terz  bildet,  werden  also 
insofern  unter  die  Kategorie  der  modernen  Dur-Tonarten  gehören;  dagegen 
in  die  Kategorie  der  Moll  Tonarten  sind  diejenigen  Kirchentöne  zu  setzen,  in 
welchen  der  dritte  Klang  der  Octaven-Seala  mit  dem  ersten  Klange  das  Inter- 
vall einer  kleine  Terz  bildet.  Die  Kirchentöne  in  c,  in  g  und  in  f  würden  also 
bei  der  hier  sich  darbietenden  grossen  Terz  in  die  Dur- Kategorie:  die  Kirchen- 
töne in  a,  in  d,  in  e  und  in  h  bei  der  hier  gebotenen  kleineu  Terz  in  die  Moll- 
Kategorie  gehören.  Am  häufigsten  sind  unter  den  Kirchentönen  zunächst  der 
in  c  (mit  unserem  gewöhnlichen  Dur  identisch),  sodann  der  Kirchen  ton  in  a 
(mit  unserem  Moll  zusammenfallend,  nur  dass  beim  Aufsteigen  eine  Halbton - 
Erhöhung  der  siebenten  und  sechsten  Stufe  nicht  stattfindet \. 

Auch  die  Kirchentöne  in  g,  in  e,  in  d  sind  häufig  genug.  Heispiele  giebt 
Bellermann  Anonymus  p.  36.  37. 

Sehr  selten  dagegen  ist  der  Kirchenton  in  f  angewandt.  Bellermann  sagt: 
„exemplum  tarnen  eins  possit  esse  hymnus  „Gottes  Sohn  ist  kommen,"  cui 
plura  duobmj  vel  tribus  vix  poteris  addere."  • 

Die  Scala  in  h  endlich  kommt  als  Kirchenton  niemals  vor,  „uusquam  ad- 
hibitam  reperies  in  ecclesiae  nostrae  canninibus." 

Bellermann  und  alle  frühereu  nahmen  es  als  selbstverständlich  an,  dass, 
wie  bei  den  Scalen  der  Kireheutöne,  so  auch  in  den  sieben  Octavengattungen 
der  Griechen  der  jedesmalige  Anfangston  der  betreffenden  Scala  die  harmo- 
nische Bedeutung  der  Prime  oder  Tonica  gehabt  habe.  Ist  dies  der  Fall,  dann 
(dies  weiss  Bellermann  recht  gut)  wird  freilich  die  Hypolydisehe  und  Mixoly- 
dische  Octavcngattung  etwas  durchaus  Unmusikalisches  sein.  Die  griechische 
Musik  könne  aber  nichts  Unmusikalisches  gehabt  haben.  Und  so  sucht  denn 
Bellennann  allen  Ernstes  nachzuweisen,  dass  die  Griechen  weder  eine  Hypo- 
lydisehe, noch  eine  Mixolydische  Octavcngattung  in  Gebrauch  gehabt  hätten. 

Dass  Aristoxenus  namentlich  den  Gebrauch  des  Mixolydischen  Octaven- 
Eidos  mehrfach  erwähnt,  dass  er  sagt,  sie  sei  die  Tonart  der  Sappho,  von 
dieser  habe  sie  die  Tragödie  entlehnt  und  mit  der  Doristi  vereint,  da  das  Do- 
rische einen  grossartigen  und  würdevollen,  das  Mixolydische  einen  wehmüthigen 
Charakter  habe,  —  dass  Aristoxenus  (denn  von  diesem  stammt  das  betreffende 
Fragment)  oben  S.  483  den  praktischen  Gebrauch  des  Hypodorischen,  Mixo- 
lydischen, Dorischen,  Hypophrygischen  und  Phrygiscben  durchaus  coordi- 
nirt,  —  dass  bei  Plato  u.  a,  so  ausführlich  vom  Ethos  der  Mixolydisti  geredet 
wird:  —  das  Alles  weiss  ja  Bellennann  recht  gut.  Aber  trotz  alledem  sagt 
er  zum  Anonym,  p.  36  nichts  destoweniger:  „faeile  apparet,  etiam  haruin  Septem 
minus  utiles  ceteris  esse  Hypolydiam  et  Mixolydiam,  quarum  illa  a  primario 
suo  sono  (f )  non  ascendit  in  intervallum  diatessaron,  haec  a  suo  (h)  non  in  in- 
tervallum diapente,  quum  ceterae  quinque  utroque  hoc  intervallo  instruetae 


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Die  hann.  Grundsätze  der  Melodie-Begleitung  von  Aristot.  u.  Aristox.  489 

iniüto  suaviorcs  et  utiliores  »int  ad  inodulutionem.  Itaque  consentaneum  est, 
ha«  duas,  quae  nostris  sensibus  displicent,  ne  veteribus  quidem  probatas  esse, 
qiii,  quum  nulli  systematis  sono  intcrvalla  diatessaron  et  diapente  simul  deessc 
vellcut,  eertc  |)riraariutn  eins  sonum,  ad  quem,  quasi  ad  fundainentnm,  melo- 
diam  Semper  reduei  necesse  est,  neutro  eorum  carere  passi  sunt." 

Darauf  führt  Bellermann  aus.  dass  es  bei  Aristoxenus  eine  Stelle  gebe, 
welche  das  Hypolydisehe  und  Mixolydische  Octavcusystcm  für  ekmelisch  zu 
erklären,  also  au»  der  praktischen  Musik  auszuscheiden  scheine.  Man  wird  es 
von  dein  verdienten  und  sorgsamen  Forscher  nicht  für  glaublich  halten,  dass 
jene  Stelle  des  Aristoxenus,  welche  er  als  Zeugniss  vorbringt,  keine  andere  ist 
als  das  1.  Problem  des  Abschn.  XII.  worin  es  heisst,  dass  auf  der  Scilla  der 
erste  mit  dein  vierten  Klange  ein  Quarten-Symphonie,  mit  dem  fünften  Klange 
eine  Quinten -Symphonie  bilden  müsse.-  Namentlich  die  Worte:  „Man  inuss 
aber  wissen,  dass  das  Gesagte  für  die  emmelische  Zusammensetzung  des  Sy- 
steme« aus  Intervallen  nicht  ausreicht.  Denn  wenn  auch  die  betreffenden 
Klänge  die  angegebnen  Quarten-  oder  Quinten-Intervallen  bilden,  so  kann 
das  System  trotzdem  ekmelisch  construirt  sein." 

Aus  dieser  Stelle,  wie  es  Bellermann  that,  zu  folgern,  dass  hier  Aristoxe- 
nus  das  Hypolydisehe  und  Mixolydische  System  als  ekmelisch  aus  der  Musik 
ausschliessc.  das  konnte  wohl  nur  demjenigen  passiren.  welcher  sich  nicht  die 
Arbeit  gemacht  hatte  (die  Arbeit  war  früher  keine  geringe!)  die  Aristoxenischc 
Harmonik  im  Zusammenhange  zu  studiien. 

Es  heisst  eine  Behauptung  gegen  dir  unzweideutigste  und  klarste  Ueher- 
lieferung  der  Quellen  griechischer  Musik  aufstellen,  wenn  man  die  Hypoly- 
disehe und  Mixolydische  Octavengattung  für  etwas  Ekmelisches  im  Sinne 
des  Aristoxenus  erklärt.  Nach  Aristoxenus  ist  jede  der  von  ihm  statuirten 
7  Ortaven-Kidc,  unter  denen  er  dem  Mixolydisehcn  die  erste  Stelle  anweist, 
em indisch.  Er  erklärt  dies  ausdrücklich  in  dem  Prooimion  der  ersten  Har- 
monik §  18,  wo  er  sich  darüber  ausspricht,  dass  es  nach  der  nicht  genugsam 
überdachten  Theorie  des  Eratokles  mehr  als  7  Octaven -Systeme  geben  würde, 
welche  nicht  em  indisch  seien. 

Bellermanns  Schlussfolge  ist:    Die  Octa\ engattungen  der  (»riechen  ent- 
sprechen unseren  Kirchentönen  und  ihr  tiefster  Ton  hat  daher  die  hanno 
nische  Bedeutung  der  Prime  oder  Tonica.    Bei  der  Mixolydisehcn  Octaven 
gattuug  ist  dies  letztere  unmöglich,  denn  h  f  ist  eine  falsche  Quinte. 

Daher  kann  die  Mixolydische  Tonart  keine  emmelische  Tonart  der  Griechen 
gewesen  sein. 

Das  schliessliche  Resultat  Bellermanns  ist  ein  unrichtiges,  denn  nach  Ari- 
stoxenus war  die  Mixolydische  eine  emmelische  Octavengattung  und  ihre  viel- 
fache Anwendung  in  der  Melik  der  Griechen  ist  aufs  hinlänglichste  bezeugt. 
Aus  diesem  Grund«'  müssen  wir  der  von  Bellermann  als  allgemein  anerkannten 
Praemisse  die  Richtigkeit  abstreiten. 

Nach  den  Regeln  der  Ixtgik  haben  wir  vielmehr  folgenden  Schluss  zu  ziehen: 


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-11)0 


Aristoxenus  Vermischte  Tiselireden. 


Wenn  der  tiefste  Klang  der  antiken  Octavengattungen  dieselbe  Function 
hätte  wie  in  den  modernen  Kirchentönen,  dann  hätte  die  Mixolydische  Tonart 
den  Ton  h  zur  Tonica,  welcher  mit  f  eine  falsche  Quinte  bildet,  würde  also 
ekmelisch  sein.  Da  sie  aber  eine  cmmelische  war,  und  als  solche  vielfach  in 
der  Musik  der  Alten  augewandt  wurde,  so  folgt  mit  Notwendigkeit  au*<  dem 
Vorhandensein  der  Existenz  der'Hypolydischen  und  Mixolydischen  Octaven- 
gattuug  als  erameliseher  Systeme  der  Alten,  dass  die  Behandhuig  unserer 
Kirchentonarten  nicht  auch  für  die  sieben  Octavengattungen  der  Griechen  in 
Anspruch  genommen  werden  darf,  dass  es  nicht  der  jedesmalige  tiefste  Ton 
des  Oetavensystemes  ist,  welcher  die  harmonische  Bedeutung  der  Tonica  hatte. 


Octaven-Gattungen  und  Octaven -Clus sc ». 
(eIotj  -roä  oia  iraodiv  und  t^vt,  Wj  oid  rcaaeiv). 

Weiterhin  auf  p.  3b  seines  Anonymus  macht  Bellerinanu  aufmerksam  auf 
Aristoteles  polit.  4,  3  ojaoUd;  0  tyst  xai  ircoi  t«;  apu.ovta;  u>;  <paai  Ttve;.  xat  yiy 
tttl  TtÖevxcu  elor,  060,  '•fjv  Aiooiorl  *al  Tr(v  *l>puyioTi,  "a  oe  aX/.a  ajvraftiaTa  -ü. 
;x.ev  Ad'ip'.a,  T'i  oe  <I>pj"yta  xaXoSsiv.  Dazu  die  Erläuterung  Bellermauns :  „Neque 
inulto  alitcr  nos  hodie,  si  illos  quinque  modos  in  classes  dividere  velünus,  illos 
duos,  Dorium  et  Aeolium,  molles  vocemus,  quorum  alter  a  primario  ineipit. 
alter  a  quinto  sono  mollis  scalac,  contra  Lydium  et  Hypophrygium  duros,  quum 
alter  a  primo,  alter  a  quinto  durac  scalae  sono  ineipiat;  Phrygium  vero.  prop- 
ter  minorem  tertiam  (f )  mollibus,  propter  maiorem  sextam  (h)  dwis  modis  con- 
similem,  medium  inter  illas  classes  collocemus,  id  quod  Aristides  fecisse  vide- 
tur,  dicensp.  25:  etol  5e  ?<7>  fhu  Tpsi;,  Acupto;,  <Dpufto;,  A6810;.  Atque  propter 
hanc  Dorii  cum  Aeolio  et  Lydii  cum  Jonio  cognationem,  quum  saepissimc  a 
seriptoribus  hi  tres  tantum  afferantur,  ut  a  Bacchio  p.  12:  Ol  toj;  Tpet;  Tpö-o  j; 
aoovrec,  tUa;  aoovm;  Aüoiov,  «Pp^tov,  Atäptov,  simul  intelligendus  plerumque  vi- 
detur  cum  Dorio  Aeolius  et  cum  Lydio  Jonius,  quaemodmodum  Aristidis  ver- 
bis  T«i»  ihn  indicatum  est. 

Was  icli  von  den  Stellen  des  Aristides  und  Bacchius  denke,  um  mit  diesen 
beiden  zu  beginnen,  ist  folgendes: 

Da  beide  darin  übereinstimmen,  dass  das  Dorische,  Phrygische,  Lydischc 
die  drei  Hauptscalen  seien,  und  beide  einen  grossen  Theil  ihrer  sonstigen 
Angaben,  wenigstens  indirect,  entschieden  aus  Aristoxenus  gezogen  haben,  so 
liegt  es  wenigstens  nahe  genug,  auch  die  vorliegende  Notiz  auf  Aristoxenus 
zurückzuführen.  Unsere  übrigen  Musiksehriftsteller,  deren  Darstellung  auch 
auf  dieselbe  Quelle  wie  bei  Aristides  und  Bacchius  zurückgeht,  haben  in  diesem 
Falle  die  in  der  gemeinsamen  Quelle  enthaltene  Angabe  über  die  Haupt-Scalen 
ausgelassen,  z.  B.  bei  Pseudo-Euklid  findet  sie  sieh  nicht.  Die  sieben  Octaven- 
gattungen werden  als  sieben  Eide  bezeichnet.  Als  Klassifikation  höherer  Ord- 
nung erhebt  sich  über  dem  Begriffe  der  Eide  der  Begriff  der  drei  (Jene. 
Sieben  Octaven-Eide,  drei  Octaven-Grene !    Wenn  wir  das  eine  durch  sieben 


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Die  härm,  Grundsätze  der  Melodie  Begleitung  von  Aristot.  u.  Aristox.  491 

Octa vengattungen  (wie  wir  zu  thun  pflegen)  übersetzen,  so  gebührt  dein 
anderen  die  Ucbersetzung  „drei  Oetaven-Klassen",  —  „Genos"  ist  Klasse 
als  die  umfassendere  Kategorie  — ,  „Eidos"  ist  Gattung  als  die  engere  Kategorie, 
als  Unterart!  Man  unterscheidet  also  für  die  verschiedenen  Octaven  drei  Oetaven- 
Klassen  und  sieben  Oetaven-Gattungen.  Von  den  Bezeichnungen  der  sieben 
Oetaven-Gattungen  kommen  die  Namen  Dorisch,  Phrygiseh,  Lydisch  zugleich 
als  Bezeichnung  von  Oetaven-Klassen  vor,  sie  werden  im  engeren  Sinne  (als 
Oetaven-Gattungen)  und  im  weiteren  Sinne  (als  Oetaven-Klassen)  gebraucht. 
Ks  seheint  kaum  ein  Bedenken  zu  haben,  dass  die  Hypodorische  Octaven  - 
Gattung  der  Dorischen  Octavcn-Klasse  angehört;  in  gleicher  Weise  die  Hypo- 
phrygische  und  die  Hypolydisehe  Octaven- Gattung  —  die  eine  der  Phrygischen. 
die  andere  der  Lydischen  Octaven-Klasse. 

Indem  wir  die  mit  „Hypo"  beginnenden  Tennini  der  Oetaven-Gattungen 
durch  Composita  mit  „Unter"  wiedergeben,  dürfen  wir  den  Thatbcstand  nunmehr 
so  ausdrücken:  die  Dorische  Octaven-Klasse  zerfällt  in  eine  Unter-Dorische  und 
in  eine  um  eine  Quinte  höher  beginnende  Ober- Dorische  Octaven-Gattung;  die 
Phrvgische  Klasse  in  eine  Unter-Phrygische  und  eine  um  eine  Ober-Quinte  höher 
beginnende  Ober-Phrygisehe ;  die  Lydische  Klasse  in  eine  Unter- Lydisehe  und 
eine  um  eine  Ober-Quinte  höher  beginnend«»  Ober- Lydische.  Die  Bezeichnungen 
Ober -Dorisch,  Ober-  Phrygiseh,  Ober- Lydisch  kommen  zwar  als  Termini 
der  Oetaven-Gattungen  nicht  vor;  man  gebraucht  statt  ihren  die  Nomina  in- 
composita,  welche,  wie  gesagt,  von  den  Alten  sowohl  im  engeren  Sinne  des 
Eidos,  wie  im  weiteren  Sinne  des  Genos  angewandt  werden. 

So  wären  denn  sechs  von  den  sieben  Oetaven-Gattungen  unter  die  be- 
treffenden Oetaven-Klassen  subsumirt,  wobei  wir  zu  bemerken  haben,  dass 
die  Termini  Unter- Dorisch  und  Unter- Plirygisch  erst  späteren  Ursprunges  sind; 
die  älteren  Namen  sind  Acolisch  und  Jonisch  oder  Jastiseh.  Für  „Untcr-Ly- 
disch"  giebt  es  kein  derartiges  Nomen  simplex  ( —  etwa  einem  Volksstammc 
entnommen  — )  als  Nebenbenennung;  Plato  sagt  „Auötorl  /aXapd'S  Aristoteles 
„AuStoTi  dvttjjiivr/',  d.  i.  „nachgelassenes  oder  tieferes  Lydisch",  was  ungefähr 
mit  „Unter- Lydisch"  .auf  dasselbe  hinauskommt. 

Während  sich  die  Hypodorische,  Hypophrygischc  und  Mypolydische 
Octaven-Gattung  schon  durch  die  Benennung  der  Dorischen,  Phrygischen  und 
Lydischen  Octavcn-Klasse  unterordnet,  folgt  aus  dem  Namen  der  Mixolydisehcn 
Octaven-Gattung  keineswegs,  dass  auch  diese  der  Lydischen  Octaven-Klasse 
angehöre;  vielmehr  besagt  der  Name,  dass  hier  eine  Mischung  des  Lydischen 
mit  etwas  anderem  vorliege. 

Was  nun  die  Stelle  Aristot.  polit.  4,  f.\  betrifft,  laut  welcher  einige  Musiker 
nur  zwei  Gene,  das  Dorisehe  und  das  Phrvgische  annehmen  und  die  übrigen 
Syntagmata  ebenfalls  entweder  als  Dorische  oder  als  Phrygi&che  bezeichnen,  so 
kann  dies  schwerlich  anders  als  so  verstanden  werden,  dass  einige  unter  den  Mu- 
sikern der  Aristotel.  Zeit  das  Phrygische  mit  dem  Lydischen  zusammen  eine  ein- 
zige Klasse  der  Oetaven-Gattungen  bilden  Hessen.  Es  muss  also  zwischeu  den 


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492  Aristoxenus  Vermischte  Tischreden. 


Gattungen  der  Dorischen  Klasse  einerseits  und  den  Gattungen  der  Phrygischen 
uncl  Lydischeu  Klasse  andererseits  ein  derartiger  Gegensatz  bestanden  haben, 
dass  Einige  das  Phrygische  und  das  Lydische  entgegen  dein  Dorischen  in  ein 
und  dieselbe  Kategorie  stellen  konnten.  Bellenuann  erklärt  dies  so:  das  Do- 
rische und  Hypodorische  seien  Moll-Tonarten  „quorum  alter  a  primario  ineipit, 
alter  a  quinto  sono  mollis  scalae",  die  Lydische  und  Hypophrygische  Octaven- 
Eidos  dagegen  seien  Dur-Sealen  „quum  alter  eorum  a  primo,  alter  a  quinto 
dnrae  sealae  sono  ineipiat";  die  Phrygische  Octaven-Gattung  habe  eine  kleine 
Terz  id  f)  und  sei  als  solche  eine  Moll-Scala  und  habe  ferner  eine  grosse 
Sexie  |d  hl  und  sei  insofern  den  Dur-Scalcn  ähnlich.  Also  in  die  eine  Klasse 
des  Aristoteles  gehören  nach  Bellermann  die  Moll-Scalen:  Dorisch  und  Hypo- 
dorisch; in  die  zweite  Klasse  der  Octaven-Gattuugen,  welche  mit  gemeinsamem 
Namen  Phrygische  Syntaginata  heissen,  gehören  die  beiden  Dur-Scalen  Ly- 
disch  und  Hypophrygisch  und  die  angeblieh  halb  dem  Moll,  halb  dem  Dur  an- 
gehörige  Phrygische.  Wie  diesen  beiden  Klassen  des  Aristoteles  die  Mixoly- 
dische  und  Hypolydische  Octaven-Gattungen  unterzuordnen  seien,  darauf  glaubt 
Hellermann  nicht  eingehen  zu  brauchen,  weil  er  dieselben  für  unmelodisch  und 
trotz  Sappho  und  der  Tragödie  bei  den  Griechen  für  ungebräuchlich  hält,  „nc 
vetcribas  quidem  probatas." 

Besondere  Function  der  (hefischen  Mexe. 

Wir  haben  schon  oben  gesagt,  dass,  wenn  Bellermann  die  Mixolydisehe 
Octaven-Gattung  der  Praxis  der  alten  Musik  absprechen  zu  müssen  glaubt 
„weil  sie  unmelodisch"  sei,  trotzdem  sie  so  fest  wie  nur  möglich  bezeugt  ist. 
so  geschieht  dies  von  Bellermann  nur  auf  die  Annahme  hin.  dass  der  tiefste 
Ton  einer  jeden  Octaven-Gattung  als  die  Tonica  der  betreffenden  Scalu  zu 
fassen  sei.  Es  ist  auch  bereits  von  uns  bemerkt  worden:  die  Thatsache,  dass 
die  Mixolydisehe  Octaven-Gattung  den  Alten  als  emmelisch  gilt,  weis»«  mit 
Notwendigkeit  darauf  hin,  dass  die  Behandlung  der  christlichen  Kirchentöne 
für  die  griechischen  Octaven-Gattungeu  nicht  maassgebend  sein  kann,  dass 
diese  vielmehr  anders  als  die  Kirchentöne  gefasst  werden  müssen.  Wenn 
wir  ihn  nicht  in  griechischen  Quellen  finden,  wird  kein  Aufschluss  über  die 
Function  eines  bestimmten  Klanges  der  Octaven-Gattung  als  Tonica  zu  erhalten 
sein.  Bei  den  griechischen  Musikschriftstelleru  finden  wir  nichts  darüber.  Um- 
so mehr  verdienen  die  Nachrichten  Anderer  zu  Rathe  gezogen  zu  werden.  Und 
hier  können  wir  keinen  bessereren  Gewährsmann  verlangen  als  den  Lehrer 
unseres  Aristoxenus.  Eine  interessante  Auseinandersetzung  des  Aristoteles  in 
seinen  der  Musik  gewidmeten  Problemen  19, 10  lehrt  folgendes: 

„Wenn  man  die  Mese  zu  hoch  oder  zu  tief  stimmt,  die  übrigen 
Saiten  des  Instrumentes  aber  in  ihrer  richtigen  Stimmung  gebraucht,  so 
haben  wir  nicht  bloss  bei  der  Mese,  sondern  auch  bei  den  übrigen  Tönen 
das  peinliche  Gefühl  einer  unreinen  Stimmung  — :  dann  klingt  Alles 
unrein. 


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Die  härm.  Grundsätze  der  Melodie-Hegleitung  von  Aristot.  u.  Aristox.  493 

Hat  aber  die  Mese  ihr«*  richtige  Stimmung  und  ist  etwa  die  Liclia- 
uos  oder  ein  auderer  Ton  verstimmt,  dann  zeigt  sich  die  unreine  Stim- 
mung nur  an  der  Stelle  des  Musikstückes,  wo  eben  dieser  verstimmte 
Ton  erklingt." 

Weiter  erfahren  wir  dort: 

„In  allen  guten  Compositionen  ist  die  Mese  ein  sehr  oft  vorkom- 
mender Klang,  auf  der  alle  gute  Componisten  mit  Vorliebe  verweilen,  auf 
die  sie  bald  wieder  zurückkehren  wenn  sie  dieselbe  verlassen 
haben,  was  in  dieser  Weise  bei  keinem  einzigen  «1er  anderen  Klänge 
geschieht.44 

Daun  wird  diese  musikalische  Eigentümlichkeit  mit  einer  Kigenheit  der 
griechischen  Sprache  verglichen:  „Es  giebt  einige  Partikeln,  wie  z.  13.  re  und 
-M,  die,  wenn  das  Griechische  ein  wirklich  griechisches  Colorit  haben  soll, 
häufig  gebraucht  werden  müssen;  —  weiden  sie  nicht  gebraucht,  so  erkennt 
mau  daran  den  Ausländer.  Andere  Partikeln  dagegen  können,  ohne  dem 
griechischen  Colorit  Eintrag  zu  thun,  ausgelassen  werden.  Was  jene  notwen- 
digen Partikeln  für  die  Sprache  sind,  das  ist  die  *iizrk  für  die  Musik:  ihr  häu- 
figer Gebrauch  verleiht  den  griechischen  Melodieen  ihr  eigentliches  Colorit.'" 

Diese  Auseinandersetzung  hat  der  Fortsetzer  der  Aristotelischen  Probleme 
in  19.  36,  nur  nicht  so  klar  "und  umfassend,  wiederholt. 

Eine  ähnliche  Notiz,  wie  sie  hier  Aristoteles  in  seinen  Probleiiien  und  der 
anonyme  Fortsetzer  resp.  Ueberarbeiter  der  Aristotelischen  Probleme  giebt, 
finden  wir  auch  bei  dem  späteren  Schriftsteller  Dio  Chrysostom.  GS,  7.  Auch 
hier  heisst  es  vom  Stimmen  der  Saiteninstrumente  (der  Lyra):  „Man  gebe 
zuerst  dem  mittleren  Klange  (der  Mesct  die  richtige  Stimmung,  dann  nach 
diesem  auch  den  übrigen,  welche,  wenn  das  nicht  geschehe,  niemals  harmonisch 
klingen  würden.  ' 

Weder  Aristoteles  noch  Dio  Chrysostomos  hält  für  nüthig  anzugeben,  ob 
es  sich  hier  um  die  dynamische  oder  um  die  thetische  Mese  handelt. 

Nehmen  wir  an,  es  sei  die  dynamische  Mese  gemeint.  Auf  der  Traus- 
positious-Scala  ohne  Vorzeichen  ist  der  Klang  a  die  dynamische  Mese.  Der 
Lyrode  begleit«;  auf  dieser  Scala  ein  Melos  der  ionischen  oder  hypophrygisehen 
Octaven-Gattung  g — g.  Dann  würde  er  also  nach  Aristoteles  den  Klang  a 
am  häufigsten  berühren  und,  wenn  er  ihn  verlassen,  immer  wieder  auf  den 
Klang  a  zurückkommen.  Offenbar  also  würde  der  Lyra-Klang  a  der  Schluss- 
ton sein,  welcher  die  Kruste  der  Lyra  zu  dem  Schlusstone  des  hypophrygisehen 
Gesänge*  g  angiebt.    Das  wäre  nicht  musikalisch,  sondern  absurd. 

Er  begleite  mit  seinem  Spiele  einen  Gesang  der  mixolydischen  Octaven- 
Gattung  h— h.  Auch  hier  würde  er  mit  dem  Lyraklange  a  schliessen.  Und 
so  weiter  bei  allen  übrigen  Octaven-Gattungen:  der  begleitende  Lyrode  schliesst 
jedesmal  das  Melos  in  dem  Lyraklange  a.  Denn  dies  a  ist  auf  der  Transpo- 
sitions-Scalu  ohne  Vorzeichen  stets  und  ständig  die  dynamische  Mese. 


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494 


Aristoxenus  Vermischte  Tischreden. 


Das  würde  die  Stelle  dea  Aristoteles  besagen,  wenn  er  unter  der  Mese. 
von  welcher  er  spricht,  die  dynamische  Mese  verstände.  Dann  wäre  die  von 
ihm  mitgetheilte  Thatsache  so  unsinnig,  wie  nur  immer  möglich. 

Wir  haben  im  Abschn.  XIII  nachgewiesen,  dass  der  Unterschied  dyna- 
mischer und  thetischer  Onomasie  schon  bei  Aristoxenus  vorkommt  Wir  dürfen 
rieshalb  voraussetzen,  dass  auch  schon  Aristoxenus'  Lehrer  Aristoteles  das 
Wort  M»  se  auch  in  thetiseher  Onomasie  gekannt  habe.  Führt  in  den  musi- 
kalischen Problemen  des  Aristoteles  die  Interpretation  der  Mese  als  dyna- 
mischer Mese  zu  solchen  Absurditäten,  wie  sie  vorher  angegeben  sind,  so 
folgt  natürlich,  dass  wir  dort  dsis  Wort  Mese  als  thetische  Mese  zu  inter- 
pretiren  versuchen  müssen.  Alsdann  hat  jede  Octaven-Gartung  ihre  eigene  Mese. 

Bei  der  dorischen  Octave  e—  e  würde  der  Ton  a  tlie  thetische  Mese  sein. 
Der  Klang  a  wäre  derjenige,  mit  welchem  uach  Aristoteles  das  dorische  Melos 
im  begleitenden  Saitenspiele  abgeschlossen  würde. 

Für  die  phrygische  Octave  d— d  ist  der  Ton  g  die  thetische  Mese.  Mit 
ihm  würde  nach  Aristoteles  das  begleitende  Saitenspiel  für  ein  phrygische« 
Melos  abschliessen. 

Für  die  lydische  Octave  c— c  ist  der  Klang  f  die  thetische  Mese.  Mit 
diesem  f  würde  nach  Aristoteles  die  Krusis  eines  lydischen  Melos  auf  dem 
Instrumente  abschliessen. 

Es  ergiebt  sich,  dass,  wenn  wir  in  der  Stelle  des  Aristoteles  die  Mese  als 
thetische  Mese  interpretiren ,  dass  wir  dann  zu  Ergebnissen  kommen,  welche 
keineswegs  absurd  genannt  werden  können. 

Ein  Gesang  in  der  dorischen,  in  der  phrygischeu,  in  der  lydischen  Octaven- 
Gattung  wird  von  dem  Sänger  in  der  thetisehen  llypatc  oder  deren  Octave 
der  thetisehen  Xete  (  c,  d,  c  )  geschlossen  sein,  die  Krusis  des  den  (iesang 
begleitenden  Lyroden  giebt  zu  dem  jedesmaligen  Sehlnsstone  des  Sängers  die 
jedesmalige  Mese  an:  a  zum  Melodietone  e;  g  zum  Melodietöne  d;  f  zum  Me- 
lodietone c. 


So  lässt  also  Aristoteles,  falls  er  (was  doch  nicht  anders  möglich  ist,  denn 
sonst  wäre  seine  Angabe  absurd)  die  Mese  der  thetisehen  Onomusie  meint ,  ein 
dorisches,  phrygisches,  lydisches  Melos  des  Sängers  in  der  Krusis  des  den 
Gesang  begleitenden  Lyroden  in  der  Oberquarte  abschliessen. 

Wir  sind  gewohnt,  uns  den  begleitenden  Aecordton  zunächst  tiefer  als 
den  Melodie-Ton  zu  denken.  Hier  ist  es  umgekehrt:  der  Melodie-Ton  ist  der 
tiefere,  der  begleitende  Aecordton  der  höher«-.  Blicken  wir  zurück  auf  die 
Aristoxenischen  Angaben  über  Melodie-  und  begleitenden  Aceord-Ton  (S.  475  fl'.), 
so  werden  wir  dort  ganz  das  nämliche  finden:  der  tiefere  Klang  gehört  dem 
Melos,  der  höhere  gehört  der  Krusis  an. 


Krusis 


Dor.      Phryg.  Lyd. 
a  g  f 


e  d  c 


■ 


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Die  härm.  Grundsätze  der  Melodie-Begleitung  von  Aristot.  u.  Aristox.  495 

Ebenso  Aristoteles  an  einer  anderen  Stelle  der  musikalischen  Probl.  19, 12: 
„oid  ti  tcbv  yopodiv  fj  papt/rspa  dt\  ~<j  (jüXo;  X'ifA^dvst;"  Aristoteles  redet  von 
zwei  Instrumentalstiuiinen,  von  denen  eine  die  Melodie,  die  andere  die  Beglei- 
tung ausführt.  Das  Melos  werde  immer  von  der  tieferen  der  beiden  Saiten 
übernommen. 

Auch  noch  eine  andere  Stelle  des  Aristoteles  Probl.  19,39  muss  hier 
herbeigezogen  werden:  „ayu^atvei  Ytvesöai  y.ailditep  tot;  utk»  t?^  ujotjv  xpoivjoi  • 
/.ai  o'jtoi  xd  dXXa  ou  -poaayXoOvxe;  £dv  ei;  tuOtöv  y.axayrp£',pa»3iv  c&ppatayot  (xä/.- 
Xov  tu»  tsXei  f(  Xynoüai  tai;  ^po  toj  xsXoy;  ota^opai;."  Die  Lyroden,  welche  ein 
Melos  mit  den  unterhalb  der  Gesangnoten  stehenden  Instruinentalnoten 
begleiten,  wenn  sie  das  Uebrige  mit  di vergütenden  Aulostöncn  begleitet 
haben,  kommen  am  Schlüsse  wieder  mit  der  Singstiinme  zusammen  und 
haben  dann  am  Ende  einen  grösseren  Eindruck  der  Befriedigung,  als  der 
Eindruck  der  Unbefriedigtheit  war,  welchen  sie  vor  dem  Ende  bei  der  Diver- 
genz der  Melodietöne  und  der  Krusistöne  empfinden  mussten.  Der  in  der 
Stelle  vorkommende  Ausdruck  brÄ  x-r>  t»iip  xpokiv  bedeutet  das  Gegentheil 
von  -oooyopoa  xpoüctv  bei  Flut  de  mus.  28,  wo  es  von  den  Neuerungen  des 
Archiloehus  heisst:  „otovrai  Ii  xai  x^v  xpoüatv  x-fjv  •!>-'  «jo^v  xoyxov  itpäixov  eupetv, 
xoy;  o  dpyalo'js  zdvra;  [wohl  rdvxa  zu  schreiben]  -pooyopoa  xpoieiv,"  d.  i.  Ar- 
ehilochus  (glaubt  man)  habe  zuerst  eine  Instrumentalbegleitung  mit  divergiren- 
den  Tönen  in  Aufnahme  gebracht,  während  die  Früheren  Alles  unison  begleitet 
hätten.  Wir  werden  den  Ausdruck,  welcher  eigentlich  „unterhalb  des  Gesanges 
begleiten  von  den  stets  unterhalb  der  Gesangsnoten  stehenden  Noten  der 
Krusis  verstehen  müssen,  weil  die  früher  von  uns  angeführte  Stelle  des*  Ari- 
stoteles Probl.  19,12  ausdrücklieh  besagt,  das«  der  dem  Melos  angehörende 
Klang  stets  der  tiefere  sei.  Es  ist  nicht  zu  denken,  dass  Aristoteles  in  den- 
selben musikalischen  Problemen  jener  ausdrückliehen  Erklärung  in  19,39  (mit 
welcher  Aristoxenus  S.  47ö  übereinstimmt!  selber  habe  widersprechen  können. 

In  dem  musikalischen  Probleme  19,39  besehreibt  Aristoteles  genau  die 
Eindrücke,  welche  wir  bei  Dissonanzen  und  bei  den  auflösenden  Consonanzen 
des  Abschlusses  empfinden.  Es  könnte  scheinen,  als  ob  mit  dieser  am  Schlüsse 
stattfindenden  Auflösung  die  Homophonie  gemeint  sei,  als  ob  diese  es  gewesen, 
durch  welche  die  Alten  nach  dem  peinlichen  Eindrucke,  nach  dem  Ge- 
fühle der  Unbefriedigtheit  bei  den  nicht  uuisonen  Accorden  des  Vorausgehen- 
den, sich  beim  endlichen  Schlüsse  so  sehr  befriedigt  gefühlt  hätten.  Aber  in 
demselben  musikalischen  Probleme  fragt  Aristoteles:  „Aid  xt  t^oiov  soxi  xo  ovio- 
^arnoN  xoy  <if«>'f divo'j ,  d.  i.  weshalb  befriedigt  uns  ein  symphonirender  Accord 
noch  mehr  als  der  Gleichklang?  Deshalb  glauben  wir  die  im  weiteren  Fort- 
gange desselben  Probleme«  vorkommenden  Worte:  „sdv  ei;  xa&xöv  xo-aoxpe^tu- 
3iv  e'icppoüvouai  jtdXXov  xijj  xiXet  tj  Xuroviat  Tai;  zpo  tcj  x£Xoy;  cia<popat;"  nicht 
sowohl  von  einem  nach  der  vorhergehenden  Divergenz  der  beiden  Stimmen 
am  Schlüsse  stattfindenden  Gleichklange,  als  vielmehr  von  einem  dort  eintre- 
tenden symphonischen  Accorde  im  Sinne  der  Alten  interpretiren  zu  müssen. 


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490 


Aristoxenus  Vermischte  Tischreden. 


Nach  der  Aristotelischen  Stelle  von  der  schliessenden  thetischen  Mese  der 
Krusis  wird  *ich  nämlich  für  ein  Dorisc  hes,  Phrygisehes,  Lydisches  Melos  fol- 
gender symphonischer  Ausgang  ergeben 


Dorisch   Phryg.  Lydisch 


Krusis 
Melos 


Dieses  Ergebuiss  meiner  Studien  war  schon  in  meiner  griechischen  Hat- 
niouik  des  Jahres  1HG3  veröffentlicht  worden.  Ks  fand  diese  „von  allen  frü- 
heren abweichende  Auffassung,  welche  eine  so  gänzliche  Umwälzung  in  das 
System  der  griechischen  Musik  hineinbringe",  fast  bei  allen  Forschern  einen 
grossen  Widerspruch,  bei  Ziegler  so  sehr,  das»  er  die  Stelle  des  Ptolemäus 
von  der  thetischen  Ouomasie,  auf  welche  sieh  meine  Auffassung  des  Aristoteles 
stützt,  durch  überkühne  Conjeetural-Kritik  lieber  gänzlich  aus  Ptolemäus  zu 
entfernen  versuchte,  ehe  er  mir  das  Hecht  für  die  nothwendig  daraus  zu  zie- 
henden Consequcnzeu  verstatten  mochte.  Ich  gestehe,  in  dein  Jahre  1SGM 
nicht  die  gajiz  richtigen  Conscquenzeii  gezogen  zu  haben. 


Die  thetische  Mexe  hei  HypudorUcher,  Hypophrygischer,  ]lypolydi*cher  Melodie. 

Für  die  Dorische,  Phrygische  und  Lydische  Octaveugattung  sehe  ich  mich 
freilich  ausser  Stande,  das  damals  veröffentlichte  Ergebnis«,  das  ich  soeben  wieder- 
hole, auch  mir  im  geringsten  zu  modifiziren.  Ich  muss  auch  fortan  dabei  bleiben, 
dass  die  thetische  Mese  der  Dorischen,  Phrygischen,  Lydischen  Octavengat- 
tung  die  Tonica  derselben  bildet,  —  nicht  wie  Hellermanu  und  alle  früheren 
annehmen,  die  thetische  Hypate,  d.  i.  der  jedesmalige  tiefste  Ton  jener  Scalen. 
Dagegen  spreche  ich  jetzt  die  Conjectur  aus,  dass  die  Hypo- Dorische,  Hypo- 
Phrygische,  Hypo-Lydische  Octaveugattung  bezüglich  der  als  Touica  zu  sta 
tuirenden  Mese  als  Unterarten  ihres  gleichnamigen  Octaven-Geuos  gelten  müssen, 
wie  denn  auch  nachweislich  z.  U.  Plato  unter  der  Dorischeu  Harmonie  auch 
die  Hypo- Dorische  begreift. 

Schon  in  der  zweiten  Auflage  der  griechischen  Harmonik  (1867)  war  ich 
thatsächlich  davon  zurückgekommen,  für  das  Hypo-Dorische  die  thetische  Mese 
derselben  Octaveugattung  als  Tonica  anzusehen,  aualog  auch  für  die  Hypo 
Phrygische  und  Hypo-Lydische  Octaveugattung.  Aber  die  Bedeutung  der  drei 
Octaven- Klassen  als  Oberarten  der  sieben  Octaven-Gattuugen  hatte  ich  da- 
mals noch  nicht  erkannt. 

Im  Hypo-Dorischen  hat  die  dorische,  im  Hypo- Phrygischen  die  phry- 
gische, im  Hypo-Lydische  die  lydische  Mese  die  harmonische  Function  der 
Tonica.  Wenn  ich  abweichend  von  der  griechischen  Manier  unserer  modernen 
Weise  folge,  indem  ich  den  Accordton  der  Begleitung  als  den  tieferen,  den 
Melodieton  als  den  höheren  Klang  ansetze,  dann  wird  das  Verhältniss  zwischen 


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Die  harm.  Grundsätze  der  Melodie-Begleitung  von  Aristot.  u.  Aristox.  497 


Tonica  und  Dominante  innerhalb  der  griechischen  Octavengattungen  an  Ueber- 
sichtlichkeit  auch  für  denjenigen,  welcher  mit  moderner  Musiktheorie  weniger 
vertraut  ist,  gewinnen. 


A'joiov 

|        Vhot  < 

T£voc 

A(£»pi&V  Melos 

 y--^- 

1 

Et&o; 

1 

Etöoc 
AuStov 

=-±=- 

i 

/Idoriov 

— r — 

EtSoc 
«Dpuftov 

^= 

Eläo; 

'TzoBoCiptov 
AtöXiov 

Acupiov 

Wenn  wir  uns  buchstäblich  an  die  alte  Ueberlieferung  des  Aristoteles 
und  Aristoxenus  anhalten  wollen,  dann  müssen  wir  das  vorliegende  Schema 
folgendermaassen  schreiben: 


Vlvoi  AOStov 

T£vo;  «Pptiftov 

f£vo;  At6piov.  Knute 

=i  1 

1 

i 

— •  

I 

— «  

— 

ElÖo; 

~t  

EÄ05 

EiSo; 

=P  

EISo; 

E100; 

Ei8oc  Meloi 

'  T?roX6Äiov 

Auöiov 

IddTtOV 

«Ppu-ftov 

Twoottipiov 

Adjptov 

I  > 

denn  dies  geht  buchstäblich  aus  den  herbeigezogenen  Stellen  hervor. 

Sowohl  aus  Aristoxenus  wie  aus  Aristoteles  habe  ich  nachgewiesen,  dass 
das  griechische  Melos  der  classischen  Zeit  keineswegs  auf  die  blossen  Melodietöne 
beschränkt  war,  dass,  wenn  es  bei  den  Griechen  auch  keinen  mehrstimmigen, 
sondern  einen  einstimmigen  Gesang  gab,  dass  dessen  ungeachtet  die  Mehr- 
stimmigkeit der  Musik  dem  classischen  Griechen thum  keineswegs  unbe- 
kannt war.  Sie  bestand  in  der  Begleitung  der  gesungenen  (Aristoxenus)  oder 
von  einem  Instrumente  ausgeführten  (Aristoteles)  Melodie  durch  divergirende 
Klänge  der  Instrumente. 

Von  den  auf  uns  gekommenen  Resten  griechischer  Musik  muss  ich  an- 
nehmen, dass  das  kleine  Musikstück  des  Anonymus  §  98  bei  seinem  von  den 
übrigen  ganz  abweichenden  Charakter  nicht  eine  antike  Melodie,  sondern  eine 
zu  einer  beim  Anonymus  nicht  mehr  erhaltenen  Instrumental-Melodie  auszu- 
führende Krusis  ist,  zu  welcher  man  die  Melodie  in  folgender  Art  restituiren 
kann: 


Ariitoienu.,  Melik  o.  Rhythmik.  32 


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498 


Aristoxenus  Vermischte  Tischreden. 


Natürlich  ist  diese  bezüglich  des  Anonymus  aufgestellte  Vermuthung 
für  die  jetzt  in  Rede  stehenden  Schlussfolgerungen  irrelevant.  Ich  fahre  fort 
in  der  Rekapitulation  meiner  Schlussfolgerungen. 

Wie  gross  die  Anzahl  der  auf  einen  Melodieton  kommenden  Accordtöne 
gewesen,  darüber  fehlt  es  uns  technischerseita  an  allen  Angaben.  Zwar  über- 
liefert Plutarch  de  mus.  29  aus  eiuem  alten  reichhaltigen  Berichte,  aas  dem  er 
auch  die  vorher  angeführte  Stelle  über  die  nicht  unisone  Krusis  bei  Archilochus 
geschöpft  hat,  folgende  Notiz:  Adtao;  Se  6  'Kpu-ioveu;  d;  rf)v  oi&upa|A;itx^v  ä-you- 
fjieTaaTTjOa;  to'j;  £j8|j.oj;  xal  Tjj  xö>v  a6Xftv  -oXucpuma  xaxaxoXouJHjaa;  rXetoot 
xe  ^ÖOYyot;  xal  Steppiup^voi;  ypirjaduevo;  et;  ixetd&eaiv  tty  rpojrrdpyoyaav  fjaYE 
(xojaix-^v.  Man  wird  dies  schwerlich  anders  verstehen  können,  als  dass  Lasos. 
der  berühmte  Vorgänger  und  Lehrer  des  Pindar,  eine  Vielstimmigkeit  der  be- 
gleitenden Auloi  eingeführt  und  hierbei  mehrere  und  auscinanderliegende  Accord- 
Töne  der  Begleitung  zur  Anwendung  gebracht  und  auf  diese  Weise  die  bisher  be- 
stehende (Terpandrische  )  Musik  auf  einen  anderen  Standpunkt  geführt  habe.  Dem 
entsprechend  finden  wir  auch,  dass  bei  Pindar  von  einer  gleichzeitigen  Beglei- 
tung durch  Phormingcn  und  Auloi  die  Rede  ist  (also  von  einer  Vielstimmig- 
keit der  begleitenden  Saiten-  und  Blasmusik).  Aber  auch  diese  Angaben  wollen 
wir,  da  sie  keine  Special  -  Notizen  geben,  zur  Seite  lassen.  Aristoxenus  und 
ebenso  auch  Aristoteles  reden  von  einer  der  Melodie  nicht  unisonen  Krusis, 
in  welcher  dem  Melodietone  nur  ein  einziger  oberhalb  des  Melodietones  liegen- 
der Accordton  gegeben  wird:  das  ist  die  positive  Thatsache,  an  welche  wir 
uns  anzuhalten  haben. 

Hinzu  kommt  die  zweite  nicht  minder  fest  überlieferte  Thatsache,  dass 
bei  einem  Melos  der  Dorischen,  Phrygischeu ,  Lydischen  Octavengattung  durch 
das  die  Krusis  ausführende  Instrument  zum  Schlusstone  des  Gesanges  stets  die 
thetische  Mese  als  gleichzeitiger  Accordton  angegeben  wurde.  Wer  könnte 
denken,  dass  Aristoteles  in  einem  lediglich  der  Musik  gewidmeten  Theile 
seiner  Probleme  dies  leichthin  ohne  genaue  Berücksichtung  des  von  den  Ly- 
roden wirklich  eingehaltenen  Verfahrens  gesagt  haben  könnte?  Die  Prantl  schm 


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Die  barm.  Grundsätze  der  Melodie-Begleitung  von  Aristot.  u.  Aristox.  49f) 

Untersuchungen  über  die  Probleme  des  Aristoteles  geben  die  nöthigen  Finger- 
zeige, dass  man  zwischen  den  echten  Problemen  des  A.  und  den  später  lünzu- 
gefügten  Problemen  eines  Umarbeiten*  zu  sondern  habe,  etwa  eines  späteren 
Aristotelikers,  welcher  zum  Theil  dieselben  Fragen  (Probleme)  wie  der  Meister 
aufwirft  und  in  dessen  Weise  zu  beanworten  sucht.  Unser  Aristotelisches 
Problem  über  die  Meso  muss  wohl  zu  den  echten  gehören,  denn  wie  bereits 
oben  bemerkt,  findet  sich  zu  demselben  auch  ein  Parallel-Problem  des  Um- 
arbeite«. Es  ist  dies  Verhältnis«  ein  ähnliches,  wie  es  sich  auch  bei  den  Ari- 
stoxenischen  Problemen  des  Abschn.  XII.  findet,  zu  denen  die  Handschriften 
noch  vielfach  die  Reste  einer  Umarbeitung  zurückgelassen  haben.  Auf  den 
Umarbeiter  der  Aristotelischen  Probleme  ist  Problem  19,  36  zurückzuführen, 
welches  das  echte  Problem  19  in  abgekürzter  und  weniger  klaren  Form 
wiederholt. 

Wer  wollte  es  in  Abrede  stellen,  dass  die  moderne  Forschung  über  grie- 
chische Musik  nicht  eher  zum  Abschluss  kommt,  ehe  sie  dem  Aristotelischen 
Probleme  über  die  harmonische  Bedeutung  der  Mese  vollständig  gerecht  ge- 
worden ist?  Friedrich  Bellermann  hat  es  ebenso  wenig  wie  Boeckli  beachtet; 
von  Aeltercn  weiss  ich  nur  einen  einzigen  zu  nennen,  den  verstorbenen  Pro- 
fessor Brahniss  in  Breslau,  welcher  in  persönlicher  Unterhaltung  die  bis- 
herige Nichtbeachtung  des  Mesen-Problemes  für  auffallend  genug  und  dasselbe 
für  hinreichend  bedeutsam  erklärte,  um  von  Seiten  der  Musikforscher  alle  Auf- 
merksamkeit in  Anspruch  zu  nehmen. 

Es  wird  jedoch  aller  Erklärung  spotten,  so  lange  mau  nicht  für  die  Mose 
die  thetische  Onomasic  des  Ptolemäus  nach  der  richtigen  Interpretation  des 
alten  Wallis  zu  Grunde  legt.  Hätten  dies  Bocckh  und  Bellermann  gethan,  so 
hätten  auch  sie  das  Aristotelische  Mesen-Problem  verstanden. 

Erleidet  also,  wie  Ziegler  sagt,  durch  die  Beziehung  der  thetischen  Ouo- 
masie  auf  die  Stelle  des  Aristoteles  die  bisherige  seit  Boeckh  und  Bellermann 
vulgär  gewordene  Auffassung  der  griechischen  Musik  eine  totale  Umwälzung, 
so  wird  diese  von  mir  durch  nichts  als  durch  ein  genaueres  Eingehen  auf  die 
alten  Quellen  herbeigeführt  sein  und  in  die  Klasscu  derjenigen  Umwälzungen 
gerechnet  werden  müssen,  deren  neues  Ergebniss  zugleich  das  bessere  ist. 
Steht  doch  diesem  Ergebnisse  der  alten  Quellen  Nichts  als  die  couveutionelle 
auf  Nichts  basirte  Annahme  entgegen,  dass  es  mit  den  antiken  Octaven-Eide 
keine  andere  Bewandniss  haben  könne  als  mit  den  christlichen  Kirchentonarten, 
in  denen  jeder  tiefste  Anfangston  als  Tonica  fimgire. 

Bellermann,  wie  alle  früheren,  ein  Anhänger  dieser  Auuahme,  sieht  zwar 
ein,  dass  unter  ihrer  Voraussetzung  die  Hypolydische  und  noch  mehr  die  Mixo- 
lydische  Oetavengattung  unharmonisch  und  ekmeliseh  sein  würden.  Anstatt 
aber  sich  hierdurch  an  die  Fraglichkeit  jener  Voraussetzung  erinnern  zu  lasscu, 
macht  er  lieber  den  Versuch,  für  beide  Octavengattungeu  das  Vorkommen  in 
der  Praxis  der  alten  Musik  gegen  die  ausdrückliche  Versicherung  des  Aristo- 
xenus  und  Plato  in  Abrede  zu  stellen.  Auch  der  von  mir  auf  die  harmonische 

32* 


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500 


Aristoxenus  Vermischte  Tischreden. 


Bedeutung  der  thetisehen  Mose  als  Tonica  gegründeten  Auffassung,  wie  ich 
sie  in  der  ersten  Auflage  meiner  griechischen  Harmonik  gefasst  hatte,  hält 
Ziegler  mit  Recht  die  Hypolydische  und  Mixolydische  Tonart  entgegeu.  Wen« 
auch  meine  Deduktionen  über  die  thetische  Onomasie  hierdurch  nicht  alterirt 
werden  können,  so  verdanke  ich  doch  mittelbar  dem  Herrn  Ziegler  eine  Mo- 
difikation der  früher  von  mir  gezogenen  Folgerungen.  Wenn  nämlich  Aristo- 
teles für  die  Mixolydischen  Gesänge  die  thetische  Mese  dieser  Octavengattung 
als  den  Schlusstou  der  Krusis  im  Auge  hätte,  so  würde  das  kaum  eine  mindere 
Absurdität  sein,  als  wenn  man  annehmen  wollte,  Aristoteles  rede  nicht  von  der 
thetisehen,  sondern  von  der  dynamischen  Mese. 

Der  Absurdität  bezüglich  der  thetisehen  Mese  als  Schlussklang  der  Krusis 
entgehen  wir  nur  dadurch,  dass  wir,  wie  ich  es  oben  im  Gegensatze  zu  meiner 
früheren  Auffassung  dargestellt  habe,  die  Stelle  von  der  thetisehen  Mese  nicht 
auf  die  Octavcngattungen,  sondern  auf  die  Octavenklassen  beziehen.  In  welche 
Klasse  die  Hypodorische,  die  Hypophrygische  und  die  Hypolydische  Octaven- 
gattung gehört,  geht  unmittelbar  aus  der  Benennung  hervor.  Für  die  Hypo- 
dorische Octavengattung  gilt  die  Dorische  Mese,  für  die  Hypophrygische  die 
Phrygische  Mese,  für  die  Hypolydische  die  Lydischc  Mese  als  Tonica. 

Die  thetüche  Mese  bei  Mixolydischer  Melodie.    Die  übrigen  hellenischen 

Durscalen. 

Aber  die  Mixolydische  Octavengattung,  was  ist  von  dieser  bezüglich  der 
Tonica  zu  halten?  Ihr  Name  besagt  nicht  dies,  dass  sie  zur  Lydischen  Octaven- 
klasse  gehört,  sondern  nur  dies,  dass  die  Alten  darin  eine  Mixis  mit  dem  Ly- 
dischen erblickten.  Es  kann  das  wohl  nur  so  gefasst  werden,  dass  irgend  eine 
Eigentümlichkeit  der  Lydischen  Octavenklasse  auch  in  der  mit  dem  Klange  h 
beginnenden  Octavengattung  vorkommt  Nun  finden  wir  bei  dem  Dichter 
Pratinas  fr.  5  Bergk  folgende  von  den  Früheren  noch  nicht  für  die  Harmonik 
verwerthete  Stelle: 

MifjTE  o'jvtovov  Stroxe,  (i"/)T6  ?av  dvei|j.£vav 
Masrt  p.oüaav,  dXXd  rav  (ifoaav  ve&v  dpouptov 
aMXiCe  tu)  fi-iXct 

■zplr.zi  tot  zäotv  doiooXa^paxTat;  AloXlc  Äpfwmot. 

Hier  ist  die  Rede  von  drei  Harmonien  oder  Octavengattungen.  Die  eine 
ist  die  Aiolis,  der  ältere  Name  für  Hypodoristi.  Sie  soll  in  der  Mitte  liegen 
zwischen  zwei  anderen,  der  syntonos  Jasti  und  der  aneimene  Jasti.  In  der 
letzteren  hat  man  schon  längst  mit  Recht  die  Hypophrygische  oder  Jastische 
(bei  Plato  auch  chalara  Jasti  genannt)  erkannt.  Sie  beginnt  mit  dem  Klange  g. 
Die  Aeolische  mit  dem  Klange  a.  Von  beiden  kann  man  also  sagen,  sie  seien 
einander  benachbart.  Nun  soll  die  Aeolische  (in  a)  die  Mitte  zwischen  der 
aneimene  Jasti  (in  g)  und  der  syntonos  Jasti  sein.   Da  muss  also  die  letztere 


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Die  harin.  Grandsätze  der  Melodie-Begleitung  von  Aristot  u.  Aristox.  501 

nothwendig  eine  in  h  beginnende  Harmonie  oder  Octavengattung  sein.  Anders 
lässt  sich  die  Stelle  des  Pratinas  nicht  interpretireu. 

KP 

KP  >  £ 

:<  £ 

I  :  

Nun  nennt  Aristoxcnus  das  mit  h  beginnende  Octaven-Eidos  Mixolydisch, 
eine  Benennung,  welche  die  allgemeine  ist,  auch  bei  Plato  und  Aristoteles 
vorkommt  Bei  dem  alten  Pratinas  aber  ist  die  in  h  beginnende  Harmonie 
die  von  ihm  als  syntonos  Jasti  bezeichnete.  Wir  haben  hier  dieselbe  Doppel- 
namigkeit  einer  Octavengattung  wie  bei  der  in  a  und  in  g  beginnenden,  deren 
erstere  sowohl  Aeolisch  wie  Hypodorisch  genannt  wird,  während  die  zweite 
die  beiden  Namen  Hypophrygisch  und  Jastisch  führt. 

Es  würde  daraus  folgen,  dass  die  Mixolydischc  Octavengattung,  da  sie 
auch  den  Namen  syntonos  Jasti  führt,  in  die  Jastische  oder  Hypophrygische 
Octaven-Klasse  gehört 

Plato  Pol.  3,  398  stellt  die  Mixolydisti  und  die  Syntonolydisti  als  Öptjvdt- 
6etc  ap|jL0v(at  zusammen.  Dann  folgen  bei  ihm  als  fiaXaxal  xal  oupuroTixal  dpjxo- 
vlat  die  'Iaarl  xal  A'jotoxt  oitivcc  /aXapal  xaXoüvxai.  Es  muss  also  eine  Bezie- 
hung zwischen  der  Mixolydisehen  Harmonie,  welche  bei  Pratinas  syntonos  Jasti 
genannt  wird ,  und  einer  von  Plato  als  Syntononlydisti  bezeiclmeten  Octaven- 
gattung stattfinden.   Auf  die  letztere  haben  wir  hier  näher  einzugehen. 

Pollux  4, 78  gebraucht  den  Namen  ouvrovo«  Au&wri,  welcher  zu  dem  Aus- 
drucke des  Pratinas  oüvrovo;  'Ia;?i  in  einer  noch  augenfälligeren  Parallele  steht: 
„xal  dp(Aivia  p.ev  ouX^Ttx^)  Amptrri  xal  (ßpuYiarl  xoi  A65to;  xal  'Iwvixfj  xal  oüvto- 
vo;  Av&tarl  "AvOirro;  £;eüpr*."  Von  dem  hier  als  Erfinder  des  syntonos  Ly- 
disti  genannten  Anthippos  sang  ein  Pindarischer  Paean  (nach  Plut  de  mus.  15), 
dass  er  zur  Hochzeit  der  Niobe  ein  Lydisches  Lied  gelehrt  habo.  Auch  bei 
Aristides  p.  14.  15  wird  aus 

Stelle  des  Plato  die  Syntonolydisti  und  Jas  genannt,  aber  offenbar  so,  dass 
die  diesen  beiden  Harmonien  viudicirten  Scalen  durch  irgend  einen  alten 
Schreibfehler  die  umgekehrten  Namen  erhalten  haben.  Denn  nach  Aristides 
Texte  würde  auf  die  Syntonolydisti  die  Octavengattung  in  g,  auf  die  Jas  die 
Octavengattung  in  a  kommen.  Es  gehört  aber  (das  wissen  wir  sicher)  der 
Name  Jas  (oder  Jasti)  zu  der  sonst  auch  als  Hypophrygisch  bezeichneten  Scala 
in  g,  der  Name  Syntonolydisti  muss  mithin  nothwendig  in  dem  Originale  des 
Aristides  der  Scala  in  a  zugekommen  sein. 

Fügen  wir  die  von  uns  aus  Pratinas  und  Plato  herbeigezogenen  zwei 
Harmonieen  oder  Octavengattungen  zu  dem  übrigen  hinzu,  so  ergiebt  sich: 


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502 


Aristoxcnus  Vermischte  Tischreden. 


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— 1: 

 3- 

Wir  haben,  um  dies  gleich  zu  antieipiren,  auf  der  vorstehenden  Tabelle 
die  sechs  Dur-Oetavengattungeu  des  griechischen  Melos  vor  uns.  Sie  gehören 
der  Lydischen  und  der  Phrygischeu  Octaven-Klasse  an,  welche  (um  auch  dies 
hier  noch  anzuführen)  nach  Aristoteles  Pol.  4,  3  unter  die  «Dpu-fta  tJjvrdYuaTa 
subsumirt  werden.  Die  in  d  beginnende  Phrygische  Seala  hat  die  Phrygische 
Mese,  d.  i.  den  Ton  g  zur  Tonica,  —  die  in  c  beginnende  Lydische  Seala  hat 
die  Lydische  Mese,  d.  i.  den  Ton  f  zur  Tonica.  Hiernach  stellt  sich  also  das 
Phrygische  als  ein  von  der  Dominante  beginnender  und  in  der  Dominaute 
schliessender  Abschnitt  der  g-Dur-Scala  dar,  von  unserem  g-Dur  aber  dadurch 
verschieden,  dass  die  griechische  Seala  statt  des  Klanges  Ms  den  Klang  f  auf- 
zuweisen hat.  Es  kommt  also  die  phrvgische  Octavengattung  der  Alten  mit 
unserem  Mixolydischen  Kircheutone  überein. 

Analog  stellt  sich  die  Lydische  Harmonie  als  ein  in  der  Dominante  be- 
ginnender und  in  der  Dominante  schliessender  Abschnitt  der  f-Dur-Scala 
heraus,  von  unserer  modernen  f-Dur  dadurch  verschieden,  dass  der  griechischen 
Seala  statt  des  vierten  Tones  b  der  Ton  h  eigen  ist.  Am  meisten  kommt  also 
die  Lydische  Octavengattung  der  Alten  mit  unserem  Lydischen  Kirchentone 
(in  f  I  überein,  nur  dass  dieser  Lydische  Kirchenton  seine  Seala  in  der  Tonica, 
nicht  in  der  Dominante  beginnt. 

Das  antike  Hvpolydisch  (in  f )  und  da*  antike  Hypophrygisch  (in  g)  sind 
harmonisch  von  dem  Lydischen  und  Phrygischen  nur  dadurch  verschieden, 
dass  die  Scalen  nicht  von  der  Dominante  zur  Dominante,  sondern  von  der 
Tonica  zur  Tonica  reichen.  Für  Hypolvdisti  sagt  Plato  chalara  Lydisti,  für 
Hypophrvgisti  sagt  er  chalara  Jasti,  Pratinas  sagt  (was  genau  auf  das  näm- 
liche hinauskommt)  aneimene  Jasti;  derselbe  Zusatz  aneimene  auch  bei  Aristo- 
teles Pol.  8,  5  und  8,  7. 

Aus  der  Stelle  des  Pratinas  und  des  Plato  (mit  der  dazu  gehörigen  alten 
Interpretation  bei  Aristides)  geht  hervor,  dass  es  ausser  den  in  der  Quinte  und 
in  der  Prime  schlicssenden  Abschnitten  der  beiden  griechischen  Dur-Tonarten, 
auch  Scalen  gab,  welche  in  ihrem  Umfange  von  der  Terz  bis  zur  Terz  der 
betreffenden  Dur-Scalen  reichen.  Unter  die  Lydische  Octaven-KIasse  fällt  als 
Terzen-Scala  die  syntonos  Lydisti  oder  auch  Syntouolydisti  von  a  bis  a  (d.  i.  von 
der  Terze  des  durch  falsche  Quarte  charukterisirten  F-Dur).  Unter  die  Phrygische 
Octaven-Klasse  fallt  die  bei  Pratinas  „syntonos  Jasti",  bei  den  übrigen  „Mucoly- 
disti"  genannte  Harmonie  oder  Octavengattung.     Es  ist  bezeichnend,  dass  die 


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Die  harm.  Grundsätze  der  Melodie-Begleitung  von  Aristot.  u.  Aristox.  503 

Stelle  der  Platonischen  Republik  beide  Oetavengattungen  „Op^viooei;  dpfxoviat" 
nennt,  wofür  Aristoteles  gleichbedeutend  „ doupTixcorepco; "  sagt  Auch  wo 
unsere  moderne  Dur- Tonart  die  Melodie  in  der  Terze  abschließt,  empfinden 
wir  fast  stets  den  Eindruck  des  Wehmüthigen,  wovon  namentlich  die  in  dieser 
Weise  gehaltenen  deutschen  Volkslieder  den  Beleg  liefern.  („Gang  i  ans  Brün- 
nele",  „Muss  i  denn,  muss  i  denn  zum  Städtle  hinaus"). 

Wie  es  das  griechische  Melos  mit  der  fehlenden  grossen  Septime  des 
Phrygischen  Dur,  mit  der  übermässigen  Quarte  des  Lydischen  Dur  hält,  das 
erläutert  das  Jastische  oder  Hypophrygische  Lied  an  Nemesis  und  die  kleine 
Instrumental -Melodie  des  Anonymus  §  104  in  einer  Tonart,  welche  wir  nach 
dem  Obigen  nicht  anders  als  Syntonolydisch  bezeichnen  dürfen : 


Anonym,  de  mus.  §  104. 


Die  althellenuchen  Afoll-Scalen 

sind  die  nach  8.  490  ff.  zur  Dorischen  Octaven  -  Klasse  gehörenden  Eide. 
Nach  Aristoteles  Pol.  4,  3,  wonach  von  einigen  Musikern  nur  zwei  Hauptkatego- 
rieen  der  Harmonieen  statuirt  werden,  bilden  sie  die  „auvraY^aTa  Aojpta".  Im 
Allgemeinen  ist  das  Dorische  des  Alterthums  unser  absteigendes  Moll,  —  ohne 
Erhöhung  des  sechsten  und  siebenten  Tones  beim  Aufsteigen,  —  identisch  mit 
unserem  Aeolischen  Kirchentone.  Nach  der  in  den  Aristotelischen  Problemen 
enthaltenen  Angabe  über  die  Mesc  ist  die  Dorische  Mese  (a)  als  die  Toniea 
der  gesammten  Dorischen  Octaven-Klasse  aufzufassen.  Schliesst  das  Dorische 
in  der  Mese  (dem  fünften  Klange  der  Scala),  so  heisst  es  „Dorisch"  schlechthin; 
schliesst  es  dagegen  in  der  Prime,  so  heisst  es  „Hypodorisch",  iu  der  älteren 
Kunstsprache  „Acolisch"  (Heraklid  Pont.  ap.  Athen.  14,  624).  Wer  die  neuere 
Nomenclatur  aufgebracht,  wissen  wir  nicht;  Pindar  und  Pratinas  gebrauchen 
den  älteren  Namen,  bei  Aristoteles  und  Aristoxenus  kommen  beide  Benen- 
nungen vor.  Plato  Pol.  3,  398,  nachdem  er  die  Mis'AuSiorl  xal  SuvrovoXu&taTl 
xal  xoiaOtal  Ttve;  als  ftpTjvwSei;  ä&jjioviai,  die  yaXapa  'laaxl  und  yaXapa  A'jowtI 
als  paXaxal  xal  cv^noTixal  tcöv  apjxovtäiv  genannt  hat,  fährt  dann  fort:  'AXXa 
xtv5yve6ei  va  Awpiari  ).£iz«o8ai  xal  ^py-yta-ri.  Wo  bleibt  da  bei  ihm  die  Aeolische 
Harmonie?  Nothweudig  muss  er  sie  unter  der  Dorischen  mit  inbegriffen  haben. 
Ebenso  auch  Plato  in  Lach.  188,  und  Aristoteles  Pol.  8,  7.  Nach  der  citirten 
Stelle  des  Heraklides  zeigt  sich  im  AeoliBchen  oder  Hypodorischen  das  ritterlich 
.aristokratische,  etwas  übermüthige  Wesen  des  aeolischen  Stammes;  er  erkennt 
darin  den  Geist  der  adeligen  Herren  von  Thessalien  und  Lesbos  wieder,  die 
sich  der  Rosse,  des  geselligen  Mahles,  der  Erotik  erfreuen,  aber  bieder  und  ohne 


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504 


Aristoxenus  Vermischte  Tischreden. 


Falsch  sind.  So  ist  die  Aeolische  Tonart  nach  ihm  fröhlich  und  ausgelassen, 
voller  Schwung  und  Bewegung;  es  liegt  etwas  hochmüthiges  aber  nichts  un- 
edles darin,  freudiger  Stolz  und  Zuversicht. 

Nach  der  Schilderung  desselben  Heraklides  (a.  a.  O.),  macht  die  dorische 
Tonart  nicht  den  Eindruck  von  Lust  und  Fröhlichkeit,  sie  zeigt  vielmehr  Herb- 
heit, Härte  und  Strenge;  aber  sie  hat  das  rftoi  <iv&pfi>5e;  xal  (jicfaXoitpc^;;  nach 
Aristoxenus  fAejaXorpcre«  xal  a$uop;aTix<5v  und  besitzt  (worin  alle  Zeugnisse  über- 
einstimmen) den  Charakter  des  Würdevollen,  des  Ruhigen  und  Festen,  der 
Mannhaftigkeit  Nach  Aristoteles  Probl.  19,  48  eignet  sich  da«  Dorische  aber 
nicht  das  Hypodorische  und  auch  nicht  das  Hypophrygische  für  den  tragischen 
Chor,  denn  dem  tragischen  Chor  sei  ein  wehmüthiges  Melos  angemessen,  den 
Personen  der  tragischen  Bühne  dagegen,  die  ja  meist  Heroen  darstellen,  ein 
Melos  von  energischem  Charakter  (vgl.  meine  griechische  Rhythmik  und  Har- 
monik 1867,  S.  273—281).  In  dem  zuletzt  Angegebenen  liegt  der  Hauptunter- 
schied, welchen  der  Grieche  bei  dem  Dorischen  gegenüber  dem  Aeolischcn 
oder  Hypodorischen  empfand.  Das  Hypodorische  macht  dem  Dorischen  gegen- 
über, dem  es  im  Allgemeinen  ganz  und  gar  ähnlich  ist,  den  Eindruck  grösserer 
Energie  und  Bestimmtheit.  Das  stimmt  mit  unserem  obigen  Ergebniss  über 
die  harmonische  Beschaffenheit  beider  Octavengattungeu  aufe  genaueste:  beide 
entsprechen  unserer  Moll-Scala  (ohne  Erhöhung  des  sechsten  und  siebenten 
Tones),  auf  welcher  das  Dorische  in  der  Quinte,  das  Aeolische  oder  Hypodo- 
rische dagegen  in  der  Prime  abschliesst,  jenes  macht  in  seinem  Schlüsse  dem 
der  Quinte  eigenen  Eindruck  der  Unbestimmtheit,  dieses  dagegen  als  die  auf 
der  Prime  schlicssenden  Tonart  den  Eindruck  der  Bestimmtheit  und  Energie. 
Es  ist  dieser  verschiedene  Eindruck  der  beiden  Gattungen  des  Dorischen  Moll 
ein  ganz  analoger  wie  bei  den  entsprechenden  Octavengattungeu  des  Phry- 
gischen  Dur:  der  Primen -Schluss  des  Hypophrygischen  oder  Jastischen  bedingt 
das  TjBos  Ttpax-rtxöv,  der  diesem  nach  Aristot.  Probl.  19,  48  eigen  ist,  der  Quinten- 
Schluss  der  Phrygischen  Octavengattung  den  ihm  eigenen  Charakter  der  ip- 
(Aovla  £v&ot>3iooTtx^  xal  ßaxyix^:  in  der  That  macht  der  Abschluss  auf  der  Dur- 
Quinte  den  Eindruck  des  Mystischen. 

In  den  beiden  Durklassen  ergaben  sich  ausser  der  Primen-  und  Quinten- 
Scala  auch  noch  eine  Terzen-Scala  sowohl  für  die  Phrygische  wie  für  die  Ly- 
dische  Klasse:  dort  die  Mixolydisti  oder  syntonos  Jasti,  hier  die  Syntonolydisti 
oder  syntonos  Lydisti.  Beide  bei  ihrem  Abschlüsse  auf  der  Terze  Durscaleu, 
welche  den  Eindruck  der  Wehmuth  erregen.  Nun  ist  aber  nach  der  Stolle 
der  Platonischen  Republik:  ,,Ttve;  ojv  ÖpTjvwSei;  äpnovlai;  Mi;oXu5tari  xoti  2uv- 
tovoX-j&iotI  xal  totaÜTot  tive;"  die  Zahl  der  wehmüthigen  Terzen-Species  mit 
derjenigen  des  Phrygischen  und  Lydischen  Dur  noch  nicht  abgeschlossen. 
Giebt  es  auch  eine  Dorische  Moll -Tonart  mit  Terzen -Schluss  neben  der  in 
der  Prime  schlicssenden  Aiolisti  und  der  in  der  Quinte  schliessenden  Do- 
rieti?  Das  scheint  so,  denn  Terpanders  Musik,  die  sich  blos  im  nationalen 
Moll  bewegte,  wendet  ausser  der  Aiolisti  und  der  Doristi  auch  noch  eine  Boio- 


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Die  härm.  Grundsätze  der  Melodie-Begleitung  von  Aristot  u.  Aristox.  505 

tisti  an.  Letzteres  kann  nur  die  Terzen-Species  des  Dorischen  Moll  gewesen 
sein,  denn  an  eine  der  fremden  Dur- Tonarten  des  Olympus  darf  man  bei  Ter- 
pander  nicht  denken.  Unter  die  ..TOtaD-ral  tive;'*  des  Plato  gehört  also  die  in  c 
schlics8ende  Terzen-Species  des  Dorischen  Moll  unter  dem  Namen  BouutistI. 

Aber  auch  aus  dem  Lydischen  Dur  des  Olympus  muss  eine  parallele 
Moll-Tonart  gebildet  sein.  Dies  ist  die  Aoxoiatl  in  a,  erfunden  von  dem  Lokrer 
Xenokritos,  welche,  wie  wir  aus  Hcraklides  Pontikus  wissen,  eine  Harmonie 
mit  eigenem  Charakter,  also  nicht  identisch  mit  der  ebenfalls  in  a  beginnen- 
den Aiolisti,  und  ebenso  wenig  identisch  mit  der  in  a  beginnenden  syntonos 
Lydisti  ist.  Schwerlich  kann  also  die  Lokristi  etwas  anderes  gewesen  sein  als 
eine  Quinten-Species  in  a,  deren  Tonica  der  Klang  d  war.  Wir  haben  uns 
diese  Tonart  in  d  als  die  parallele  Molltonart  des  Phrygischen  Dur  zu  denken, 
von  Xenokritos,  einem  der  Meister  der  zweiten  musischen  Katastasis  Spartas 
erfunden,  bei  Pindars  und  Simonides  Zeitgenossen  wie  Hcraklides  berichtet 
in  hoher  Achtung  stehend,  bei  den  Zeitgenossen  des  Hcraklides  aber  bereits 
veraltet 

Soll  Piatos  „TOiaD-rai  tive;4'  nicht  blos  von  einer  Tonart  verstanden  wer- 
den, dann  bliebe  ausser  der  Terzen-Species  des  alten  Dorischen  Moll,  der  wir 
den  Namen  Boiotisti  vindiciren  müssen,  auch  noch  eine  Terzen-Species  des 
Lokrischen  Moll,  für  die  sich  in  den  Quellen  ein  spezieller  Name  durchaus 
nicht  ermitteln  lässt. 


1 

Aiolisti 

Boiotisti 

Doristi 

Dorisch  Moll 

a 

h 

c 

d 

e 

f 

g 

a 

1 

2 

3 

4 

5 

t; 

7 

Jasti 

synton.  Jasti 

Phrygisti 

( Mixolydisti ) 

Phrygiach  Dur 

a 

b 

c 

d 

<• 

f 

g 

1 

2 

3 

4 

r> 

7 

chalara 

synton. 

Lydisti 

Lydisti 

Lydisti 

Lydisch  Dur 

f 

g 

a 

h 

e 

d 

e 

f 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

synton. 

Lokristi 

Lydisches  Moll 

d 

e 

f 

g 

a 

1. 

c 

d 

1 

2 

3 

4 

r. 

»; 

7 

Die  Anzahl  der  griechischen  Tonarten  in  dem  Sinne,  in  welchem  auch 
unsere  moderne  Musik  das  Wort  Tonarten  versteht,  beschränkt  sich  auf  eine 


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5ÜG 


Aristoxenus  Vermischte  Tischreden. 


Vierhcit:  1.  das  Dorische  Moll,  charakterisirt  durch  den  mangelnden  Leitton, 

2.  das  Phrygische  Dur,  charakterisirt  durch  die  mangelnde  grosse  Septime, 

3.  das  Lydischc  Dur,  charakterisirt  durch  die  mangelnde  Quarte,  4.  das  Ly- 
dische  Moll,  die  parallele  Molltonart  des  Lydischen  Dur  gen.  Lokristi. 

Nach  der  AnBehauung  der  (.1  riechen  zerlegen  sich  die  meisten  dieser  vier 
Tonarten  in  je  drei  Species,  je  nachdem  die  in  ihnen  sieh  bewegende  Melodie 
entweder  a.  in  der  Tonica  (der  thetischen  Mesel,  oder  b)  in  der  Quinte  (der 
thetischen  Hypate),  oder  c)  in  der  Terze  (der  thetischen  Tritc)  abschliesst. 
Daher  haben  wir  von  einer  Dorischen,  Phrygischen  u.  s.  w.  Mesen-Species, 
Hypaten-Species,  Triten-Species  zu  sprechen,  wenn  wir  die  weitschichtige  No- 
nienclatur  der  griechischen  Harmouieen  vereinfachen  wollen.  Die  Stelle  der 
Platonischen  Republik,  welche  vom  Ethos  der  Harmonieen  handelt,  setzt  au 
erste  Stelle  die  Triten-Species,  an  zweite  Stelle  die  Mesen-Species,  an  dritte 
Stelle  die  Hypaten-Species,  indem  Plato  sich  durch  die  Reihenfolge  dieser 
( je  den  Quart-Sext-Accord  der  verschiedenen  Tonarten  bildenden  \  Klänge,  weiche 
diese  auf  dem  thetischen  Dodekachorde  von  der  Höhe  nach  der  Tiefe  zu  ein- 
nehmen, bestimmen  lässt.  Von  den  beiden  Triten-Species,  welche  er  durch 
die  Worte  „%i\  xoiaytat  ttve;"  andeutet,  Hess  sich  für  die  eine  (in  c)  aus  den 
Nachrichten  über  die  Tonarten  Terpanders  der  alte  Name  Boentisch  ausfindig 
machen,  für  die  andere  (in  f )  will  sich  nirgend  eine  Name  ergeben.  Die  oben 
von  mir  gebrauchte  Bezeichnung  „syntonos  Lokristi"  ist  nach  der  Analogie 
der  Triten-Species  der  Dur-Tonarten  gebildet. 

Das  System  der  griechischen  Tonarten  ist  von  überraschender  Einfach- 
heit und  wird  auch  unseren  Fachmusikern  als  etwas  speeifisch  Musikalisches 
erscheinen  müssen.  Auf  die  positiven  Berichte  des  Aristoxenus,  Aristoteles, 
Plato  und  Pratinas,  welche  nach  ihrer  musikalischen  Bedeutung  von  den  frü- 
heren Forschern  nicht  gehörig  beachtet  waren,  ist  jenes  System  der  griechischen 
Tonarten  aufgebaut  und  kann  auf  der  Grundlage  der  richtig  (nach  Wallis)  inter- 
pretirten  Stellen  des  Ptolemäus  über  die  thetische  önomasie  immöglich  anders 
aufgebaut  werden  als  es  in  dem  Vorliegenden  geschehen  ist.  Meine  erste  Ver- 
öffentlichung des  Systemes  der  griechischen  Tonarten  (in  meiner  griechischen 
Harmonik  1863)  hat  ein  deutscher  Mitforscher  als  naive  Thorheit  verdächtigen 
zu  müssen  geglaubt,  indem  es  ihm  gefiel,  an  Stelle  der  Ptolemäischen  Ueber- 
lieferung  ohne  jegliche  Kritik  etwas  völlig  Anderes  zu  conjiciren.  Vor  wenig 
Jahren  (während  ich  in  Russland  weilte)  hat  der  gelehrte  Direktor  des  Brüs- 
seler Musik-Conservatoriums  der  nämlichen  Auflassung  der  griechischen  Ton- 
arten die  grösste  Anerkennung  gezollt  und  sie  zur  Grundlage  seiner  umfassen- 
den „Histoire  et  Theorie  de  la  Musique  de  l'antiquite,  Gand  1875.  1881",  ge- 
macht. Es  ist  zu  hoffen,  dass  meiner  Auflassung  der  griechischen  Tonarten 
fortan  auch  bei  den  deutschen  Mitforschern  die  Anerkennung  nicht  mehr  ver- 
sagt werde. 


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Addenda  und  Corrigenda. 


S.  104  Z.  17.  18.  19  iet  zu  ändern: 

fjip'i;        |x£po;  fiipoc 

—  w  O  —  S>  ^/  —  \J  \J 

;75    j"S  J75 

S.  165  Z.  5  v.  u.  Euklides  Geometrie  ist  freilich  nicht  früher  als  Aristo*. 
Harmonik 

S.  183  Z.  6  v.  u.  war  uns  von  den  beiden  ersten. 
8.  185  Z.  1  nur  zweimal  statt  nur  eiumal. 

S.  210  Z.  13  Der  letzte  Grund  des  Unterschiedes  von  Singen  u.  Sagen. 

S.  235  Z.  3  v.  u.  §  40  statt  §  39. 

S.  236  Z.  3  v.  u.  Intervallen  statt  Systemen 

S.  239  Z.  1  Sechstens  statt  Fünftens.   Z.  5  Siebentens  statt  Sechstens. 
S.  243  Z.  14: 

Kleinere  Intervalle  als  die  Quarte. 
•        •»        •«  *  Quarte 

\        i        I        ft        i        X       H       ~2  2T 

S.  248  §  53  Z.  4  Diesis  (e  e)  statt  Diesis  (e  e) 
S.  260  erste  Notenzeile 

S.  261  unter  der  fünften  und  ebenso  unter  der  sechsten  Notenzeile 


S.  262  §  58.  Das  hier  vorhaudene  Versehen  wird  in  der  den  griechischen 
Text  enthaltenden  Abtheilung  seine  Berichtigung  erhalten. 


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508  Addenda  und  Corrigenda. 

S.  263  §  59.  I>ie  auf  das  Anmerkungs-Zeichen  *)  folgenden  Worte  mussten 
als  Anmerkung  mit  Petitlcttern  statt  mit  Corpuslettern  gesetzt  werden. 

S.  287: 

Erste  Notenzeile.  Zweite  Notenzeile. 

2     3     5  U     Ii  7 

S.  310  15.  Probl.  Neben  einem  Ditonos  ein  Ganzton  bloss  oberhalb. 

S.  344  §  17.  Z.  6:  Quinten-,  Octaven-,  Undecimen-  und  Doppeloctaren- 
Systeme. 

S.  356  Z.  18:    b   c   d   e   f  g  a 

•>  «  _  > 

8.  403  Z.  1 1  v.  u.  zurückgeht  statt  ausgeht. 

S.  412  Z.  1  mit  dem  übermässigen  Ganzton  statt  mit  dem  grossen  Ganzton. 

8.  416  Z.  10  v.  u.  letzter  Notenbuchstabe:  es  statt  e. 

i  * 

S.  423  siebente  Scala  fis  g  statt  fis  gis. 

Elfte  und  zwölfte  Scala: 

i      1     1  |      1  11 

f   ges    as   f  ces   des   es  f 

}  11*111 
fis    g    a    h    c    d    c  fis 

S.  468.  Z.  10  v.  u.  Die  letzten  15  Worte  des  Absatzes  gehören  in  die 
Kategorie  der  S.  LXXII  befürchteten  Irrungen.  Sie  müssen  gestrichen  werden. 

S.  490  Z.  v.  o.  „so  folgt  mit  Notwendigkeit  aus  dem  Vorhandensein  der 
Mixolydischen  Octavengattung  als  eines  cminelischen  Systemes  der  Alten,  dass". 


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r 


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